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Kapitel XV

XV.

 

Am Ende seines Romans „Nadja“ (1928) – als eine der Basisschriften der sogenannten Klassischen Moderne gehandelt – schließt André Breton nicht mit einem Erzählende, sondern, reflektierter Moderne gemäß, mit einer Definition; mit dem, was der moderne Diskurs unter einer „surrealistischen Definition“ der Schönheit versteht: „La beauté sera CONVULSIVE ou ne sera pas.“[1] Und im Sinne dieses Machtwortes wurde nicht nur die Literatur der ästhetischen Moderne, sondern auch die anderen Künste nicht müde, die „Erweiterung“ des Kunstschönen durch das Epiphanische und Apparitionäre ihrer Werke oder doch wenigstens gewisser Augenblicke in den Werken und Aktionen zu behaupten und zu belegen.

 

Und damit ist eine weitere Antinomie der ästhetischen Moderne ausgesprochen: die von Emphase und Erkenntnis. Denn einerseits soll die wie ein Vulkan erbebende und sich ausschleudernde surrealistische Kunstschönheit dem Willen einer intellektuellen Definition folgen: sie muß alle bisherige Definition von Schönheit und Kunstschönheit für immer hinter sich lassen. Kein geringes (Über)Anstrengungsprogramm, aus dem jedoch die rettende Flucht ans andere Ufer der Antinomie möglich und notwendig scheint: Leidenschaft als Geburtsstätte der neuen Schönheit, durch deren Verleidenschaftlichung nämlich, denn so muß man wohl das diskursbeliebte Wort „Emphase“ und „Emphatisierung“ übersetzen.

 

Durch die Emphase wird wirklich, was der rigide Gedanke als mögliche Definition gedacht hat. Nicht nur soll sich das neue Kunstschöne den „fins passionelles“, sondern auch der Macht eines absoluten Definitionsgedankens verdanken. Ohne Willen zur Endzeitlichkeit von Kunst ist deren moderne Apokalypse nicht inszenierbar.

 

Ob hier die Leidenschaft dem Denken, oder das Denken der Leidenschaft, oder beides ständig und wechselweise auseinander entspringt, ist eine Frage, die sich unabweislich stellt, will man den originär modernen Kern(reaktor) der surrealistischen Aktion erkennen. Und auch die Erkenntnis dieser Kernantinomie der ästhetischen Moderne kann letztlich nur durch direkte Konfrontation und Vergleichung mit den gleichlautenden, aber völlig entgegengesetzt interagierenden vormodernen Kernantinomien gewonnen werden.

 

In den traditionellen Gattungen der dichterischen Prosa, die ihr primäres naives Leben gegen Ende des 19. Jahrhunderts endgültig aushauchten, waren Inhalt und Form der Erzählung nicht einer Ästhetik bedürftig, die vorgeben hätte müssen, mit allem Bisherigen durch Gewalt und Ende brechen und abbrechen zu müssen und zu können. Bis spät ins 19. Jahrhundert verblieb die vormoderne Erkenntniskunst eine schöne durch Übereinstimmung von Erzähl- und Gedankeninhalt, von Ausdruck und poetischer Prosa, eine Übereinstimmung, die allen ihren Gattungen und Stilen in epochenspezifischer (und auch nationaler) Normativität inkarniert war und noch späte Nachfolgegestalten (Herrmann Hesse und andere) ermöglichte.

 

Ideale Normen, Stile und Gattungen, die, als Muster und Programme für heutiges Erzählen gebraucht, nur mehr zu Atavismen führen können, nachdem sie schon Thomas Mann nur mehr ironisch, und die im 20. Jahrhundert folgende (und die Vormoderne bereits harmlos begleitende)Trivial- und „Romane-Literatur“ nur mehr als gehobene oder gesunkene Unterhaltung vorführen konnte. Was jedoch nicht hinderte, sondern im Gegenteil beförderte, daß Proust, Kafka, Joyce, Musil und andere ihre neuen Messer schliffen, um das altgewordene Lamm zu opfern.

 

Im vormodernen Paradigma kann der Konflikt der literarischen Moderne daher gar nicht erscheinen, und er ist auch nicht erschienen, ehe im 19. Jahrhundert die Zeichen auf Sturm umstellten. Daß die Antinomien der ästhetischen Vormoderne lösbar waren, gehört zu ihrer substantiellen Definition, die sie von der modernen unterscheidet, sowohl zu ihrem Auftrag wie zu ihrer Fähigkeit, Harmonie und Versöhnung (noch gänzlich ohne die Lüge des Kitsches und der Unterhaltung) verwirklichen zu können. Die ästhetische Moderne wäre jedoch moderne nicht geworden, hätte sie diesem „bisherigen“ Fluß im Reich der schönen Dichtung nicht mit „konvulsivischer“ Macht einen „absoluten“ Riegel vorgeschoben.

