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Kapitel I

I.

 

Um eine vernünftige Erörterung der Errungenschaften der modernen Kunst und Künste durchzuführen, dürfte es ratsam sein, von den eigentlich modernen – nämlich technologischen – Künsten wie Photographie, Film, Computerkunst undsoweiter – zunächst abzusehen. Deren Kunstcharakter ist, wenn nicht umstritten, so doch von völlig neuer Art und Qualität, weshalb das Wort „moderne Kunst“ vorerst noch immer die der Vormoderne entstammenden, nun aber modern gewordenen Künste zu bezeichnen pflegt. Worin der Unterschied des technologischen vom vortechnologischen Kunstcharakter auch immer bestehen mag, (und ungeachtet ihrer Vermischbarkeit in der aktuellen Gegenwartskunst und Präsentation wie Reproduktion aller Kunst) – es ist theorie-strategisch ratsam, von diesem Unterschied anfänglich abzusehen, um zunächst klären zu können, was denn die (vortechnologischen) Errungenschaften der modernen Kunst und Künste gewesen sein beziehungsweise immer noch sein könnten.

 

Eine solche Erörterung sollte sich bewusst sein, dass alle ihre Argumente durch eine Grund-Antinomie bestimmt sind, die sich in fragender Form wie folgt umschreiben lässt. Haben die modernen Künste der traditionellen Art – Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Dichtung – das Schöne, und genauer gesagt: das Kunstschöne erweitert, oder haben sie es verabschiedet, weil sie als „nicht-mehr-schöne-Künste“ agieren müssen und daher als solche zu bewerten und zu begreifen sind? An dieser Frage müssen sich die Diskursgeister nicht nur scheiden, sie müssen sich ihr auf das Gründlichste stellen, wollen sie das aktuell unverbindliche Plaudern über moderne Kunst überwinden. Es ist ein Entweder/Oder, das kein Drittes zuzulassen scheint, denn es kann nicht zugleich dasselbe sein und nicht sein: Erweiterung und Verabschiedung, neue Größe oder endgültiges Ende einer Größe.

 

Die gestellte Frage führt eine entscheidende unmittelbar mit sich: kann man sich der Wucht und Tiefe dieser Frage nicht nur stellen, kann man ihre Gründe und Abgründe auch klären und aufklären, kann man sie vernünftig beantworten? Nichts anderes scheint eine „vernünftige Erörterung der Errungenschaften der modernen Kunst und Künste“ zu fordern. Und da zunächst zwei Antworten möglich sind, ist es weiters ratsam, dieselben sine ira et studio vorzustellen.

 

Im Erweiterungsfall hätte die moderne Kunst das Kunstschöne der traditionellen Künste nicht nur „erweitert“, ein Ausdruck der offen läßt, ob bloß quantitative oder auch qualitative Erweiterung gemeint ist. Ist nämlich qualitative Erweiterung gemeint, so wäre „Erweiterung“ eine Untertreibung, und die richtige Antwort müßte entschieden apologetisch formuliert werden. Die moderne Kunst hätte die vormodernen Entwicklungsstufen der traditionellen Künste nicht nur „erweitert“, sondern auch wirklich übertroffen, sei es zur Vollkommenheit vollendet, sei es zu neuer Höhe und Tiefe geführt, – ein Fortschritt somit auf ganzer Linie, einer im Wesen, nicht bloß im äußeren quantitativen Erscheinungsbild von Kunst und Kunstschönheit.

 

Niemand kann bezweifeln, daß die Quantität der modernen Kunstproduktion die der vormodernen um ein Vielfaches übertrifft, und da Quantität und Qualität untrennbar sind, dass die unübersehbare Vielfalt der Produktion in eine Pluralisierung und Individualisierung sowohl der Produktion wie Reproduktion und auch Konsumtion moderner Kunst auseinander gegangen ist, die keine Vorgeschichte als Vergleichskeule zu fürchten hat. Doch ist damit die Frage, ob diese quantitativ-qualitative Erweiterung zugleich eine „Erweiterung“ und Vervollkommnung des Kunstschönen der angegebenen Einzelkünste gebracht habe, nicht beantwortet.

 

Die qualitativ-quantitative Erweiterung könnte sich auch in der entgegengesetzten (nicht-mehr-schönen) oder in einer gleichsam neutralisierten Richtung (in ein Jenseits von schön und hässlich) bewegt haben und immer noch bewegen. Auch der Ausdruck „Qualität“ ist zunächst so bedeutungsoffen oder vielmehr bedeutungsbeliebig wie der Ausdruck „Erweiterung.“ Wir sind gern bereit zuzugestehen: jedem modernen Künstler sei sein individuelles Kunstschönes gegönnt; aber damit ist uns noch nicht eine Antwort auf unsere Frage gegönnt.

