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Kapitel XXII

XXII.

 

Die unausweichliche Tatsache, daß in den (modern sein wollenden) Richtungen der Künste das (positiv) Erhabene obsolet und inaktuell, das Hässliche approbiert und aktuell werden mußte, führte in der mitgehenden Ästhetik dieser Epoche zu einem bis heute aktuellen Geflecht von Irrtum und (Selbst)Täuschung. Während die klassischen Ästhetiken nach Kant (insbesondere Hegel und Vischer) das Erhabene sowohl systematisch der Idee des Kunstschönen integrieren wie zugleich historisch im Gang der Einzelkünste als Moment von deren konkreter Geschichte – in Relation zu den jeweiligen Religionen – rekonstruieren (bei Hegel etwa auch als „symbolische Kunstform“, in der das religiös Erhabene zu einer originär kunstförmigen Erscheinung gelangt sei), schien in den antiklassisch nachkantischen Ästhetiken (nicht nur der Künstler) die Stunde des befreiten und sich verselbständigenden Hässlichen gekommen.

 

In klassischer Sicht bleibt das Hässliche (nicht nur des Lebens und der Natur) hässlich, allenfalls als Mittel für das ästhetisch Erhabene kann es positiv, verselbständigt (als Eigenzweck) nur als negative Erhabenheit – etwa als Karikatur – dargestellt und begriffen werden. Nicht so in moderner Sicht, in der es sein Negativum in ein Positivum verwandeln, somit als positiv Erhabenes und sogar als neue Schönheit einer gänzlich neuartigen (Schönheits)Kunst erscheinen und legitimieren sollte können.

 

Je system-stringenter das positiv Erhabene der idealischen Schönheit und zugleich deren historisch gewordener (Kunst)Geschichte überantwortet schien, umso stringenter schien das moderne Hässliche frei und in sich positiv dem (Kunst)Schönen gegenüberzustehen und als eigene Schönheit möglich und denkbar, und somit dem modernen Künstler die Gestaltung einer unendlichen Erneuerungsgeschichte des Kunstschönen überantwortbar zu sein.

 

Und dieser Gegensatz eines doppelt bestimmbaren („ambivalenten“) Erhabenen ist das Zentrum, um das die meisten Kämpfe in aestheticis rotieren, die im 19. Jahrhundert ausgefochten werden. Es lohnt sich, deren Genesis, Stadien und Früchte näher zu untersuchen, weil von daher auch die Vergleichgültigung nicht nur dieses innersten Gegensatzes, sondern überhaupt aller ästhetischen Kämpfe im 20. Jahrhundert verständlich werden kann.

 

Das positiv Erhabene war zunehmend auch deshalb diskreditiert, weil es in den Zeiten der Restauration und Repression dazu diente, durch willfährige Kunst einer (immer noch) unfreien Gesellschaft unterdrückerische Dienste zu leisten, im Dienst an der falschen Welt das Falsche falsch zu verklären, wogegen das neue „Erhabene“, mit den Botschaften von Aufklärung, Freiheit und Utopien beladen, als kritisches und kämpferisches Instrument agiere, nicht mit den Oberen, sondern mit den und dem Unteren sich verbinde. Doch in dieser Funktion sollte es zugleich als neue Schönheit oder Gegen-Art von Schönheit, genauer: (wenn Schönheit als oberster Gattungs-Begriff angesetzt wird) als Gegen-Gattung gegen die Gattung Kunstschönheit möglich sein.[1]

 

Diese Ermöglichung konnte durch Aufnahme eines Utopie-Kredits ermöglicht werden: gleich der Raupe, die nicht sogleich als schöner Schmetterling, gleich dem hässlichen Entlein, das nicht sogleich als schöner Schwan erkennbar sei, sei auch die neue Kunst zwar vorerst noch mit dem Vorurteil der Hässlichkeit bedacht, doch demnächst, wenn Aufklärung und Gewöhnung hinzugekommen, als erhabene Schönheit triumphierend.

