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Kapitel III

III.

 

Um den Standpunkt der ästhetisch Wundergläubigen vertreten zu können, muß dieser eine Verwandlung dessen annehmen, was dem gemeinen Bürger – gemeinhin als „gesundes Volksempfinden“ denunziert – missfällt. Eine Verwandlung, die dem (Rest-All)Gemeinen verborgen bleibe, weil er eben als durchaus Gemeiner die Gebilde der modernen Kunst erblicke und anhöre, erlebe und beurteile – so die Meinung der Wundergläubigen. Der ästhetische Geschmack des kunstungebildeten Gemeinen sei zurückgeblieben und hoffnungslos unserer Zeit hinterherhinkend. Daraus folgt für den Wunderstandpunkt, daß er die dem Gemeinen (dem Geschmack der Massen- oder Volkskultur Verfallenen) als hässlich und unverständlich erscheinenden Gebilde moderner Kunst als genaues Gegenteil behaupten und deren Ästhetik und Evangelium emphatisch missionieren muß. [1]

 

Auf diese Missionierung durch die Standpauke des kunstmodernen Schöngeistes (Verwandlung durch das Wunder ästhetischer Epiphanien und Apparitionen) reagiert der gemeine Standpunkt bekanntlich („Was soll das ganze Zeug?“) entweder mit Abwehr und Hohn („Dafür geben wir unsere Steuergelder aus?“) oder mit Gleichgültigkeit und Toleranz („Jedem sei das Vergnügen gegönnt, einer je eigenen Art von Schönheit und Kunstschönheit zu huldigen.“)

 

Der erste Standpunkt jedoch (neue Kunstschönheit durch weltlose, selbstreferentielle Kunst) muß – im Gegensatz zum Wunderstandpunkt – darauf beharren, dass die neue Schönheit neuer Kunst ganz nur aus deren eigener Formkraft, aus deren Eigengeist und -freiheit stamme, – aus einer neuen Vision neuer Schönheit von Kunst, die jenseits der modernen Gesellschaft und ihrer prekären Realität und Geschichte gesichtet und erhört wurde.

 

Es ist evident, daß dieser Standpunkt den größeren Teil der modernen Kunstproduktion, der ohne Zweifel auf die Realität der modernen Welt und deren Unvollkommenheit „referentiell“ ist, ignorieren muß, um das Problematische seiner Position zu verbergen. – Die Abstraktheit der (instrumentalen) Musik überhaupt und der modernen Musik insbesondere, in der die „absolute Musik“ der vormodernen – romantischen – scheinbar zu sich gekommen schien, als deren Vollendung, wie noch Adorno meinte, schien daher auch für die bildenden Künste der heroischen Moderne das Modell einer schlechthin selbstreferentiellen Kunst anzubieten.

 

Der zweite Standpunkt (nicht-mehr-schöne-Künste durch authentische Kunstdarstellung von modernem Leiden und Scheitern) wird hingegen, konfrontiert mit dem Missionsgeist des ästhetischen Wunderglaubens, große Probleme haben, sich vom Standpunkt des Gemeinen, also vom Massengeschmack und dessen Verweigerung oder Gleichgültigkeit gegenüber der ästhetischen Moderne, abzugrenzen.[2]

 

Wir haben daher in principio vier Standpunkte, die durch ihre Art, die beiden Grund-Antinomien zu verbinden, ermöglicht werden:

1) Die akosmische Position der selbstreferentiellen Kunst: durch ein „absolut“ neues Geistiges der Kunst entsteht eine neue „absolute“ Kunstschönheit, die folglich mit dem Inhalt und den Formen, mit den Stilen und Idiomen der Vormoderne vollständig brechen musste, um das völlig neue Schönheitsideal in die moderne Welt zu setzen. Der revolutionäre Bruch war die unbedingte Bedingung der neuen Epiphanien und Apparitionen. Moderne Kunst war und sei nicht „Ausdruck ihrer Zeit“, sondern Selbstausdruck ihrer unendlichen Binnendifferenzierung, – daher auch ihre unendliche Pluralität und Individualität möglich und notwendig.

