Categories Menu

Kapitel XII

XII.

 

Der auch von Künstlern zu hörende Satz: „Kunst ist Kunst, und alles andere ist alles andere“, möchte die Freiheit moderner Kunst in einem Pseudo-Arkanum verbarrikadieren und sucht zugleich nach einem kecken Selbstimmunisierungs-Argument gegen die Zumutungen der modernen Welt. Stimmte das Argument, wäre moderne Kunst zu einer autistischen regrediert oder müsste dahin regredieren, – der moderne Don Quichote ertrüge nicht mehr die Beschränktheit und Bescheidenheit seines Kampfes um neue Definitionen, Werke und Aktionen. Aber auch diese Aufregung lohnt nicht, weil die Relationen und Wechselwirkungen von moderner Kunst und moderner Realität von prinzipiell einsichtiger Natur sind. Eine zweifache Rückwirkung moderner Kunst-Gegen-Welten auf die realen der modernen Welt ist möglich.

 

Zum einen kann moderne Kunst eine „verrückende“ Wirkung auf unser modernes und prosaisch-wissendes Welt- und Selbsterfahren zeitigen. In diesem kritischen Wirkungs-Modus sind wir in einem ersten Submodus bereit und befähigt, diese Welt in ihrer Endlichkeit und trotz ihrer gelebten Vernünftigkeit anzuklagen, nämlich nicht so phantastisch und frei zu sein wie die der Künste, eine allzu belastende und mit Gesetzen und Unfreiheiten, Pflichten und Sorgen uns einzwängende Welt; im zweiten Submodus sind wir bereit und befähigt, die Kritik an dieser Welt zu einer wirklich weltverneinenden und -verdammenden auszuweiten, und unserem unglücklichen Bewusstsein, weit über vormoderne Künstlermelancholien hinaus, nachzugeben; um uns in einem dritten Submodus doch auch wieder gänzlich befreit und entlastet zu erfahren von den Zumutungen dieser Welt, deren Rationalität doch nur eine (unter vielen) sei, und deren wirklich andere und höhere die der modernen Künste sei, bereit und befähigt, uns von den Übeln, Unfreiheiten und Prosaitäten des modernen Lebens zu befreien.

 

Der zweite Wirkungs-Modus könnte der wiederherstellende genannt werden: durch längeren Aufenthalt in den Gegen-Welten und Gegen-Definitionen der modernen Kunst werden wir fähig, diese „ästhetischen“ Negationen der Weltvernunft nicht nur als solche zu erkennen, sondern auch zur Vernunft dieser Welt ein neues Zutrauen zu gewinnen, – wie reumütige Heimkehrer, die erfreut in eine Welt zurückfinden, in der oben oben und unten unten geblieben ist, die Wände noch immer gerade, und Fenster als wirkliche Fenster erscheinen.

 

Sofern der moderne Künstler tagtäglich, ja stündlich und minütlich gezwungen ist, aus seiner Schein-Welt in die reale Welt der Moderne zu wechseln, muß dem Rausch, das Rad und die Welt jeweils zu erfinden und die vorhandene Welt ganz anders zu sehen „als alle anderen“, mehr als ein Schuß Trauer und Ohnmacht, mehr als Melancholie und Bedrückung beigemischt sein.

 

Denn Schein bleibt Schein, mag er noch so berauschend sein, und die permanente Rückkehr des Künstlers in eine künstlerisch scheinlose Welt wissenschaftlicher Vernunft und Technologie (die längst ihre eigenen phantastischen Möglichkeiten für neue Lebens- und Scheinkulturen in Cyberspace und „Multimedia“ eröffnet hat) muß immer auch ernüchternd sein und nicht immer Anregung und ein Motivlieferant, um diese Welt durch erneuten Anlauf mit erneutem ästhetischen Innovations-Schein zu überstrahlen und zu überwinden. Kaum eine Künstlerbiographie der Moderne, die nicht über dieses oft lebensgefährdende Umkippen von Euphorie in Depression, von hyperaktivem Schaffen in oft lange Phasen von Schaffensunfähigkeit zu berichten wüsste.[1]