 

Das Problem einer Kunst, die kritisch gegen die Gesellschaft und ebenso kritisch, nämlich revolutionär gegen ihre eigene bisherige Kunst- und Schönheitstradition agieren mußte, und die dennoch und zugleich die Lorbeeren der vormodernen Triumphe erben möchte, ist an sich unlösbar, nur als Fiktion, Illusion und Utopie, – oder empirisch durch Kunstmärkte die exorbitanten Reichtum und hyperberühmte Namen ermöglichen – (schein)einlösbar.

 

Nach der Genesis dieser Uneinlösbarkeit in den Tiefen des 19. Jahrhunderts führte das weitere Procedere am Beginn des 20. Jahrhunderts, als die heroische Moderne der neuen Kunst den Topos von der scheinhässlichen Raupe exzessiv bemühte und verschliss, zu einer Überfrachtung des Utopie-Kredits, die seither kaum noch gesucht und gewährt wird. Arnold Schönberg konnte sich noch als verkannten Mozart oder Tschaikowsky der Zukunft glauben, – heute noch unerkannt und ungeliebt, werde er morgen in unser aller Mitte sein.

 

In den Tiefen (und Seichtigkeiten)des 19. Jahrhunderts begann jene heillose Verwicklung der historischen und systematischen Stränge ästhetischen Denkens und Handelns, ein scheinbar unentwirrbares Geflecht von verwirrenden Fäden und verworrenen Knoten, das bis heute den „Diskurs“ über Kunst und Kunstschönheit, über deren „Erweiterung“ oder Nicht-Erweiterung bedingt und beschädigt.

 

Weil an die Stelle des vormodern traditionsleitenden Kampfes von antiqui contra moderni, der im 19. Jahrhundert passivisch wird und seine schaffende und motivierende Kraft verliert, erstmals die (Kunst- und Schönheits)Schemata der gesamten Vergangenheit (von Kunst) gegen das Schemata der Gegenwart und Zukunft (von autonomisierter Kunst) auf den Plan treten – weshalb sich das Vergangene nicht mehr vergißt, und das Neue seinen Utopie-Kredit nicht mehr los wird – konnten die Fragen nach der Legitimität des Hässlichen im oder gegen das Schöne der Kunst nur mehr auf dieser neuen, gemeinhin als „geschichtsphilosophisch“ bezeichneten Grundlage von Ästhetik und Kunstphilosophie, nicht mehr im Schema der bisherigen antiqui-versus-moderni-Tradition beantwortet werden.

 

Eben dies geschah jedoch, wenn die ästhetische Moderne der frühen Stunde die Fortschritttsvariante des Historismus und seiner Ästhetik bemühte, um sich als Erneuerung oder Erweiterung des Kunstschönen (durch dessen Gegenteil) zu behaupten. Während die Kunst-Geschichte und -Philosophie bereits systematisch dachte und handelte – die Hegelsche Ästhetik gemäß einer Teleologie, die den anderen Ästhetiken zumeist verschlossen blieb – dachten und handelten die modernen Künstler immer noch als moderni contra antiqui, und die antimodernistischen Künstler immer noch als antiqui contra moderni.

 

Man begriff nicht, daß die ästhetische Begriffsbildung der ästhetischen Moderne mit dem Ende der vormodernen „Querelle“ unumkehrbar in ein „geschichtsphilosophisches“ Fahrwasser geraten war, weil eine geschichtslos sein sollende Vernunft von Kunst, ein ahistorischer Logos von Kunst und Kunstschönheit undenkbar geworden war, und weil der aktuelle Brennstoff für eine weiterhin aktuelle Querelle aus dem Bedürfen der modernen Gesellschaftseliten verschwunden war.

 

Diese vormoderne (Kunst- und Gesellschafts)Bühne war über Nacht verschwunden, wurde aber im Eifer des Kampfes um die Plätze an der Sonne einer Gesellschaft, die zugleich kritisiert und „vernichtet“ werden musste, weiterhin benötigt. Ein kunstspezifisch und gesellschaftlich marginal gewordener Kampf wurde daher geführt, als habe er in der Mitte der neuen Gesellschaft einen aufträglichen und konsensfähigen Gegenhalt.

