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Kapitel XXI

XXI.

 

Der modernen Schizophrenie des modernen Erhabenen wollte sich Kant bekanntlich nicht schuldig machen. Sofern das Hässliche in seinen Schriften vorkommt, wird es „klassizistisch“ – wie die moderne Verdammungsformel lautet – eingegrenzt, weil es zum einen in der Tradition Baumgartens als das Unvollkommene und Mangelhafte definiert wird, und zum anderen die (gelingende) Aufgabe wirklich schöner Kunst gerade darin sich bestätige, daß sie alle Arten des Hässlichen (mit Ausnahme des Ekelerregenden) „schön beschreiben“ und darstellen könne und müsse.[1]

 

Und diese (Schönheits)Grenze bleibt auch dem durch Kunst dargestellten Erhabenen auferlegt, weil die diesbezüglich dargestellte Hässlichkeit sich nicht zu eigener oder gar „neuer“ (moderner) Schönheit aufrichten dürfe.[2] Das ästhetisch Erhabene Kants bleibt auf die Ideen von Vernunft, Freiheit und Sittlichkeit substantiell und untrennbar bezogen. Diese Ideen garantieren eine Positivität des Erhabenen, auch wenn in dessen Mitte eine unheimliche Unendlichkeit erscheint und vom Rezipienten und schaffenden Künstler „abgründig“ zu bewältigen ist.[3]

 

Dieser Befund gilt auch für die folgende Kantische Textstelle, die ein moderner Geist modern lesen könnte, um sie dadurch missdeutend umzudeuten: Das Erhabene sei „gleichsam die Entdeckung eines Abgrundes in unserer eigenen über die Sinnengrenzen sich erstreckenden Natur. Daher der Schauer, der uns anwandelt. Eine Furcht, die immer durch das Besinnen seiner Sicherheit vertrieben wird, und einer Neugierde, welche für unsere Fassungskraft zu groß ist.“[4]

 

Dieser „Abgrund“ enthält zwar auch die Möglichkeit eines Scheiterns des sich durch Vernunft bestimmenden Menschen, zugleich aber die Zuversicht, daß der Unendlichkeitsabgrund vernünftiger Freiheit über alle (Selbst)Vernichtung obsiegen werde. „Der „gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ verbürgen Kant eine Weltordnung, die auch durch die Freiheit der Kunst nicht desavouiert werden dürfe.[5] Das (Kunst)Schöne als Symbol des Sittlichen war für Kant (noch) keine erbauliche Phrase.[6] Das Formlose und Unförmige (als Arten des Hässlichen) darf nach Kant nicht als selbständige Art von Kunst erscheinen.

 

Indem auf diese Weise das Hässliche im Kantischen System des Kunstschönen keine selbständige oder gar über dem (bisherigen) Kunstschönen positionierte Stelle erhält, wurde Kant – aus moderner Sicht verständlich – vorgeworfen, er hätte eine „systematische Lücke“ hinterlassen. Da jedoch das Hässliche bei Kant ohnehin nur in Relation an ein bindendes Erhabenes, somit als Mittel erscheinen darf, ist in seinem System dem Begriff und der Sache (Kunst)Hässlichkeit Genüge getan. Karl Rosenkranz These jedoch, daß daher aus der Negation des Kantischen Schönheitsbegriffes ein Kantischer Hässlichkeitsbegriff unmittelbar resultiere, ist für die Problematik der modernen (freien und befreiten) Auffassung des Hässlichen überaus aufschlussreich.

