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Kapitel VI

VI.

 

Auch der akosmische Standpunkt moderner Kunst und Ästhetik ist nicht gefeit gegen die Versuchung, durch einen apologetischen Vergleich mit der vormodernen Kunst(geschichte) sich als Wiederholungs- oder Fortschrittsgeschichte der vormodernen Kunstfreiheit zu belügen. Aber auch dieser Versuch kann weder in seinen Prämissen noch in seinen Konsequenzen widerspruchsfreie Konsistenz beanspruchen.

 

Denn alle vormoderne Kunst verfügte über ein höheres Reservat an Inhalten (und Formen) gleichsam weltloser Dignität: an der eigenen (christlichen)Religion wie an der unvergesslich mitgeführten der Antike; ein Mythen- und Figurenschatz, der sowohl auf die aktuelle Gegenwart beziehbar und vom jeweiligen Heute anverwandelbar war, wie zugleich über jeder Gegenwart in einer gewissen und gewußten Art von Ewigkeit schwebte.

 

Alle Topoi von Kreuzigung beispielsweise enthielten den ewigen Inhalt eines Gottes-Todes und zugleich, verpflanzt auf einen gemalten niederländischen Hügel oder in eine Schlosskapelle eines Fürsten, die zeit- und kunstgemäße Aktualisierung des Ewigen. Und keine antike mythische Figur und Geschichte, die nicht in irgendeines Herrschers (und auch der Kirche) Selbstdarstellungsgloriole eingegangen wäre; noch Napoleon konnte und sollte von Jacques-Louis David als antiker Imperator in einer nochmals stimmigen Art von klassizistischem Stil präsentiert werden.[1]

 

An diesem höheren Reservat und nicht an einem selbstreferentiellen Denken und Schaffen eines vollends zu sich befreiten Künstlertums hatte die vormoderne Kunst(Geschichte) ihre absolute und zugleich geschichtliche Referenz, – jenes übersinnliche Substrat, auf dessen Grundlage ein länder- und nationenübergreifender Konsens – der Kirche und der Herrschenden – über die Gattungen und Arten von Kunstschönheit möglich war, und den noch Kants Theorie des ästhetischen Geschmacks als unersetzlichen Anker für die Verbindlichkeit von Kunstschönheit benötigte.

 

In diesem Paradies darf und soll von endlichen Menschen und bloß endlichen Schicksalen nicht gehandelt, nicht gemalt, nicht musiziert und kaum geschrieben werden. Auch ein Shakespeare, der realen Geschichte sich annehmend, um deren Größe (und Verhängnis) in schöne und erhabene Dramatik oder anmutige Komödie zu übersetzen, lässt die Schicksale seiner Heroen: Caesar, Hamlet, Coriolanus, Timon von Athen undsofort wie gattungsresistente Geschichten von mythischen Figuren und Schicksalen erscheinen, was uns Modernen die suspekte Aussage erlaubt, Shakespeare hätte das Allgemeinmenschliche des und jedes Menschen dargestellt.

 

Und noch das reale Grauen (König Lear, Troilus und Cressida, Richarde der Dritte undsofort) der Geschichte ist durch eine erhabene Schönheits-Sprache katharsisfähig transformiert, was nicht ausschließt, dass der Dichter sämtliche Stände seiner Zeit auch in ihrer Sprechweise vorspielen läßt[2] In vormoderner Kunst durchstrahlt und befriedet ein versöhnend Ewiges, nicht zu verwechseln mit dem (modernen) Hohlbegriff „Allgemeinmenschlichkeit“, noch die erbärmlichste Realität endlichen Daseins, sofern sie überhaupt ein künstlerisches Bühnenlicht findet, – wie etwa an der niederländischen Genremalerei zurecht erfahren und gerühmt wird.

