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Kapitel XIX

XIX.

 

Aus Sicht der ästhetischen Moderne ist weder der Diskurs über Kunst noch deren Praxis real autonom, frei und unbeschränkt selbständig, solange das Begriffs- (und Realitäts-)Verhältnis von Schönheit und Hässlichkeit moralisch oder gar theologisch (theonom) bewertet und gedacht wird.[1] Weithin und dominierend – im Leben der vormodernen Gesellschaft und der Künste – war dies der Fall noch durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch und – sukzessive der unausweichlich angesetzten Trennung folgend – vielleicht noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts.

 

Was sich auch daran zeigte, daß jene Richtungen der Künste und des ästhetischen Geschmackes, die von der ästhetischen Moderne als „Klassizismus“ oder „Akademismus“ oder ähnlich abwertend denunziert werden (müssen), noch bis Ende des 19. Jahrhunderts geschichtsmächtig blieben, um erst im 20. Jahrhundert, spätestens nach dem Ersten Weltkrieg, wirklich obsolet zu werden und der Freiheit und Macht eines spezifisch „ästhetischen“ Diskurses und einer spezifisch „ästhetischen“ Praxis von künstlerischer Moderne, die sich sogar als „Klassische Moderne“ zu vermarkten versteht, weichen zu müssen.

 

Die Anzeichen der Trennung und Verselbständigung eines „ästhetischen“ Bereiches und autonomen Wirkens von Kunst bündeln sich zuerst nicht zufällig im englischen Sensualismus des 18. Jahrhunderts, von dem der ästhetische Sensualismus des französischen (Revolutions)Künstlertums spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts die Stafette übernehmen sollte. Edmund Burke positioniert 1757 ein schreckliches Erhabenes, dem jenseits bisheriger Kunst- und Schönheitsbegriffe die ästhetische Lizenz erteilt wird.

 

Er entdeckt in und für die zu erneuernde Prinzipienregion aktuellen Kunstschaffens (was in der Realität der Kunst Shakespeare längst unvergesslich vorgeführt hatte), daß zwar missgestaltete, formlose und disproportionierte Gegenstände, Inhalte und Erscheinungen der Natur nicht schön sein können, dennoch aber den „delightful of horror“ einer erregenden und bedeutsamen ästhetischen Kunstwirkung erzeugen können und sollen.

 

Indem das Formlose und Missgestaltete, ebenso das Böse und Dämonische dazu erkoren wird, als Hauptakteur des ästhetischen Erhabenen zu wirken, erfolgt jene erste Erhebung des Hässlichen in den Stand der Erhabenheit, deren letzte und höchste durch die „nicht-mehr-schönen-Künste“ des 20. Jahrhunderts vollzogen werden musste. Nun erst macht das ästhetisch realisierte Hässliche – aus dem vergleichsweise noch niederen Rang eines dienenden Mittels in den höchsten ästhetischen Rang eines sich genügenden Zweckes erhoben – den Gegensatz von schön und hässlich irrelevant, – wohlgemerkt: im autonomen und abgetrennten Bereich moderner Kunst, nicht im Leben der modernen Gesellschaft und des modernen Menschen, zu welchen immer noch gezählt zu werden, auch des „modernsten“ Künstlers Anspruch sein dürfte.

 

Das ästhetisch Erhabene der freigesetzten Schreckenskunst der Vormoderne wird schon bei Burke nicht als Gegensatz des Schönen, sondern als eine eigene Art von Schönheit und Kunstschönheit (!?), somit als eine Schönheitskunst sui generis horroris gesetzt, in der eine überwältigend erschreckende Wirkungskunst die totale Katharsis der Inhumanitäten des Humanen: Tod, Leiden, Einsamkeit, Angst, Flüchtigkeit, Vergänglichkeit, Leere undsofort darstellbar und ertragbar machen soll.[2] Offensichtlich eine „Rückkehr“ der antiken Kunstreligion, doch bereinigt um die Versöhnungsanteile des affirmativen Mythos der griechischen Religion. Den durch moderne Kunst „ästhetisch“ erkannten und dargestellten homo modernus retten keine Götter und keine Mythen mehr.

 

Auch der basale Imperativ ästhetischer Moderne, Kunst müsse unbedingt gesellschaftskritisch, subversiv, sogar inhuman um verlorener Humanität willen sein, und der Künstler anders als alle anderen, findet sich embryonal bereits bei Burke. Der Schrecken des ästhetisch Erhabenen wird nämlich dem starken (Künstler)Individuum zugeordnet, das sich gegen die schöne Angepasstheit der Sozialen und Herrschenden zu wenden habe, der passion of society habe Kunst die passion of self-preservation eines ‚anderen’ und freien Individuums entgegenzuhalten. Der negativ erhabene Künstler habe die schönen Larven und Fassaden der herrschenden Gesellschaft zu demaskieren.