 

Sehr wahrscheinlich gönnen wir uns dieses Gönnertum, weil wir angesichts der Unübersehbarkeit und sowohl Un- wie Überorganisiertheit des modernen Kunstlebens die Schwäche unserer Urteilskraft spüren und daher passen.[1] Wir warten ab, bis Klügere kommen, vielleicht Experten, vielleicht ein klärender Diskurs mächtiger Diskursgeister, die entweder ein Macht- oder gar ein Vernunftwort sprechen werden, um ums Ratlose ultimativ zu belehren.

 

Die zweite Antwort versichert, dass die moderne Kunst das Schöne und Kunstschöne verabschiedet und daher ein Zeitalter der „nicht-mehr-schönen-Künste“ eröffnet hätte. Moderne Kunst hätte das Hässliche in jeder nur denkbaren Gestalt in sich aufgenommen, bis zu einer Erweiterung und Entgrenzung hin, die fraglich machten, ob dabei nicht ein Raum entstanden sei – sei es der Freiheit, sei es der Beliebigkeit -, in dem eine zentrale vormoderne Basis-Koordinate von Kunst – Schönheit versus Häßlichkeit – überhaupt hinfällig wurde. Es scheint somit die Möglichkeit eines Dritten möglich zu sein: moderne Kunst als eine vollständig neue Art von Kunst, die sich vom Gegensatz von schön und hässlich, und überhaupt von allen bisherigen künstlerischen und „ästhetischen Konnotationen“, um ein gängiges Wort des postmodernen Vokabulariums zu gebrauchen, radikal und endgültig emanzipiert hätte.

 

Wie zu sehen ist, haben beide Antworten eine Zusatzantwort (einen Fluchtweg durch die Hintertür) parat; die erste Antwort flüchtet – nach ihrer Versicherung, das Kunstschöne sei „erweitert“ worden – in die Vielfalt einer Pluralität und Individualisierung von Kunst, um sich dadurch gegen unsere Gretchenfrage: wie hältst Du es konkret mit dem Schönen in der modernen Kunst, zu immunisieren. Und am entgegengesetzten Ende unserer Frageschaukel erwägt die zweite Antwort nicht minder einen Fluchtweg: moderne Kunst könnte jenseits des Gegensatzes von Schönheit und Hässlichkeit ihren Zielhafen erreicht und daher mit Ästhetik und ästhetischem Verhalten im bisherigen Sinn gar nichts mehr zu tun haben.

 

Im neuen Freiraum der neuartigen Kunst würden die ehrwürdigen Prädikate unserer ästhetischen Urteile – schön und hässlich, gefallend und missfallend undsofort – unerbittlich zuschanden; und daher wären wir so oft gezwungen, von schönem Horror und von einer schrecklichen Schönheit moderner Werke zu reden, die vielleicht weder mit Schrecken noch mit Schönheit etwas im Sinn haben könnten. Eine Wahrheit von Kunst (und künstlerischer Welt- und Menschendeutung) wäre in die Welt getreten, die jenseits von traditioneller „Ästhetik“ (und deren vormodernen Systemkoordinaten – schön, erhaben, hässlich, komisch – ) geschaffen, reproduziert, rezipiert und beurteilt werde. Eine Kunst, die aber dennoch Kunst, nicht Handwerk oder Technik oder etwas anderes ihrer selbst, sondern nur sie selbst wäre: Kunst sui generis, Kunst als Kunst, Kunst und nichts als Kunst.[2]

[1] Das moderne Kultur- und Kunstleben ist formal überorganisiert, inhaltlich unorganisiert und unorganisierbar.

[2] Weil alles Hässliche, das innerhalb der Kunst zugelassen und geschaffen wird, doch nur innerhalb der Idee des Kunstschönen und ihres ewigen Ideenkreislaufes (Schön-Erhaben-Häßlich-Komisch) verbleiben könne, sei die These, dass die moderne Kunst entweder eine neue schöne oder eine „nicht-mehr-schöne“ sein müsse, hinfällig. Aber eben diese These vom Ideen-Kreislauf und seiner Grenze wird von moderner Kunst und ihrer Theorie unterlaufen und negiert, wenn sie sich als neue und gar „absolute“ Schönheit behauptet und beurteilt, oder wenn sie sich als jenseits von Schön und Häßlich angekommen wähnt. Im ersten Fall schlägt sie einen völlig neuen, im zweiten Fall einen zerschlagenen Kreislauf von Kunstschönheit vor. (Was auf dasselbe Ergebnis hinauskommt: irratio und désordre im Reich von Schönheit und Kunst.)

Es ist offensichtlich, dass die Entgrenzung der Kunst über ihre Schönheits- und bisherigen Kunstgrenzen hinaus auch unter dem Aspekt unternommen wurde und wird, eine Renaissance neoreligiöser Kunst unter säkularen – modernen – Existenzbedingungen, also eine „spirituelle“ Kunst in die moderne Welt einzuführen. Kunst wird Religion, ohne es werden zu können; sie büßt eine Schuld, und auch dies sei ihr gegönnt.