 

Doch für den Verlust des Flusses scheint der Gewinn einer Eruption mehr als zu entschädigen. Denn gemäß surrealistisch-dadaistischer Definition und Dezision schießt das neue Kunstschöne mit „konvulsivischer“ Schöpferkraft aus den Tiefen des Vor- und Unbewussten des Künstlers in sein Bewusstsein und der daran teilhabenden Kunstwelt. Der sich als Vulkan und heiliger Epileptiker verstehende Künstler steht unter dem Imperativ einer permanenten und unversiegbaren Innovation: niegewesene Neuschöpfung seiner selbst und seiner Kunst zu sein. Eine hypothetische Unendlichkeit, welche die Angst, den gewalttätigen Aktivismus der surrealistischen Neuschöpfung könnte das „ne sera pas“ ereilen, unausweichlich begleitet.

 

Da gemäß surrealistisch-dadaistischer Welt- und Kunstauffassung, an allem (von Welt und Kunst) eine absolute Neudefinition angebracht werden kann und soll, muß dieser Aktion als logischer Kern eine absolute Negation, vorgestellt als Machtäußerung eines absoluten Nichts, inhärieren. Ein nichtiges Absolutes mithin, dessen „emphatisch“ schöpferischer Gedanke bei seiner empirischen Ausführung stets wieder in relative, in überaus relative, nämlich kontingente Inhalte, Formen und Materialien mutieren muß (exemplarisch: „Readymades“), weshalb das Versprechen, durch absolut innovative Kunst einer absoluten Erscheinung eines wirklichen Absoluten beiwohnen zu können, nur als geglaubtes Versprechen vollzogen werden kann. Ein emphatischer Glaube, der glauben machen soll, noch an der banalsten Realität sei durch heiligende Kunst das säkulare Tabu der Banalität überwunden worden.

 

Und dieser Prozeß der immanenten Relativierung des modernen Absoluten (und seiner absoluten Kunstschönheit) verstärkt und wiederholt sich, wenn auch nur der Anflug einer Wiederholung oder Wiederholbarkeit der konvulsivisch gezeugten Schönheit sich zeigt. Eine „absolute Aktion“, die sich absoluter Freiheit verdankt, wiederholen wollen, ist nämlich das Gegenteil ihrer selbst, ist das Gegenteil dessen, was die innovative Definition und Dezision fordert. Das konvulsivische Schöne muß sein eigenes Verschwinden wollen und ausführen, nur als verschwindendes und verschwundenes kann es sein, was es sein soll und sein möchte: wahrer Widerschein eines nichtigen Absoluten und dessen absoluter Freiheit.

 

Nun geschieht jedoch im Betrieb der modernen Kunstkultur genau das Gegenteil: exorbitantes Sammeln und Bewahren, Musealisierung und Depotisierung, permanente Wiederaufbereitung, Kaufen und Wiederverkaufen, Wiederinszenieren und -aufführen, Wiederdrucken und Wiederübersetzen und Wiederedieren – ohne Ende. Ein Überangebot und Überfluß einer Kunstflut, die gegen ihre drohende Fadesse und Vergleichgültigung ankämpfen muß.

 

Nicht zufällig ist in der Postmoderne an die Stelle der „Readymades“ die Phalanx der „Re-Objects“ getreten, die Kitschvorlagen mit monströsem Design bearbeitet, um die Infantilisierung der modernen Kunst entweder als Freude oder als Bedrohung, entweder als „Tragödie“ oder als Spaß zu inszenieren. Als habe der moderne Künstler das wirkliche Ende aller Dinge oder doch nur das Ende einer Kunst gesehen, die sich einst als dingliche äußern sollte und konnte.