 

Dazu kommt, daß nach der modernen Befreiung der Kunst in ihre vollständige Autonomie ein innerer Gesellschaftsauftrag für Kunstwerke und -aktionen, der an verbindlichen Inhalten und Formen fixiert wäre, unmöglich geworden ist. Die modernen Demokratien mussten und sollten zwar den allgemeinen und formalen Auftrag der Kunst-Freiheit anonym festschreiben: es ist daher durch Verfassung verbrieft, daß Künstler in völliger Autonomie und Freiheit schaffen und wirken sollen. Aber das innere Auftraggebertum von Hof, Adel, Kirche und höherem Bürgertum musste an kunstkompetente (nationale und internationale) Behörden und Organisationen delegiert werden, an marktbezogene Kunstveranstalter und -förderer, an jede nur mögliche Clique von Kuratoren und Juroren, Lektoren und Manager.

 

Diese Kunst-Fach-Elite – es gibt deren so viele, wie es aktuelle Kunstarten und -moden gibt – kennt zwar die Künstler und die Marktbewegungen der einzelnen Kunstszenen und ist am Meinungsbildungsprozess darüber, was anerkannt, was nicht anerkannt werden soll, beteiligt, aber sie kann keine inhaltlichen Vorgaben mehr machen; weder kann sie sich auf traditionelle Vorgaben, die in der vormodernen Gesellschaft als selbstverständliche vorgegeben waren, usuell stützen, noch kann sie sich auf neue Vorgaben inhaltlicher (ästhetischer) Art kaprizieren, die den Künstlern wirklicher Moderne ungeschriebene oder geschriebene Vorschriften machen könnten.[2]

 

Daraus lässt sich erschließen, daß alle Reibungen – Beschränkungen und Befruchtungen – welche die moderne Kunst an und durch die Autonomie und Freiheit der anderen – wissenschaftsdominierten – Bereiche der modernen Gesellschaft und Kultur erfährt, völlig andere sein müssen als jene Emanzipationsprozesse, die der vormodernen Kunst ermöglichten, alle Fesseln, aber auch alle Konsense mit den vormodernen Instanzen und Eliten nach und nach zu sprengen. Die aus der Vormoderne in die Moderne tradierten Künste – (hier ist noch keine Rede von den wirklich modern technologischen, auch noch nicht von den Vernetzungen von vormoderner und modern technologischer Kunst) – bemerken, nolens volens, daß sie durch die Freiheit und Rationalität von Wissenschaft, Politik, Recht, Ökonomie und überhaupt des modernen Lebens, sowohl eine permanente Beschränkung und Relativierung wie auch eine permanente Anregung und Befruchtung erfahren.

 

Diese Relativierung ist eine „absolute“, weil einerseits jeder moderne Mensch, der ohne (moderne) Kunst lebt, ebenso frei und mit den Notwendigkeiten und Abwechslungen des modernen Lebens (die sich in rasender Entwicklung und Erweiterung befinden) beschäftigt lebt, wie derjenige, der mit Kunst lebt, – und andererseits für die Aneignung und Bearbeitung der Befruchtungen und Anregungen durch die anderen (außerkünstlerischen) Bereiche (aber auch für die Anregungen durch andere Künste) auf keinerlei Normativität, auf kein Regelwerk, auf kein Prinzip des Auswählens und Gestaltens zurückgegriffen werden kann.

 

Die Freiheit pluralistischer und individualistischer Verfahren und Erfindungen der autonomisierten Kunst-Phantasie ist unhintergehbar, – jeder Künstler muß selbst sehen, wie er und was er von den anderen Domänen der modernen Welt für seine Zwecke verwendet. Und daraus folgt das dritte Moment absoluter Relativierung: das kunstimmanente.