 

Man kann sich die Aporie der modernistischen (aber auch der klassizistischen) Position an der Frage verdeutlichen: Wie sollen wir vergangene Kunstschönheit beurteilen, die noch nicht wusste, daß Hässlichkeit unter modernen (Kunst)Bedingungen in einen behaupteten Rang von Schönheit, und Kunst unter denselben Bedingungen in ein autonomes Reich jenseits von Schönheit und Hässlichkeit aufsteigen wird? Und wie sollen wir nach Beantwortung dieser rückwärtsgewandten Frage die vorwärtsgewandte an eine moderne Kunstschönheit, die sich als extrem erweiterte oder als nicht-mehr-schöne behauptet, beantworten?

 

In lebendiger Vormoderne sind beide Kontrahenten der die Entwicklung der Kunst und des Kunstschönen antreibenden „Querelle“ der je aktuellen Gegenwart entstammend, der eine mit dem Vorblick aufs nächstmögliche Neue – das mit der neuen Generation der lokalen Gesellschaftseliten harmoniert -, der andere mit dem Rückblick aufs Erfolgreiche von gestern, – dem immerhin noch Teile der Eliten zustimmen, bevor sie verschwinden.[2]

 

Diese Situation hat die Kunstphilosophie Friedrich Schlegels bereits um 1797 „geschichtsphilosophisch“ transzendiert, indem sie zu Kontrahenten auf der einen Seite die Antike selbst, auf der anderen die gesamte Gegenwart und Zukunft der Kunst erhebt. Plastisch tritt das Ende der Querelle hervor: ein Baudelaire kann die „antiken“ Argumente Schlegels so wenig verstehen und goutieren, wie diese die modernen von Baudelaire, in denen das Hässliche zum Schönen sich nobilitiert. „Geschichtsphilosophische“ Ästhetik und aktuelle Kunst(Ästhetik) reden und denken aneinander vorbei. Und der Kredit, den die rückwärtsgewandte Utopie einer „antiken“ Ästhetik aufnimmt, ist so wenig gedeckt wie jener, den die moderne Kunst für ihre vorwärtsgewandte Utopie aufgenommen hat.

 

Die Theorie des Hässlichen, die Friedrich Schlegel aufbietet, um der neuen Situation Herr zu werden, kann von späterer – heutiger – Moderne abermals nach Belieben ambivalent gelesen, somit als „ambivalente Theorie“ verstanden werden, die zwar bemüht sei und mit der Zeit gehe, jedoch noch nicht reif genug gewesen sei, um den großen Durchbruch des befreiten Hässlichen durch die ästhetische Moderne zu würdigen und zu verstehen.

 

Daß nämlich die kunsteigene Hässlichkeit durch den geschichtlichen Gang der Künste selbst freigesetzt werden muß, wie Schlegels „geschichtsphilosophische“ Ästhetik erkennt, wird im Verständnis der Moderne nicht bloß als Freibrief, sondern zugleich als Urkunde einer höheren historischen und logischen Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit (miß)verstanden, derzufolge das Hässliche per se in neue originäre Schönheit umschlage, sei es latent und unerkannt sofort, sei es erkenn- und anerkennbar in naher oder ferner Zukunft.

 

Friedrich Schlegel kontrastiert die Kultur der Antike, deren Kunst durchgängig auf der Idee der Schönheit gründe, mit der Kunst seiner Zeit, die unter einer „vorübergehenden Krise des Geschmackes“ leide und sich ein Interregnum des Hässlichen errichtet habe, das sowohl ästhetisch wie politisch untragbar und nicht von Dauer sein könne. Die aktuelle Kunst habe das Interessante übersteigert und habe als „entartete Kunst“ das „Pikante, Frappante, Fade, Schockante, Abenteuerliche, Grässliche und Ekelhafte“ freigelegt, ein Zustand und Status, der „geschichtsphilosophisch“ als später im kunstgeschichtlichen Schema Antike-Gegenwart/Moderne-Zukunft erkennbar sei. Und somit obliege den Eliten der Kunst, hier dem Theoretiker, die Aufgabe, diese Zukunft zu gestalten, – durch Erkenntnis des Gewordenseins von Kunst und der Ideale von Schönheit, die in der Geschichte der Künste das Licht der Welt erblickt haben.

