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Kapitel II

II.

 

Wie Planspiele einer weltfernen Kunst-Theorie und Ästhetik scheinen sich die bisherigen Erörterungen auszunehmen. Als hätte die moderne Kunst im 20. Jahrhundert – epochaler Ort der Durchsetzung ihres Existenzanspruchs – jenseits der tragischen Geschichte Europas und der Menschheit ihre ästhetische Autonomisierung entfaltet und durchgesetzt, jenseits der Realität von Weltkriegen, Holocaust und Gulag, Nationalsozialismus und imperialem Weltkommunismus sich zugetragen. Weil das Gegenteil der Fall war, ist es merkwürdig, aber als Immunisierungsstrategie erklärbar, dass Vertreter der ästhetischen Moderne immer wieder der realitätsfernen und gleichsam metageschichtlichen sowie „rein“ kunstimmanenten Konzeption von ästhetischer Moderne und moderner Kunst anheimfallen.[1]

 

An diesem Widerspruch von Kunst und Geschichte stoßen wir auf eine zweite Grund-Antinomie in Begriff und Realität moderner Kunst: dieser liegt die Tendenz nicht nur nahe, sondern einerseits zuinnerst, sich jenseits aller Wirklichkeit als eigene Wirklichkeit, als bewusste und geradezu autistische Gegenwirklichkeit zu verwirklichen; doch andererseits sich zugleich als „authentische“ und gehorsame Darstellerin und Protokollarin der geschichtlichen und gesellschaftlichen Realität zu betätigen und zu präsentieren. Nicht mehr – wie fundamental in der Vormoderne – als (schöne und prächtige) Repräsentantin der Regierenden und „Sieger“, der Eliten und Aristokraten, sondern als Mitverbündete der Unterlegenen und Opfer, ihrer Leiden und gescheiterten Versuche, den Weltübeln des 20. Jahrhunderts zu entkommen.

 

Zur ersten Antinomie: erweiterte Schönheit oder nicht-mehr-schöne-Künste tritt die zweite: ästhetische Gegen-Wirklichkeit oder Leidens-Wirklichkeit von und durch moderne Kunst dargestellt; und beide Antinomien sind untrennbar, weil Kunst, auch als moderne, ohne sogenannte Referenz wäre (ihr Realitäts-Anhalt außer, über oder unter den Künsten), könnte sie sich autistisch als „absolute Kunst“ und als „absolute Schönheit“ setzen und durchsetzen. (Sie hätte nur sich selbst, ihr weltloses Tun und Lassen als Referenz: Kunst als ästhetische Gegenwirklichkeit gegen die gemeine Wirklichkeit von Welt.) Wer daher letzteres (Kunst als Leiden an der Wirklichkeit) behauptet, muß das ästhetische Wunder erklären, wie die moderne Kunst im Gang des 20. Jahrhunderts, dem es an Katastrophen und Leiden nicht mangelte, befähigt und berufen sein konnte, durch mitleidendes Darstellen der Katastrophen und Leiden der modernen Welt eine Kunst neuer und absoluter Schönheit zu kreieren.

 

Da dieses Behaupten ubiquitär geschieht – nicht nur durch Künstler und Ästhetiker – sehen wir, daß die beiden vorgeführten Antinomien keine „theoretischen“ Behauptungen sind, sondern ein realer und fundamentaler Gegensatz im innersten Wesen moderner Kunst und Ästhetik. An der Position des ästhetischen Wunders haben wir einen Standpunkt vor uns, in dem sich die beiden Grund-Gegensätze virtuos vermischen und permanent ineinander verschwinden. Um ihn zu begreifen, sollen zunächst die unvermischten Grund-Möglichkeiten der beiden Antinomien sondiert und seziert werden.

