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Kapitel VII

VII.

 

Die Grundfrage, ob die moderne Kunst das Kunstschöne erweitert habe, (wenn ja, in welchem Sinn?, wenn aber nein, in welchem anderen Sinn?) ist nicht dadurch beantwortbar, daß sie für gleichgültig erachtet wird, weil die Pluralisierung und Individualisierung moderner Kunst eine Fülle und Überfülle von Kunstproduktion hervorgebracht hätte, welche diese Frage überflüssig gemacht habe. Denn diese (beliebte) Antwort kann immer noch von beiden Standpunkten – neue Schönheit versus nicht-mehr-schöne Künste (und deren beiden Fluchtantworten) – reklamiert werden, weil auch die als erreicht behauptete ästhetische Vergleichgültigung entweder als Erweiterung oder als Beendigung einer stringenten und verbindlichen historischen Entwicklung neuer Kunstschönheit interpretiert werden kann.[1]

 

Und diese nicht abzuschüttelnde Ambivalenz umfängt auch die ästhetische Theorie moderner Kunst; wird nämlich behauptet, in moderner Ästhetik sei an die Stelle des (nun obsoleten) Grundbegriffes einer universalen Kunstschönheit, (die ihre Gegen-Begriffe – Erhabenheit-Häßlichkeit-Komisches – noch unter sich subsumieren und ihrer Substanz und Macht integrieren konnte) eine Fülle und Überfülle verschiedenartigster Ansätze, partikularer Begriffe und individueller Modelle (von Schönheit oder Nicht-Mehr-Schönheit) durch völlig frei und autark sich differenzierende Einzelkünste getreten, so wäre dies nur die Fest- und Nachschreibung dessen, was heute aktuell ist; eine Verdoppelung der beschriebenen Realität, nicht deren Begriff. Sie (Realität und Festschreibung) könnte „Erweiterung“ entweder in diesem oder in jenem Sinne sein; und ungeklärt bleibt die Frage, ob eine neue Artenvielfalt neuer Kunstschönheit, ohne einen Gattungsbegriff derselben überhaupt ausgesagt und als existent behauptet werden kann.[2]

 

Sind, modern gesprochen: an die Stelle der alten Schubladen, moderne, schubladenfreie Kästen und Kataloge getreten, oder metahistorisch gesprochen, (weil den modernen und vormodernen Standpunkt als konkreten und irreversiblen Unterschied festhaltend): an die Stelle universaler Kunstschönheiten und deren Idealisierungs-Leitbilder tausend partikulare und individuelle getreten, ist nicht nur das Wort „schön“ nicht mehr gesellschaftlich diskursfähig, es ist auch das Wort „Kunst“ problematisch geworden.

 

Das Wort „schön“ regrediert zum Als-Ob-Wort eines Als-Ob-Begriffes, das jeder Diskutant entweder verwenden oder auch nicht verwenden kann, und das Wort „Kunst“ verweist auf einen Diskurs (samt Geschmack und Urteil), dessen immanente Kriterien Schein geworden sind: realer, nicht bloß ästhetischer. Kunst existierte zwar noch, ob aber und wie objektiv, könnte niemand mehr durch objektive Gründe begründen, weil ein Wesen ohne Grenze nicht definiert werden, und ein Begriff ohne Grenze nicht definieren kann. [3]

 

Und endlich könnten die modernen Kunstwissenschaften, die ihre Befreiung von jeder philosophischen Ästhetik immer schon für eine gehalten haben, dazu übergehen, alle tausend „Arten“ von Kunst und Kunstschönheit wertfrei wissenschaftlich zu beschreiben und zu verwalten, – mittels soziologischer, psychologischer, biographischer, naturalistisch bornierter oder einer anderen Leitwissenschaft. Mit dem bedrückenden Fazit: Aussagensysteme über Kunst zu gebären, die empirisch ebenso exakt wie ästhetisch beliebig und unverbindlich bleiben und die Frage nach der objektiven Existenz von Kunst (oder Kunstschönheit oder deren Gegenteil) durch den naiven Dogmatismus einer empirischen Objekt- und Erlebnisgläubigkeit für beantwortbar halten.[4]

 

Die Nichtharmlosigkeit der „Erweiterungsfrage“ wird offensichtlich. Es geht nicht darum, unter dem simplen Gegensatz von schön oder nicht-schön ein Gesamturteil über die Gesamtproduktion moderner Kunst zu fällen, sondern darum, zu präzisieren, wie wir uns (als Künstler, Publikum, Kritiker, Wissenschaftler undsoweiter) zur Erfahrung von moderner Kunst (als einer Welt unendlicher Selbstdifferenzierung alias Spiritualität oder/und einer Macht unendlicher Weltdenunzierung alias säkularer Fürbitte) verhalten sollen.

