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Kapitel XVI

XVI.

 

„Epiphanie“ und „Apparition“ sind die beiden beliebtesten Ausdrücke, mit denen sich die ästhetische Moderne über die Antinomien ihres Wesens zu belügen pflegt. Zwar wird die „Epiphanie“ der Gebilde zumeist als „Gestus“ oder „absoluter Gestus“ übersetzt, – wohlgemerkt: als Gestus „der Offenbarung von Schönheit“ – womit, wenigstens sprachlich, zugegeben wird, daß nicht mehr, wie in der Vormoderne, eine absolut erfüllte Formgestalt als Offenbarung von Schönheit und Kunstschönheit verfügbar ist; aber über diesen substantiellen Unterschied in der Sache ist kaum je ein begreifendes Bewusstsein anzutreffen. Ist doch die „emphatische“ Aufladung tabuisierter Fremdwörter selbst ein „Gestus“, ostentativer Ausdruck eines Denkens in Wortgesten, nicht mehr in begründeten Kategorien, Urteilen und Schlüssen, nicht mehr in und über verbindliche Inhalte und Formen von Kunst und Kunstschönheit.[1]

 

Treten wir in medias res durch eine systematische Disjunktiv-Frage: Soll eine besondere Erscheinung kraft besonderer Sinnlichkeit und damit modern gesteigert: eine singuläre Erscheinung kraft singulärer Sinnlichkeit, oder soll eine besondere Erkenntnis durch besondere künstlerische Erkenntniskraft, oder soll beides zugleich (aber wie?), erscheinen, wenn „Epiphanie“ und „Apparition“ – dieses Erscheinen eines Erscheinens von Weltinhalt oder auch von („eigentlich“) nicht erscheinen könnendem Weltinhalt – durch überwältigende Kunst soll dargestellt werden? Die doppelte Emphase von Erkenntnis oder/und Sinnlichkeit konkretisiert sich praktisch: auf dem Feld von Dinglichkeit und Aktion sowie theoretisch: auf dem Feld von Urteil über und Begründung von Epiphanie und Apparition.

 

In vormoderner Kunst war evident und selbstverständlich, daß anfangs nur das Heilige der Religion, danach nur das Schöne (und positiv Erhabene) der sich autonomisierenden Künste sich epiphanieren sollte und konnte. Eine Kunst, die als Erkenntnis- und Schönheitskunst zugleich in den höchsten Regionen ihrer Idealität wirkliche und schöne Epiphanie und Apparition sein konnte, weil sie den Gegensatz von Erkenntnis und Sinnlichkeit kraft ihrer Idealitäts-Normen und deren durchführenden Praxen (durch nichtnominalistische Gattungen und Stile, Techniken und Handwerke, Geschmäcker und Geschmackstraditionen) erfüllen konnte.

 

Zwar blieb daher der Freiheitswert vormoderner Kunst und ihrer sogenannten Nachahmungs-Ästhetiken innerhalb gewisser Grenzen strenger Notwendigkeit und der Erkenntniswert innerhalb gewisser Grenzen von Begrifflosigkeit befangen, aber diese Einschränkungen waren zugleich die conditio sine qua non für die vollendete Eintracht und Übereinstimmung von Sinnlichkeit und Erkenntnis, von Schönheit und Kunstschönheit, von Geist und Gebilde, von Form und Inhalt sowie von Form und Material.[2]

 

Daß moderne Kunst diese Einheit und Übereinstimmung kündigen musste, liegt im Begriff ihrer Modernität und Freiheit, in der universalen Notwendigkeit, über jede kunst- und gesellschaftsimmanente Notwendigkeit hinaus ein Reich der Freiheit erreichen zu müssen, in dem sie als absolut freie Phantasie schalten und walten soll. Daß jemand aus Notwendigkeit freier sein muß als notwendig, dieser Widerspruch wird durch das Procedere der Modernität selbst gelöst, wenn auch nur als permanent widersprechender, als permanenter „Widerstreit“, als unlösbare Lösung.

