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Kapitel X

X.

 

Der selbstreferentielle Schönheitsbegriff moderner Kunst muß entschiedene „Absolutheit“ für sein absolut autonomes Konzept von Kunstschönheit beantragen, weil er jene theonom absoluten Begriffe, die den vormodernen Kunst- und Schönheitsbegriff trugen und begleiteten, nämlich das Wahre und das Gute und auch das ontologische Sein von Welt und Menschheit, (davor auch noch das Heilige von Religion), verabschieden mußte.

 

Der moderne Schönheitsbegriff muß seine eigene Wahrheit und Gutheit, seine eigene Ontologie sein und darstellen, und er muß auch den Satz „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ säkular vollenden und dadurch parodieren. Er kann und muß sich daher über alle (gesetzlichen und realen) Vorgaben von Natur und Gesellschaft, von Religion und Wissenschaft, Philosophie und Politik, Sitte und Konvention hinwegsetzen, denn in seinem Reich gelten andere Gesetze, erscheinen andere Sitten, Erlöser, Konventionen, Gesichter, Melodien, Gebäude, Skulpturen und Sprachen als in der gewöhnlichen säkularen Welt von heute und ohnehin als in der vormodernen Kunst- und Schönheitswelt von gestern.[1]

 

Dennoch bleibt das Reich moderner Kunstschönheit ein realer Teil dieser säkularen Welt, ein je nach Konjunktur sowohl prosperierender wie auch schrumpfender Kulturanteil, der in den speziellen Märkten für Kunst und moderne Kunst existenzfähig ist. Und dieser Widerspruch: zugleich nicht von dieser Welt sein zu wollen und doch nur ein akzeptierter Teil (neben unzähligen anderen) dieser Welt sein zu können, ist eine weitere Antinomie und Ambivalenz in Begriff und Realität moderner Kunst und Kunstschönheit, die in ihrer begründeten Notwendigkeit zu verstehen und aufzulösen ist.[2]

 

Indem die (nichtkontingente) Vernunft von Sein, Wahrheit und Gutheit (das die Welt von Natur und Geist im Innersten zusammenhält) aus dem Schaffen und Wirken der Kunst verschwindet, weil deren Schönheit oder Nichtschönheit die alten Träger und Begleiter vormoderner Kunst und Kunstschönheit verabschieden musste, nachdem zuvor schon der Dienst am Heiligen als unfreies Kunst-Schaffen und -Wirken verabschiedet wurde, ist die vom frühen Nietzsche eingeforderte Entmoralisierung der Kunst um jene Entlogifizierung des Wesens von Kunst und Künsten erweitert, die es unmöglich macht, irgendeinen der unzähligen Kunst- und Schönheitsbegriffe moderner Provenienz durch irgendeinen Bezug auf Seins-, Wahrheits- und Gutheitsinhalte (oder gar Heiligtümer) dieser Welt zu legitimieren, im Gegenteil: legitim ist einzig ein (kontingentes) Gegen-Wahres und Gegen-Gutes als substantieller Bestandteil eines neuen Kunstschönen, das daher nur mehr durch sich von sich sagen kann, daß es das wirkliche Sein eines wirklichen Schönen sei.[3] Das Selbst der Selbstreferenz ist ihre Selbstreferenz.

 

Für die realistische Version des modernen Kunstparadigmas liegt oder lag eine Begründung für diese „Verabsolutierung“ von moderner Kunstfreiheit in der Schlechtigkeit und Unwahrheit dieser Welt; die Realität der modernen Gesellschaft und der Geschichte im 20. Jahrhundert beweise doch eindrücklich, daß es schlecht stehe um die moderne Welt, und daher müsse Kunst aus den Tiefen einer anderen Welt, deren Vorreiter der moderne Künstler sei, wenigstens eine fürbittende Klage um eine andere Welt vorbringen, wenn nicht sogar Gegenmodelle einer neuer Welt und Menschheit hervorzaubern.

