Categories Menu

Kapitel XXIII

XXIII.

 

Einförmig sei das Schöne, vielgestaltig das Hässliche verkündet Victor Hugo im Todesjahr Beethovens, – und wie allen Anti-Klassizisten des 19. Jahrhunderts wird auch in seiner Ästhetik das Hässliche zum Kronzeugen authentischer Wahrheit und authentischen Künstlertums. Bei Hugo werden noch unter dem Namen „Romantik“ und unter Rückendeckung des – neu erinnerten – Christentums, das gegen die schöne Antike und deren reale oder vermeintlich Nachfolger mobilisiert wird, Realismus und Naturalismus gegen Idealisierung und Ästhetizismus in Stellung gebracht, in einem Kunstkrieg, der in der Literatur immer auch politische Frontverläufe zeitigte.

 

Kaum ein Künstler dieser aktiven Kunstfront, die das Neue in der neuen widersprüchlichen Realität und deren ungeschminkten Darstellung suchte, der nicht jegliche Art von Klassizismus und klassischer Kunstschönheit als Todfeind seiner Profession erkannt und bekämpft hätte, und davon blieben die anderen Künste (Malerei, Musik, Skulptur) keineswegs ausgenommen, wenn auch die Architektur an die utopischen Entwürfe der französischen Revolutionsarchitektur im nachnapoleonischen Europa am wenigsten anzuknüpfen wusste.[1]

 

Hugos Verbindung von Groteske und Erhabenheit arbeitete nicht nur Baudelaires Verbindung von Schönheit und Hässlichkeit vor, sie enthält den nucleus moderner (literarischer) Ästhetik überhaupt, wenn sie alle Arten des Hässlichen als agent provocateur für alle revolutionär und großartig sein wollende Kunst aufnimmt und daraus die Spiritualität eines Erhabenen entspringen lässt, dessen Wirkungen unwiderstehlich sein sollen. „Wahrheit und Natur“ – die Konzeption von gesellschaftlicher Realität in der Perspektive romantischer Künstlerkunst – werden zu unbedingten Bedingungen aller antiklassizistischen Ästhetik und damit zu Vorboten der radikal-heroischen Moderne im 20. Jahrhundert, die auch noch die letzten Formreste traditioneller Schönheit, die den Romantikern entgingen, beseitigen wird.

 

Auf dem Weg von Hugos „Hernani“ zu den naturalistischen Stücken Gerhart Hauptmanns, deren revolutionäre Naivität durch die ideologische der Stücke Bert Brechts nochmals überboten wurde, erfüllte sich der Entwicklungsstrang moderner Theater-Erhabenheit mit politisch-revolutionärem Anspruch.

 

Der sukzessive Verlust von Naivität oder umgekehrt: die Steigerung der Desillusionierungskraft neuer Kunst radikalisiert die Konzeption ästhetischer Moderne: spätestens bei Baudelaire ist „Wahrheit und Natur“ als Zielvorlage künstlerischen Schaffens von aller sozialen Romantik und Idealität, die wir bei Hugo noch finden, abgekoppelt. Nun soll das Hässliche tatsächliche „Quelle“ für die Kreation einer neuen Kunstschönheit sein, welche die bekämpfte und verschwindende – klassizistisch und akademisch werdende – an ästhetischer Bedeutung und gesellschaftlicher Wirkung ablösen könne.

 

Es soll das Wunder vollbringbar sein, daß ein und dasselbe Sujet als „Zeichen einer häßlichen Welt“ und in derselben Beziehung als sein Gegenteil: als poetisches Prinzip neuer Schönheit erscheine. Und indem Baudelaire im Ekel an der neuen Wirklichkeit nach neuen Pfründen neuer Schönheit sucht, soll darin zugleich jenes Schockpotential an Unerwartbarem und Überraschendem auffindbar und garantierbar sein, ohne das die neue Kunstschönheit die gesellschaftliche Aufmerksamkeit nicht mehr erreichen kann. Nicht Hugo und die Schule der Groteske, sondern Poe und Delacroix werden Baudelaires Gewährsmänner, denn diese hätten die Logik des neuen Bizarren als neues poetologisches Prinzip erkannt und verbindlich vorgeführt.[2]

 

Diese Logik führt zu einer „chemischen“ Verbindbarkeit von Schönheit und Hässlichkeit, die sich auch bei Heinrich Heine nachweisen lässt, bei diesem jedoch wesentlich politischer gewendet bleibt, indes bei beiden (Baudelaire und Heine) evident wird, daß diese Verbindung, vorgestellt und praktiziert als homöostatisches Changieren gleichberechtigter Kategorien, nicht mehr durch ein einfaches Schönes, aber auch nicht mehr durch das um die Schlegelsche Erhabenheit erweiterte Schöne abgedeckt und begründet werden kann und soll.

