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Kapitel XXIV

XXIV.

 

Blicken wir aus der Moderne von heute auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, in deren Gründen und Abgründen Baudelaire befangen und gefangen war, erkennen wir in dessen „chemischer“ Verbindung von Schönheit und Hässlichkeit den Beginn jener „virtuosen Spiele“ mit allen ästhetischen Grundideen, die der ästhetischen Moderne substantiell zugehören. Alle ästhetischen Kategorien, nicht nur jene der Idee der Schönheit (Schönheit, Erhabenheit, Hässlichkeit, Komisches), auch alle Stil-, Gattungs- und Werkkategorien (und mit diesen alle bisherigen künstlerischen Gesetzes- und Regelwerke von Form, Inhalt und Material) werden zu „Grenzkategorien“, die an jeder Stelle ihrer Grenze durchlässig gemacht werden, um sich als Chamäleons aller anderen erweisen zu können.

 

Alles wird „Überschreitungsfigur“ und damit die Karikatur zum innersten Lehrmeister ästhetischer Moderne, die freilich zugleich den vormodernen und noch bis heute (und morgen) unaufgebbar „klassischen“ Begriff von Karikatur „subversiv“ aufzuheben trachten muß.

 

Der Geist der Karikatur als immanente Hauptbühne des neuen „ästhetischen“ Geschehens ermöglicht eine permanente „Überschreitung“ aller Kategorieninhalte – nicht nur vom Schönen zum Hässlichen und umgekehrt – die freilich im Gegensatz zur Meinung und Satzung der Gegenpartei definiert werden muß. Für die vor- und antimoderne Definition von Karikatur bleibt bestehen, daß in dieser dem Hässlichen auf dem läuternden Weg des Komischen ein heilender Aderlass gewährt wird, eine Rückkehrmöglichkeit und -Wirklichkeit in die Affirmation von Schönheit, als Garant und Gewissheit einer Trag- und Bestandsfähigkeit von Welt und Kunst, nicht einer dauernden Verzweiflung an einer als sinnwidrig erkannten und gemeinten Welt und Kunst, die sich als „großartiges Scheitern“ auf die Podeste „großartiger“ Selbsternennung durch Insider-Urteile erheben lassen muss.

 

Wird also in „klassischer“ Definition Karikatur wie gehabt gedeutet, geschaffen und genossen, muß in ästhetisch moderner Perspektive eine Neudefinition des Geistes von Karikatur versucht werden, die behauptet, das Negative sei schon als Negatives positiv, das Schreckliche schon als Schreckliches seine Erlösung, das Hässliche schon als Hässliches schön.[1] Und diese vermeintliche, weil selbstgezeugte „Paradoxie“ definiert den Wesenskern von „ästhetischer Moderne.“

 

Nicht sei es Aufgabe der Karikatur, das Hässliche und Widersprechende kraft immanenter Komik und Unhaltbarkeit zu diskreditieren und von falschen Wahrheitsansprüchen zu erlösen, sondern im Sinne einer „wahren und verklärenden“ Darstellung und Protokollierung als Werkstringenz neuer Kunstschönheit zu observieren. Was so (schlecht und schrecklich) ist, wie es ist, das soll auch so sein und durch Kunst „verewigt“ und „verschönt“ werden, wie es ist. – Der (nicht nur) aristotelische Sollensanspruch an Kunst, das Inbild einer besseren, ja einer bestmöglichen Welt zu zeigen, in sein Gegenteil verkehrt.

 

Da aber zugleich nicht zu leugnen ist, daß nicht wenige Zustände moderner Kultur den Status immanenter Karikaturität erreicht haben, ist auch die Legitimität von Artefakten und Aktionen einer Kunst, die als ihrer selbst nicht bewusste oder nicht bewusst sein wollende (Selbst)Karikatur arbeitet, nicht zu leugnen. Und ebenso verständlich unser Flüchten in die Gefilde des Naturschönen, weil uns an diesem letzten Ort die Lügen einer trügerischen Kultur und Kunst angeblich nicht erreichen könnten. Doch wer Volksmusikgruppen und Schlagersänger auf Gipfeln via TV hat musizieren sehen und hören, weiß um die Grenze auch dieser ästhetischen Hoffnung, die durch eine mögliche Verpackung des Matterhorns durch einen modernen Verpackungskünstler, der als Meister moderner Skulptur gefeiert wird, nur bestätigt wird.[2]

 

Weniger verspielt und „ästhetisch virtuos“ als bei Baudelaire blieb Heines Ästhetik auf Hässlichkeit als soziales Phänomen fixiert. Im Gegensatz zur utopischen Hoffnung von Baudelaires ästhetischem „spleen“ stirbt bei Heine alle Schönheitsbefähigung und -berufung aktuellen Kunstschaffens an der Realität der modernen Gesellschaft, am Elend ihrer Industrialisierung, Proletarisierung und Verdinglichung. Die hässliche Prosa des bürgerlichen Alltags und des kapitalistischen Geschäftes würden Wahrheit und Schönheit mitten im Herzstück künstlerischen Phantasierens und Schaffens unwiederkehrbar voneinander trennen.

 

Es bleibe nur noch die „Wahrheit“ der banalen Realität als Stoff für eine „ästhetisch“ oder revolutionär werdende Kunstschönheit, die freilich bei Heine mehr berührt als bei Baudelaire, weil sie deren Ohnmacht illusionsfrei (mit)erkennt: Die Radikalen könnten zwar die „leidende Menschheit“ auf eine „kurze Zeit von ihren wildesten Qualen befreien“, aber dies lediglich „auf Kosten der letzten Spuren von Schönheit, die dem Patienten bis jetzt geblieben sind; hässlich wie ein geheilter Philister wird er aufstehen von seinem Krankenlager, und in der hässlichen Spitaltracht, in dem aschgrauen Gleichheitskostüm, wird er sich all sein Lebtag herumschleppen müssen.“[3]

 

[1] Ähnlich wie Ärzte bei fortgeschrittener beruflicher Kennerschaft und Virtuosität die „Gelungenheit“ von („schönen“) Tumoren und überhaupt von Krankheitsbildern zu bewundern pflegen. – Ähnlich kann ein moderner Karikaturist, der Christus – markterfolgreich karikiert hat – sich und sein Tun nicht nochmals karikieren. Seine Karikatur ist schon seine Karikatur.

[2] Mit der immanenten Komik und Melancholie der ästhetischen Moderne beschäftigt sich grundlegend Gerhard Gamm: „Nicht nichts.“ Frankfurt 2000.

[3] Heinrich Heine: Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben (1854), in: Heine, Werke und Briefe, hg. Von H. Kaufmann, Bd. 6(Berlin 1962), S. 325.