 

Ohne Zweifel wäre damit die moderne Kunst das Allerheiligste und das Sinnzentrum der modernen Welt, deren innerste Freiheits-Substanz, aus der sich für alle anderen Bereiche der modernen Welt (Leben, Gesellschaft, Politik, Ökonomie, Religion und Wissenschaft) Modelle von Wahrheit und Gutheit (Vernunftlogik und Moral sowie Ethos), wenn auch oft nur als „kritische Konzepte“, ableiten ließen.[4] Doch ist die Frage: „Welche Kunst ist eigentlich gemeint?“, nicht zu hintergehen, weil zur Autonomisierung von moderner Kunstfreiheit unabdingbar die Freiheit gehört, jede traditionelle Einzelkunst ihre je eigene Autonomie setzen und darstellen zu lassen. Der Begriff „moderne Kunst“ ist nur als (nicht mehr zentral organisierbare) Pluralität und Individualität von Künsten und deren Kunstweisen existent.[5]

 

Folglich legt sich die Annahme nahe, die moderne Kunst könnte doch nicht das Sinnzentrum und Allerheiligste der modernen Welt sein, weil sie und ihr (umstrittenes)Kunstschönes lediglich „absolute“ Kunst geworden sein könnte, eine ‚säkulare Kunstreligion’, und der Selbst-Widerspruch in diesem Ausdruck entlarvt sich am „luziden“ Gebrauch des Wortes und der Kategorie „absolut“, die in diesem Fall in exakt gegen-hegelschem Wortsinn verstanden und ausgesprochen wird.

 

In Hegels Theorie des absoluten Geistes sah sich die Kunst in den Bund des höchsten überhaupt möglichen Triumvirats von Freiheit aufgenommen, – in der Theorie der ästhetischen Moderne hätte die absolute Kunst den absoluten Geist verdrängt oder ersetzt. Demnach hätte moderne Kunst sich als ihre eigene Religion, die aber zugleich keine wirkliche Religion mehr sein kann, verwirklicht, – als ihre eigene und daher stets scheinhaft gebrochene Entität von Wahrheit und Gutheit und Schönheit, von (Un)Moralität, (Un)Sittlichkeit, (Un)Wissenschaft, (Un)Philosophie und (Un)Religion.

 

Ist aber diese These wahr und richtig, stellt sich die Frage, warum mit dem Ende der Neuzeit („1914“) das vormoderne Convertuntur von Ens et Verum et Bonum et Pulchrum im Reich der Künste vormoderner Provenienz das Zeitliche gesegnet hat. Wie beim Begriff der Universalität haben wir auch beim Begriff des Absoluten nur die Möglichkeit, die beiden „Versionen“ des Absoluten: Vormodern und Modern zu vergleichen, um die universale Möglichkeit der Selbst-Entgegensetzung im Begriff des Absoluten (und des absoluten Geistes) selbst zu erkennen; somit auf einer wahrhaft metahistorischen Ebene: dass die erfüllte absolute Geschichte absoluter Kunstschönheit die Bedingung der Möglichkeit dafür war und ist, dass eine neue Geschichte absoluter Kunstfreiheit beginnen konnte und sollte.[6] Das erfüllte Ende von ästhetischer Nichtkontingenz im Reich der Künste ist die Bedingung der Möglichkeit befreiter Kontingenz derselben Künste.

 

Die meisten Irrtümer und Fehleinschätzungen moderner Kunst und Kunstschönheit (oder -nichtschönheit), aber auch die Beliebigkeit ihres Diskurses, die aktuelle Vergleichgültigung und Verworrenheit ihrer Kategorien und Worte, lassen sich daher darauf zurückführen, dass zwischen „absolut“ und ‚absolut’ nicht unterschieden wird; teils wird das moderne „absolut“ auf das vormoderne ‚absolut’ projiziert, teils werden die Ansprüche und Vollendungsmöglichkeiten des vormodernen ‚absolut’ auf das moderne „absolut“ projiziert, teils gehen beide Paradigmen in einem Chaos beliebiger Verwechslung ineinander, Vormodern wird Modern und Modern wird Vormodern.[7]

 

Wenn man den vormodernen Absolutheits- und Totalitätsanspruch von Kunst (das realisierte „convertuntur“) auch noch für das moderne Kunstparadigma aufrechterhalten oder gar steigern möchte, muß jeder Versuch dieser Art an innerem Selbstwiderspruch scheitern. Und dieses Scheitern sollte nicht als „Erfolg“, womöglich als „großartiger“ ausgegeben werden, sondern nur als Bestätigung der Grenze einer Kunst, die nur mehr als radikal endliche im Rang einer wirklich modernen Kunst – „grenzenlos“ – reüssieren kann und soll. Auch dieses „großartig“ und „grenzenlos“ steht unter modernen Anführungszeichen, die das Scheinhafte und Gebrochene des modernen Schönheitsabsoluten festhalten.

 

Überträgt man jedoch das moderne Paradigma befreiter und entgrenzter, damit aber auch radikal endlicher Kunst auf die Kunst der Vormoderne, muß diese als kümmerliche Vorstufe und barbarische Unfreiheit, als Unwahrheit und sogar als Amoralität und Unsittlichkeit (Mitschuld an der Herrschaft der Regierenden) gedeutet werden, als glatte und zynische Schönheit im Dienst der Unterdrücker und Ausbeuter.