 

Denn die Folgerung von Rosenkranz: „Schön ist, sagt Kant mit Recht, was ohne Interesse allgemein gefällt; hässlich also, was ohne Interesse missfällt“, kann und muß unter moderner Perspektive durch eine zweite mögliche Negation ergänzt werden: hässlich ist, was ohne Interesse nur partikular gefällt. Denn allein mit dieser Negations-Partikularität kann die moderne Situation begründet und begriffen werden, daß eine nicht-mehr-schöne Kunst so partikular gefallen (oder auch missfallen)kann und soll, daß die Frage nach Schönheit oder Nichtschönheit des Erscheinenden schlechthin privat und dadurch – als ästhetisches Urteil – hinfällig wird.[7]

 

Die „systematische“ Lösung der Hässlichkeitsfrage in und für Kunst, die nach Kant nur als schöne und positiv erhabene im Rang einer Kunst der Freiheit möglich sei, ist konsequent: alle Bestimmungen des Hässlichen finden sich ein, aber subsumiert unter der Kategorie der Formlosigkeit, die wiederum, sofern sie die Grenze zum Ekelerregenden überschreitet, aus dem Reich der Kunst verbannt wird; dient sie – die an sich hässliche Formlosigkeit – aber als pathetisches Steigerungsmittel des Erhabenen – sei es als Unförmigkeit oder auch als (scheinbare) Zweckwidrigkeit – dann ist sie einer Kunst zu eigen, deren Erhabenheit auf das Reich der Freiheit, Vernunft und Sittlichkeit und irgendwie (in unbestimmt bestimmter Weise) sogar auf die Region der Religion verweist.

 

Es versteht sich, daß diese Kantische Lösung schon in den Jahren der französischen Revolution problematisch werden musste. Bereits das Kantische Erhabene musste – im Gegensatz zu den weithin ahistorischen Erhabenheitsbegriffen des 18. Jahrhunderts – das Historische in den Begriff einlassen, weil – nach Kants eigener Einsicht – nur das Schöne(der Kunst) direkt – durch selbstverständliche Formübereinstimmung mit seinem Inhalt – überzeuge (und zu erzeugen sei), während beim Erfahren und Urteilen über das Erhabene (der Kunst nicht nur) eine „bei weitem größere Cultur nicht bloß der ästhetischen Urtheilskraft, sondern auch der Erkenntnißvermögen“ vorauszusetzen sei.[8]

 

Ohne Empfänglichkeit für sittliche Ideen (und damit deren Einbildung in konkrete Gesellschaft und Geschichte) ist das Gefühl des Erhabenen nach Kant weder zu haben noch adäquat zu beurteilen. Gleichwohl könne dieses Urteil (einer gebildeteren und damit auch reflektierteren Kulturstufe von Kunst) nach Kant verbindliche Allgemeinheit zumindest als Postulat beanspruchen, weil man jedermann eine ästhetische Urteilsfähigkeit auf der Grundlage eines nötigenden Gefühls für moralische Ideen unterstellen dürfe.

 

Wenn aber seit der französischen Revolution die Dialektik des Terrors der Vernunft mit zur „Kultur“ der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft gehört und überdies deren Realität – als Industriegesellschaft, die mit ihren sozialen und politischen (nationalen und europäischen) Problemen nicht fertig wird – in sich unschön und problematisch wird (das gesuchte Ethische vom Ästhetischen der Kunst trennt) – und von den restaurativen Mächten der Gegenrevolution und den alten Regimes entmündigt wird, dann verlieren die erhabenen Ideen (universaler Vernunft, Freiheit, Sittlichkeit) sogleich ihre Wirkkraft, sie privatisieren, und die Entfremdung des (kunst)ästhetisch Erhabenen, das an diesen Ideen hing, von der gesellschaftlichen Entwicklung der bürgerlichen Kultur wird unausweichlich.

 

Diese doppelte Katastrophe treibt die nachkantischen Gemüter – Künstler und Theoretiker – bis zur Verzweiflung um, und Baudelaires „Konversion“ von einem begeisterten Humanitäts-Heroen der Revolution in einen Verächter von Vernunft und Sittlichkeit, von traditioneller Schönheit und Kunst ist das historische quod erat demonstrandum der beginnenden Kunst-Moderne im 19. Jahrhundert.

