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Kapitel V

V.

 

Zu seiner Selbstlegitimierung scheint sich der Wunderstandpunkt überdies auf die Geschichte der vormodernen Kunst, auf deren erfolgreiche Schönheitsgeschichte berufen zu können. Noch in den grausamsten Epochen und Kriegszeiten der vormodernen Geschichte erblühte schöne und schönste Kunst, die wir noch heute als solche ehren und erleben, und zwar in allen Einzelkünsten deren jeweiligem vormodernen Entwicklungstand universaler Stile und Gattungen gemäß. Sei es der Dreißigjährige Krieg, sei es der Peloponnesische, seien es alle der Römer und der christlichen Heerscharen durch die Jahrhunderte: trotz äußerstem Verderben, sozialer Not und Katastrophen blieben die Künste ihrer Schönheitsgeschichte bis ins 19. Jahrhundert im allgemeinen treu, Ausnahmen bestätigten die schöne Regel.

 

Und der Gedanke liegt nahe, daß auch die moderne Kunst an diese Regel anschließen könnte oder genauer: längst schon angeschlossen habe. Zwar mag noch bis zur Stunde Streit über deren neue Art neuer Schönheit sein, (denn immer noch gibt es den Standpunkt derer, die meinen, es handle sich um nicht-mehr-schöne Künste) aber dieser Streit werde – nach geglückter Missionierung der modernen Gesellschaft – beiseite gelegt und zugunsten des Wunderstandpunktes beendet sein.

 

Dem Einwand, solcher Missionierung bedurfte die vormoderne Kunst niemals, um als schöne anerkannt zu werden, und niemals sei sie erst post fest zur Erkennung und Anerkennung ihrer Schönheit durchgedrungen, könnte der Wunderstandpunkt, auf seinem rechtfertigenden Vergleichen bestehend, entgegnen, daß dieses Missionieren und postfeste Er- und Anerkennen (durch einen neuen künftigen Gemein- und Geschmackssinn) eben die notwendige Begleiterscheinung des radikal neuen Schönheitsideals der modernen Kunst sei.[1]

 

Es erhellt die Unmöglichkeit, moderne Kunstschönheit als realisierte durch direkte Vergleiche mit der vormodernen Geschichte des Kunstschönen zu behaupten, ein starker Hinweis auf die Tatsache, daß deren Werke niemals als zuerst (umstritten) hässliche erschienen, um dann – womöglich nach einem Jahrhundert – als schöne erkannt und gefeiert zu werden. Niemand hatte ein solches Verwandlungsargumentieren und -missionieren nötig, weil die Gebilde sogleich als (je aktuell) schöne erschienen; der Konsens über das, was in den Künsten schön zu sein vermochte, war noch nicht pluralistisch und individualistisch gebrochen.

 

Er war vielleicht einige Zeit, meist sehr kurze, umkämpft, aber dem Sieger blieb die Siegespalme unwiderruflich und in dem meisten Fällen bis heute.[2] Hässliches wurde sogleich ausgeschieden, Minderwertiges auf lokale Bereiche limitiert, Missglücktes vernichtet und in den Werkstätten nach gesellschaftlich anerkannten Schönheits- und Stil-Idealen gearbeitet. Die Hierarchie von Meister, Geselle und Lehrling war vom unmeisterlichen Treiben der Pfuscher oder Autodidakten und Dilettanten, aber auch von aller Volkskunst, sei es religiöser, sei es weltlicher, mit Gewissheit zu unterscheiden.[3]

 

Daß dieser hierarchisch eingebundene Künstler der Vormoderne – nach modernem Verständnis – noch nicht wirklich freier Künstler war, ist allerdings nicht zu bestreiten. Weder hatte er das Joch von Kirche und Herrschenden abgeschüttelt, noch verfügte er nach freiem (eklektischem) Belieben über die bisherigen Traditionen seiner Kunst. Auch seine kunstschönen Werke waren daher in einer Geschmackshierarchie integriert, deren letzte Referenz niemals die Freiheit des Künstlers allein sein konnte und durfte. Diese scheint den vormodernen Künstler nicht interessiert zu haben, wie wir im Perspektiv der Moderne auf die Vormoderne erkennen, eine Perspektive, die freilich unterstellt, der vormoderne Künstler hätte schon modern sein können und wollen.

 

Wenn der Wunderstandpunkt die Geschichte der modernen Kunst mit der Geschichte der vormodernen Künste vergleicht, um die Ähnlichkeit, ja die Identität der jeweiligen Genese von je neuer Kunstschönheit zu behaupten, dann unterstellt er das Modell einer immerwährenden Wiederholbarkeit eines Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft, wonach die Künste, gleichgültig welchen Freiheitszustand ihre Praxis und Theorie erreicht hat, berufen und befähigt seien, ein je neues Kunstschönes hervorzubringen und durch jeweils neue verbindliche Ästhetiken zu begreifen und zu beurteilen.