 

Denn nicht nur existieren unübersehbar viele Arten und Weisen von Kunst in jeder Einzelkunst, es existieren ebenso unübersehbar viele Künstler und Kunstwerke wie -aktionen. Also ist die Relativierung auch eine Selbstrelativierung, und somit ist die Relativierung des (Absolutheits)Anspruches moderner Kunst wirklich „absolut“. Es regiert die absolute Relativität einer vollständig relativierten Absolutheit. Das Absolute moderner Kunst hat daher zwar einerseits dieses Negativum einer Explosion der Vielfalt, des Personals und der Objekte, ebenso der Märkte, Vermittler und Konsumenten (improvisierend) zu bewältigen; aber andererseits darin zugleich das Entlastende, alle wirklichen Absolutheitsansprüche von Kunst auf immer fahren lassen zu können.

 

Dieses Positivum befreit jegliches moderne Kunstmachen und -rezipieren zu einer (meist schon ohne institutionalisierte Ausbildung erreichbaren) Gegenwelt praktizierender Phantasie, die eine Arche Noah der Selbstfindung und Selbstidentifikation verfügbar macht, und in dieser ist es gleichgültig, ob die Ergebnisse der Bemühungen einen nur kleinen oder gar keinen Markt mehr finden.[3]

 

Der Schein, als ob an diesem Punkt der Gegensatz von moderner und vormoderner Kunst hinfällig würde und eine zeitlose und „ewige“ Kunst als Triumphator am Turnierplatz zurückbliebe, ist trügerisch und als ideologische Verschleierung durchschaubar. Der universale Dilettant der Gegenwart ist nicht der wieder möglich gewordene Fortsetzer des vormodernen Originalgenies. – Einerseits muß der wirklich modern (um strenge und anstrengende Innovation bemühte) „voraneilende“ Künstler seinen partikularen Aneignungsweisen treu bleiben, er muß gewissermaßen seiner Untreue (etwa einer Anhänglichkeit an irgendeinen Standard von „Personalstil“) treubleiben, um die Inhalte und Formen der anderen Domänen der modernen Welt, vor allem der modernen Wissenschaften und Technologien, in Kunstwerke und -aktionen transformieren zu können.

 

Und dafür gibt es keine verbindlichen Gattungen und Stile mehr, keine vorbildlich führenden Handwerke und Techniken, keine „Natur von Kunst“, keine „Musterwerke“ mehr, durch deren Gesetzes- und Regelwerke unter originalischer Ausführung eine objektiv geniale und gemeinsinnige – durch sich selbst selbstverständliche – Anverwandlung von Welt in Kunst geschehen könnte. Jedes Werk, jede Aktion ist g l e i c h s a m (daher die Unersetzlichkeit der Als-Ob-Anführungszeichen im modernen Diskurs über moderne Kunst) seine/ihre eigene Art und Gattung, – eine jeweils neue und dadurch keine mehr.

 

Auf der anderen Seite verschwinden die alten Gattungen, Stile und Handwerke durchaus nicht spurlos aus der Geschichte der Künste; nicht nur bleiben sie den reproduzierenden Künstlern von heute und morgen bekannt, auch das demokratische Massenpublikum der gegenwärtigen Welt verschmäht vorerst noch nicht, gewisse Besuche in Museen und Konzert- wie Opernhäuser, in Bildbänden und Web-Gallerys vorzunehmen, und ohnehin ist eine ganze Armada von Kunst- und Kulturwissenschaftlern immer noch in Richtung Vergangenheit unterwegs.[4]

 