 

Daß eine unendlich (grenzenlos) pluralisier- und individualisierbare Kunstsubstanz und -freiheit eine radikal andere sein muß als die streng begrenzte der Vormoderne, sollte evident sein. Diese verfügte über eine Vollendbarkeit von universalen Stilen und Gattungen (samt Genres, Themen und Motiven) durch Originalgenies und deren Vorbereiter und manieristische Nachahmer; über eine überschaubare Anzahl von Künstlern und eine ebenso endliche Anzahl von verbindlichen Meisterwerken (und Nicht-Meisterwerken) in einem hierarchischen Ganzen von Geschmack, Können und Verstehen, das die Kultur der herrschenden Klassen nicht nur dekorierte (und ökonomisch bereicherte) oder unterhielt, sondern als affirmativer Repräsentations-Spiegel der Freiheit ihres gesellschaftlichen Lebens unersetzlich war.

 

Weil Kunst als unersetzlicher Faktor der Vergemeinschaftung der führenden Eliten noch nicht an Märkte moderner Art delegiert war, verschwanden mit den herrschenden Klassen und ihrer epochalen Kultur auch deren Kunstformen und -inhalte, wenn eine Kunst- und Kulturepoche sich erschöpft hatte, – und die des Abendlandes konnten immerhin noch an die hundert bis hundertfünfzig Jahre währen. Doch in der je folgenden Epoche gab es kaum Versuchungen, mittels Museen und musealen Konzert- und Opernprogrammen, nebst wissenschaftlichen Begleitarmeen, die Werke und Stile der verflossenen Ära wiederaufzuwärmen, – denn es gab frische Speise und Trank, unschuldiges Essen und Trinken.

 

Auch die neue Epoche konnte nochmals eine Kunst generieren, die mit dem aktuellen Freiheitsprocedere der vormodernen Gesellschaft auf gleichem Niveau stand, – der je neuen Gesellschafts-, Religions- und Politikform entsprach deren neue Kunst- und Kulturform. Waren beide vollendet, begann sich die Reihe an einem neuen Knoten fortzuspinnen.[8]

 

Weder am Beginn der realen Moderne (zu Anfang des 20. Jahrhunderts) noch an deren Übergang in die reale Postmoderne sehen wir ein der Entwicklung vormoderner Kunst vergleichbares Geschehen. Denn auch die Postmoderne verhält sich zur Moderne nicht wie Renaissance zur Gotik, wie Barock zur Renaissance, wie Romantik zu Klassizismus und auch nicht wie Moderne zu Romantik und Klassizismus.

 

Die Moderne musste Begriff und Realität von vormoderner Originalität und Genie an die Begriffe und Realitäten von („absoluter“) Innovation und singulärem Erst-Erfindertum delegieren. Damit aber lassen sich die Freiheitsinnovationen aller anderen Bereiche der modernern Gesellschaft nicht mehr darstellen und auch nicht mehr repräsentieren. Doch nur diese radikale Scheidung und Trennung ermöglichte jene Innovationslogiken befreiter ästhetischer Kontingenz, die der modernen Kunst ermöglichten, entweder selbstreferentiell mit ihren formalen und materiellen Möglichkeiten zu spielen, oder diese Möglichkeiten als Mittel für eine umfassende Kritik an den Übeln der modernen Welt einzusetzen oder aber auch als Darstellungsmittel der je individuellen Obsessionen und Phantasien zu verwenden. Ein Entweder-Oder, das selbstverständlich nur ein prinzipielles ist, weil kaum ein Künstler der Moderne – gestern, heute und morgen – daran interessiert sein kann, auf nur einem dieser Kirtage von Kunst zu tanzen.

 

Mit neuen Spielkarten einer neuen Kunst eigene neue Spiele lustvoll spielen, zugleich mit diesen der Welt einen kritischen Spiegel vorhalten und auch noch das eigene Individuum in seiner radikalen Endlichkeit auf prä- oder postrationale Weise ausdrücken, – so könnte man die Summe der Freiheit des modernen Künste-Künstlers umschreiben.