 

Woher die Künstler der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Appell vernahmen, ihre Kunst könnte berufen und befähigt sein, die Widersprüche der neuen Gesellschaft und Kultur zu lösen und ästhetische (Macht)Ideen als Gründe und Ziele der neuen Welt zu positionieren, erscheint im Rückblick dubios und kaum verständlich; doch zeigt es die Bedeutung und Macht an, über welche die vormodernen Künste in den ancien régimes für deren gesellschaftliche Eliten (Hof, Adel, Kirche, höhere Bürger und Besitzende) verfügten. Wie diese sollte nun auch die neue Elite der revolutionär siegenden Gesellschaftsklasse mit grandioser und heroischer Kunst begleitet, geführt und gefeiert werden, wofür im Gegenzug den befreiten Künsten und Künstlern ein Platz an der Sonne zu gönnen sei.

 

Aber nicht nur übersahen sie dabei, daß ihre vormodernen Vorgänger unter rigiden Abhängigkeitsverhältnissen zu leben und zu schaffen hatten, die mit der neuen durch (Vernunft)Revolution erwirkten oder wenigstens versuchten Freiheit unvereinbar waren; sie bemerkten auch nicht, daß die neue gesellschaftliche Realität und Kultur durch eine radikale und sich sogleich nach Sachgebieten autonom differenzierende Freiheit – tendenziell aller Stände und Menschen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) – zu erschaffen und zu organisieren war, weshalb es anmaßender Irrtum sein musste, diese neue Realität nochmals oder genauer erstmals durch Kunst und Künste (federführend) zu organisieren, zu vergemeinschaften und ihrer Freiheit zuerst und zuletzt sich vergewissern zu lassen. Ein anmaßender Irrtum, der in den künstlerischen Gemütern nur keimen konnte, weil im Zuge der Revolutionierung des gesamten Lebens auch die überkommene Religion unter die Räder geraten war.

 

Diese hatte – konfessionell entzweit und vielfach sondergeteilt – den sogenannten „Anschluß“ an die neue Entwicklung verpasst, hatte den religiös verwaisten und „metaphysisch obdachlosen“ modernen Bürger hinterlassen, dem nun die neue Kunst eine neue Heimstätte im Hain und Kult der schönen und erhaben aufgeklärten Vernunftgottheit anbieten sollte.

 

Obwohl Kunst und Künstler an sich keine Schraube (am System vom Leben, Gesellschaft und Staat) erfinden, drehen und reparieren können, war dennoch die Versuchung und Verlockung groß, der Berufung und Erweckung eines neuen Priestertums und Orakelwesens zu folgen, weil die Funktionen der geschwächten Religion durch eine neue Kunstreligion ersetzbar oder auf eine höhere – aufgeklärtere – Stufe anhebbar schienen.[9]

 

Wie konnten die Künste an der Schwelle der neuen Epoche, deren Modernitätsschatten bereits schmerzhaft hervortraten, auf ihre eigene ästhetische Antinomie: einerseits Erlösungskunst sein zu wollen, andererseits Realitätskunst sein zu müssen, reagieren? Diese Frage ist zunächst einfach beantwortbar: Sie konnten die neue Realität entweder akzeptieren oder nicht akzeptieren, und aus dieser einfachen Grundvarietät lassen sich auch alle weiteren Submodi des Verhaltens von Kunst und Ästhetik im 19. Jahrhundert ableiten, die freilich im empirischen Feld schon damals eine Vielfalt von Verbindungen und Vermischungen freisetzten, die als neuer wie zugleich auch als falscher Reichtum erscheinen mußte.[10]

 

Bei vollständiger Akzeptanz konnten und mußten alle Niederungen von Anpassung und Apologie der modernen Welt, ihrer Zeitgeister und Defizienten erprobt werden, alle Niederungen von Schund und Kitsch (nicht wie seit jeher, sondern absolut erstmals, weil Kitsch vor dem 19. Jahrhundert nicht möglich war[11]) sowie auch von Unterhaltungskunst, die erstmals als Massenspektakel organisierbar wurde, und dementsprechend eindeutig fielen die Erlösungen dieser mächtigen Sparte moderner Kunst aus – denn auch die Unterhaltungsmoderne gehört zur Kunst der Moderne. Niederungen, die seit dem 20. Jahrhundert als Unterhaltungsmanien einer Massenkultur industriell ausgebeutet werden und dabei auch das „Subversive“ und „Kritische“ moderner Kunst unterminierend integrieren konnten. Noch der hässlichste Horror zählt heute zum alltäglichen Unterhaltungsangebot.[12]

