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Kapitel XVIII

XVIII.

 

Ein Gang durch die Jahrhunderte: 18., 19. und 20., kann ultimativ über die Sache Kunst und Künste, nicht nur über deren historische Geschichte belehren; denn diese ist jene, aber jene ist – als ganze Sache, als ganzer Begriff – stets mehr als diese. Diese merkwürdige Dialektik, daß, obwohl es keine Kunst jenseits ihrer Geschichte gibt, dennoch die Geschichte der Kunst (und Künste) nicht das letzte Wort über, nicht der erste und letzte Grund von Kunst sein kann, kann nur durch deren konkrete – geschichtlich-systematische – Darstellung verständlich gemacht werden.

 

Es ist ein gegenseitiges Voraussetzen von Sache und Geschichte, ein Begründungszirkel, in dem dasjenige, welches das Allgemeinere und Gründendere ist, auch wirklich als das Allgemeinere erkannt und anerkannt wird: der Begriff, nicht dessen Geschichte, obwohl diese die Realität von jenem ist, und weil sie die Realität von jenem sein muß.

 

Schon im 18. Jahrhundert beginnen sich das Ethische und das Ästhetische, aber auch das Theologische und das Ästhetische und ebenso das Theologische und das Ethische zu trennen, – zögernd und vorsichtig, um jene Autonomisierung der genannten Bereiche vorzubereiten, ohne welche Kunst als moderne nicht möglich gewesen wäre, aber auch nicht moderne Demokratie als Hort der Menschenrechte, Religions- und Kunstfreiheit.[1]

 

Eine Trennung, die zwar durch die Geschichte durchgeführt, nicht aber von der Geschichte verursacht wurde, weil diese (Trennung) einzig und allein der Begriff der Geschichte, der mit ihrer Freiheitsbewegung eins ist, somit der Geist der Geschichte vonnöten machen konnte. Das „Durch“ der Durchführung ist vom „Von“ des Nötigwerdens stets zu unterscheiden. Geschieht dies nicht, denkt und spricht man in Tautologien über die Inhalte dessen, was sich in der Geschichte (etwa der Künste und der Gesellschaft) als Geschichte bewegt.[2]

 

Mit der Autonomisierung der Künste, verlieren die Ästhetiken der Nachahmung sukzessive ihre regelpoetische Herrschaft, ohne daß das Hässliche (unter dem Deckmantel des Erhabenen) sich bereits verselbständigen durfte. Auch die durch das Mittelalter freigegebene Darstellung des hässlichen und niedrigen Leidens Christi bleibt zunächst – in der Regel – in idealisierende Darstellungsweisen zurückgebunden.

 

Freilich darf man bei diesem Prozeß einer „Autonomisierung der Kunst“ die Ungleichzeitigkeit der Autonomisierung der Einzelkünste nicht unterschlagen. Die Malerei eilt der Musik voran (um ein gutes Jahrhundert), christliche Architektur und Skulptur folgen den Revolutionen des Christentums, und die Dichtung scheint sich erlesenere Freiheiten – wie schon seit der Antike – jenseits der ästhetischen Epochenparadigmen zu nehmen, ein Schein, der dennoch nicht grenzenlos wirksam war.[3]

 

Indem sich erste Frühformen einer höheren bürgerlichen Kultur herausbilden, ohne daß die höfische und genuin aristokratische schon bereit wäre, abzudanken, vollzieht sich der Rückzug der traditionellen Nachahmungsästhetiken (in denen das theologische Erbe des Mittelalters nachwirkt) zwar unaufhaltsam, aber auch nur langsam, und dieser – man möchte sagen: organischen Langsamkeit der Entwicklung – verdanken die vormodernen Künste in ihrem neuzeitlichen Stadium ihre schönsten Blüten an Stilen, Gattungen, Werken und Genies.

 

Sofern sie die Partei der antiqui repräsentieren, werden die klassischen Nachahmungsästhetiken klassizistisch; sofern sie emotionalisiert und in wirkungspoetische Pathosästhetiken mutieren, (worin das Hässliche als Mittels-Moment neuer Erhabenheiten schon unersetzlich wird) geraten sie der letztlich stets siegenden Partei der moderni in die Hände. Die Individualisierung und Partikularisierung der vormodernen Kunstsubstanz verbleibt auf diese Weise gemeinverständig und universal, der Geschmack ungebrochen evolutionär und sogar kämpferisch, Gattungen und Stile ohne Willkür (Barock, Rokoko, Vor- und Zielklassik in der Musik, Klassizismus in Malerei, Skulptur, Architektur und auch Literatur), und die Stimmigkeit der – wahrhaft schönen – Werke der sich zu universaler Kunstphantasie befreienden Originalgenies vollendet sich in objektiven Werte-Hierarchien, die dem Geist der anerkennenden oder verweigernden Gesellschafts-Eliten erlauben, jederzeit und ohne „Wissenschaft“ und „Vermittlung“ Meister von Gesellen, von Kleinmeistern und Epigonen zu unterscheiden, vor allem auch: alle Kunst von gestern gründlich (gesellschaftlich) zu verabschieden. Noch nicht (fremdbestimmte) Märkte und vergangenheitsorientierte Museen und Konzertprogramme diktieren das Bedürfnis nach Kunst, sondern ein objektives Bedürfnis nach Kunst diktiert das Gedeihen und Verschwinden ihrer „Märkte.“[4]