 

Doch an diesem „Soll“ hängt die unbeantwortete Problematik der „Erweiterungsfrage“, (ob durch ästhetische Moderne der Begriff der Kunstschönheit erweitert wurde oder nicht) und wir finden sie hier an ihrem historischen Ort am Schnittpunkt der Entwicklung zur ästhetischen Moderne. Dieser Ort ist somit als historiologischer zu erkennen und zu benennen.[3] Denn es ist der sich auflösende und zersetzende Logos vormoderner Kunst, dessen Selbst-Zersetzung geschichtlich zu erscheinen beginnt.[4]

 

Daß dieser Schnittpunkt bis heute nicht adäquat erkannt wird, liegt vor allem daran, daß er als bloßer Epochenbruch, somit unter vormodernem Paradigma, nicht als Ideen-(Welten)Bruch gedeutet wurde und wird.[5] Unter dieser Fehlannahme deuteten sich daher auch die Künstler der anbrechenden ästhetischen Moderne des 19. Jahrhunderts als moderni im vormodernen Sinn: neuerlich revolutionäre und die Autonomisierung der Künste erstentdeckende Künstler zu sein, die für die moderne Gesellschaft und von dieser getragen, (freilich von und für welche Eliten?) alle bisherige Kunst und Kultur der antiqui zu überwinden und das unbekannte Neue aus dem Zentrum eines neues (Kunst)Lebens heraus zu erfinden und zu gestalten hätten.

 

Unter dieser Annahme wäre die Querelle nicht bloß fortsetzbar gewesen, sie hätte auch deren Früchte ernten und zu weiteren Steigerungen von Stilen, Gattungen und Original-Genies (kurz: zu einer verbindlich-universalen Erweiterung des Kunstschönen aller Einzelkünste) führen können; sofern aber die Gegenannahme zutrifft, musste an dieser historiologischen Schnittstelle die Querelle ihre ultimativ letzte Gestalt, somit ihre Todesstunde erfahren, die somit auch nicht mehr als Kampf der Gesellschaft oder ihrer Eliten konnte und sollte ausgetragen werden.

 

Obwohl sich daher im Feld der traditionellen Einzelkünste in unserer und jeder künftigen Gegenwart von Kunst nichts mehr jenseits der paradigmatischen Antipoden Vormoderne und Moderne erfinden und erschaffen, interpretieren und deuten, rezipieren und genießen lässt, und obwohl die Vermischbarkeit der Antipoden durch die postmodern gewordene Moderne zu virtuosester Freiheit freigegeben wurde, eine Freiheit, die der Vormoderne unzugänglich war, ist die Querelle vollständig erfüllt und hinfällig geworden und als „Quelle“ endgültig versiegt.[6]

 

Nicht nur sind die Antipoden zu völliger Gleichgültigkeit und friedlicher Koexistenz gegen- und miteinander auseinandergetreten: das Älteste wird ebenso verehrt, gesammelt, kommentiert, vermarktet und genossen wie das Neueste; – die Getrennten (und daher beliebig Vermischbaren) lassen sich auch nicht mehr unter das Konzept eines utopischen Dritten subsumieren, das aus der Zukunft als neuer tragender Grund einer neuen und ganz anderen Kunst und Kunstschönheit auf uns zukäme, denn ein ganz anderes Drittes ist längst in unserer Gegenwart angekommen: die Moderne technologischer Kunstarten und außerkünstlerischer Schönheitswelten.[7]

 

Nur scheinbar und illusionär lässt sich das Alte mit den Kategorien und Paradigmen des Neuen, nur scheinbar und illusionär lässt sich das Neue mit den Kategorien und Paradigmen des Alten adäquat erfassen – begreifen und erfahren. Die völlige Entwertung der aktuellen (post)modernen Sprache über Kunst und Künste, über deren Geschichte und Aktualität, ist dieser wesenlosen Scheinadäquatheit wesentlich geschuldet.[8]