 

Die Nichtakzeptanz der neuen gesellschaftlichen Realität – im frühen 19. Jahrhundert – durch die ihre Autonomie nach und nach befestigenden Künste konnte entweder kämpferisch aktiv und aggressiv denunziatorisch ausgefochten oder mehr passiv duldend und anklagend erfolgen, – als Hinnahme von Widersprüchen, die durch Kunst nicht lösbar, und von kunstfeindlichen Mächten, die durch Kunst nicht besiegbar waren. Noch das Unerträglichste konnte durch eine ästhetische Darstellung, die nun freilich das Hässliche der neuen Realität in Form und Material „ästhetischer“ Kunst vermehrt aufnehmen mußte, erträglich scheinen. Was noch darstellbar, konnte so schlecht und verkehrt nicht sein; was sich noch als Kunst verzehren ließ, davon ließ sich künstlerisch noch leben.

 

Und im Modus des aggressiven Kampfes der neuen Kunst gegen die neue Gesellschaftsrealität konnte entweder die zu erobernde totale Freiheit des Künstlers und seiner Kunst dominieren, oder dieser Kampf verband sich mit einem vorgestellten Auftrag seitens der unterdrückten Stände und Klassen, um jene Verbrüderung von modernem Künstler und gesellschaftlichem Außenseiter einzuführen, die im 20. Jahrhundert, verstärkt nach 1945 – freilich fast nur im nichtkommunistischen Teil Europas – für das Bemühen moderner Kunst und Künstler prototypisch werden sollte.[13]

 

Andererseits konnte sich die duldende Variante der neuen Kunst gleichsam aus den Händeln und prosaischen Niederungen der neuen Zeit verabschieden, um in ihren Phantasiewelten eigene Kunstwelten durch neue Formen und Materialien zu entdecken und darin zu leben. Ein weltloses Reich der Innerlichkeit als das eigentlich künstlerische schien möglich – wie der Impressionismus der Malerei leicht, die absolute Musik der bürgerlichen Tonkunst naturgemäß bewies – eine gleichsam gnostische Variante der modernen (Ersatz)Religion Kunst.

 

Dennoch eroberte im 19. Jahrhundert die Dichtung, besonders als prosaische Schriftsteller-Dichtung, die dominierende Position sowohl im Kämpfen wie im Dulden durch Kunst, weil die modernen Verhältnisse von Gesellschaft und Kultur, durch die Komplexitäten arbeitsteiliger Praxis und Theorie bestimmt, nur mehr durch reflektiertes Wort und denkenden Begriff – über den Autismus künstlerischer Sonder- und Unterbewusstseinswelten hinaus – universal und gesellschaftlich wirksam an- und aussprechbar waren.[14]

 

Aber nicht nur ins Jenseits reiner Phantasiewelten konnte die duldende Variante der frühen modernen Kunst abschwenken; sie konnte der unerträglichen neuen Realität auch durch eine Flucht ins Diesseits der Historie, sei es der Geschichte, sei es der je eigenen Kunst, entweichen. Nicht zufällig beginnt die kultische Musik christlicher Religion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert ihren Gegenhalt in der neuen Gesellschaft fast völlig zu verlieren, es erlöschen innerer Auftrag für eine neue oder die alte wenigstens fortsetzende Kultmusik, – die schwächlichen Regelwerke des Cäcilianismus waren ebenso künstlich und nicht von Dauer wie die Mittelalter-Manien der intellektuellen Romantiker, und sie gehorchten im Grunde derselben Ratlosigkeit, der auch Skulptur und Architektur gehorchten, als diese begannen, alle nur denkbaren Arten und Abarten von Neo-Gotik und Neo-Klassik durchzuprobieren; und wenn sich ein historischer Gemäldeinhalt mit der Malweise der Neo-Raffaeliten verband, war man sogar in beide Historien gleichzeitig, der von Geschichte und der von Malerei – scheinbar gerettet – geflüchtet; und bekanntlich begann nach Walter Scotts Begründung des Historischen Romans auch dessen (früh)moderne Blütezeit, die im 20. Jahrhundert alle Höhen und Niederungen des Genres durchschreiten sollte.