Weiters muß und soll die in ihre Postmoderne geratene Moderne der traditionellen Künste auf sämtliche vormodernen Gattungs-, Stil-, und Verfahrensweisen zurückgreifen, denn anders ist ein „universaler“ Eklektizismus gar nicht möglich. Es war letztlich der Selbstverschleiß des totalitären Innovationsprogramms der Moderne, der die große Schar der bekannten und unbekannten Künstler zwang, in Permanenz mit der Geschichte ihrer Künste zu tagen, zu verhandeln, zu interagieren. Hegels prophetisches Wort über den modernen Künstler, dieser werde ein Dramatiker seiner eigenen Tradition werden müssen, wurde durch die nachhegelsche Kunstgeschichte bestätigt.[5]

 

Daß der simple Neo-Gebrauch der traditionellen Gattungen und Verfahrensweisen etwas Zurückgebliebenes und Pseudo-Naives hat, weiß jeder, dem über moderne Lebenserfahrungen Reime, alte Gedichtformen und ähnliche Kitschalbernheiten ergossen wurden; der von Atombombenexplosionen und Galaxien, vom Sonnensystem und mikroskopischen Nanobereich klassizistisch-romantische Malbilder zu sehen bekommt. Hier spricht ein artist post lettre zu uns, der den Kündigungsbrief, den die traditionellen Verfahren und Stile erhalten haben, verschweigen möchte.

 

Zwar ist Kitsch in jeder Aufbereitung auch in der Postmoderne notwendigerweise wieder museumssalonfähig geworden, dennoch spüren wir unmittelbar das Atavistische und Gespielte solcher Freiheitsübung von Kunst, das weder zu einer substantiellen Erweitung der Kunst noch gar unseres Erfahrens und Wissens von und über Welt und Nicht-Welt beiträgt.[6] Dennoch wäre es unsinnig und unmöglich, auch den überholtesten Praxen von Kunst irgendeinen Riegel vorschieben zu wollen; – um so weniger, als in regionalen und lokalen Kulturen gerade die Kunst-Aquarien von gestern erstaunlich gewinnbringende oder doch umwegsrentable Märkte versorgen.

 

Um nun doch einen Seitenblick auf das Verhältnis der vormodernen zu den technologisch modernen Künsten zu werfen: Wie mit allen Gattungsinhalten und -formen der Vormoderne kann der moderne Künstler selbstverständlich auch die modernen Lebensinhalte der usuell-alltäglichen Art, voran die moderne Umgangssprache, in jeder nur möglichen Weise deformieren, fragmentieren, „dekonstruieren“ und neu synthetisieren, um Aussageweisen an den Rändern der rationalen Rationalität zu erreichen, die in normaler Sprache unzugänglich bleiben.

 

Aber es erhebt sich die Frage, ob alle diese Trennungs- und Verbindungsarten von Inhalt und Form, von Form und Material nicht um ein Unendliches von der technologischen Kunstform Film (und Multi-Media) überboten werden, und dies schon deshalb, weil das Filmmedium nicht genötigt ist, die Freiheit der anderen Freiheitsbereiche der modernen Gesellschaft und Kultur zu demontieren und zu dekonstruieren; des Films „Neu-Definitionen“ kennen nicht oder kaum (die marginale Sparte des experimentellen Films ausgenommen)jene Willkürfreiheit einer vollkommen freigesetzten Phantasie, die letztlich auf nichts als auf sich selbst Rücksicht zu nehmen hat. Wenn der Film daher in science fiction macht, ist noch das phantastischste Geschehen treuherzig darum bemüht, sich den Anschein von realer Möglichkeit und „Wirklichkeit“ zu geben.[7]