 

Diese Inadäquatheit wird wohl auch innerbetrieblich gefühlt oder geahnt, am stärksten, wenn moderne Künstler bemerken, daß mit ihren Performances und Artefakten ebenso verfahren wird wie mit den Kunstwerken der Vormoderne: ab ins Museum, ab in den bürgerlichen Konzert- und Theaterbetrieb, ab in den akademischen Masterbetrieb. Ein vormodernes Kulturverfahren, dem mit Biennalen, Documentas und ähnlichem, also eigenen Darbietungsbühnen und Festivals mit eigenen – modernen – Vermittlungsweisen, denn die vormodernen sind allesamt ungenügend, hinauszukommen versucht wird.

 

Und selbstverständlich genügen die vormodernen Vermittlungsweisen, die wir aus der Vormoderne brav und ängstlich übernommen haben, nicht in alle Ewigkeit, um die vorsäkulare Substanz der vormodernen Werke und ihrer Tradition in radikal säkularer Gegenwart und Zukunft für den (noch) erfahrungs- und erkenntnisfähigen Geist zu retten. Auch in der Kunst lässt sich Geist und Freiheit, trotz der dinglichen Vergegenständlichung aller Kunstsinnlichkeit, nicht als ewiges Identitätsdenkmal konservieren.

 

Und diese Seite der „Erweiterung“ des Kunstschönen pflegt gemeinhin übersehen zu werden, wenn das Erweiterungsproblem (ist Kunstschönheit grenzenlos erweiterbar?) in der Gegenwart und Zukunft moderner Kunst erörtert wird, weil wir (noch) wie das Kaninchen auf die Schlange moderne Kunst zu blicken pflegen, wenn uns die Erweiterungsfrage vorgelegt wird. Wir vergessen, daß die Moderne in Kunst und Kultur, nach totaler Integrierung und Tötung der basalen Querelle, auch dies ist: totale Nicht-Moderne, ewiger Historienkult, absolute Historizität: permanent sich erweiterndes Gedächtnis und Reproduzieren der Kunstschönheit von vergangenen und sehr vergangenen Epochen und Kulturen.[9]

 

Eine „Erweiterung“ die gleichfalls ihre (ungelösten) Probleme und Tücken hat, denn anzunehmenderweise kann das Kunstschöne eines vergangenen Kunstbewusstsein in unserem modernen und radikal säkularen Bewußtsein nicht dasselbe verbleiben, als das es einst erschien, erfahren und begriffen wurde. Ein scheinbar Dasselbiges wird ein ständig Anderes, um doch nicht zu verlieren, worumwillen es tradiert und weitertradiert und interpretiert wird: seinen ewigen Identitäts- und Sinn-Ort im Fluß der verschwindenden Zeit von Geschichte und Kunst.[10]

[1] Dafür erscheinen einige Artefakte der heutigen computergenerierten Phantasie-Architektur wie Revivals mancher Entwürfe der französischen Revolutionsarchitektur. Technologisch geführte Industrie-Praxis kann ausführen, was einst nur als Phantasieprodukt an abgelegenen oder fiktiven Orten realisierbar war.

[2] « Le beau est toujours bizarre.… c’est cette bizarrerie qui le fait être particulièrement le Beau. C’est son immatriculation, sa caractéristique. Renversez la proposition, et tâchez de concevoir un beau banal ! » Zitiert nach Dieter Kliche: (Stichwort) Häßlich, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart, 2004; Bd 3, S. 46.

[3] Der geschichtliche Beginn eines (stets logisch sein müssenden) Etwas ist die anstoßende Schanierbewegung, durch die eine altgewordene Welt aus ihren Fugen gerät. Ein primärer Akt, der niemals auf Prozesse seiner empirischen Bedingungen und deren Ermöglichung reduzierbar ist. Nicht weil Baudelaire schlecht gelaunt war, kam schlechte Laune über die neue Kunst; sondern die Launen der Sache erscheinen im Schicksal schief gewickelter Künstler, gewiß auch als deren Schicksal, aber dieses war und ist zugleich ein allgemeines, das von Kunst als moderner.