 

Indem die stilistischen und gattungstypologischen Regelkanons der Nachahmungsästhetik emotionalisiert und individualisiert werden, tritt das Hässliche – als Agent künftiger Moderne – gleichsam in eine Lauerstellung, die zwar die idealisierenden Verfahren und Regeln der bienséance schöner (später: „klassizistischer“) Kunst noch nicht antastet, aber doch schon für interessante sujets jenseits von Mythologie und Akademie empfänglich wird.

 

Während die Ästhetiken Baumgartens und Sulzers eher auf die Seite der antiqui fallen, weil sie Hässlichkeit als unvollkommene sinnliche Erkenntnis oder als verwirrte und korrumpierte Form verwerfen, agiert die französische Ästhetik, bereits von Boileau bis Diderot, als Wirkungsästhetik moderner Geister, die die vormoderne Eingrenzung des Hässlichen zu relativieren trachten, obwohl im Ganzen das harmonische Zusammenwirken von ‚schöner Nachahmung’ und ‚wirkungspoetischer Erhabenheit’ noch gewahrt wird.[5]

 

Obwohl Lessing das Vergnügen, als Anhänger schöner Kunst wirken und genießen zu dürfen, nicht aufgeben möchte, erwägt er in seinem „Laokoon“ (1766) doch die Darstellungsmöglichkeiten des Hässlichen durch Malerei und Poesie. Und dies in ausdrücklicher Konfrontation der schönen Kunstreligion der Griechen mit der subjektiven Wirkungskunst und -ästhetik seiner Zeit, die beginnt, alle vorgegebenen Gegenständlichkeiten und Sichtweisen bisheriger – nicht bloß „ästhetischen“ – Nachahmungsästhetik aufzukündigen.[6]

 

Werden durch, für und in aktueller Kunst die bisherigen Normen und Regeln, die bisherigen Formen und Inhalte obsolet, folgt unausweichlich eine freie – und im aktuellen Geist der Aufklärung unumschränkte – Reflexion auf neue Mittel und Medien einer Kunst, die ihre neue Schöpferkraft, trotz anhebender Trennung des Ethischen vom Ästhetischen, in den Dienst neuer universaler Humanitätsideale zu stellen sucht. Und wenn das Humane zentraler Inhalt von Kunst wird, dann auch das Inhumane, – die Vorderseite der neuen Medaille ist ohne ihre Rückseite nicht zu haben, – wie sich bald zeigen sollte.[7]

 

Lessings Deutung der Darstellungsmöglichkeit des Hässlichen durch antike und aktuelle Kunst überzeugt Goethe nicht nur kunstgeschichtlich und kunstästhetisch,[8] sie hatte für sein Schaffen die Kraft eines normativen Erweckungserlebnisses.[9] Nach Lessing könne Dichtung das Hässliche als poetisches Mittel nutzen, „um gewisse vermischte Empfindungen hervorzubringen“, – eine Vermischung, die Baudelaire knapp hundert Jahre später auf die Realitätsbegriffe Schönheit und Hässlichkeit erweitern wird, um – im befreiten Reich moderner Kunst – deren Austauschbarkeit und gegenseitige Ersetzbarkeit zu beantragen.

 

Bei Lessing sind die vermischten Empfindungen noch das Schreckliche und das Lächerliche, mit denen uns der Dichter, „in Ermangelung reinangenehmer Empfindungen, unterhalten muß“;[10] bei Baudelaire wird das Schreckliche als das neue Schöne selbst firmieren, weil der Ursprung des Schönen satanisch und göttlich zugleich sei: „O Beauté! Monstre énorme, efrrayant, ingénu!“[11]

[1] Und selbstverständlich hatte das Wissenschaftliche längst schon (zunächst noch im Verbund mit dem Philosophischen) seine eigene Autonomie-Geschichte eröffnet.