 

2) Die realistische Position: durch authentische Wiedergabe der Gebrochenheit der modernen Welt und der Endlichkeit des säkularen Menschen entsteht eine neue, nicht-mehr-schöne-Kunst, die gleichfalls mit dem Inhalt und den Formen, mit den Stilen und Idiomen der Vormoderne vollständig brechen musste.

 

3) Die Verbindung beider zur Position des Wunderglaubens führt jedoch das Argument vor, dass die authentische Darstellung der Gebrochenheit moderner Welt und Menschen mitnichten auf den Weg einer nicht-mehr-schönen-Kunst, sondern durchaus in die Gefilde einer neuen und sogar „absoluten“ Schönheit geführt habe.[3]

 

4) Die gemeine Position der (Rest-All)Gemeinen, als entweder verhöhnende Gegenposition oder als tolerierende Gleichgültigkeitsposition. In der Perspektive dieser Position erscheinen die drei anderen Positionen und ebenso deren bekanntes juste milieu von unversöhnlichem Streit oder wunderbarer Verbrüderung, nichts weiter als eine verhaltensauffällige Inszenierung einer sonderbaren Künstler- und Expertenwelt. Denn wirklich wahre und gute Kunst habe eben das (bewährte und dennoch auch heute noch produzierbare) Schöne und Heitere zu schaffen, also jenes, das allen oder doch den meisten gefällt, und diese Erwartung und deren aktuelle Erfüllungsmöglichkeit durch unterhaltende Kunst (und Kitsch) ist die unbedingte Bedingung dafür, daß deren Gebilde ein Massenpublikum fesseln und zufrieden stellen.

 

In der Realität enthält auch der gemeine Standpunkt durchaus partielle Vermischungen mit den anderen Positionen, weil sein Verhalten zu den verschiedenen traditionellen Einzelkünsten, in denen das Paradigma moderner Kunst(-schönheit oder -nichtmehrschönheit) erscheint, sehr verschiedene (ablehnende oder zustimmende) Beziehungen möglich macht. Picassos Werke können einem eingefleischten Pop-Konsumenten durchaus zusagen, aber den Namen Boulez kennt er vielleicht noch nicht einmal als den eines Dirigenten. Daß jedoch einem Werbefotografen von heute die Werke von Boulez zusagen, der Name Picassos und dessen Werke aber noch gar nicht zu Gesicht gekommen sind, ist eher unwahrscheinlich.

[1] Weshalb dieses Missionieren für die bildende moderne Kunst glänzende, für die moderne Kunstmusik erbärmliche Erfolge erzielte, erläutert „Das Philosophon. Essays zur Musik“ unter LVII: “Sehen und Hören.“ (Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.)

[2] Exemplarisch war dies zu beobachten, wenn der Literat Ephraim Kishon, der als Prominenter den Protagonisten des gemeinen Geschmacks öffentlich inszenieren durfte, die moderne Malerei der Scharlatanerie und des Betruges, des skandalösen Unvermögens und der totalen Beliebigkeit bezichtigte. In seinem festen Sinn und Urteil („alles Unsinn“) konnte ihn kein Experte der modernen Malerei verunsichern, geschweige missionieren. Verständlich, denn der Kunstexperte von heute (in seiner Profession auch schon gemein geworden) pflegt gewöhnlich die erste (selbstreferentielle)Position oder die Wunderposition zu vertreten.

[3] Das Muster der Wundererzählung wurde schon im 19. Jahrhundert erprobt. Einerseits schien beispielsweise Baudelaires Leiden an den Verelendungsprozessen der industriellen Gesellschaft im 19. Jahrhundert die Genese von „nicht-mehr-schönen-Künsten“ ermöglicht zu haben; andererseits sollen gerade deren („poetisch“) dargestellte Deformationen von Humanität und Vernunft eine neue und auch noch „absolute Schönheit“ ermöglicht haben.