 

Sosehr jeder polarisierende Standpunkt (angesichts der unendlichen Pluralisierung und Individualisierung) sinnwidrig geworden ist, ebenso sehr ist aber auch die These des Wunderstandpunktes, wonach eine universale Verwandlung alles Hässlichen (in jeder Form) moderner Kunst in eine neue oder gar absolute Schönheit erfolgt sei oder erfolgen werde, eine problematische geworden.

 

Wenn es richtig und wahr ist, daß die moderne Kunst, durch ihre Freiheit und Entwicklung nicht nur über jedes bisher (in der Vormoderne) leitende Schönheitsideal, sondern über jeden möglichen neuen Begriff eines neuen Schönheitsideals von gesamtkultureller Macht hinausgeworfen wurde, dann gilt dies selbstverständlich auch für jene (unzähligen) Stränge moderner Kunst, die sich „akosmisch“, also streng selbstreferentiell (weltlos) entfalten, indem sie ihr Material und ihre Formen einer totalen (formalen und materiellen) Pluralisierung und Individualisierung unterwerfen.

 

Die Kausalität von Pluralisierung und Individualisierung gilt auch für diese akosmische Moderne, sei sie esoterisch („spirituell“), sei sie dekorativ (etwa geometrisch) oder „rein abstrakt“ unterwegs, wobei wiederum die Musik, als radikal moderne, wie schon erwähnt, ein universales Leitbild zu enthalten schien für alle traditionellen Künste (sogar für die Dichtung), die als moderne nach einer absoluten Selbstreferenz suchten.[5]

[1] Zudem lässt der neutrale Negations-Ausdruck „nicht-mehr-schön“ offen, ob die bestimmte Negation des Positivums „schön“, nämlich hässlich, gemeint ist; oder die unbestimmte Negation: ein Jenseits (irgendwo und irgendwie) von Schönheit und Hässlichkeit.

[2] Diese Unsicherheit macht sich die moderne Kunst scheinbar positiv zu Nutze: sie entgrenzt alle bisherigen Gattungs-und Artgrenzen auch innerhalb der einzelnen Künste, sei es durch Vermischung (Cross-Over, Fluxus) derselben, sei es durch Entgrenzung von Kunst in das Gebiet von Nicht-Kunst vulgo Leben. Besonders diese zweite Entgrenzungs-Manie ist vielfach schon usuell geworden: Augenblicklich kann durch („ästhetische“) Deklaration oder Inszenierung etwas, das eben noch Alltag und Leben war, in ein „Werk“ oder eine „Aktion“ von „Kunst“ verwandelt werden. Aber auch das Umgekehrte ist usuell: Verwandlung von Werken und Praxen der vormodernen, aber auch der modernen Künste durch moderne Reproduktions- und Animationsmedien, die den Konsumenten zu einer Art „demokratischen“ Künstler zu erheben versuchen.

[3] Und auch die Namen „Ästhetik“ und „ästhetisch“ wären andere geworden, wie sich an den (post)modernen Aisthesis-Ästhetiken zeigen lässt. Deren „Erweiterung“ kreist zwar immer auch um das Schöne und Kunstschöne, doch unter Aufhebung jener Grenzen, die in vormoderner Ästhetik den Diskurs über die Idee der Schönheit in den Künsten verbindlich gemacht hatten.

[4] Darin wird auch der Wissenschaftscharakter von (Kunst)Wissenschaft Schein; die rächende Nemesis der verratenen Ästhetik macht alle empirischen Kunstbegriffe nur mehr zu solchen: sie sind völlig erfüllt und evident, jedermann einleuchtend, aber durch ein leeres und nichtssagendes Licht.

[5] Eine letztmögliche Überdehnung – also Illusion – des scheinbar ewigen, aber doch nur vormodern möglichen Pythagoreismus in Musik und Kunst.