 

Dieser Widerspruch, daß sich eine Kunst, die ihre Vergänglichkeit als unverzichtbares – absolutes – Moment ihrer Absolutheit mutig und tapfer darstellen und darin als darstellende verschwinden soll, sich zugleich im Modus antiker Tempelkulte präsentiert, führt auf die nächste Antinomie im Begriff moderner Kunst und Kunstschönheit. In seinem innersten Wesen ist der Geist moderner Kunst und Künstlertums zutiefst zerrissen zwischen zwei Diensten an zwei Herren, die entgegengesetzter nicht sein und regieren könnten. Dem Dienst am reinen („absoluten“) und freien Gedanken widerspricht der Dienst an dessen kontingent sinnlicher Darstellung; die Identität des Denkens wird durch die Nichtidentität seiner sinnlichen Realität vernichtet.[2]

 

Dies sind zwei Emphasen, die nicht in e i n e m Kult verbindlich gelebt und organisiert werden können, weshalb lediglich ein Nicht-Kult als Kult, ein Anti-Kult als Form der Kommunikation zwischen den Ge-Bilden und den zu Bildenden möglich und wirklich ist.[3] Der sich vernichtende – absolute – Gedanke gewährt sich einen kontingenten Todeskult, der als sein properes Gegenteil erscheint und erfahren wird. Es ist ewiges Leben (in und durch freie Kunst), aber warum und wofür eigentlich? Es ist eine neue Religion, aber als keine; wie ist das zu verstehen?

 

Eine Kunst, die einerseits auf absolute Freiheitsakte angelegt ist, auf eine schlechthin nichtdingliche Freiheit und somit auf reine Kommunikation und Überredung durch unbekannte Prophetenworte, zugleich aber andererseits die Stümpfe des Altars und der heiligen Geräte nicht los wird, ein Künstler, der sich als Tempeldiener und zugleich nicht als Tempeldiener an den absoluten Gedanken verdingen möchte, diesem Entzweigerissenen widerfährt sein gerechtes Schicksal: je mehr der denkfreie versucht, das dingliche und sinnliche Element abzuschütteln, umso fesselnder (und infantiler) fängt ihn das fernhinwerfende Lasso der Sinne und Materien wieder ein, um ihn vor jeder Dinglichkeit zu Bückung und Kleinbeigebung zu erniedrigen.

 

Und mit der Beziehung auf die angestammte Dinglichkeit wird die moderne Kunst auch die vormoderne Art und Weise, alle historischen Dinglichkeiten der Künste zu bewahren und zu tradieren nicht los.[4] Die moderne Kunst (der traditionellen Kunstarten) verschmäht keine Anleihe bei vormodernen Erinnerungs- und Reproduktionspraxen, vom Geniekult bis zur Denkmälerpflege ist das meiste noch heute im Repertoire, und je anachronistischer, umso nostalgischer vermarktbar.

 

Zwischen sich als moderner und sich als „zeitloser“ Kunst schwankt die moderne unentschieden hin und her, und dies verursacht nochmals und undurchschaubar jene Vermischung und Verwechslung von vormoderner und moderner Absolutheit und Schönheit, jenes beliebige Changieren und ubiquitäre Projizieren von vormodern als modern, von modern als vormodern. Ein im (zeitlos modernen) Museum hängender Picasso ist mit seinem Nachbar Rembrandt eins und dasselbe geworden: „Kunst der Meister.“[5]

 

Dem Einwand, das Museum sei doch eine Einrichtung der Moderne, nicht der Vormoderne, ist folgendes zu erwidern. Es ist weder noch, weil es nur als Organ und Mittel jener dritten Perspektive über den beiden Paradigmen möglich und wirklich ist beziehungsweise werden sollte, um beide Absoluta erkenntlich zu halten, auch wenn in der Museums-Realität von heute eher noch das Gegenteil geschieht: die Verwischung des absoluten Unterschiedes der Absoluta.

 

Das Museum der Künste (aber auch der bürgerliche Konzertempel und ähnliche Institutionen) entsteht daher am Ende der Vormoderne und ihrer vormodernen Künste, deren Geschichte zusammenfassend und arrangierend, wissenschaftlich aufbereitend und durchdringend, kanonisierend und dekanonisierend, – den jeweiligen Deutungsmoden gemäß.[6] Ein gebrochener Kultus und Ritus von Kunsttradition, durch das Ende der vormodernen Kunst ermöglicht und ernötigt, aber zugleich das Desiderat einer „übergeschichtlichen“ Gedächtniskultur, deren adäquate Form bis heute nicht gefunden wurde.[7]

[1] Das Wort „Definition“ wird im künstlerischen Bereich bekanntlich nur als nominalistisches Wort verwendet, dem daher sogenannte Wortdefinitionen, meist durch einen stechenden Satz ausgespielt, folgen müssen. Mit dem nichtnominalistischen Sinn des Wortes Definition hat dies nur als Negation dieses Sinnes zu tun. Irratio bleibt an Ratio geheftet. – Der Satz: „Die Schönheit (der Künste) wird erbebend sein, oder sie wird nicht mehr sein“ erinnert an seine Analogie im Gebiet der modernen Theologie: „Der Christ der Zukunft werde ein Mystiker sein, oder er werde nicht mehr sein.“ Mehr als eine Analogie hat daraus bekanntlich Otto Mauer gemacht, weil für ihn der Künstler moderner Kunst ein moderner Prophet (auch der Religion) sein sollte. Diese (fast singuläre)Position innerhalb der katholischen Kirche ist mittlerweile durch das Promi-Tabu eines Promi-Verstorbenen unreflektierbar geworden.

