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Kapitel IX

IX.

 

Betrachten wir das selbstreferentielle Teilparadigma näher, das in den Spuren des im 19. Jahrhundert erstmals in der Geschichte der Kunst erscheinenden l’art pour l’art – Prinzips einen modernen Kunstgeist sui generis behauptet,[1] der zur Findung und Verkündigung einer völlig neuartigen und doch universalen Kunstschönheit befähigt und berufen sei.[2]

 

Dieser vollständig autonomisierte Kunstgeist, frei wie kein Kunstgeist vor ihm, an kein Gesetz, weder der Welt noch der (bisherigen) Kunstübung und -theorie gefesselt, muß neue Formen und Materien und deren Inhalte durch eine völlig freie Selbstfindung und -differenzierung, durch eine völlige Neugestaltung aller sinnlichen und geistigen Kunstakte zu erstreben suchen, um aus diesen neuen Elementen und deren neuen Synthesen jene neue absolute Kunstschönheit zu erschaffen, die zu finden und zu präsentieren seine Berufung sei.[3]

 

Ein Programm, dem die Künstler der heroischen Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekanntlich unter dem verinnerlichten Verbot nachkamen, auf Rückgriffe auf vormoderne Formen, Materien und Inhalte in eklektischer Weise – wie in der Postmoderne usuell – zu verzichten. Denn ein recycling des Vergangenen hätte die Suche und Findung der neuen, noch nie gewesenen Elemente und Synthesen der neuen Kunstschönheit sogleich deprimiert und desavouiert.[4]

 

Wäre nun das, was gefunden und präsentiert wurde, tatsächlich eine universale Kunstschönheit gewesen, so wäre diese neue Kunstschönheit, als Fortsetzung der alten, in allen traditionellen Einzelkünsten als deren je eigenes universales Kunst-Prinzip (einer Vereinigung von Form, Materie und Inhalt) erschienen, dem sogleich neue Gattungen und Stile, Typen und Verfahrensweisen – von vormodern stabilem Rang – entsprungen wären.

 

Der selbstreferentielle Strom der modernen Kunst hätte an diesen universalen Prinzipien einen neuen universalen Inhalt gehabt, der weit über die vormoderne Kunstform von Dekor, Ornament, Musterung, Arabeske usf hinaus als wirklich lebendige Kunstschönheit (erfüllter Inhalt als Einheit von neuem Material und neuer Form) gesellschaftsmächtig und -orientierend geworden wäre.

 

Einer solchen Form wäre ein allgemeines Formschema zuinnerst gelegen, das in jeder Einzelkunst deren weitere Formungen – zu Gattungen und Stilen, zu Techniken und individuellen Manieren -ermöglicht und präfiguriert hätte[5] Auf diese Weise hätte jede der traditionellen Einzelkünste endlich ihre je eigene absolute Formschönheit gefunden und alle klassizistische und romantische Formschönheit als obsolete Formen- und Inhaltswelt aus dem Gedächtnis der modernen Kultur verabschieden können.

 

Es versteht sich, dass eine absolute Formschönheit dieser neuen Art schon dem unausweichlichem Zwang zu totaler Pluralisierung und Individualisierung, das alle modernen Kunstarten sowohl bereichert wie beschränkt hat, widerspricht. Dieser Einwand, und nicht der beliebte soziologische: dass eine Kunst als l’art pour l’art eine Kunst für niemand sei, ist entscheidend; denn die Frage: wen könnten formale Selbstschönheiten der Künste, die als Erfindungen von Künstlern realisiert wurden, interessieren?, ist leicht und positiv zu beantworten: den kunstinteressierten Konsumenten und Demokraten. Mag dieser in der modernen Gesellschaft auch eine (interessante) Minderheit sein, so spielt dies keine Rolle, wenn das, wofür er sich interessiert, kraft der Kraft eines Marktes für seine Kunstgüter existieren kann.[6]

 

Es ist auch ökonomielogisch klar, dass partikulare Kunstschönheiten oder -nichtschönheiten nur über eine Unzahl von partikularen Kunst- und Veranstaltungsmärkten an die moderne Gesellschaft vermittelt werden können; Künstlerkünste können nicht im Zentrum und im Herzen der modernen Gesellschaft und deren Eliten entstanden, nicht von diesen beauftragt sein.[7]