[4] Er stößt der Kunst nur scheinbar von außen – durch eine hässliche und kunstfeindliche Gesellschaft und Kultur zu. Die Gegenvorstellung: wäre die Welt (im frühen 19.Jahrhundert) nur besser (schöner?) geblieben oder sogleich (durch politische oder andere Zauberkunst) geworden, hätte die Moderne eine nicht selbstwidersprüchliche, eine wirklich affirmative Kunstschönheit zur Welt gebären können, ist illusionär. Die geschichtliche Bewegung der Kunst ereignet sich nicht jenseits der Geschichte von Gesellschaft. Noch die gesellschaftsfeindlichste und „subversivste“ Kunst ist akzeptierter Teil der modernen Kultur und Gesellschaft. Es gibt keine Nische, die es nicht gibt.

[5] Und daß er in den Einzelkünsten nicht absolut zeitgleich erfolgt, ist evident; lediglich die Real-Setzung von Moderne um den Ersten Weltkrieg ereilte die gesamte vormoderne Kunsttradition wie ein Gewalt- und Erweckungsschlag. Jetzt war auch dem naivsten Künstler klar: es entsteht eine neue und grundandere Welt. Das erste futuristische Manifest von Filippo Tommaso Marinetti erscheint bereits 1909. – Daß das systematische Begreifen der vormodernen Epochenbrüche (in der Differenz ihrer Einheit und ihres Gesamtvollzuges, in der Einheit ihrer qualitativen Unterschiede in Inhalt, Form und Material), vor allem das Entstehen und Verschwinden der großen Stile, ein Desiderat bis heute geblieben ist, trägt Mitschuld daran, daß der Schnittpunkt zur Moderne fehlgedeutet wurde und wird.

[6] Das „Obwohl“ ist daher zugleich als „Weil“ zu lesen, soll es vollkommen verständlich gelesen werden.

[7] Und diesem Dritten entspricht in der Theorie eine Philosophie und Wissenschaft der Kunst, die beide Paradigmen, das vormoderne und das moderne, integrieren kann, weil sie beide Antipoden aus ihrem ersten und tiefsten Grund ableitet: aus dem freien Begriff des in Kunst überhaupt möglichen Kunstschönen und Freiheitserfüllten. – Das Konstrukt einer „Zweiten Moderne“ ist Ideologie.

[8] Ein Altarbild Dürers wird in moderner Perspektive ein „Artefakt“ eines „autonomen Künstlers“; ein Readymade von Marcel Duchamp ein „spiritueller Gegenstand“ eines „erleuchteten Künstlers.“ An jedem vormodernen Werk lassen sich „Züge“ von modernen, an jedem modernen Werk lassen sich „Züge“ von vormodernen entdecken. Ein mediokres Entdeckertum, das zerstreute Inseln mit Kontinenten verwechselt.

[9] Und da die Europäer mittlerweile auf ihren Anti-Eurozentrismus in allen Fragen der Kultur stolz, in weltpolitischen Fragen aber auf ihren autistischen Eurozentrismus noch (dumm)stolzer sind, wonach Europa „eigentlich“ zur führenden Weltmacht berufen gewesen wäre, darf an dieser Stelle der erwartete Hinweis auf die „völlig gleichberechtigte“ Integration außereuropäischer Kunst und Kultur in die aktuelle europäische Global-Gedächtnis-Kultur von heute „natürlich“ nicht fehlen.

[10] Wie stark das Bedürfnis des modernen Bewußtseins war, sich den Bruch des „Schnittpunktes“ als bloßen Epochenbruch und somit als evolutionär-revolutionären Fortschrittsbruch zu verstellen, wird an der abnormen Liebe der modernen Kunst-Klientel zu den Gebilden Van Goghs und Pablo Picassos offenbar. Eine schon kultisch inszenierte und vollzogene Liebe, mit der und in der evident bewiesen erscheint, daß die moderne Malerei als gesteigerte Fortsetzung der vormodernen zu erfahren und zu begreifen ist. Adorno versuchte Ähnliches mit Arnold Schönbergs und Alban Bergs Musik, – mit unvergleichlich schwächerem Erfolg. Noch bezweifelbarer sind in der Gegenwart die hybriden Ansprüche der Architektur Corbusiers und der Skulptur Moores geworden. Ähnliche Lage der experimentellen Literatur.