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Kapitel XX

 

Der Zwang der Moderne – bereits in den Anfängen der Aufklärung an der Dialektik von positiver und negativer ästhetischer Erhabenheit unhintergehbar – eine negative Moralität a l s  neue und andere, als entschieden moderne Kunst einzuführen – als ‚Leidensermächtigung’ im doppelten und sich entgegengesetzten Wortsinn[1] – beauftragt das neue bürgerliche Individuum in seiner Berufung als Künstler, jene Trennung von Ethischem und Ästhetischem – und folgend oder schon gleichzeitig alle anderen Trennungen – zu vollziehen, die zu kultureller Schizophrenie führen müssen, wenn es um Inhalte geht, an denen diese Trennungen nur unter Gewaltanwendung vollzogen werden können.

 

Und da an jedem Inhalt des modernen Lebens die Einheit von Schönheit und Gutheit, Wahrheit und Falschheit, ja sogar von (göttlicher) Geschaffenheit und säkularer Realität und Konstruiertheit wenigstens ein Sehnsuchtsdesiderat bleibt, ist die kulturelle Schizophrenie unter ihrem Decknamen „ästhetische Ironie“ auch allgegenwärtig. Es soll nicht so ernst gemeint sein (was moderne Kunst für das Leben bedeute), was doch mehr als ernst gemeint ist (wie moderne Kunst das Leben definiere).[2]

 

Nicht nur ist damit alle Nachahmungskunst durch schöne Kunstpraxis doppelt obsolet geworden: als nur mehr historisierende oder verunterhaltende möglich und verständlich; es ist auch alle „Nachahmungsästhetik“, die nochmals Weltinhalte mit an sich – überindividuell – schönen (Kunst)Formen und Materialien als notwendig verbunden oder verbindbar behauptete, obsolet geworden.

 

Ästhetik musste daher, als wirklich moderne, zu einer radikal selbständigen Disziplin, zu einer weltlosen Diskursdisziplin werden, in der Welt und Weltinhalte nur mehr als „subversiv“ gebrochene und „ästhetisch“ (als Material für Kunst) umgedeutete erscheinen können und sollen.[3] Ästhetik dieser Art kann die kulturelle Schizophrenie nicht überwinden, sie ist ihre treue Dienerin. Und de facto agiert daher jeder moderne Künstler als autonomer Ästhetiker seiner je eigenen Kunst.

 

Wenn wir modernen Menschen unserer westlichen Zivilisationskultur die Frage vorlegen, ob eine Installation oder eine Verpackung, ob die ästhetischen Aktionen von Schüttbild oder Fäkalie „schön“ seien, werden wir – wenn wir vom Einspruch des sich immer noch gesund definierenden gesunden Volksempfindens absehen – nach kurzem Zögern ein (achselzuckendes) Ja (vielleicht) hören, wobei jedoch über die nachgefragte Legitimität dieser Antwort auch eine anschließende Diskussion über die unvermeidliche Folgefrage: ob denn „schön“ mit „ästhetisch“ gleichzusetzen, oder ob in moderner Kunst dieses („ästhetisch“) an die Stelle von jenem („schön“) getreten sei, gleichfalls zu keinem befriedigenden Ergebnis führen dürfte.

 

Wird die erste Frage (ob ästhetisch) als Geschmacksfrage, als Frage nach dem verstanden, was Kant unter „ästhetischem Geschmack“ verstand, haben wir heute offensichtlich nur mehr die (Wort)Ruine des Wortes „ästhetisch“ zur Verfügung, weil sich „ästhetisch“ und „schön“ getrennt haben oder im Begriffe sind, sich zu trennen; und nicht anders, nicht weniger prekär, scheint die aktuelle Tragfähigkeit des Wortes „schön“ im Geltungsbereich moderner Kunst beschaffen zu sein.

 

Während daher von einem realen und objektiven Schönheitsdiskurs – der durch objektive (Normen verhandelnde) Ästhetiken müsste begründet und geführt werden – im Bereich moderner Kunst nicht mehr wirkliche Rede sein kann, kann zugleich nicht geleugnet werden, daß ein Schönheitsdiskurs in vielen zentralen Lebensbereichen der modernen Welt (Mode, Auto, Frauenbeauty, Film und Foto, Innenarchitektur, Tourismus und vor allem: Natur) mit der Modernität des 20. Jahrhunderts überhaupt erst eröffnet wurde und vielfach einer neuen agonalen Kultur mit einer Vielfalt nationaler und internationaler Schönheits-Wettbewerbe zugeführt wurde.[4]

 