[2] Die Geschichte als empirische ist mit ihrer Freiheit nicht unmittelbar identisch; genauer: sie scheint mit ihr unmittelbar identisch, sogar numerisch identisch zu sein, – es scheint nichts als Geschichte zu geben. Wäre dies der Fall, könnte man von Freiheit in und über der Geschichte weder denken noch reden. Wir wären Tiere der Geschichte, einer „Evolution“ von Geschichte, deren Chronik und „Geschichte“ nichts weiter wäre als eine folgenlose Folge notwendiger Zufälle und zufälliger Notwendigkeiten.

[3] Shakespeare ist nur im elisabethanischen England an der Wende zum 17. Jahrhundert möglich; Goethe nur in der klassischen deutschen Epoche zu Weimar und Jena; sozialrevolutionäre Romanliteratur erst im anschließenden 19. Jahrhundert.

[4] Moderne Ästhetiker, die sich in unseren Tagen nochmals der Totalität der Geschichte der Künste widmen, negieren die bekannten Epochen-qua Stilbegriffe, um sie durch farblose Abtrakta zu ersetzen, statt die bekannten Epochennamen getreulich und tiefer – und in Zusammenbarbeit mit den einzelnen Kunstgeschichten (und Kunstwissenschaften) – zu differenzieren. Am Ende führt dies dazu, daß sich die Geschichte der Künste lediglich um zwei Tendenzen gedreht haben soll a) um die der Klassizisten und b) um die der Modernisten. Ein rustikales teleologisches Denken, das die konkrete Gattungs-, Stil- und Werkgeschichte der Künste ignoriert. Der Geübte erkennt (noch) auf einen (ersten) Blick die Zugehörigkeit von Werken zu den einzelnen Epochen der großen Stile und Meister, und diese – mehr als „ästhetischen“ Arten von Geist und Freiheit der Künste sind nicht über den Kamm ästhetologischer Prinzipien moderner Provenienz zu scheren, wonach dann Baudelaire als Telos-Punkt aller seiner Vor-Epochen, Picassso als Ziel der Malerei-Geschichte und womöglich Schönberg als Inbegriff der Musik als Kunstmusik-Geschichte erscheint. In der Vormoderne war der Gegensatz antiqui-moderni lukrativ und sinnfällig; heute ist der Gegensatz „Klassizisten“ und Moderne naiv und nur zur Selbstbestätigung einer ästhetischen Kunst-Ideologie zweckdienlich.

[5] Die leidenschaftlich geführte Diskussion um Chardins „Gehäuteten Rochen“ (1728), erschienen im „Salon de 1763“, bezeichnet die Schnittstelle, an der das Hässliche (als „Schönes“ qua „Erhabenes“) die Gemüter zu faszinieren beginnt. Chardin war auch insofern „modern“ als er die akademischen Studien verschmähte und, auf den Spuren der flämischen Genre-Malerei, seine Sujets ausschließlich dem aktuellen Alltagsleben entnahm. Wenn Marcel Proust hundertfünfzig Jahre später schreibt: „Von Chardin haben wir gelernt, dass eine Birne so lebendig wie eine Frau, dass ein gewöhnlicher Tonkrug so schön ist wie ein Edelstein. Der Maler hat die göttliche Gleichheit aller Dinge proklamiert – vor dem Geist, der sie betrachtet, vor dem Licht, das sie verschönt“, dann ist dies bereits jene wirklich moderne Einstellung, die eine „göttliche Gleichheit“ proklamiert, deren Ironie keine Scheu mehr hat, in befreiter Kunst alles und nichts als „göttlich“ anzuerkennen. Der Tyrannei des Partikularen stet nichts mehr im Wege.

[6] Diese und jede im 19. und 20. Jahrhundert nachfolgende Wirkungsästhetik ist noch nicht die in der Postmoderne des 20. Jahrhunderts grassierend werdende Rezeptions- (und Wiederverwertungs-)Ästhetik; angesichts des unermeßlich angewachsenen Bestandes von Kunst zwar verständlich, aber zugleich auch eine Auflösung von Ästhetik in Aisthesis. Wie Ästhetik von Anästhetik, wird Kunst von Pseudokunst ununterscheidbar.

[7] In der antiken Laokoon-Gruppe wird ein Priester samt Söhnen durch mythisches Schicksal getötet; in den modernen Porträts von Francis Bacon wird der moderne Mensch durch die Schläge seiner Rückseite zerstört, die nur Unverstand als nichtböse, nur „ästhetischer Verstand“ als schöne Rückseite erblickt.