 

Diese Flucht in das historische Arkanien der Künste entsprang dem Verlangen, inmitten einer fremd und kunstfremd werdenden Welt den überkommenen Ästhetiken überkommenen Kunstschaffens und -lebens treu bleiben zu wollen; und dieser Treue entsprach wiederum die Absicht und die sogleich von den Eliten der bürgerlichen Gesellschaft getragene Ausführung, erstmals alle vergangene Kunst – deren Werke nicht nur, sondern überhaupt alles, was zur Historie der Künste gehörte – systematisch zu sammeln, wissenschaftlich zu dokumentieren und einem Zweitleben von Erkenntnis und Genuss zuzuführen, dem sich die Epochenbezeichnung des 19. Jahrhunderts – „Belle Époque“ – wesentlich schuldet.[15]

 

Daß jedoch die historisierenden Zweige der Kunstproduktion künstliche Schönheitswelten schufen, führte rasch in deren Aporie: alle positive Erhabenheit konnte alsbald nur mehr als „klassizistische“ und „akademische“ und danach als „kitschartige“ erfahren und erzeugt werden, – noch heute verstehen wir nicht, zu welchen Freuden sich Goethe durch die Erhabenheiten zweitklassiger Maler verführen ließ. Andererseits war das Schönheitsniveau klassischer und klassizistischer Darstellung unüberbietbar, jenseits seiner Gesetzes- und Regelwerke hat sich seitdem keine neue Lehre und Praxis verbindlicher Schönheitsproduktion in den traditionellen Künsten auffinden und einrichten lassen.[16] Verständlich, daß nicht wenige Künstler auf den antimodernistischen Gedanken verfielen, „ewig in ewiger Klassik“ schaffen und arbeiten zu können und zu sollen.

 

Stellte sich Kunst jedoch den Modernitäten der neuen Gesellschaft, stellte sich eine grundsätzliche Gewissensfrage an deren darstellendes Instrumentarium: wie konnte das Bannen und Beschwören der modernen Widersprüche durch die „Rückzugsästhetik des Erhabenen“[17] erfolgreich gewährleistet werden, wenn diese die moderne Lebens-Häßlichkeit kritisch und denunziatorisch beschwören musste? „Beschwören“ bleibt nämlich doppeldeutig als einerseits ohnmächtiges und scheiterndes und andererseits als mächtiges und gar allmächtiges Darstellen, das eine als sinnlos erfahrene Welt doch wieder als sinnvolle restituieren könnte und sollte.

 

Zwischen Selbstzweifel und Selbstüberhebung schwankte der moderne Künstler daher, wenn er den Wegen einer „Rückzugsästhetik der ausgehaltenen Widersprüche“ folgte, und dies bedeutet im Grunde, daß die neue Kunst sowohl als Erlösungsreligion wie als Erkenntnisreligion überfordert war angesichts der neuen und niegewesenen Realitäten und Widersprüche einer neuen Welt. Und diese Grundierung und Verursachung der Partikularisierung und Individualisierung moderner Kunstansprüche und -produktion ist bis heute unüberwindbar aktuell geblieben.

 

Ist somit keine Erlösungsästhetik der „aufgelösten Widersprüche“ mehr möglich, allein nur der falsche Schein davon in den Welten der Unterhaltungskünste zurückgeblieben, so ist auch die These, daß das (moderne) Ganze das Falsche sei, in der Perspektive von Kunst zwar notwendig und richtig, gleichwohl eine unnötige Anmaßung, weil moderne Kunst und Ästhetik keine Position über der modernen Geschichte und Gesellschaft beanspruchen und festhalten kann und am System der modernen Gesellschaft, wie schon erwähnt, eine Schraube weder zu lockern noch zu festigen vermag. Die Probleme der neuen Gesellschaft und modernen Welt waren weder marxistisch noch neomarxistisch und auch nicht durch die Praxen und Utopien moderner Ästhetik und Kunst steuerbar oder gar lösbar.