 

Daher kann zu jeder Setzung von (phantasiegesetzter) Modernität immer auch das Gegenteil gesetzt werden, ohne daß dieses Reich absoluter Freiheit verlassen, ohne daß es nochmals transzendiert werden könnte. Die ästhetische Moderne ist insofern ihre ewige Moderne, und in ihr ist permanente Epiphanie, aber nur mehr als inszenierte, durch Künstler erkunstete – stets neu definierte und praktizierte – möglich.[3]

 

Dieser Widerstreit findet mitten im Wesen der modernen Epiphanie statt. Denn in dieser ist der Anteil dessen, was erscheint, eher geringer als der Anteil dessen, was nicht erscheinen kann und soll, was aber dennoch, als Nicht-Erscheinen-Könnendes, erscheinen soll. Das Verborgene ist ebenso, wenn nicht wesentlicher als das Entborgene, das „Hinter den Dingen“ wird zur Substanz dessen, was das „In den Gebilden“ ausmachen soll.

 

Der Widerstreit soll nicht nur unbehoben bleiben, er soll vielmehr bewusst erhoben sein, und ob dies ironisch oder ironiefrei geschieht, ist letztlich gleichgültig, weil weder Ironie noch endlose Reflexion über Ironie dazu taugt, einen als unlösbar angenommenen Widerspruch und Widerstreit aufzulösen und zu versöhnen.

 

Während für die vormoderne Schönheitskunst unbedingt gilt, daß nur das als kunst- und schönheitsfähig erscheinen kann, was an ihr, an ihren Oberflächen und in ihren Unmittelbarkeiten, in der direkten (reflexionslosen) Vermittlung ihrer sinnlichen Ausdrucksweisen, durchscheint (ohne Rest und Hinterschein), gilt für die Erscheinung der modernen Epiphanie das Gegenteil: was nicht durchscheinen kann und doch durchscheinen soll, was sich als Verbergendes entbergen soll, eben dieser Wider-Spruch, eine gleichsam negative Prophetie, soll erscheinen.

 

In der traditionellen Kunst schwebt der Geist der Freiheit daher über der Erscheinung des Gebildes, indem er dessen Momente (Form, Inhalt, Material) in einer geschlossenen Idee, deren Unendlichkeit endlich erscheint, zusammenhält und offenbart. In der modernen Kunst schwebt der Geist der Freiheit hinter der Erscheinung, als gleichsam verschwobener oder changierender, – oder deutlicher: er muß hinzugedacht werden. Und die Endlichkeit einer offenen Idee darf unendlich – deutbar, tradierbar, (re)inszenierbar undsofort – erscheinen.

 

Diese erscheinende Nichterscheinung muß und soll Spuren in einem stark reflektierenden Geist – in dessen modernem Interpretations- und Deutungspotential – hinterlassen, anders nicht ist sie als „große“ Kunst erkennbar und anerkennbar; und es ist evident, daß eine Kunst, die „zum Denken anregen will und muß“, eine für und von Denkern sein muß und will.

 

Doch ist der moderne Künstler in der Regel kein wirklicher, sondern ein nur ästhetischer Denker; aber diese Antinomie fasst nur die bisher aufgezeigten Antinomien summarisch zusammen. Alle Widersprüche der modernen Kunst und Kunstschönheit müssen mitten durch das Tun und Lassen des modernen Künstlers hindurchgehen.

 

Weil durch moderne Kunst die Welt „hinter den Dingen“ zum Inhalt der künstlerischen Gebilde werden soll, in denen sie dennoch zugleich als Welt hinter den Gebilden – nicht unmittelbar erscheinend – erscheinen soll, ist einerseits der Erkenntnischarakter und -auftrag moderner Kunst unhintergehbar, zugleich jedoch, weil besondere und individuelle Phantasie, nicht eine sachadäquate Erkenntnismethode von Welt federführend ist, ohne objektives Kriterium für Wahrheit und Freiheit der Formen und Inhalte, die zur Erscheinung gelangen.[4] Ein abstraktes Porträt Picassos und eine übermalte Photographie Warhols leisten denselben Dienst einer frei reflektierenden Erkenntnis, deren spielendes Deutungsarsenal ebenso unerschöpflich wie beliebig ist.[5]