[8] Lessing weist nach, daß dem (!) Dichter möglich sei, was dem Maler und Bildhauer verwehrt sei. Das homerische Epos durfte und sollte den hässlichen Thersites, der Götter und Griechen schmähte, darstellen, nicht aber durfte und konnte dies der Bildhauer und der Maler. „In der Poesie… verliert die Häßlichkeit der Form, durch die Veränderung ihrer coexistirenden Theile in succesive, ihre widrige Form fast gänzlich; sie höret von dieser Seite gleichsam auf, Häßlichkeit zu seyn…In der Mahlerey hingegen hat die Häßlichkeit alle ihre Kräfte beysammen, und wirket nicht viel schwächer als in der Natur selbst.“ (Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon (1766) in: Lessing (Lachmann)Bd.9 (1893), S.145 f.) – Und wie agiert der Film die „ästhetische“ Selbstaufhebungsdialektik realer durch dargestellte Hässlichkeit aus? Seinem technologischen Großmedium – bewegtes und sprechendes Bild von Welt und Mensch – bereitet die brutalste Darstellung von Hässlichkeit und bösester Bosheit kein Problem, weder ein technisches noch ein „ästhetisches“; und keine Ästhetik ist denkbar, die seiner Freiheit kunstimmanente Schranken setzen könnte. Ein entscheidender Punkt, an dem der qualitative Unterschied von vortechnologisch vormoderner und technologischer, aber auch von (vortechnologisch) moderner Kunst und der technologischen Kunstart des Films unmittelbar einsichtig wird.

Ebenso einsichtig wird an dieser Lessing-Stelle die Aporie jeder (vormodernen)Ästhetik, die eine normative von Kunst überhaupt sein wollte und sein mußte. Denn der Gattungsausdruck „der Dichter“ („der Maler“, „der Bildhauer“) setzt sich unbemerkt (!?) mit einer (und allen?!) seiner geschichtlichen Differenzen gleich: hier mit seiner Spezifikation als antiker Dichter(priester); eine erschlichene Gattungshaftigkeit mithin, die ihr Erschleicher, Lessing, zugleich, wenn auch noch ohne es zu bemerken, an den Pranger stellt. „Der Dichter“ ist einerseits der Begriff des Dichters überhaupt, andererseits die Geschichte dieses Begriffes, angefangen vom Schamanen-, über den Priester-, über den vormodernen Genie-, bis hin zum modernen Schriftsteller-Dichter. Und diese Geschichte (die totale) des Begriffes, ist nicht nur des Begriffes Geschichte, sie ist darin zugleich das Durchlaufen aller überhaupt im Begriff und der Realität von Dichtung möglichen Sinnbildungen des Wortes und Begriffes „Dichter.“ Wir überschauen daher alle ihre Stadien a) auf einen – unendlich differenzierbaren – Blick und b) in einem begreifenden Begriffsblick (die ausgeführte Differenzierung), der uns alle Revolutionen dieser irreversiblen und einmaligen Geschichte als sinnnotwendige sinnfällig macht.

[9] „Das so lange missverstandene: ut pictura poesis war auf einmal beseitigt, der Unterschied der bildenden und Redekünste klar…“ (Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit (1812) in: Goethe (WA) Abt.I., Bd 27 (1889) S. 164). – Dichtung als intelligenteste Kunst darf zuerst, was den anderen Künsten erst zu später und spätester Stunde, in der Tagnacht der Moderne, möglich sein wird. – „Der bildende Künstler sollte sich innerhalb der Gränze des Schönen halten, wenn dem redenden, der die Bedeutung jeder Art nicht entbehren kann, auch darüber hinwegzuschweifen vergönnt wäre. Jener arbeitet für den äußeren Sinn, der nur durch das Schöne befriedigt wird, dieser für die Einbildungskraft, die sich wohl mit dem Hässlichen noch abfinden mag.“ (Ebenda.)

[10] Lessing, ebenda.

[11] Charles Baudelaire: Fleurs du mal (1857) (Hymne à la Beauté). Wenn daher Baudelaire schöne Sonettenformen mit Inhalten des Ekels und äußerster Häßlichkeit verbindet, ist dies konsequent morbide; wenn aber diese Verbindung als «chemische Synthese“ von schön und hässlich vorgeführt wird, die das Kunstschöne erweitert und überboten habe, wie dies moderne ästhetische Theorie durchgehend behaupten muß, dann ist die Erweiterungsfrage wieder gefragt. Worin liegt hier der Denkfehler der Theorie, worin der Kunstfehler des Künstlers? Mögen diese Fehler geschichtlich auch unvermeidbar gewesen sein, sind sie Fehler, bleiben sie solche. Daß das virtuose Spielen mit Paradoxen und Scheinparadoxen dazu dient, die Fehlerhaftigkeit des Fehlers zu verwischen, liegt in der Logik einer Tat, die ihre Ursachen und Gründe unkenntlich machen möchte. Ist alles seine Karikatur, ist nichts mehr als Karikatur definier- und erfahrbar.