 

Trotz aller Versuche aller nur möglichen Klassizitäten – in allen Einzelkünsten – konnten im 19. Jahrhundert die affirmativen Erhabenheitssemantiken der traditionellen Künste angesichts der widersprüchlichen Realität der nachrevolutionären Gesellschaften Europas immer weniger überzeugen, – das Erhabene wurde obsolet und inaktuell, das Hässliche wurde approbiert und aktuell. Es half auch nicht, daß die enorme historistische Anstrengung erlaubte, die epochalen Kunststile der Vergangenheit ebenso exakt zu erkennen wie praktisch zu rekonstruieren; der universale Kopist vergangener Kunstweisen konnte angesichts der Modernitätsprobleme der neuen Gesellschafts- und Staatswelten lediglich eine höhere Unterhaltung durch eingefrorene Schönheits-Kunst-Stile anbieten.

 

Der Bruch zwischen Kunst und Gesellschaft erfolgte früh und unheilbar: Kunst verlor das Vertrauen in eine gesellschaftliche Realität, die sich jeder affirmativ schönen Erhabenheitssemantik verschloß, und Gesellschaft ihrerseits in eine Kunst, die ihr diesen Verklärungsdienst nicht mehr schenken wollte und als Erkenntnis- und Erlösungsinstanz überfordert und überdies politisch machtlos war.

 

Anfangs preisen Klopstocks Oden Revolution und Revolutionäre (1789 und 1790) in Versen voll begeisterter Schönheit und Erhabenheit, doch schon 1792 verkündet das Gedicht „Die Jakobiner“, daß die Revolution eine Schlange „mit scheußlichem Innersten“ sei, die man in ihre Höhle zurückjagen müsse.[18] Und Goethes Versepos entflieht 1796 den Hässlichkeiten und Grausamkeiten der Revolutionskriege in die schöne Idylle der patriarchalischen Kleinstadtwelt von „Hermann und Dorothea.“ Zwei Belege für die Widersprüchlichkeit einer Kunst, die entweder anklagend oder duldend die Maximen einer „Rückzugsästhetik der ausgehaltenen Widersprüche“ zu befolgen versuchte.[19]

[1] “Die Furien, Krankheiten, Verwüstungen des Krieges u.d.gl. können als Schädlichkeiten sehr schön beschrieben, ja sogar im Gemälde vorgestellt werden, nur eine Art Hässlichkeit kann nicht der Natur gemäß vorgestellt werden, ohne alles ästhetische Wohlgefallen, mithin die Kunstschönheit zu Grunde zu richten: nämlich diejenige, welche Ekel erweckt.“ (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790); zitiert nach Dieter Kliche: (Stichwort) Häßlich, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart, 2004; Bd 3, S. 39.)

[2] „Man kann machen, daß die Erkenntnis gar reizet von einem hässlichen Gegenstande. So können z.B. vom toten Meere, von den Eiszonen und der öden Natur, Gegenständen, die uns an sich missfallen, angenehme und gefällige Vorstellungen gemacht werden, nämlich Vorstellungen, die uns auf eine angenehme Art erschüttern und rühren. Man kann sogar das, was abscheulich ist, sehr angenehm vorstellen: ja, sogar in Vorstellungen von solcher Art Reiz mischen.“ (Kant, Logik Philippi (1772); zitiert nach Dieter Kliche: (Stichwort) Häßlich, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart, 2004; Bd 3, S. 39.)

[3] Als Vorläufer dieser „unheimlichen“ Unendlichkeit wird man die negative Mystik beispielsweise eines Dionysos Areopagita annehmen dürfen. Gottes Tiefe und Höhe ist das Größte, über das nichts Größeres gedacht werden kann, und da diese Größe empirisch nicht demonstriert werden kann, geht sie über jede empirisch erfassbare Größe unendlich hinaus, – das „Wunder aller Wunder“ lässt jedes irdische unendlich unter sich.

[4] Kant, Reflexionen zur Ästhetik (1755-1797), in: Kant, Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, hg. Vo. M. Frank/V. Zanetti (Frankfurt 1996) S. 9-138; Zitiert nach Dieter Kliche: (Stichwort) Häßlich, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart, 2004; Bd 3, S. 39.