[1] Dieser Wechsel von rational und irrational kann umgekehrt dazu dienen, daß sich Menschen in schweren Krisen und Krankheiten der Kunsttätigkeit bedienen, um sich, wenn nicht zu heilen, so doch am Leben erhalten. Der an manischer Depression und katatonischer Schizophrenie leidende Martin Ramirez, „sprach so gut wie kein Wort mehr, doch er fing an, Bilder auf große Papierbögen zu zeichnen, die er sich aus zusammengeklaubten Schnipseln, alten Papiertüten und Zeitschriftenseiten selbst zurechtbastelte.“ (FAZ vom 9. Februar 2007). Von 1944 bis zu seinem Tode im Jahr 1963 wurde dieses Zeichnen zu seinem Lebensinhalt. Ein Psychologe und Kunstexperte wurde ab 1948 sein Förderer, und nach einer Ausstellung, die sich „psychotischer Kunst“ widmete, kam der „mexikanische Henri Rouseau“ zu erstem bescheidenen Ruhm. Ramirez war, nach Auskunft des berichtenden Feuilletons, „ein Verlierer, sein Leben die Geschichte eines absoluten Scheiterns.“ Heute (2007), über vierzig Jahre nach seinem Tod, wird dem Künstler im American Folk Art Museum in New York eine große Ausstellung gewidmet, und die „gefürchtete Kunstkritikerin der ‚New York Times’, Roberta Smith, nennt Martin Ramirez einfach ‚einen der größten Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts’.“ – Ähnliche Fälle: Adolf Wölfli und Henry Darger. Die Entgrenzung des Kunsturteils folgt der Entgrenzung von Kunstbegriff und Kunstschaffen. Und dem entspricht, daß nur der für den Kunstmarkt entdeckte Künstler ein für die Welt existenter ist. Die vormaligen Direktoren des Guggenheim-Museums hatten Ramirez Werke vierzig Jahre (seit 1955) in einer Papprolle abgelegt.

[2][2][2][2] Wurde Joseph Haydn mit der Komposition von Sinfonien beauftragt, war jedermann der höfischen und aristokratischen Gesellschaft klar, was zu erwarten war. Schon ab Brahms und Bruckner schwindet dieser innere Konsens, den bereits Beethoven zu überschreiten wusste. – Ob die moderne Architektur, insbesondere die Stadtarchitektur, noch als Kunst angesehen werden kann, ist zurecht umstritten. Daß sie als einzige „Kunst“ über eine hinreichend organisierte und sozial verankerte Auftragskultur verfügt, ist jedoch durch ihre unbedingte gesellschaftliche Funktion notwendig. Wie keine andere „Kunst“ (des Baugewerbes) gestaltet sie das öffentliche Leben durch Bauten, Straßen, Plätze. Und daß die Gesichter der modernen Städte, sofern für die Megalopolen der Moderne (der Vormoderne unbekannt) dieser Name noch zutreffen sollte, geradezu unvergleichlich andere sind als die Gesichter der vormodernen Städte, muß nicht näher erläutert werden. Zwar regiert auch hier kein vorausgesetzter und selbstverständlicher Konsens mehr darüber, wie die Dinge der Architektur aussehen sollen – Gestaltung, Schönheit, Zweckmäßigkeit changieren in kurzen Dezennienzyklen – weil das Angebot an je aktuellen Mode-Lösungen hypernorm vielfältig ist, aber es gibt einen (hyperkomplex)gemeinsamen Diskurs (verschiedenster Sachbereiche und deren Institutionen und Institutionsvertretern), und am Ende – nach (meist) international ausgeschriebenen Wettbewerben – eine politische Entscheidung. Dieser gemeinsame Diskurs mag ein einziger „Sumpf“ sein, weil in ihm die vielen Stimmen der politischen Fraktionen, der Investoren, der Baukonzerne, der Wohnbauträger, der Versicherungen und Immobilientöchter der Banken undsofort konsensieren müssen, – notabene unter dem Druck einer hyperkomplexen Gesetzeslage, weshalb in der langen Liste der Beteiligten die Armada der Juristen nicht vergessen werden darf. Und dennoch ist es ein objektiver „Diskurs“, der die ganze Gesellschaft und vor allem die politischen Eliten unmittelbar betrifft und bewegt. Und je größer die Städte umso undurchsichtiger die Entscheidungsverläufe. Siehe Reinhard Seiß: „Wer baut Wien“. Wien 2006.