 

Daraus ergibt sich die merkwürdige Asymmetrie, dass ausgerechnet (in moderner Perspektive) die Unfreiheit und Inhumanität der vormodernen Gesellschaft und Kultur mit ihren (in moderner Perspektive) grausamen und barbarischen Zuständen und Entwicklungen, eine conditio sine qua non war für die Ermöglichung und Verwirklichung universaler Kunstschönheit. Sollte es daher wahr und richtig sein, dass die moderne Kunst, ihren Traum (von dem ihre falschen Vergleichsprojektionen auf die vormoderne Kunst zeugen), das vormoderne Kunstschöne zu steigern oder gar zu vollenden, nicht erfüllen konnte, ist es unnötig, darüber zu lamentieren, weil der Fortschritt außerhalb der Künste – der politische und rechtliche, der wissenschaftliche und gesellschaftliche Freiheitsfortschritt der modernen Kultur – diesen Verlust mehr als kompensiert.

 

Wenn es sich aber in der Tat um den erreichten Zustand nicht-mehr-schöner Künste handeln sollte, dann muß zwischen diesem und der freigesetzten Pluralität und Individualisierung moderner Kunst ein kausaler Zusammenhang bestehen. Es ist, als ob die Freiheit der Kunst alles künstlerische Tun und Lassen über jedes bisher leitende Schönheitsideal, aber auch über jeden möglichen neuen Begriff eines neuen Schönheitsideals unbarmherzig und unwiderruflich hinausgeschleudert hätte. Sollte aber doch das Gegenteil der Fall sein, wie uns der Wunderstandpunkt und – weniger paradox – der akosmisch selbstreferentielle Standpunkt mitteilt, hätten wir das Neue am neuen und „absoluten“ Kunstschönen moderner Kunst noch nicht verbindlich erfahren und begriffen.

 

Im anderen Fall jedoch (nicht-mehr-schöne Künste) wäre die moderne Kunst wie eine ihrer selbst unbewusste Fürbitte in die moderne Kultur gestellt. Denn um Endlichkeit wirklich endlich – in selbstauthentischer Verzweiflung – darzustellen, muß der pluralisierte Individualismus das Innerste des modernen Individuums, dessen totale Endlichkeit als bewusste Nichtigkeit entäußern. Eine Selbstdarstellung des säkularen Humanus in seiner ganzen Erbärmlichkeit, aber auch in seiner Erbarmungswürdigkeit, ohne dass jedoch moderne Kunst über Wege – Heiligtümer, Güter und Wahrheiten – verfügen könnte, dieser Würdigkeit eine Anerkennung zu gewähren, die den Versöhnungscharakter vormoderner Kunst und Kunstschönheit erreichen oder gar steigern könnte und sollte[3].

 

Die unbewussten Fürbitten der nicht-mehr-schönen-Künste sprechen das Leiden des säkularen Ecce homo an sich selbst aus: stellvertretend für jeden modernen Menschen. Oder mit anderen Worten: moderne Kunst (als nicht-mehr-schöne) muß ein halbiertes Christentum in Anspruch nehmen, um überhaupt als moderne – und nicht als unterhaltungsmoderne – erkennbar und anerkennbar zu bleiben.

[1] Ohne Zweifel war die seit der späteren Neuzeit erfolgende Adaptierung nationaler Mythen ein Abstieg in partikulare und nationale Kunst. An Wagners germanischer Mythik polarisierten sich die (noch nicht) europäischen Geister.

[2] Diese Katharsisfähigkeit muß jede moderne Inszenierung Shakespearescher Dramen tilgen und „dekonstruieren“, um die Unglaubwürdigkeit des vormodernen Versöhnungssubstrates für den modernen Menschen zu präsentieren. Der schöne Schein traditioneller Kunstversöhnung muß zu Staub und Ruine zerfallen, wie es sich für einen Standpunkt gehört, der sich – besonders in Theater und Opernbühne – zur vormodernen Kunst verhält wie Gläubiger und Verwalter der kritischen Konkursmasse ihres Vermögens.

[3] Dies der innerste Grund für die Fortexistenz vormoderner Kunst und Kunstschönheit im Bewusstsein des modernen Menschen, sofern dieser sich ein Organ für vergangene Kunstversöhnungen erhalten konnte. In der Regel genügen ihm die unterhaltenden von heute.