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Kapitel XIII

XIII.

 

Es wäre unvernünftig, die aktuelle Frage nach einer Erweiterung oder Nicht-Erweiterung des Kunstschönen durch moderne Kunst allein nur in der Perspektive der Moderne, unter den Prämissen der ästhetischen Moderne zu stellen. Ebenso unvernünftig, diese Frage nur in der Perspektive der Vormoderne, etwa im Okular ihrer letzten Entwicklungsstadien im 19. Jahrhundert zu stellen. Der rein modernen Perspektive unterläuft es immer wieder, vormoderne Bewertungskategorien und -muster unreflektiert auf moderne Kunst anzuwenden, weil sie die historische Folge der Kunstepochen, besonders seit dem 19. Jahrhundert, entweder nach dem Fortschrittsmodell oder nach dem Gleichberechtigungsmodell bewertet und diese entweder teleologische oder egalitäre Bewertung auf den Schönheitsbegriff der einzelnen Künste überträgt.

 

Im umgekehrten Fall würden wir die vormodernen Paradigmen und Kriterien entweder als allein gültige ansehen und ein Ende der Kunst im Sinne eines plumpen und wortwörtlichen Endes ideologisch vertreten, oder wir würden – darin identisch mit dem modernen Standpunkt, aber bewusster als dieser – die vormodernen Bewertungskriterien auf die moderne Kunst übertragen. Wir hätten uns eine falsche zeitlose Ästhetik gebastelt, die ebenfalls entweder teleologisch (unendlicher Forstschritt) oder egalitär (jede Epoche habe ihre Kunst, und jede sei in der Art ihrer Epoche so schön und gut wie die Kunst jeder anderen Epoche) zu vertreten wäre. Und machten wir uns ein radikales – „buchstäbliches“ – Ende der Kunst zu eigen, verblieben wir auf einem restriktiv vormodernen Standpunkt, der uns bezüglich des Erfahrens von und des Denkens und Redens über die Relativismen moderner Kunst verunmündigte und ihrer totalen Pluralisierung und Individualisierung nicht gerecht zu werden vermöchte.

 

Weder lassen sich die einst selbstverständlichen Absolutheitsansprüche und -einlösungen der vormodernen Kunst auf die moderne übertragen, noch lässt sich deren Freiheit und individuelle wie partikuläre Differenzierung auf die vormoderne Kunst übertragen. Die wirklich absolute Perspektive kann daher nur jene sein, die den Unterschied beider Perspektiven als unhintergehbare Einheit festhält, – in einer Superperspektive, in der der Überschritt aus der Vormoderne in die Moderne als Wesens-Unterschied des Kunstschönen selbst erscheint beziehungsweise erschienen ist. Für Ereignisse dieser Art haben die Historiker das hübsche Wort „Achsenzeit“ geprägt.[1]

 

Als Vertreter eines „absoluten“ Endes der Kunst würden wir immer nur über Verluste klagen und die modernen und nicht-mehr-schönen Künste anklagen, den guten und schönen Pfad wahrer Schönheitskunst leichtsinnig und schmählich verlassen zu haben. Wir würden den Standpunkt der klassizistischen Ästhetik der Mitte des 19. Jahrhunderts usurpieren und beispielsweise erkennen, daß alle „Malerfürsten“ von heute nur eingebildete sein können, daß eine Sinfonie des 20. Jahrhunderts eine nur mehr erkünstelte sein kann, und daß alle Größe von moderner Kunst, die heute ausgerufen wird, nicht mehr die wahre und wirkliche Größe der vergangenen, vormodernen Kunst erreichen könne, weil alle Kategorien der künstlerischen Vormoderne in der ästhetischen Moderne zu Als-Ob-Kategorien schrumpfen mussten und die originär modernen Kategorien nur durch direkte und aggressive Negation der vormodernen ermöglicht wurden.

 

Diese Lamentatio würde uns jedoch weder helfen, das Wesen moderner Kunst zu begreifen, noch würde sie etwas beitragen zu einem wirklichen und fundamentalen Begreifen und Erleben der vormodernen Kunst. Ist nämlich die Absolutheit einer Schönheitsgeschichte von Kunst nur von ihrem erfüllten Ende her wirklich begreifbar und auch erlebbar, dann taugen bezüglich der modernen Achsenzeit von Kunst weder das Fortschrittsmodell noch das Gleichberechtigungsmodell von Kunst-Geschichte dazu, sachadäquate Begriffe und Urteile, Erfahrungen und Genüsse zu begründen.

