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Kapitel XVII

XVII.

 

Der geschichtliche Beginn moderner Kunst kann als umstrittenes Datum umstritten bleiben, wenn man begriffen hat, daß der potentielle Beginn in das 19., der reale Beginn in das 20. Jahrhundert fallen musste.[1] 1854 erfolgt die Uraufführung von Richard Wagners „Tristan und Isolde“, 1857 erscheinen die „Fleurs du mal“ von Charles Baudelaire, 1853 veröffentlicht Karl Rosenkranz eine „Ästhetik des Hässlichen“, 1851 eröffnet die erste Weltausstellung ihr Gelände, um erstmals auf zunächst hässlich erscheinende Industrieprodukte eine ökonomisch denkende Waren- und Bedürfnisästhetik anzuwenden, und um 1850 gelangen in großer Zahl japanische Farbholzschnitte nach Europa, die das Denken der Impressionisten über Farbe und Form in der Malerei bestätigen und anregen.[2]

 

Kurz zuvor hatten nicht nur Baudelaire und Heine im Übergang von der „schönen Februarrevolution“ zur „hässlichen Junirevolution“ (Paris, 1848) das Waterloo ihrer Welt- und Kunstanschauung erlebt; sollte eben noch mit den Organen schöner Kunst die neue Gesellschaft des neuen Menschen, wenn nicht geführt, doch wenigstens verherrlicht werden, dämmerte nach der Niederlage der Juni-Insurrektion, daß die moderne Wirklichkeit für den Geist ästhetischer Idealisierungen untauglich und taub geworden sein könnte.

 

Aber schon vor diesem Wendepunkt der hässlichen (Kultur)Revolution hatte Victor Hugo in revolutionär antiklassizistischer Weise über das Groteske, Erhabene und Hässliche in aktueller Kunst reflektiert, hatte Friedrich Schlegel eine Interimsepoche der Hässlichkeit in der modernen Kunst diagnostiziert, und hatte nicht zuletzt Hegel durch geschichtsphilosophisch analysierende Ästhetik sogar das Ende nicht nur einer Epoche der Kunst und den Beginn völliger neuer Zustände und Entwicklungen von Kunst deduziert.

 

Eine Grundfrage bewegte die avantgarden Künstlerzirkel der bürgerlich werdenden Kultur und Gesellschaft fortan: wie soll eine in ihre endzeitliche Krise geratene Kunst den Übergang vom Alten ins Neue bewältigen und gestalten, und wie ist dieser zu deuten, wie zu begreifen? Stand im 18. Jahrhundert noch der Begriff des Erhabenen im Mittelpunkt der ästhetischen Erörterungen, so rückte nach Hegel der des Hässlichen ins Zentrum, aus Gründen, deren Bündel genau gesichtet werden muß, sollen die bis heute üblichen Irrwege der Deutung und Begreifung nicht neuerlich und ohne Ende nachbeschritten werden.

 

Viele Künstler der Epoche des frühen 19. Jahrhunderts erfuhren die Zumutungen der modernen Industriegesellschaft, deren soziale Verelendung und äußere Verhäßlichung als Affront, als gewalttätigen Angriff einer prosaischen Lebenswelt, der entweder mit denselben Mitteln oder mit phantasmagorischen Gegenwaffen sollte zurückgeschlagen werden.

 

Und zur theoretischen Klärung und Ausrichtung dieses Kampfes konnten die bis dahin genügenden Ästhetiken der Gelehrten und Philosophen nicht mehr genügen; jetzt mussten die Künstler selbst radikal neue Ästhetiken für neue Weisen und Praxen von Kunst entwerfen, um sich der Wahrheit und Richtigkeit ihrer neuen Strategien in einer radikal veränderten Welt zu vergewissern.

 

Und nicht zufällig, daß die Frage nach der Hässlichkeit als möglicher Befreiungs-Idee zum Punkt aller Punkte aufstieg, an dem auch die Hegelschen Richtungen des abendländischen Philosophierens nicht mehr vorbeikonnten, obwohl sie nicht selten danach trachteten, die Krise der damaligen Gegenwartskunst durch eine enthistorisierende Metaphysik des Schönen entweder zu ignorieren oder zu entsorgen.[3]

 

Und ebenso nicht zufällig, daß schon am Beginn der Bewegung zur ästhetischen Moderne und ihrer Eroberung von nicht-mehr-schönen Künsten erwogen und behauptet wurde, das je aktuell Häßliche sei das neue Schöne oder doch wenigstens das neue Schöne der Kunst von morgen. Das Hässliche, bis dato nur als Mittel zur Steigerung des Erhabenen zugelassen, begann sich als Mittel zu emanzipieren und den Rang eines ästhetischen Selbstzwecks im Reich der traditionellen Kunstarten zu erobern.

 

Eine Eroberung und Befreiung, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts, als sich die ästhetische Moderne zur eigenen (unüberwindbaren) Post-Moderne verewigt hatte, Selbstverständlichkeit werden musste. Die prototypische These der „Vermischungsästhetik“ Baudelaires, wonach schön als hässlich, hässlich als schön zu bewerten sei, folglich das Häßliche nicht bloß eine Art, sondern geradezu der neue Gattungsborn neuer Kunstschönheit sei, diese Wendeästhetik erfüllte sich in der (nicht nur theoretisierten)Proto-These von Warhol und Cage: „Alles ist schön“.

 

Und alle Stränge von Kunst und Ästhetik, die diesem revolutionären Weg nicht folgen wollten oder konnten, egal ob sie auf den Namen Klassizismus, Romantik oder Spätromantik getauft wurden, hauchten ihr theoretisches Leben in den letzten Ästhetiken mit normativem (Schein)Ewigkeitsanspruch aus, ihr praktisches Leben in den künstlerischen Pendants dieser enthistorisierten Denkweise: in akademischen Kunstpraxen, denen sich zwar nochmals pädagogische Arkanien entlocken ließen, doch zugleich auf verschlungenen Pfaden auch jene verwesenden Stoffe der sterbenden Schönheitskünste, aus denen bis heute die Träume der Unterhaltungskünste überaus erfolgreich gezimmert werden.

[1] Friedrich Schlegels abstraktes Schema Antike versus Moderne, versetzte die gesamte christliche Geschichte Europas als moderne: die erste ende mit Dante, die mittlere Moderne beginne mit der Reformation, Shakespeare und der Entdeckung Amerikas und ende in seinen (Schlegels) Tagen; und zu Protagonisten der nun (1800) beginnenden Moderne werden ausgerechnet Kant und Goethe erklärt. – Auch die Erörterungen über das Erhabene (und darin das Hässliche) bei Burke, Lessing und anderen werden als „Beginn“ moniert. Rückprojektionen, die verkennen, daß die Krise der Kunst des 19. Jahrhunderts als Inkubation der modernen Kunst zu begreifen ist.

[2] Bereits 1826 wurde die erste Photographie fotografiert.

[3] Dazu gehört als äußerster Versuch einer Zulassung des Hässlichen dessen Auflösung in der Komik der Karikatur. Im Säurebad der Karikatur soll sich das Hässliche bestätigen als diabolus in aesthetica, es könne nur als belachenswertes eine erträgliche Existenz und Anschauung erhalten. – Dazu gehörten aber auch alle Versuche der klassizistischen Ästhetiken, die in den einzelnen Künsten erreichten Vollendungschönheiten als Musterstile und Musterwerke gleichsam unter (nachahmungswürdigen und -fähigen) Glasssturz zu stellen.