 

Einzig noch die Großmärkte für Unterhaltungskunst und deren niedrige Schönheitsprofile erinnern ein wenig an den vormodernen Status von Kunst und Kunstschönheit. Bildende Kunst bedarf eines solchen überhaupt nicht, weil die vormodernen Genres dieser Art (Stehbilder, Panoramabilder, und viele andere, die heute nicht einmal mehr in Varieté und Volksfest anzutreffen sind) vom technologischen Marktführer Film weggeschwemmt wurden.[8] Allenfalls der comic strip und die Karikatur könnten mit der omnipräsenten Unterhaltungsmusik – in Wirkung (gute Laune) und Verursachung (Unterhaltungsbedürfnis) – verglichen werden.[9]

[1] Das nicht selbstreferentielle, sondern radikal realistische Teilparadigma meldet sich gleichfalls schon früh im 19. Jahrhundert mit seiner ersten modernen Stimme, etwa bei Büchner im „Lenz“: Kunst müsse das Leben darstellen, sich am und nach dem Leben bilden, gleichgültig ob das Leben schön oder hässlich sei, – nicht Schönheit sei der Zweck und Sinn von Kunst.

[2] Letztlich geht es darum, zwischen vormoderner und moderner Universalität von Kunst und Kunstschönheit zu unterscheiden. Die spezifische Differenz der Universalität der vormodernen Kunst und Kunstschönheit einerseits und der Partikularität und Individualisierung der modernen Kunst und Kunstschönheit andererseits kann nur am Begriffsinhalt und -unterschied von „modern“ und „vormodern“ verbindlich erörtert werden. Die Kategorien „Universalität“, Partikularität“ und Individualisierung“ müssen vor und in diesem Hintergrund der beiden fundamentalen Paradigmen von Kunst und Kunstschönheit begriffen werden. Weder kann eine Unvergleichbarkeit von angeblich Unvergleichbarem behauptet werden, noch kann die Identität der Verglichenen begründet werden. Zwei beliebte Versuche, einer vernünftigen Erörterung des Problems auszuweichen. – Liegen zwei Universalitäten einer Sache vor – hier von Kunst und Kunstschönheit – muß unsere Vernunft erkennen können, welche wahrhafter, welche weniger wahrhaft ist, unabhängig davon, ob die (wahrhaftigere) Sache in der aktuellen Geschichte nochmals dominierende Wirklichkeit zu sein beanspruchen kann. Aber vergangene Wahrheiten von Kunst und Kunstschönheit werden in der je künftigen Gegenwart anders aufgehoben und „überschrieben“ als alle Wahrheiten der Wissenschaften. Euklid bleibt noch erkennbar und lehrbar, auch wenn moderne Geometrie bereits „ganz woanders“ arbeitet. Anders Homer und Mozart, da Vinci und Shakespeare, die zwar auch neu übersetzt und gedeutet werden müssen, gleichwohl ein Recht auf Eigenbestehen und Eigenrezeption haben, auch wenn postmoderne Kunst die ganze Kunstgeschichte als „Steinbruch“ verwenden kann und muß. – Daß ein modernes Theaterstück, das moderne Missstände, Entfremdungen und Unfreiheiten auf unverblümteste, also unschönste Weise darstellt, für den säkularen Menschen von heute mehr Lebenswahrheit hat als die Werke von Homer und Beethoven, ist evident; aber auch mehr Kunstwahrheit? An dieser Frage zeigt sich der paradigmatische Unterschied von ‚vormodern’ und ‚modern’ unmittelbar: der terminus ad quem aller vormodernen Kunstwahrheit war Schönheit (eine zugleich kunst- und weltimmanente Schönheit und somit wahrhaft universale Schönheit), der der modernen Kunst nicht mehr.

[3] Der neue Inhalt soll nichts anderes sein als die Synthese neuen Materials und neuer Form: Vollendung des lart pour lart – Prinzips. – Dieses vollendet sich, wenn die Behauptung, daß es sich bei Produkten und Aktionen um Kunst handle, ebenso wichtig wird wie die Produktion und deren Produkte: das künstlerische Behaupten ist Kunst geworden, – Behauptungskunst.