 

Die Epiphanie durch Erkenntniskunst wird oft als Auftrag zu säkularer Spiritualität beschrieben: dabei dürfe jedoch die „Erfassung einer intensiven Phänomenalität der Dinge“ nicht „thematisch forciert werden“, um das „Unaussprechliche und nicht Identifizierbare des Ereignischarakters nicht zu gefährden.“[6] Das als Inhalt in den Formen der Kunst Erscheinende soll als zugleich Absentes, als „Rätsel“ oder „Geheimnis“ erscheinen, die Offenbarung soll als sich verweigernde zur Kenntnis genommen werden.

 

(Es ist vielleicht noch etwas hinter der Welt, um dessen Aufdeckung willen zu leben sich lohnen könnte. Eine späte, eine letzte Abwandlung der Nietzscheanischen Rechfertigung einer eigentlich missglückten und nihilen Welt durch eine abenteuerlich glückende Kunst und therapierende Ästhetik.)

 

Das sich verbergende oder besser: verrätselnde Absolute der modernen Kunst kennzeichnet vielleicht mehr als eine bloße Analogie zu Kants unerkennbarem Ding an sich. Wie unsere erkennende Vernunft nicht befugt und nicht befähigt sei, den undurchdringlichen Schleier vor der eigentlichen und an sich seienden Welt wegzuziehen, so dürfe auch Kunst diesen Schleier nur neu drapieren und neu verrätseln, dürfe mit ihm spielen und auch an ihm ziehen und zupfen; wehe aber, sie versucht, den Vorhang wegzuziehen: Ende der Vorstellung.

 

Da die Frage, ob das Wesen der Dinge erkennbar oder nicht ist, nicht durch Phantasie und Kunst geklärt und entschieden werden kann, könnte die Utopie moderner Kunst, das Wesen von Welt und Mensch sei ein unerkennbares, von der Gunst eines fiktiven Kredits leben, nach dessen Aufbrauchung oder vielmehr Kündigung ein ganz neues Licht auf die Verrätselungsspiele moderner Kunst und Ästhetik fallen könnte. Daraus folgt: Weil nicht durch Phantasie über die Macht und Reichweite, Tiefe und Höhe der Vernunft entschieden werden kann, liegt zwar die Freiheit moderner Kunst, nicht aber deren geschichtliches Schicksal in der Macht der Künste.

 

Gerade die am Übergang zur Postmoderne erfolgte Eroberung jeder nur darstellbaren Banalität als Objekt der modernen Reflexionsbegierde bewies, daß der Gedanke durch sich selbst, von Kunst nur angeregt und anregbar, befugt und befähigt ist, an jeder Banalität die Möglichkeit von deren möglicher Nichtbanalität zu behaupten und zu erfahren. Das Problem, daß damit unser Denkgenie jedes Phantasiegenie (in jedem modernen Künstler) permanent überragt und dominiert, weil schon dem alltäglichsten Denken des modernen Menschen ein Arsenal an wissenschaftlichem und aktuellem Wissen souffliert, ist gleichfalls durch Kunst nicht zu bannen und nicht zu lösen. Zwei Bedrohungen von Kunst mithin, die, wie gesagt, nicht ihre Freiheit heute betreffen, wohl aber ihr Schicksal von morgen sein könnten.[7]Sie wäre ein Komet gewesen, ohne dessen Wiederkehrschicksal teilen zu müssen.

 

Daß die Verrätselungsmanie es war, die die traditionellen Künste zwang, in ihre Vermischung, in ihren Fluxus (und darüber hinaus in die Vernetzung mit den technologischen Medien) einzuwilligen, war weniger überraschend, als es von Adorno beschrieben wurde. Doch war die Illusion eines nachhaltig existenzfähigen „Gesamtkunstwerkes“, einst im Arkanum der Wagnerschen Opernästhetik erwogen – (als Kunstwerk der Zukunft, in dem das absolute Werk absolut vollendeter Kunst endlich – „durchkonstruiert“ – sollte erscheinen können) – zwar kräftig, aber auch kurzlebig.