[5] Ohne Ehrfurcht vor einem Gesetz, dem wir unterstehen, werde das Gewissen zu Willkür und die Vernunft inhuman, weil jeglichem Interesse von Menschen auslieferbar. Die beiden von Kant einzig anerkannten Arten des Erhabenen: das Mathematisch-Erhabene und das Dynamisch-Erhabene zielen letztlich auf die Affirmation und Erkräftigung eines heiligen, nicht eines bloß ästhetischen Schauers ab.

[6] Und dem schließt sich Goethe noch 1822 an, wenn er in seiner „Campagne in Frankreich“ über den Unterschied des Schönen vom Hässlichen notiert, daß ersteres sich manifestiere, „wenn wir das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Tätigkeit und Vollkommenheit schauen, wodurch wir zur Reproduction gereizt uns gleichfalls lebendig und in höhchste Thätigkeit versetzt fühlen…; denn das Schöne ist nicht sowohl leistend als versprechend, dagegen das Hässliche, aus einer Stockung entstehend, selbst stocken macht und nichts hoffen begehren und erwarten lässt.“ (Goethe, Campagne in Frankreich (1822) in Goethe WA Abt.I. Bd 33 (1898), S. 234; Zitiert nach Dieter Kliche: (Stichwort) Häßlich, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart, 2004; Bd 3, S. 39.

[7] Ob daher die Installationen und „Werke“ eines modernen Aktionskünstlers als schön oder nicht schön beurteilt werden, ist hinfällig. Sie sind zwar in außerkünstlerischer Sicht fast immer hässlich (und zumeist komisch), aber diese Sicht ist in künstlerischer Hinsicht sekundär und (modern)unästhetisch, – und innerhalb der modernen Kunst regiert allein deren ästhetischen Perspektive, die sich ihres Hochsitzes über schön und hässlich (partikular) rühmen und erfreuen darf.

[8] (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790); zitiert nach Dieter Kliche: (Stichwort) Häßlich, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart, 2004; Bd 3, S. 40.)

[9] Selbstverständlich wurden die selbsternannten Revolutionsaufträge der sich autonomisierenden Künste in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts je nach Nationalkultur und Einzelkunst unterschiedlich intensiv ausgerufen. Am wenigsten in London und Wien, aber aus entgegengesetzten Grund: in England war eine demokratischen Traditionsbildung ganz ohne Kunst auf die Beine gekommen; in Wien, wo Tonkunst und Musik dominierte, konnte ein Metternich auch die „Musik“ des alten unfreien Europas dirigieren, und nur das orthodoxe Russland hatte eine noch retrospektivere Monarchie anzubieten und auszuleiden. Italien existierte als Nationalstaat noch nicht, und somit blieben Frankreich und Deutschland als Speerspitze der (Künstler)Bewegung. Dort nebst politischer und Roman-Literatur (Balzac und Nachfolger) vor allem die bildende Kunst, hier vor allem Dichtung und ebenfalls Musik. Später konnte Verdis Opernbühne Italiens Befreiungs- und Vereinigungsepoche durchaus befeuern, indes Wagners Projekt einer sozialistisch-nationalen Befreiung des Deutschen Reichs bekanntlich Schiffbruch erlitt. Und die russischen Dichter konnten immerhin das gehasste Feudalsystem ihrer Gesellschaft ein wenig unterminieren, wenn auch die bolschewistische Revolution allem Hohn sprach, wofür der Humanismus ihrer Werke und Ideen eingetreten war. Noch Flaubert hielt Demokratie und wirkliche Kunst für unvereinbar.

[10] Daran hat sich (bis) heute nicht nur nichts verändert, daran muß sich alles ums Unendliche vermehrt haben, denn die von Georg Simmel schon am Beginn des 20. Jahrhunderts konstatierte Vergewaltigung aller Kultur der Subjekte durch eine nicht mehr beherrschbare Kultur der Objekte ist am Beginn des 21. Jahrhunderts ins Unermessliche gestiegen. Es gibt kein „Genug ist genug“ im Gang von Kunst und Kultur. Sinnvoller Reichtum könnte längst sein Gegenteil geworden sein: Überfluß und Müll.