Während also das Wort „ästhetisch“ zunehmend in die Gefilde moderner Kunst auszuweichen scheint, um etwas beurteilbar zu halten, das sich jenseits von schön und hässlich als (‚ästhetikfreie’ und nur mehr ‚ästhetische’) Kunst positioniert, ist alles andere Design der modernen Welt auf den Gegensatz Schönheit und Hässlichkeit (und deren Abstufungen und Modi) leidenschaftlich, agonal und (regel- oder postulat)verbindlich fixiert.[5]

 

Während in der Welt moderner Kunst mit dem Wort „ästhetisch“ (obwohl die alte Bedeutung von „besonders schön“ in gewissen Gebieten sowohl der Kunst wie des Lebens immer noch mitschwingt) je nach Laune befreiter Kunst(märkte) operiert werden kann, ist das Wort „schön“ im Gebiet moderner Kunst nur mehr als Attrappe für einen Begriff verwendbar, der sein Leben nominalistisch ausgehaucht hat.[6]

 

Wenn aber der Wortausdruck „ästhetisch“ zugleich dazu tendiert, mit „künstlerisch“ und zwar modern künstlerisch gleichgesetzt zu werden, dann ist der Sinninhalt dieses Wortes durch die Wirkmacht moderner Kunst usurpiert, und wir können alles, was durch Künstler und Kunst als Gemachtes in die Welt tritt, unbenommen, ob es sich dabei um „nicht-mehr-schöne Künste“ oder um „ganz andere Künste“ handelt, als ästhetische Kunst auffassen. Ob sich dieser (Wort)Gebrauch allgemein durchsetzen wird, wird die Zukunft zeigen, genauer: das Leben der Kategorien des Ästhetischen und der Künste im zeitlich bewegten Raum von (Kultur)Geschichte.

 

Aber evident ist schon heute, daß letztlich alles, was in der modernen Welt nicht durch (vortechnologische) moderne Kunst gemacht, sondern entweder durch das vorkünstlerische moderne Leben gelebt oder durch die vorhin angedeuteten Instanzen von Industrie, Technik und Markt hervorgebracht wird – und zwar als „normal“ und „vernünftig“ und auch als „unanstößig“ (nicht subversiv, sondern „stinknormal“) undsofort, das Kontrafakt (die Gegen-Welt) von „ästhetisch schön“ (im Sinne der modernen Definition) bzw. „ästhetisch nicht-mehr schön“ (gleichfalls im Sinn der der modernen Definition, die diese Selbstwidersprüchlichkeit nicht mehr aufheben kann) bleiben muß.[7] Um die ästhetische Erhabenheit (im Sinne moderner Kunst) negativer Abgründe vorzuführen, ist der Boden einer scheinbar nichtabgründigen Banalitäts-Realität als Abstoß- und Projektionsfläche unersetzlich.[8]

[1] Nicht zufällig rückt der Sadomasochismus ins Zentrum vieler Künstlerobsessionen der ästhetischen Moderne.

[2] Die schizophrenen Konsequenzen, zu denen eine normenlos entgrenzte Freiheit durch ästhetischen Diskurs und Schaffen moderner Kunst führen muß, sind zwar latent bekannt, doch zugleich unter ein Kulturtabu gestellt, mit dem die moderne Gesellschaft ihr Experiment totaler (Kunst)Freiheit sichern möchte. Daher treten Fragen über und Probleme von Kollisionen zwischen Ethischem (Politisch-Sittlichem und Moralisch-Gewissenhaftem) und Ästhetischem (moderner Kunstpraxis) kaum je ins öffentliche Bewußtsein. – Ein Politiker kann eben noch ein Gesetz zur Einschränkung von Pornographie im öffentlichen Raum unterstützt und unterzeichnet haben, um desselben Tages Abend in einer Ausstellung Bildender Kunst eine Laudatio auf einen Künstler zu halten, in dessen Werk eben das, was er soeben für das öffentliche Leben verboten hat, im Separat-Leben moderner Kunst als große Errungenschaft (wenn auch unter anderem Namen) gefeiert wird.

[3] Daher waren alle Spielarten marxistischer Ästhetik so verlockend auch für Künstler, die den Gedanken und Methoden von Marx, Lenin und Stalin wenig Erwärmendes und Vernünftiges abgewinnen konnten. Eine Ästhetik als zugleich gesellschaftliche Praxis schien immerhin möglich, das Versprechen der Utopie ungebrochen.