 

Für die Zwecke einer universalen Weltverrätselung war das Zeichen-, Formen und Materialrepertoire der traditionellen Einzelkünste nicht unerschöpflich genug, und daher mussten durch Vermischung der Künste deren Zeichen, Formen und Materien „neu aufgemischt“ werden, um versuchsweise alle eindeutigen Verweise auf eine erkennbare Welt zu tilgen. In auffallendem Gegensatz zum Film, dessen Darstellen und Reflektieren weltbezogen und weltfreudig bleibt, auch wenn er die gröbsten Hässlichkeiten vorführt; er teilt nicht die Paranoia der modernen Kunst vor der modernen Welt der Gegenwart. Und er muß nicht von einer endlosen „Erweiterung“ einer „absoluten Kunst-Schönheit“ durch permanente Neudefinitionen von Welt und Kunst träumen.

[1] Diese Einheit und Identität des Nominalismus in Denken und Sprechen einerseits mit dem Nominalismus der Gebilde andererseits macht es für deren Betreiber so gut wie unmöglich, den eigenen Horizont, dessen Prämissen und Konsequenzen zu transzendieren. Fatal für eine Ästhetik, die zugleich modern und zeitlos sein zu können vermeint. – Offenbar war und ist die moderne Freiheit der Künste nur um diesen Preis totaler Unverbindlichkeit zu haben, zu installieren und zu praktizieren. Und auch diesbezüglich kommt die Moderne in ihrer Postmoderne nur vom Regen in die Traufe.

[2] Beide konnten einander als Zweck und Mittel die Plätze tauschen. Die Erkenntnis diente der Schönheit, die Schönheit diente der Erkenntnis. Es war schöne Kunst als Wissen(schaft) möglich(ars scientia), Kunst als geistige Sinnlichkeit ohne den Eifer von „Kritik“ und „Begriff“, ohne Ideologie der Weltverbesserung, weil es in der Vormoderne eine besser verbesserte Welt als jene der schönen Künste weder geben konnte noch sollte.

[3] Kunst als künstliche ist das notwendige Fazit einer Freiheit, die sich nicht mehr über immanente Notwendigkeit definieren muß und soll. Schon daher ist jede „Erweiterung“ des Kunstschönen durch ein modernes eine nicht mehr durch den Begriff schöner Kunst bedingte und begründete. Abbbreviativ: Schönheit ist ein Begrenzungsphänomen, Kunst – als vollkommen freie – ein Entgrenzungsphänomen.

[4] In moderner, sogenannter Neuer Musik, muß daher eine Musik hinter der Musik geschaffen werden, um den Erkenntnischarakter einzulösen. Dies sprengt den Mimus von Musik total und totalitär; daher die Marginalität von Neuer Musik im Vergleich zur Markpotenz von neuer bildender Kunst.

[5] Es versteht sich, daß diese „Unerschöpflichkeit“ moderner Provenienz von der Unerschöpflichkeit vormoderner Kunstschönheit absolut unterschieden ist. Bei dieser gibt die Schönheit selbst den Inhalt und Grund für das unerschöpfliche Erfahren und Deuten; das Scheinen präponderiert das Erkennen, das verweilende Genießen das Beurteilen von möglichen Hinterwelten, sei es der sogenannten äußeren, sei es der inneren Phantasiewelt des Künstlers.

[6] Karl Heinz Bohrer: Das absolute Schöne und die Hässlichkeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. November 1999, Beilage Seite IV.

[7] Leicht inszenierbar das Muster einer als (Vor)Philosophie sich aktuierenden Kunst: Eine waagrechte Linie oben, eine waagrechte Linie unten als Bildinhalt gezeichnet, und dazu in der Manier Magrittes die Textfrage ins Bild geschrieben: Warum ist oben oben und unten unten?, und unsere Denkmaschine beginnt das Spiel fragender und antwortender Reflexionen as (un)usual.