 

Wer es mit dem ersten Prinzip der zweiten Antinomie (autonome „Gegen-Wirklichkeit“)hält, der wird das erste Prinzip der ersten Antinomie (unendliche Erweiterung des Kunstschönen) favorisieren und aus dem inneren Entwicklungsgang der modernen Kunst, gleichsam in deren Handflächen lesend, seine beiden Thesen bestätigt finden: Gegen-Wirklichkeit einer erweiterten und absolut neuen schönen Kunst. Wer es aber mit dem zweiten Prinzip der zweiten Antinomie (Leidens-Wirklichkeit) hält, der wird das zweite Prinzip der ersten Antinomie („nicht-mehr-schöne-Künste“) als Wahrheit behaupten: Leidens-Wirklichkeit als Inhalt und Form von „nicht-mehr-schönen-Künsten.“

 

Dennoch dürfte die dritte Position – das Wunder sei vollbracht – unter Künstlern und im Diskurs des Kunstbetriebes die Mehrheit für sich haben: erst die Leidens-Wirklichkeit der modernen Welt befähige deren authentische Kunst zur Schaffung einer neuen und „absoluten“ Schönheit. Der schöne Horror, die schreckliche Schönheit, das großartige Scheitern, diese habituell gewordenen Lieblingsmetaphern der ästhetischen Moderne bestimmen in unzähligen Abwandlungen den (post)modernen Diskurs über moderne Kunst und Ästhetik.

 

In der modernen Kunst selbst, wie auch im Denken, Reden und Urteilen über sie, scheint alles (jeder Inhalt, jede Form, jedes Schöne, jedes Hässliche) in sein Gegenteil mutieren zu können oder mutiert zu sein, – und noch der Schrecken der Massenmörder kann plötzlich als unterhaltsamer Stoff für Literatur und Kunst, ohnehin für das Kabarett dienen. – Eine demokratische Abstimmung, um herauszufinden, welcher Standpunkt die Mehrheit in der modernen Gesellschaft behauptet, wäre zwar empirisch-statistisch interessant (etwa um die Konsumentenströme der verschiedenen Kunstmärkte zu trendieren), für unsere Frage jedoch nicht zielführend, weil Mehrheitswerte nicht Wahrheitswerte in der Sache Kunst und Schönheit sind. Die dominierende Mehrheit könnte ebenso irren wie eine Minderheit, die von der Wahrheit ihres Standpunktes fanatisch überzeugt ist. Mit empirischer Feldforschungs-Ästhetik ist unserer Frage nicht beizukommen. [2]

[1] Karl Heinz Bohrer: Das absolute Schöne und die Hässlichkeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. November 1999, Beilage Seite IV. – Die anfangs noch unter Fragezeichen gestellte These: „Das Schöne in seiner absoluten Form sei eine Erscheinungsform des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen“, wird bejaht, weil die Autonomie der Kunst durch selbsteigene Differenzierung das neue und absolute Schöne offenbart habe; die These, daß die moderne Kunst das Absolut-Schöne hervorgebracht habe, lasse sich in „zweifacher Weise verstehen: als einem Schönen, das absolut gesetzt ist, und einem Absoluten, das die Form des Schönen angenommen hat.“ – Demnach wären die Tage einer neuen Kunstreligion nicht mehr ferne. Unwahrscheinlich jedoch, daß die Götter und Heroen des antiken Griechenlands die modernen Schönheiten als erbberechtigte Kinder oder Enkelkinder erkennen und anerkennen würden.

[2] Kants ‚ästhetischer Gemeinsinn’ (sensus communis), welcher der Objektivität der ästhetischen Urteile trotz deren Subjektivität und Begrifflosigkeit als übersinnliches Substrat zugrundelag, ist damit zerbrochen nicht nur, er ist gänzlich und wohl für immer aus der (künftigen) Geschichte der Künste verschwunden. Wie eine Kultur bestehen kann, die ohne jeglichen common sense über (sämtliche, auch die tradierten) Kunst-Inhalte und -Formen zurechtkommen muß, ist in der Geschichte der Menschheit noch nicht erprobt worden.