 

Auffällig, daß Schlegels Naivität sich nicht scheut, für eine Renaissance ewiger Klassizität und Kunstschönheit eine Leitung bis ins Goldene Zeitalter der Antike zurückzulegen, um durch Nachschub aus der Goldenen Quelle den Streit der Querelle endgültig zu entscheiden, denn nur durch ästhetische und politische Revolution sei die auf Abwege geratene neue Kunst wieder auf den rechten, wahren und schönen Weg zu zurückzuführen.

 

Dazu bedürfe es allerdings mehr als bloßer Kritik und guten Willens seitens der Künstler, es bedürfe einer strengen ästhetischen Zensur, um den neuerlich anzustrebenden Status verbindlicher Schönheit zurückzuerobern. Doch auch die Zensur dürfe nicht von bloßer Kritik und gutem Willen abhängen, sie müsse auf strenge Gesetze zurückgreifen können, denn nur „eine vollkommne ästhetische Gesetzgebung würde das erste Organ der ästhetischen Revolution sein.“[3]

 

Freilich sorgt sich Schlegel zunächst nur um die Dichtung seiner Zeit, die allerdings, wie gezeigt, als dominante Kunstform am vehementesten in das Neuland der Kritik und des gesellschaftlichen Kampfes vorgedrungen war. Er hofft, der Poetik der Griechen „Grundlinien einer Theorie der Inkorrektheit“ und einer „Theorie des Hässlichen“ entnehmen oder deduzieren zu können, um seine ästhetische Revolution im Namen der idealen Kunst(Schönheit) durchführen zu können.[4]

 

Selbstverständlich muß er dabei Form und Inhalt des Hässlichen trennen,[5] womit die Realisierbarkeit einer neuen normativen Ästhetik sogleich wieder zuschanden wird, denn per Gesetz ist nicht rechtzusetzen, ob und wie der moderne Künstler die Deformierungen des modernen Lebens durch Kunst kritisch oder pathetisch, schön oder hässlich, hässlich oder erhaben darstellen soll. Ein System unter Strafe gestellter „technischer Fehler“ produziert nichts als eine formale Inkorrektheitsästhetik, die zu verwenden, für den modernen Künstler unter seinen Bedingungen und für seine Zwecke oberstes Gebot werden kann und auch werden musste, wie die weitere Entwicklung zeigte.[6]

 

Auch Schlegel muß das Hässliche als Moment des Erhabenen bis zum Äußersten, bis zu äußerster und erregendster Interessantheit zulassen, und dies zwingt ihn, den Schönheitsbegriff in einen weiten und einen engen zu teilen und zu erweitern, wonach somit das hässliche, aber immer noch affirmativ gewendete Erhabene – dem somit bereits moralisierend-lehrhafte Züge anzuhaften beginnen – in das erweitere Kunstschöne integrierbar bleibt, während nur mehr das Schöne im engeren Sinn für die Agenda des Ideals vollkommen realisierter Kunstschönheit reserviert bleibt.

 

Allein noch im engen Reservat ereignet sich das reine und vollendet realisierbare Kunstschöne, und daher muß es um dessen aktuelle und aktualisierbare Interessantheit schlecht bestellt sein, weil es alles innovatorisch Neue und nach idealischen Begriffen Hässliche und Deformierte, aber auch das „Interessante“, das doch allein noch die (ästhetischen Elite-)Geister der Zeit für und durch Kunst erregbar hält, von sich ausschließen muß.[7] Daß die weiten Massen nicht in diese enge Gasse wollten, ist bekannt; ihnen genügten vereinfachte Fassungen idealischer Schönheit: einem Gaul, der nur mehr zur Unterhaltung dienen soll, schaut niemand mehr ins Maul. [8]