[11] Die Manierismen der Spätstufen von Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Wiener und Weimarer Klassik, „Romantik“ undsofort an allen vormodernen Einzelkünsten sind vom Kitsch, der im 19. Jahrhundert in allen Einzelkünsten möglich und notwendig wurde, genau zu unterscheiden. Auch an dieser Unterscheidung kann der Pegelstand des Kunststroms abgelesen werden: erst im 20. Jahrhundert beginnt die reale und wirkliche Moderne der vormodernen Kunstarten, in das 19. Jahrhundert fällt deren Inkubationsstadium.

[12] Und wieder ist es die technologische Kunstform Film, die – mittels TV-Kanalsystem – den säkularen Bewusstseinsstrom des modernen Menschen unter Regie nimmt. Unterhaltung wird ihre eigene Erlösung, und das Subjekt von Kultur ertränkt sich im Strom überfließender Objekte.

[13] Und in dieser Relation und Verbrüderung ist das Ersatzreligiöse bis heute ein Teil moderner Kunst verblieben.

[14] Fotografie und andere (wissenschaftliche) Selbstaufzeichnungsmedien erschienen anfangs als lediglich dokumentierende Vorzugsschüler der modernen Gesellschaft.

[15] In seltsamem Kontrast zur Empfindung der Künstler von damals, die ihre Epoche alles andere als „schön“ erlebten und darstellten. – Am Beginn des 21. Jahrhunderts wird bereits das Biedermeier als epochales ästhetisches Phänomen im Sinne historischer Schönheit von Kunst und Leben wissenschaftlich, also museums- und ausstellungsreif präsentiert. Den verklärenden Intentionen des affirmativ ästhetisierenden Historismus ist nicht mehr zu entkommen, – ein Gegengewicht gegen die Verhäßlichung und Verbeliebigung moderner Kunstproduktion.

[16] Was an den Kunst-Universitäten des 20. Jahrhunderts zu abstrusen Vermengungen in der Lehre des Kunstmachens geführt hat. Jeder (Kompositions)Schüler durchläuft ein historisches Vademecum seiner Kunst(geschichte), als sei er berufen, einer polyhistorischen Praxis von neuem (?) Kunst(musik)schaffen zu folgen. Die Grenzen des entgrenzten Eklektizismus realer Postmoderne sind nicht mehr entgrenzbar. Eine für den modernen Zeitgeist nicht mehr durchschaubare Dialektik.

[17] Odo Marquard konstatiert in der frühmodernen Epoche die Konfrontation einer „Erlösungsästhetik der aufgelösten Widersprüche“ mit einer „Rückzugsästhetik der ausgehaltenen Widersprüche.“ (In: Transzendentaler Idealismus 163, Köln 1987, S. 186.)

[18] Friedrich Gottlieb Klopstock: Die Jakobiner (1792) In: Klopstock, Sämmtliche Werke, Bd.2 (Leipzig1823) S. 131.

[19] Im November 1799 schreibt Joseph Görres aus Paris an seine Braut, er habe „die Menschen auch in moralischer Hinsicht für wahre Antiken“ gehalten, „für mehr oder weniger vollendete Ideale“; doch „diese glücklichen Tage der Täuschung sind längst vorüber.“ Jetzt stehen ihm die Menschen „auch in physischer Hinsicht (tief) unter dem Ideale der höchsten Schönheit“, und er besiegelt seine Anklage mit einer (kunst)religiösen Verfluchung: „Ja, diese Menschen, welch ein Abstich gegen diese reinen Formen! Egoism ist ihr Abgott, Intriguen ihr einziges Dichten und Trachten, Jagd nach Vergnügen ihre einzige Beschäftigung. Republikanern sind sie so unähnlich wie der schmutzigste Savojarde dem Apoll von Belvedere.“ Zitiert nach Dieter Kliche: (Stichwort) Häßlich, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart, 2004; Bd 3, S. 41.