 

Und ein Rückgriff auf vormoderne Standpunkte und Ästhetiken als ausschließlichen Wegweisern und Vermittlern verkennt, daß die vormoderne Schönheitsgeschichte der Künste in ihrem aktuellen Vollzug ein permanentes und radikales Fortschreiten, ein teleologischer Prozeß war, der ermöglichte, daß jede Epoche ganz nur für sich lebte und schuf, um dennoch und deshalb in der nächsten Epoche beinahe vollständig zu verschwinden, weil das Leben und Schaffen des Alten im Neuen der nächsten Entwicklungsstufe vollständig und wahrhaft aufgehoben werden konnte.[2]

 

Weder konnten noch sollten die einzelnen Entwicklungsstufen in ihrer Totalität überblickt und zusammengebracht werden, denn was sich noch auf erfüllbar neue Ziele universaler Inhalte und Formen hinstreckt, das ist mit tausendfältigen Diensten an die herrschende Kultur der herrschenden Eliten gebunden – mitherrschend und mitlebend – und keineswegs auf sich als Instanz für die Produktion und Reproduktion von Kunst fixiert. Der moderne Autonomiebegriff verschont die Künste noch, oder modern formuliert: er bleibt ihnen eine vorerst unerreichbare Utopie. Allenfalls in den späten manieristischen Phasen der einzelnen Entwicklungsstufen ist eine Vorahnung dessen vorhanden, was dann im 19. Jahrhundert mit der klassizistischen Einkehr unvermeidlich wurde. Eine Reflexion auf den metageschichtlichen Sinn der Geschichte von Kunst war davor nicht nur nicht nötig, sie war auch nicht möglich.[3]

 

 

Daher ist im Rückblick auf die vormodernen Paradigmen und Ästhetiken ein zentraler Unterschied zu setzen. Als im 19. Jahrhundert das Ende des vormodernen Kunstparadigmas heranrückte, mussten deren Ästhetiken nicht nur systemvernünftig, sie mussten auch historisch werden, – wie nicht zuletzt die beiden bedeutendsten Ästhetiken der Epoche: die von Hegel und Vischer exemplarisch ausführten.

 

Nicht mehr konnte die Theorie der Kunst ausschließlich auf die (damals) gegenwärtige als einem pars pro toto Bezug nehmen, nicht mehr ließ sich das Wesen von Kunst an der aktuellen Epochen-Produktion von Kunst ausschließlich veranschaulichen. Daher müssen die großen Logos-Ästhetiken des sogenannten Deutschen Idealismus samt und sonders die Genesis und die Entwicklung der Schönheitsgeschichte vormoderner Künste rekonstruieren, um sowohl den Logos dieser Geschichte wie auch dessen Ende begreifen zu können.

 

Die Schönheitsgeschichte muß aus ihrem vormodernen Funktionszusammenhang mit den für sie aktuellen und (mit)zeugenden Gesellschafts-Eliten herausgetreten sein, sie muß ihren ersten Tod gestorben sein, um in einem zweiten Leben auf sich als „reine“ und vollendete Schönheit und Schönheitsgeschichte verweisen zu können.[4] Erst nach dem Tod der primären Entstehungswelt kann die wirkliche Schönheit schöner Kunst in allen ihren vertikalen (gleichzeitigen) und horizontalen (folgezeitlichen) Hierarchien hervortreten und ebenso erfahren wie begriffen werden.

 

Um daher die Landschaftsmalerei eines Ruisdael und Lorrain wahrhaft erfahren, genießen und begreifen zu können, kann es durchaus nützlich sein, die Abstraktionsversuche eines Van Gogh oder Cezanne im Genre der Landschaftsmalerei kennenzulernen. An der Kümmerlichkeit dieser modernen Versuche wird die Nichtkümmerlichkeit der vormodernen Genre-Geschichte unmittelbar zugänglich; freilich nur für den, der die modernen Versuche nicht als des Kaisers neue Kleider anzustaunen gelernt hat. Ebenso können wir unter der Musik von John Cage jene kalte Dusche nehmen, die uns – einem modernen Initiationsritus gleich – wieder fähig macht, die bergende Wärme und Größe der Musik von Johann Sebastian Bach neu zu empfinden.

 

Wir wissen nicht, wie die Kunsthallen und Musikhäuser der Zukunft organisiert sein werden, nach welchen Riten oder Nicht-Riten sie ihr Künste-Leben gestalten und vermitteln werden. Noch unbeantwortbarer dürfte die tiefere Frage sein, ob die künftige Kultur und Gesellschaft eine wirklich kunstimmanente Elite, denn eine andere ist für die Künste unmöglich geworden, benötigen wird oder nicht: zu welchen Zwecken und mit welchen Mitteln.