 

Wie für Kant bleibt auch für Schlegel jedes Hässliche und Deformierte, das die Grenze zum Ekel überschreitet, von schöner Kunst ohnehin, aber auch von erhabener Kunst ausgeschlossen, und es ist diese Grenzbestimmung, die in moderner Perspektive als „ambivalente Theorie des Hässlichen“ – schon bei Schlegel – ausgelegt zu werden pflegt, weil Ekel und Perversion für die realisierte Moderne selbstverständlich geworden sind.[9]

 

Einerseits muß der moderne Künstler – nach Friedrich Schlegel – das Manierierte, Charakteristische und Individuelle – kultivieren: die Kategorie des Interessanten, schon bei Shakespeare auffällig, wird zentral. Andererseits soll dieser Status von Kunst ein problematischer und nur „vorübergehender“ sein, weil er mit der Sphäre des (Kunst)Schönen, in erweiterter und in enger Perspektive, in Konflikt gerate, und – könnten wir Heutigen ergänzen – es nicht einsichtig ist, warum die Interessantheiten des Lebens nicht gleich interessant oder sogar interessanter sein könnten als die der Künste, wenn diese – Künste – auch nur mehr an der Quelle Interessantheit trinken.

 

Doch steht schon für Schlegel so etwas wie die „Rettung des Individuums“ auf dem Spiel, für das sich die ästhetische Moderne bekanntlich bis in unsere Tage stark macht, als wäre sie die zentrale Instanz und Quelle für eine Stärke, die durch Individualität, und für eine Individualität, die durch Stärke definiert wird. Auch diese moderne Aporie findet sich bereits bei Schlegel, denn an seiner Definition: „Interessant nämlich ist jedes originelle Individuum, welches ein größeres Quantum von intellektuellem Gehalt oder ästhetischer Energie enthält,“ ist vor allem das Oder interessant. Ist dieses disjunktiv-trennend gemeint, wäre nämlich noch nachzudefinieren, wie ein Ästhetisches ohne Intellektuelles zu denken und zu verstehen sei, und wie dabei das gesuchte und angehimmelte „originelle Individuum“ nicht verloren gehe.[10]

 

Die moderne Problematik von (Kunst)Originalität wird virulent, wenn Interessantheit – die unter säkularen Bedingungen unhintergehbar mit dem Rücken zu Leere und Langeweile steht – zur Hauptquelle der Produktion und des Bedürfnisses nach Kunst überhaupt wird.[11] Einerseits könnte diese Ressource unerschöpflich scheinen; denn was nicht ließe sich als interessant inszenieren? Andererseits: wozu eigentlich, wenn einsichtig wird, daß mit der grenzenlosen Erweiterung des Interessanten das Quantum seines intellektuellen Gehaltes gegen Null schrumpfen muß.

 

Dazu kommt die Fremdbestimmtheit und somit Unfreiheit des grenzenlos originellen Individuums: denn nur für andere – nichtoriginelle – lohnt es sich, als originelles Individuum zu leben und zu schaffen. Der originelle Künstler möchte Gründer einer originellen Gemeinde von originellen Leuten sein, die dies aber nur durch die Botschaft und Einverleibung seiner Originalität sein sollen können.[12] Dieser letzte Rest vormoderner Künstlergenialität – eine Art von „ästhetischem“ Priestertums – bleibt noch in der nominalistischen Auflösung von „Genie“ und „Originalgenie“ zurück.[13]

[1] In der Differenz von Kunstschönheit und Schönheit, ebenso von Kunsthässlichkeit und Hässlichkeit klingt der traditionelle Gegensatz von Ontologie (Metaphysik) des Schönen und Philosophie des Kunstschönen stets durch. Mag letztere noch so „geschichtsphilosophisch“ agieren, deduzieren und systematisieren, sie setzt stets den Begriff ihrer geschichtlichen Sphäre schon voraus. Und das Schöne (oder gar das Kunstschöne) „evolutionsbiologisch“ erklären zu wollen, sollte man den Tieren überlassen.