[3] Kunstmachen kann zur Identifikation und oft rettenden Lebenshilfe aller jener werden, die im und gegen den säkularen Alltag eine alternative Tätigkeit suchen und suchen müssen, wenn sie an dessen Zumutungen gescheitert sind, obwohl unverbindlich bleibt – offen und unbestimmt, also nach Belieben bestimmbar – worin das Nichtsäkulare liegen soll: zwischen Spaßhaben und Dauer-Unterhaltung, zwischen Erlebnis-Events und Selbstkabarettisierung sowie heilsamer Darstellung individueller Psychosen bis zur „magischen Spiritualität“ können alle nur denkbaren Wege ausgeschritten werden.

[4] Daß jene vormodernen Gattungen, die kollektiv organisiert sind, vor allem jene der Musik: Orchester, Blasmusik, Chor undsofort kraft ihrer Sozialität (Bindung und Geborgenheit) einen ungeheuren Vorteil genießen, versteht sich. Dank der Schönheit und Vielfalt des Angebots ertragen auch moderne Menschen die dabei anfallenden vormodernen Hierarchien, etwa die extreme einer Musikdiktatur unter Dirigenten.

[5] Museen gehen daher auch neuerdings wieder dazu über, „anhand“ der traditionellen Gattungen (etwa: Porträt) dar- und auszustellen, wie die Moderne auf diese Geschichte reagiert habe. Ähnliches findet, ohne besonderen Hinweis, ständig im Bereich der Oper und gewiß auch der Literatur und Architektur statt. Da der ganze Bestand in den traditionellen Künsten sozusagen lückenlos vorhanden ist, kann auf ihn nach Belieben und Modernitätsstufe zurückgegriffen werden: wie auf einen unerschöpflichen Anregungs- und Materialspeicher. Durch „Rückgreifen“ wird aber die Differenz von Vormoderne und Moderne nur bestätigt und als nichtüberwindbar – im Sinne eines stimmigen Fortschreitens – erfahren und dargestellt.

[6] Das Pendant zum re-aktualisierten Kitsch, der in Bildender Kunst ironisch vorgebracht zu werden pflegt, ist in der Musik deren „minimal-music“ – Variante, die freilich weit schwieriger als Kitsch und Ausgedinge zu durchschauen ist, weil (Kunst)Musik ohne Kennerwissen der Musikgeschichte nicht (selbst)ironiefähig ist. Als minimal-music gewährt sich Musik eine gleichsam nachgelassene Infantilstufe ihrer (Nicht-mehr-)Entwicklung. Ein wichtiges Indiz des musikalischen posthistoire.

[7] Daß die vormoderne Malerei nur eine bessere oder schlechtere Art von Photographie sei, scheint durch den Hyperrealismus der modernen Fotomalerei bestätigt zu werden. Ein täuschender Schein, der blendend funktioniert, weil der moderne Blick auf eine Madonna Raffaels entweder deren Realismus ohne Ideal, oder das Ideal ohne Realismus haben möchte. Weil in der Moderne die Synthesis des Ideals unwiederbringlich verloren, kann Realismus und Idealismus des Ideals nicht mehr zusammengeschaut werden. Nun sind aber beide Grundfaktoren des (noch wahrhaft schön)Ästhetischen in vormoderner Malerei durchgängig zusammen: hier, vor unseren Augen; doch sieht das Auge nur, was es sehen kann und will. Nichtkönnen und Nichtwollen bedingen einander. – Es ist also nicht nur die Thematik der modernen Fotomalerei, die sich – wie etwa bei Helnwein Verwundeten und Malträtierten – in der Regel der Darstellung von Schmerz, Verletzung und Gewalt widmet, die verhindert, daß wir das Ideal der vormodernen Kunst in seiner Idealität wahrnehmen. Es war und ist weder Illusionierung von Realität noch der Realismus einer Illusion.