 

Doch ohne Zweifel kollidierte dieser Auftrag zu einer Gesellschafts-Revolution durch Kunst mit dem philosophisch-politischen Auftrag der feudalen Gesellschaft zu einer politischen und somit wirklichen Revolution, weil die aufklärerische Vernunft, anfangs radikal optimistisch und ungebrochen von sich überzeugt, als neue Menschheitsreligion ( und auch als Terror einer Vernunftreligion) wirkte, deren neuen (Vernunft)Kulten und Sozialitäten selbstverständlich nur eine schöne und positive, mit der Gemeinschaft aller affirmativ übereinstimmende Kunst dienen sollte, – woran noch der frühe Baudelaire leidenschaftlich glaubte. Doch dann folgte Enttäuschung auf Enttäuschung, und unaufhebbar blieb somit auch diese Trennung bis heute, – die von politischem und ästhetischem Revolutionsauftrag in der weiteren Geschichte Europas.[3]

 

Daß die Unterminierung des Kunstschönen durch das Kunsterhabene, genauer: der idealen Gehalte des affirmativ Kunstschönen durch nichtideale Gehalte der vormodernen Menschen und Gesellschaften, früher oder später auch die vormodernen Formen des Kunstschönen, den verbindlichen Unterschied von schönen und hässlichen Formen und Grammatiken und ebenso die dazu gebrauchten Materialien unterminieren würde, war absehbar, wenn auch noch lange nicht einsehbar.[4]

 

Denn noch über anderthalb Jahrhunderte verfügte die vormoderne Kultur und Kunst, in der Musik sogar bis an das Ende der belle époque um 1914, über systemstimmige – kanonisierte und befolgbare Gesetze und Regeln zu ästhetischen Formsprachen, an denen anfangs auch noch die neuen Inhalte der Unterhaltungs- und Kitschkünste (in Salon, Pavillon, Ball, Café, Varieté undsofort) des 19. Jahrhunderts Anteil nehmen konnten.[5]

 

Dennoch bleibt unbestritten, daß das ästhetisch Erhabene – vielfältigst und mehr als bloß „ambivalent“ zwischen verzweifelnder und heldenhafter Erhabenheit schillernd und irisierend – den modernen Diskurs des „Ästhetischen“ – produzierend und theoretisierend – einleitete, kaum bemerkbar und unmerklich, weil, wie soeben demonstriert, der Durchbruch wirklicher Moderne erst im 20. Jahrhundert erfolgen konnte und sollte.

 

An die Erhebung durch ein negatives Erhabenes und dessen hässliche Mittel und Bedingungen nicht glauben mochte Kant, – verständlich angesichts seiner Philosophie, die das Kunstschöne moralisch einhegte, und die nicht auf eine human inhumane Verzweiflung an der Welt durch Kunst und Künstler, sondern auf ein gesetzesverankertes Vernunftzutrauen und sogar auf einen Postulatglauben an eine Vollendung des Menschen über seine Vernunft hinaus abzielte.

 

Und ebenso verständlich, daß das Christentum bis heute seine großen (Verständnis)Schwierigkeiten mit moderner Kunst nicht wegreden kann, auch wenn es mitunter durch geistliche Einzelgänger den modernen Künstler in den Rang eines (modernen)Propheten erheben möchte; allzu offensichtlich ist die selbsternannte Erhebung durch schrecklich erhabene und schrecklich schöne Kunst als säkulare Version oder Applikation der christlichen Heilsgeschichte erkennbar, – in der freilich ein Gott erleidet, was ihm inhumane Humanität antut.[6]

 

Ob der Gegensatz von ästhetischer Vormoderne und deren klassizistischen Nachfahren, die sich noch in der sogenannten Gemäßigten (und postmodernen) Moderne des 20. Jahrhunderts auffinden ließen und lassen, und der (intendiert) vorwärtsstürmenden ästhetischen Moderne auch heute noch als allgemeines Kulturschisma, wenn auch „unterirdisch“, fortwirkt, ist schwer zu entscheiden. Adorno wollte das Schisma von ästhetisch Alt und ästhetisch Neu bekanntlich noch als Motor eines universalen Kulturkampfes begreifen und ideologisch positionieren, weil er nicht nur die Avancen der „Kulturindustrie“, sondern jeder Gemäßigten Moderne als obsoletes Unterfangen verdammte. Die Unentscheidbarkeit dieser Frage hängt auch daran, daß dieser Kampf, so er denn stattfand, stets nur in gesellschaftlich äußerst marginalen Gefilden stattfinden konnte und sollte.