[2] Indes ein Mozartliebhaber vom Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr verschwindet, er bleibt als dieser „ewige Anachronismus“ in der Geschichte wohnhaft, sein Geist der Mozartgemeinde verschwindet nicht mehr, mag dies den Komponisten von neuer Kunst- oder Unterhaltungsmusik heute und morgen noch so erzürnen und unverständlich bleiben.

[3] Schlegel möchte die Gesetzes- und Regelwerke vormoderner Kunst, die in der anbrechenden Moderne brüchig und zu Fesseln werden, durch eine – welche? – Instanz rekonstruieren oder fortschreiben lassen. Er widerspricht seiner „geschichtsphilosophischen“ Analyse, die immerhin den Gang des Erhabenen durch das 18. ins 19. Jahrhundert als Quelle des Umschlages ins Negative zur Kenntnis genommen hatte.

[4] Vgl. Dieter Kliche: (Stichwort) Häßlich, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart, 2004; Bd 3, S. 42 ff.

[5] Keine Epoche kann die Einheiten von Inhalt und Form – von was es auch sei – unter denen eine Vor-Epoche lebt, von dieser übernehmen. Geschichte, auch von Kunst, ist fortgesetzte Negation voriger Positionen, und die Logik dieser Fortsetzungsnegation zu erkennen, sollte das Zentrum jeder „geschichtsphilosophischen“ Ästhetik und Kunstphilosophie sein.

[6] Zumindest unbewusst bemerkt Schlegel, daß eine moderne Kunst, die das Leiden an der modernen Realität von sich ausschlösse, in steriler Reproduktion von Schönheitsmustern erstarren müßte. Sie wäre nicht einmal mehr für die Gartenlaube interessant genug. Wird aber das Interessante zugelassen, fühlt sich der ästhetische Sittenrichter aufgerufen, die nötigen Grenzen gegen „Übersteigerung“ und „Entartung“ sowohl durch politisch-moralische wie durch ästhetisch-formale Kunstgesetze festzulegen. Die befreite autonome Kunst wäre einer autonomen und zugleich universalen Rechtssetzung und Rechtssprechung in allen Dingen von Kunst und Kunstschönheit zugänglich. Nicht wäre Partikularisierung und Individualisierung ihr Schicksal unterm neuen Gestirn befreiter Phantasie, sondern eine neo-antike Universalität, also eine neue Kunstreligion von allen für alle realisierbar. Diese Sehnsucht der ersten Bürger nach einer neuen und ebenso schönen wie erhabenen, ebenso interessanten wie zugleich eingegrenzten Kunst ließ sich nur auf dem Niveau der modernen Unterhaltungskünste realisieren, deren Inkubationsepoche ebenfalls in das 19. Jahrhundert fiel. Eine Realisierung, die ihr Gegenteil realisiert.

[7] Kunst, die durch sich selbst interessant werden muß, weil eine säkular gewordene Welt insgesamt interessanter wird als alle Kunstproduktion und -rezeption, ist ein zentrales Phänomen säkularer Modernität. Samuel Becketts Anmerkung, nur noch mit totaler Langeweile könnte Kunst in naher Zukunft als Schock und Interessantheit aufwarten, – in einer neuen Welt, die an aktueller Abwechslung und ständig sich erneuernden Interessantheiten unendlich mehr anbiete als alle aktuellen Künste zusammen jemals anbieten könnten. Inszenierte Interessantheit hat alle vormoderne Unschuld, die für das Machen und Erfahren von Kunst einst unbedingte Bedingung war, verloren. Etwas macht sich interessant, weil sein Etwas nicht mehr interessant genug ist.

[8] Das Problem der „Erweiterung“ des Kunstschönen erscheint also bereits früh in der Geschichte der nachkantischen Ästhetik.