[2] Daher der Stolz des nominalistischen Bewußtseins vor einer Erscheinung, die es unter keinen Begriff nicht subsumieren kann, – ein dummdreister Stolz, weil es selbst dieser Begriff ist, der diesen begrifflos sein sollenden gedacht und erfunden hat, – sich zum Pläsier, seinem Geist zur Zerstreuung und Ablenkung. Von was? (Kinder, macht Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind: ein ästhetischer Appell als Hoffnungsdogma worauf?)

[3] Der freie Flaneur (der moderne Intellektuelle kat’ exochen), der auch im Sitzen noch erfolgreich an Kunst teilnimmt, und dessen Reflexions- und Emotionsniveau im Grunde niemand kennt und niemand kennen möchte, – er ist Priester und Gläubiger in einer Person. Von diesem ist der Unterhaltungsgläubige, der sich in den Tempeln der Unterhaltungskünste „köstlich“ ernährt sowie der kunstfrei sich unterhaltende Sportsfreund genau zu unterscheiden, – obwohl in der modernen Bewußtseins-Realität, nicht nur in Film und TV, alle Modi von „Unterhaltung“ und ‚Unterhaltung’ mehr und mehr interagieren, in welcher tabula rasa auch der Unterschied von moderner und vormoderner Kunst spurlos versinken könnte.

[4] Wieder machen die technologischen Medien die Ausnahme oder vielmehr die Eröffnung einer ganz neuen, wirklich modernen Kulturwelt. Ein digitales Museum ist kein Museum mehr. – Film, Foto, Internet undsoweiter haben ein anderes Verhältnis von Vergänglichkeit und Absolutheit, ihre Synthese vermittelt Sinnlichkeit und Denken auf radikal undingliche und doch exorbitant sinnliche Weise; das Denken gleichsam erschlagend im Sinn und Sinne einer säkularen Weltvirtuosität, die man durchaus als Kunstvirtuosität neuen, absolut neuen Sinnes definieren kann, wenn man das Neue dieses neuen Sinnes wirklich definiert hat, ohne Anleihen und Analogien beim vormodernen Kunstbegriff aufzunehmen.

[5] Der obligate „Meister-Begriff“ vollendet den Nominalismus eines kunstgeschichtlichen Bewußtseins, das sich alle konkreten Begriffe von Kunst und Geschichte ersparen möchte. Es ist so arm wie keines vor ihm, obwohl es doch so reich zu sein scheint wie keines vor ihm. Es hat alles, weiß aber nichts mehr; es sieht und hört alles, aber geblendet; es lebt in Hüllen und Phrasen.

[6] Es ist unsinnig und ideologisch, den Beginn der Moderne ins 18. Jahrhundert zurückzuverlegen, wie dies oft geschieht; man bringt sich durch diesen Irrtum nicht nur um ein Realitätsbewusstsein, man verstellt sich auch die wesentlichen Einsichten in die wesentlichen Schritte der Entwicklung von der vormodernen zu modernen Gesellschaft und Kultur. Der „Jugendstil“ war sozusagen die absolute Grenze zwischen beiden: etwas sollte ewige Jugend sein, das keine mehr haben, keine wirkliche Erneuerung mehr sein sollte.

[7] Daher der falsche Schein, das moderne Museum sei ein Haus „zeitloser“ Kunst; welchen Irrtum der Irrglaube, man könnte für jede Epoche und Kunstart eine je eigene Klassik („Klassik der Moderne“) ausrufen, bestätigt. Wenigstens im Tempel der Kunst möge die Zeit der Geschichte stillstehen, nachdem man der Stille und Ruhe in den Tempeln der Religion nicht mehr glaubt. – Auch das moderne „Sandwich-Konzert“ huldigt dem Aberglauben einer zeitlosen Kunst (von Musik), deren Werke „im Kreise“ – auf gleichem Niveau (von Kunst und Kunstschönheit) um den modern flanierenden Inspizienten herumstünden.