 

Zudem ist nicht zu leugnen, daß dieser „Kampf“ einerseits in vielen Bereichen des modernen Kunstlebens, vor allem in den staatlich institutionalisierten, mehr als bloß latent verblieben ist, daß aber andererseits durch die Markteroberungen der künstlerischen Postmoderne die Vorbehalte gegen gemäßigte Positionen weithin, vor allem in der medial repräsentierten Gesellschaft und Kultur von heute, gefallen sind: alles ist nun mit allem vermischbar, das Älteste mit dem Neuesten und umgekehrt, das Archaischste mit dem Avantgardesten und umgekehrt, – und somit scheint Baudelaires Traum von einer neuen Kunstschönheit durch neue Vermischung von Schönheit und angeblicher Nichtschönheit in unerwartet erfolgreicher, in tieferer und revolutionärerer Weise in Erfüllung gegangen zu sein.[7]

[1] Und solange das Verhältnis von künstlerischer Schönheit und Hässlichkeit an das Verhältnis außerkünstlerische Schönheit und Hässlichkeit – wie sie im konkreten Erleben der je aktuellen Gesellschaft erfahren wird – gebunden bleibt, sei es durch normativ sein sollende Nachahmung, sei es durch eine intendierte oder ideelle Übereinstimmung. Die Existenz schöner Frauen in der Realität widerspricht der Freiheit Picassoscher Frauen in deren erhaben-schön sein sollender Kunstrealität.

[2] „All general privations are great, because they are all terrible; Vacuity, Darkness, Solitude and Silence.“ (Edmund Burke: Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) Zitiert nach Dieter Kliche: (Stichwort) Häßlich, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart, 2004; Bd 3, S. 38.

[3] Die Illusion einer Wiedervereinigung der Getrennten stellte sich nicht nur in den politischen Großideologien (Nationalsozialismus und Kommunismus) und deren in Dienst genommenen schönen Künsten – samt bombastisch lügender Propaganda-Erhabenheit – nochmals ein; auch die westlichen Avantgarden der ästhetischen Moderne zehrten lange von einer „Utopie der Hoffnung“ auf totale Weltrevolution, zu der sie durch die Sophismen modischer neomarxistischer Philosophien und Ästhetiken verführt wurden.

[4] Daß aber zu den ‚idealen Gehalten“ der vormodernen Kunst auch das Christliche gehörte, somit die Heilsgeschichte, die an der Hässlichkeit der Kreuzigung ihren Kulminationspunkt eigener Erhabenheit, religiöser, besaß, macht die ganze Geschichte der ästhetischen Moderne und ihrer zu sich befreiten Kunst, von ihrer ersten zu ihrer letzten (negativen) Erhabenheit, zu einem merkwürdig vergeblichen Bemühen; jedenfalls kann sie auch als (negativ) erhabene „Kunstreligion“ nicht wirklich neue Religion werden, sondern nur wirklich neue Kunst, eine, in der das Schöne vom Hässlichen mangels Licht nicht mehr unterschieden werden kann. Man bereitet sich eine Dunkelheit, in die gehüllt, alle Welt zu erblickt und dargestellt wird.

[5] Eine Sinfonie von Brahms verhält sich zu einem Walzer von Strauß noch nicht wie ein Orchesterwerk von Boulez zu einem Welt-Hit der Rolling Stones. Ein Dégas zu einem Hotelbild des 19. Jahrhunderts (Hirsch mit erhabenem Geweih oder Engel schützen Kinder auf morscher Brücke im Wald) noch nicht wie ein Stürzbild von Baselitz zu einer Pressefotografie, die einen Award der Weltpresse erhält.

[6] Ob aus dieser (kaum verhüllbaren) Konkurrenz jemals Konkordanz werden kann? Dazu reichen nicht die Ingredienzien des heutigen theologisch-künstlerischen Diskurses: Phraseologie, guter Wille, Diplomatie, gegenseitige Anbiederung und Beliebigkeit.

[7] Neue Musik begegnet an den heutigen Musikuniversitäten noch heute heiklen Barrieren beim Versuch, ihr einhundertjähriges Randdasein zu verlassen, von den Konzert- und Opernprogrammen der Gegenwart zu schweigen, die mit Sandwichangeboten den egalitären Kanon eines (Viele)Jahrhunderte-Repertoires herstellen möchten, doch dabei die Grenzen der „Auslastung“ nicht überschreiten dürfen.