 

Daß es aber eine sein müsste, die sich über ihre Sache (Kunst-Geschichte) absolut aufgeklärt haben muß, sollte evident sein. Alle relativistischen Paradigmen über und durch Kunst müßten im Säurebad dieser Aufklärung eines absoluten Erfahrens und Wissens von und über Kunst zunichte geworden sein.

 

Anders nicht könnte die moderne und postmoderne Beliebigkeit und Leere der modernen „Diskurse“ über Kunst, deren entleerte Phraseologie und Illusionistik, deren Abhängigkeit von den je aktuellen Vermarktungslogiken überwunden werden. Ob dies jemals der Fall sein wird, steht dahin, weil die künftige Gesellschaft einerseits ganz neue -technologische – Künste und so zu nennende Arten von Kunst entwickeln könnte, um ihren Bedarf an Kunst zu decken; andererseits Stände von Freiheit erreicht werden könnten, die das Interesse an und das Leben in den Bahnen von Kunst obsolet machen könnten. Allenfalls noch ein paar Orchideenfächler würden sich in diesem Fall von Fall wie Inschriften- und Münzensammler längst verflossener Kulturen als deren letzte Herolde betätigen. [5]

[1] Jäger und Ackerbauer scheinen unvergleichbaren Welten anzugehören. Ebenso der vormoderne und der moderne Künstler. Aber sie gehören nicht bloß einer Welt an, sondern sie sind die Vollzieher von Welt als geschichtlicher. Ohne diesen Vollzug wäre Welt nicht e i n e Welt, Geschichte nicht e i n e Geschichte, und die Künste hätten aus vormodernen niemals in moderne mutieren können. Die Geschichte der Künste ist Totalität, und das Ende der Kunst besagt auch dies, daß sie in das Stadium ihrer erreichten und erfüllten Totalität eingetreten ist. Was jetzt in den traditionellen Künsten noch kommen kann, das war in besseren und schöneren Weisen schon da. Doch haben wir diesbezüglich wiederum den Unterschied und die kommenden Beziehungen von nichttechnologischen und technologischen Künsten vernachlässigt. Die Geschichte der letzteren hat eben erst begonnen.

[2] Dieser Prozeß spezifizierte sich selbstverständlich gemäß dem Auftrag der kulturführenden Nationen Europas (samt Konfessionen) sowie den Potenzen der vormodernen Einzelkünste. Im Barock konnte man noch sagen: Italien verfügt über den „Exportschlager“ Musik.

[3] Ist die Architektur Palladios der Renaissance angehörig, oder ist sie ein Klassizismus der (angeblich wiederauferstandenen)Architektur der Antike? Daß der Neo-Palladianismus in der anglikanischen Architektur Furore machte, und zwar als „Klassizismus“, ist evident. Aber der „Aristoteles der Baukunst“ vermochte in seiner Epoche nicht nur das architektonische Denken Vitruvs, sondern auch seiner Vorgänger: Bramante, Michelangelo, Sanmicheli, Sansovino und anderer zu einer Vollendung dessen zu führen, was wir als vollendete Renaissance-Architektur bewerten müssen. Nur die vormoderne Architektur(geschichte) verfügte über kanonische Vollendungshierarchien.

[4] Das moderne Paradigma versucht bekanntlich das Gegenteil: Kunst könne und müsse allein nur aus ihrer Zeit heraus interpretiert werden oder – im hurtigen Gegenteil: das moderne Paradigma müssen auf die Vormoderne zurückprojiziert werden, um deren wahres Wesen zu erkennen: auch Schubert war nur ein armer (moderner) Mensch und Künstler. Entweder werden die „Alten Meister“ in historische Zeitgenossen historischer Epochen zurückverwandelt, oder sie werden zu „Neuen Meistern“ als Vorläufer der modernen. Meister und Meister bleibt nur dasselbe Wort.

[5] Daß die neuen technologischen Künste oder Neu-Künste überall ante portas stehen, ist evident. Computer-Animation und -Bearbeitung, PC-Software als neues Kunsthandwerk, Strukturgenerator in der Musik, sketch.up in der Architektur, niegewesene Weisen der filmischen Visualisierung und Akustierung, niegewesene hierarchiefreie Weisen des Produzierens und Konsumierens, aber auch des Erfahrens und Beurteilens auch von Texten und Reden in den neuen Medien, die überdies den ehrenwerten Begriff des geistigen Eigentums illusorisch machen, – kurz: wenn Xenakis und Corbusier gewusst hätten, mit welcher Leichtigkeit wir das, was ihnen unendliche Mühe bereitete, machen können, hätten sie von ihrem Denken und Tun weniger „heroisch“ gedacht. Die Heroen der ästhetischen Moderne wurden überholt, – von einer Entwicklung, die am Beginn des 20. Jahrhunderts niemand vorhersehen konnte.