[4] Daß daran auch die traditionellen schönen Künste, vor allem die der Interpretation (Musikwettbewerbe), aber auch deren Unterhaltungsderivate (Song Contest) teilhaben, ist für historisch gewordene Kunstarten nicht verwunderlich. Indem sie sich dem sportlichen Agon anverleiben, werden die traditionellen Künste in massentauglicher Weise aktualisierbar und unter oft sonderbarsten Symbiosen „demokratisierbar.“

[5] Wozu nicht zuletzt der Jugendlichkeitswahn, aber auch der „Körperkultur“-Wahn der Gegenwart zählt. „Schön und Reich“ ist nicht zufällig zu einem Synonym für modernes (Erfolgs)Leben geworden.

[6] Karlheinz Stockhausen, vom „erhabenen“ Eindruck des Anschlags auf das World Trade Center („9/11“)überwältigt, glaubte eines der großartigsten Kunstwerke der modernen Epoche erblickt zu haben, so großartig, daß nicht einmal ein moderner Künstler fähig gewesen wäre, sich dergleichen Erhabenheit auszudenken, geschweige auszukomponieren. Die öffentliche Rüge verwarf sein ästhetisches (Erhabenheits)Urteil scharf und entschieden: erstens hätte er sich einer infernalischen Dummheit (und Unsittlichkeit) schuldig gemacht, weil ein realer Massenmord auch durch moderne Kunst, und sollte sie noch so erhabene Wirkungen im Gemüt des modernen Menschen oder Künstlers hervorzaubern können, nicht als Bühne und Story verwendet werden dürfe; und zweitens einer kunstgeschichtlichen Uninformiertheit, weil längst schon gewisse Filme und einschlägige Romane Hollywoods das weltpolitische Ereignis einer „asymmetrischen“ Kriegshandlung vorweg vorphantasiert hätten. – In der Schizophrenie des ästhetischen Fehlverhaltens eines modernen Komponisten wurde die doppelte und sich entgegengesetzte Bedeutung der modernen Kategorie „Erhabenheit“, die seit Edmund Burke aktuell blieb, in ihrer Unheilbarkeit vorgeführt, – oder modern-erhaben gesprochen: in der Naivität ihrer peinlichen Großartigkeit und großartigen Peinlichkeit kunstästhetisch überzeugend inszeniert. – Naiv zu sein, ist in der modernen Reflexions- und Wissenskultur, die um ihr Geworden- und totales Vermitteltsein wissen muß, nur mehr – in der fälschenden Weise eines falschen Bewußtseins – den Unterhaltungskünsten und ihren Entertainern gestattet, – hier darf jeder nur möglichen ästhetischen und „ästhetischen“ Schizophrenie gehuldigt werden.

[7] Denn der Satz: Kunst ist Kunst, und alles andere ist alles andere, von modernen Postmoderne-Ästhetikern und Künstlern vorgeschlagen, unterläuft und vernichtet das Minimalniveau dessen, was zu einer Definition von Etwas bedürftig ist: (die logische Beziehung auf) ein anderes Etwas. Diese definierende Beziehung kann (ohnehin in der Moderne) so abstrakt wie nur denkbar sein; aber sie darf nicht unterstellen, daß zwei Welten als Welten in der modernen Kultur nebeneinander (Welt)Plätze beziehen könnten. Die Naivität eines Phantasierens über Pluriversen, das in der Kosmologie genug Jux und Schaden anrichtet, ist im Universum von Kunst und Kultur, von Geist und Geschichte weder jux- noch ironiefähig.

[8] Da den modernen Künstlern jedoch auch die moderne Politik weithin als inakzeptable Banalität kollektiv akzeptierter Irrtümer erscheint, deren Absurdität aufzudecken sei, versuchen sie sich in diesem Feld doch auch wieder als Denker einer Erhabenheit, die nicht negativ, sondern positiv zu sein beansprucht (als Leuchttürme im Kampf gegen die angeblich stets drohenden Diktaturen der Vergangenheit), ohne daß diese Positivität und hohe politische Moral, die nur durch die Heroik (partei)politischer Programme eingelöst werden könnte, anders als utopisch angesprochen wird. Der (enttäuschte)ästhetische Baudelaire versucht sich wieder als (enthusiastisch)heroischer, als politisch-revolutionärer, – doch ohne Mandat und ohne Profession. Auch Politik ist in der modernen Welt und Kultur ein in sich unendlich differenziertes (Kunst)Gebilde geworden, dem nur durch Eigen-Wissen und Eigen-Praxis weitergeholfen werden kann und soll. Daher auch die Kämpfe und Krämpfe zwischen dem Chamäleon des modernen Kulturpolitikers, der nichts aus seinem Bezirk ausschließen darf, und dem modernen Künstler, der nicht als einer unter (viel zu) vielen gehandelt werden möchte. Seinesgleichen haßt man auch in den juste-milieus der Kunst am tiefsten.