 

Eine These, die nicht nur den Bruch der Moderne mit der Vormoderne widerruft, sondern übersieht, dass sie in Wahrheit eine (unendliche) Fortschrittsgeschichte in der Genese und Anerkennbarkeit von Kunstschönheit unterstellt, weil die Freiheit der Künste von gestern nicht mehr die Freiheit der späteren Kunstepochen sein kann. Die früheren Kunstfreiheiten werden nicht nur gesellschaftlich, sie werden auch kunstimmanent obsolet und unfrei, und dieser unerbittlichen Tatsache – getane Taten sind die Sachen (ab)getaner Freiheit – widerspricht auch nicht die postmodern freie, nämlich eklektische Bearbeitung und Reflexion der vormodernen Kunstzustände, im Gegenteil, diese vollendet Genese und Prozedere von Kunstfreiheit, weil sie wirklich jede Kunstpraxis (Stile, Syntaxen, Idiome) einer normlosen (pluralistischen und individualistischen) Praxis und Theorie unterwerfen kann und soll.[4]

 

Da der apologetische (Selbst)Vergleich mit der vormodernen Geschichte von Kunstschönheit unhaltbar und selbstwidersprüchlich ist, muß der Wunderstandpunkt den Mut haben, auf seiner These eines Neuanfanges durch die ästhetische Moderne zu beharren; nicht Fortschritt und Vollendung, sondern absoluter Neubeginn sei gewagt worden, – Neue Kunst für neue Menschen und daher völlig neue Arten von Schönheit oder Hässlichkeit.

 

Der wirkliche Fortschritt der modernen Kunst über die vormoderne hinaus darf nicht verraten werden. Dieser besteht eben darin, daß das Leiden und Scheitern, die Vergänglichkeit und Katastrophen dieser Welt nicht mehr verschönert werden zugunsten einer Repräsentanz triumphierenden Herrschertums und aristokratischer Schöngeister; dass das Endliche weder verniedlicht oder überhaupt ausgeschlossen bleibe vom Kanon des durch Kunst Darzustellenden.

 

Die Endlichkeit des Menschenschicksals darf und soll als unversöhntes dargestellt werden, – unverklärt und unverschönt; und zugleich muß auch der Preis für diesen Freiheitsauftrag bezahlt werden, indem nur ein unglücklich an dieser Welt leidendes Bewusstsein diesen Auftrag und dieses Bedürfnis befriedigen kann. Die moderne Freiheit moderner Kunst ist nicht rücknehmbar: das Endliche in seinem Scheitern, in seiner Unversöhntheit, in seiner Verzweiflung, in seiner Leere und Hoffnungslosigkeit darzustellen – als ein Kreuz und nichts als ein Kreuz, ohne die Rose der Versöhnung. Eine Freiheit, die auch deshalb ungehemmt und (fast ohne) Einschränkung ausgelebt und dargestellt werden darf und soll, weil für ein glückliches säkulares Bewusstsein in der modernen Kultur ohnehin das überbordende Angebot der Unterhaltungskünste sorgt.

[1] Und hier könnte der moderne Standpunkt, sein Vergleichen festhaltend, auf Konkurrenzkämpfe in der Geschichte der vormodernen Künste verweisen, in der doch auch das je Neue gegen das obsolet gewordene Alte zu kämpfen hatte. – Allerdings, aber das alte Neue hatte noch die Möglichkeit, universal zu siegen, denn es dominierte in jeder aktuellen Gegenwart eine je aktuelle Kunst- und Stilart, je aktuelle
Gattungen und Typen, Genres und Techniken.

[2] An der Hierarchie von Siegern und Unterlegenen: Großmeistern und Kleinmeistern, um einen kunstgeschichtlichen Kategorienunterschied zu variieren, der noch heute das Pantheon unserer historistischen Kunstwissenschaften ziert, lässt sich die Wahrheit dieser Siege anschaulich miterleben. Dem vormodernen Kunstschönen war eine Vollendungshierarchie eingeschrieben, die sich in den Einzelkünsten erbarmungslos durchzusetzen hatte. Daher das verbindliche Überragen der Großmeister über die Zweit- und Drittmeister. Eine Hierarchie übrigens, die im jeweiligen epochalen Zerfall der Stile in Manierismen und Individualexperimente eine Vorwegnahme der modernen Freiheit andeutete.

[3] Es versteht sich, daß diese Hierarchie in den Einzelkünsten und deren Geschichte (Architektur, Skulptur, Malerei, Musik, Dichtung) extrem unterschiedliche Realität erreichte.

[4] Daher auch die These und der Glaube der Väter der ästhetischen Moderne (Busoni, Schönberg, Kandinsky, Corbusier, Breton, Joyce undsofort) die (traditionellen) Künste hätten erst als moderne ihre wahre und absolute Schönheit erlangt.