[9] Was die Moderne der Inkubationszeit (18./19 Jahrhundert) von der realisierten Moderne (20. Jahrhundert) im Bereich der traditionellen (aber auch der technologischen) Künste trennt, kann an Schlegels Einspruch gegen das Hässliche als Absolutum und Selbstzweck wahrgenommen werden. Schon im formalen Hässlichen würden die Teile disharmonisch einander widerstreiten, und nur schlechte Subjektivität könne sich darin – am Rande der Unbesonnenheit – herumtreiben, denn selbst diese müsste noch ein Maß, eine Grenze anerkennen, jenseits welcher der Rubikon von Kunst und Besonnenheit (Vernünftigkeit) überschritten sei, „… denn es gibt für jede individuelle Empfänglichkeit eine bestimmte Grenze des Ekels, der Pein, der Verzweiflung, jenseits welcher die Besonnenheit aufhören würde.“ (Zitiert nach Dieter Kliche: (Stichwort) Häßlich, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart, 2004; Bd 3, S. 43.

Nichts anderes als Löschung aller Besonnenheit muß Kunst als radikal moderne fordern und durchführen, wenn sie als „verstörende“ und „subversive“ ihren Kunden als geschockten und schockierbaren erreichen muß. Als könne Kunst nur mehr mit Gewalt als Geist und Freiheit erscheinen, – ein kräftiges Indiz für die Verzweiflung an ihrem modernen Zustand; was nur mehr mittels Gewalt sich äußern und vermitteln kann, das ist von der Gewalt des Verschwindens und erkannter Sinnlosigkeit und Überflüssigkeit permanent bedroht. Kann Kunst nur mehr im Zustand unbesonnener Verstörtheit als neue und kritische Kunst wahrgenommen werden, strebt sie den Zustand „ästhetischer“ Geisteskrankheit zumindest latent an. Da es jedoch im erreichten Status totaler Entgrenzung aller Grenzen von Kunst unmöglich ist, zwischen „gesunder“ und „kranker“ Kunst zu unterscheiden, ist auch diese Grenze längst gefallen.

[10] Die Intellektualität eines Grönemeyer (Popsänger) genügt, um als medial ansprechbare inszeniert zu werden; die eines Stockhausen (Kunstmusikkomponist) ist in Talkshows nicht mehr vernehmbar.

[11] Daß die technologischen Künste – vorab der Film – kein Problem haben, die Dialektik von Leere versus Interessantheit virtuos und massenwirksam auszutragen, ist evident: „Spannung“ ist eine zentrale Wertkategorie aller filmischen Produktion. Noch der grenzdebilste Inhalt kann in diesem Sinne erfüllend inszeniert werden: „spannend“ und „unterhaltsam.“

[12] Diese Gemeinde ist also selbstwidersprüchlich, denn auf Kosten der Originalität eines Anderen originell zu sein, ist ein Preis, der zu hoch ist, um von einem originellen Individuum bezahlt werden zu können. Daher ist es auf dem Markt der modernen Originalitäten und Individualitäten entscheidend, der Erste zu sein; nur der Erste darf diesen hohen Preis verlangen, und Lemminge sonder Zahl werden sich um das säkulare Heiligtum einfinden, weil sie nicht Originalität, sondern diese nur als Mittel für Geselligkeit suchen und verwenden. Originalität ohne vor- und überoriginelle Wahrheit ist nicht wahrheitsfähig; wieder ein Punkt der Koinzidenz von avantgarder und unterhaltender Moderne. Beim originell verpackten Reichstag kann sich der in großer Flaniergemeinde herumstreunende Demokrat ebenso gut unterhalten wie im Jazzkeller beim (angeblich) neuesten Welt-Sound.

[13] Wobei aber zur vormodernen Genie-Originalität gehörte, daß sich das Individuum nicht als Individuum, nicht bewusst als interessantes oder charakteristisches zu inszenieren hatte. Die Substanz von Kunst war noch universal „originalisierbar“ – universaler Individuation zuführbar – in und durch universale Stile, Gattungen, Werke, und Genies, denen ebensolche Geschmäcker und Ästhetiken entsprachen. Vormoderne Kunst litt noch nicht an einem Mangel an interessanter Allgemeinheit.