[1] Ist eine Sphäre der Freiheit autonom gesetzt, muß der Gedanke, ihr könne eine ideale Welt (wie beispielsweise der Geometrie) inhärieren, nahe liegen. Aber das unlösbare Problem ist die Relation von Phantasie und Vernunft; jene wird freigesetzt in moderner Kunst, aber diese hat dafür keine Universalien mehr an Inhalten, Formen und Materialien anzubieten. Und damit stimmt der Gang der Geschichte von Kunst aufs genaueste überein: nicht nur die Vernunft versagt sich, auch die Geschichte der Künste versagt sich das höchste Vollenden einer wirklichen Verbindung von freier Phantasie und konkretisierter Vernunft. Daher die Conclusio: diese Verbindung ist geschichtlich bereits erfolgt, sie kann und soll nicht wieder aufgewärmt werden: ein heutiger „Klassizismus“ wüsste nicht mehr, an welche „Klassik“ er sich halten sollte.

[2] Die moderne Architektur, seit Ende des 20. Jahrhunderts in die Epoche ihrer software-Technologie aufgebrochen, scheint ganz nur von dieser Welt zu sein; doch ist der „futuristische Charakter“ der modernen Phantasiegebäude das exakte Als-Ob eines Weltescapismus. Gerade Wände, „normale“ Dächer und Fenster, runde Säulen in genauer Proportion, alles einst „Natürliche“ (Wahre, Gute, Schöne)der vormodernen Architektur (Von Vitruv bis Palladio und Nachfolgern) wird verabschiedet, und der somit wirklich universal gewordene ästhetische Nominalismus hat auch seine eigene Logizität (Wahrheit) und soziale Dimension (Gutheit); die Kontingenz ist spielerisch integriert, demokratisch allen gehörend (die software ist „kostenlos“ zugänglich), und es ist evident, dass hier ein endgültiges Jenseits aller traditionellen Schönheits-, Erhabenheits- und Hässlichkeitsbegriffe erreicht ist. Was wir noch nicht wissen: wie steht es um die („ästhetische“) Verfallszeit dieser „Phantasie-Architektur“?

[3] Daraus folgt in der realen Durchführung: Künstler und Kuratoren, Veranstalter von Konzert- und Opernsaisonen, ebenso Gestalter von Ausstellungen fungieren als absolute Kustoden und Mentoren moderner Kunst, (sie haben vergleichsweise mehr Macht als jeder moderne Priester) und der einst in der Vormoderne so mächtige und leitende Kunst-Geschmack eines Elite-Publikums degeneriert zum Massenwert von „Quote“ und „Auslastung,“ zum Bestätiger der Marktfähigkeit der neuen Waren und Erlebnisse. Ein Museum (Konzerthaus, Oper undsofort), dass nicht genügend Besucher zu rekrutieren vermag, gerät unter Konkurrenzdruck und im alten Europa auch noch in die Schusslinie der Kulturpolitik, weil das Geld von Vater Staat in den Tempeln der Kultur nicht grundlos versickern soll.

[4] Daher der beliebte Kalauer, der moderne Künstler, seine Freiheit und Kreativität, tauge als Vorbild für das Leben und Arbeiten des modernen Menschen insgesamt.

[5] Und das Innerste der modernen Gesellschaft ist somit nicht Kunst und deren Kreativität, sondern die Freiheit selbst, die in allen demokratischen Verfassungen als „oberstes“ und „heiligstes“, daher als Gesetz festgeschriebenes Recht fungiert: alle Menschen sind an Freiheit gleich, gleich geboren, gleich lebendig. Und diese Freiheit sucht nach ihrer totalen Differenzierung und Spezialisierung. Wer sie daher formal zu organisieren versteht, ist ihr (politischer) Meister. Je gleicher am Start, umso ungleicher am Ziel.

[6] Das Ende der Kunst als ‚absoluter’ ist der Beginn von Kunst als „absoluter“.

[7] Eine Verwirrung und Verworrenheit, die als habitualisierte ernsthaft betrieben wird, weshalb die immanente Komik den Betreibern des ästhetischen Diskurses verborgen bleibt. Es ist ernsthafte Komik, es ist komischer Ernst. Auch dies ein Preis für die freigesetzte Freiheit moderner Kunst, die keine universalen Vernunft-Ankerplätze mehr besitzen soll.

[8] Ein Tatbestand, der am Übereinstimmen der je neuen Religiosität in einer je neuen Art von Kunst, auch auf populärem Niveau, belegt werden kann. Erst im 19. Jahrhundert beginnt der Zusammenbruch dieser Übereinstimmung. Von da an war für die christlichen Kirchen und Konfessionen eine wirklich neue Art von Kunst, (Architektur, Skulptur, Malerei, Musik, Dichtung), die mit der religiösen Entwicklung hätte verbindlich mitgehen können, nicht mehr aufzufinden. Unausweichlich erfolgte eine Historisierung des Repertoires, der Architektur, der Sprache, – eine Entzweiung, die sich nicht mehr überwinden ließ.