[4] Als leere Utopie nämlich, als Illusion eines tabula rasa-Anfanges einer neuen Kunst.

[5] Mikrotonalität ist ein solcher Illusionsbegriff

[6] Dem entspricht, dass auch und gerade die Museen moderner Kunst immer mehr zu Verkaufsstätten mutieren, man betrachte etwa die Entwicklungsgeschichte des Centre Pompidou, das in diesen Tagen sein dreißigjähriges Bestandsjubiläum feiert. (Neue Zürcher Zeitung vom 31. Jänner 2007)

[7] Daher das Prekäre (Gekünstelte und Marginale) des heutigen – meist von Behörden oder Privatstiftungen organisierten – Auftragswesens, besonders in der Musik, in Theater, Literatur und bildender Kunst. Es sind eigene Auftragseliten (Kuratoren undsofort) entstanden, die sich der Verwaltung und Organisierung dessen annehmen, was in der Vormoderne ein inneres Bedürfnis der Gesellschaftseliten (Kirche, Hof, Adel, höheres Bürgertum undsofort) war.

[8] Beim Film, universale Kunstform und universale Marktform zugleich, könnte man versucht sein, den inneren Zusammenschluß (die innere Beauftragung von Gesellschaftselite und Künstlertum) wieder in Anspruch zu nehmen. Aber es ist eine andere Welt, eine andere Kunst und eine andere Gesellschaft, die nun kommunizieren; die Schönheitsideale der Filmkunst sind technologische, die daher mit den vormodernen nicht brechen mussten, die aber auch gar nicht im Sinn hatten, die vormodernen übertreffen zu wollen. Hier ist ein wirklicher Neuanfang, hier ist die Moderne bei sich zu Hause. Es bestimmt auch nicht eine Elite von (Kirche, Hof und Adel, aber auch nicht mehr nur von Künstlern selbst) darüber, welche Filme reüssieren sollen. Welche Filme welcher Firmen reüssieren konnten, erfahren wir nach jedem „Award“ verbindlich und unwiderruflich.

[9] Die großen Museen moderner Kunst (Tate Modern/London, Centre Pompidou/Paris, MoMA/ New York u.a.) – mit über zwei Millionen Besuchern pro Jahr – sind mittlerweile global player der Marktszene geworden. Diese müssen nicht nur mit Definitionsmacht über Kunst, die erscheinen soll, ausgerüstet sein, denn sie allein bestimmen, was globale Kunst zu sein hat. Sie müssen auch als Handels- und Verkaufsplätze, ebenso als Event-Salons agieren, denn bloß um „Kunst zu schauen“ wird bald niemand mehr ein Museum moderner Kunst aufsuchen. Nicht nur ist die Konkurrenz von Film, Fernsehen und Internet weit ergiebiger, es ist auch die eigene Überfülle des Angebots an moderner Kunst inflationär. Das Tate-Museum gesteht selbst ein, daß es sich nach der Schenkung von Gemälden durch den Zuckermillionär Henry Tate Ende des 19. Jahrhunderts zu einer „gesellschaftlich-politisch-ökonomischen Kunstmaschinerie“ entwickelt hat. Heute sei die Frage „Wer kuratiert und wer wird kuratiert?“ zu einer Überlebensfrage im Kunstkontext geworden. (Der Standard, 1.2.2007). Daß die „Universalität der Moderne“ in diesem Globalisierungsprozeß eine weitere Desillusionierung erfährt, indem das 21. Jahrhundert im Kunstbereich kein „westlich“ dominiertes mehr sein kann, ist evident. Zeitgenössische Kunstszenen aller Kontinente gewinnen an gleichberechtigtem Einfluß, und damit ist die einst europäisch intendierte Universalität von Moderne Vergangenheit geworden. Das Ende der kulturellen Kolonialisierung durch moderne Kunst der „klassischen Moderne“ hat begonnen. Und von einer neuen (kontinentalen?) Kunstschönheit, die in den traditionellen Künsten durchzusetzen oder zu „erweitern“ wäre, spricht niemand mehr.