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Kapitel XXVI

XXVI.

 

Nicht nur weil Hegel und Nachfolger die künftige Leidensgeschichte der Menschheit nicht ahnen konnten, griffen sie die Potentiale zu einer Ästhetik (und Kunst) des Hässlichen, die in Hegels Ästhetik mehr als latent lagernden, nicht auf; ein nicht weniger wichtiger Grund war, daß sie an der christlichen Religion und dem Leiden des Gottes ein unübertroffenes vor sich hatten, mit dem sich kein menschliches messen sollte dürfen.

 

Die Perhorreszierung einer modernen Kunst, die sich anschickte, noch den letzten Versöhnungsscheinen von Kunst (und Religion) zu entlaufen, hatte eine theodizeeische Barriere, die nicht erst in Rosenkranz Ästhetik als unüberwindbar hervortrat. Daher der Versuch von Hegels Nachfolgern, dieser neuen Lage (und Barriere) durch eine Enthistorisierung des Begriffes von Kunst und Kunstschönheit (und damit auch von Hässlichkeit) zu entgehen.[1]

 

Denn die Frage: Unter welchen ästhetischen Maximen darf und soll sich – in und durch Kunst – ein schlechthin realistisches (unversöhntes und auch unversöhnbar sein sollendes) Bild des leidenden und des das Leiden verursachenden bösen Menschen oder einer gegen den Menschen gleichgültig sich verhaltenden Natur oder Kollektivmacht namens Geschichte zeigen dürfen?; und die daraus folgende Frage: wie ist eine Kunst des Hasses und des Zorns, der Marter und der Quälung, der Ermordung und Vernichtung, der Verbitterung und Verzweiflung, eine Kunst des radikalen Abfalls von allem, was die versöhnenden Affirmationen vormoderner Kunst ermöglicht und getragen hatte, mit der Vernunft und der (christlichen, aber auch jeder anderen) Religion des Menschen vereinbar?; – diese Fragen können in und mit Hegels Ästhetik nicht (mehr) positiv beantwortet, sondern nur negativ ausgeschlossen werden.[2]

 

Obwohl die Leiden jeder Epoche mit denen anderer nicht vergleichbar sind, weil jede Epoche die ihrigen als die ärgstmöglichen erfahren muß (da sie die künftigen noch nicht kennt und die der vergangenen Epochen nur als vorgestellte, wenn überhaupt, präsent hat), so hatte die Kunst der Vormoderne doch die Kraft, noch die ärgsten Leiden (kraft „unterirdischer“ Anleihen bei ihrer Religion) zu versöhnen, und noch inmitten der grausamsten Kriege befähigt und beauftragt zu bleiben, bedeutende Fortschritte in der Entdeckung ihrer noch unentdeckten Schönheiten zu machen, wie etwa die Musik des 17. Jahrhunderts, die kein modernes pouvoir und keinen geschichtlichen Auftrag vernahm, die Leiden und Grausamkeiten des Dreißigjährigen Krieges („realistisch“) zu vertonen.[3]

 

Weil die Leiden des vormodernen (christlichen)Menschen vom Leiden seines Gottes unendlich übertroffen wurden, blieben sie in das Versöhnungsangebot eben dieses Leidens auflösbar. Keine Dissonanz, die nicht ihre Konsonanz finden würde, und ob hienieden oder dort droben war von gleicher Gültigkeit, und daher der Himmel der Kunst von dem der Religion noch nicht streng geschieden.

 

Diese aus moderner Sicht „phantastische“ Einstellung, führte in der Autonomisierungs-Geschichte der vormodernen Künste zu deren Schönheit als anfangs begleitender und unterstützender Versöhnung, später zu einer, die an die Stelle der Religion selbst treten sollte können, eine Vorstellung, welcher repräsentativ der Vernunftglaube des Freimaurertums der Aufklärung huldigte, und deren einmaliger Musikant nicht zufällig eine Oper für erwachsene Kinder und kindgebliebene Erwachsene komponieren konnte, die diesen Anspruch bis heute unübertreffbar einzulösen scheint.

 

Auf dem Weg dieser Autonomisierungs-Entwicklung der vormodernen Künste hin zu ihrem modernen Status war daher alles Leiden und Hässliche, alles Böse und Grauenhafte ein sozusagen erlesenes Übungsgelände immer auch für die eigenen Zwecke: ein mögliches neues Kunstschönes zu finden und zu erproben. Eine (an sich eigensüchtige) Einstellung zur Religion, welche die bilderstürmenden Faktionen der christlichen Konfessionen bald erkannten und zu bekämpfen suchten; mit nur temporärem und lokalem Erfolg bekanntlich, der den Siegeszug der Emanzipationsbewegung samt allen ihren Eitelkeiten und Versuchungen nicht aufhalten konnte; und ebenso wenig konnte das Veto des gestrengen Vatikans im 16. Jahrhundert die Durchsetzung der revolutionären Schönheiten von Palestrinas neuen Kontrapunkt-Künsten verhindern.

 

Gerade weil die sich emanzipierende Kunst der europäischen Vormoderne an der anfangs allein darzustellenden heiligen Realität der Heilsgeschichte nicht auf antike Muster und Ideale zurückgreifen konnte und sollte, musste sie eigene Methoden und (triumphierende) Lösungen des Idealisierens der heiligen Realität suchen und finden; und waren diese gefunden, konnte das darzustellende Personal auf die weltlichen Eliten und deren Diener und urbane Umgebung, dann auch auf die Landschaft und schließlich auf die gesamte Lebensrealität der vormodernen Lebenskultur ausgedehnt werden.[4]

 

Weil die Einheit des religiösen Glaubens und des künstlerischen Tuns eine untrennbare, also naive, nicht durch Reflexion oder gar Unglauben zersetzbare war, erscheinen uns daher noch heute die bösesten und hässlichsten Häscher, die Christi sich nähern oder traktieren, als vergleichsweise schöne „Typen“, weil die vormoderne Idealisierung des Hässlichen ohne Suche nach vollendeten Exemplaren, Haltungen und Gesten, also nach dem Mustergültigen und Typischen gar nicht möglich war.

 

An dieser konnte keine der vormodernen Kunstwerkstätten, (nicht nur die der Malerei) vorbeigehen.[5] Man könnte daher, Hegel postlateinisch variierend, formulieren: Es ist in (idealen)Typen, daß die vormoderne Kunst zu uns spricht, und in dieser Definition ist auch das Wort und der Begriff „ideal“ nicht „untypisch“ zu verstehen, denn schon die Weise, das „Interessante“ des 19. Jahrhunderts in diese Logik der Typenbildung aufzunehmen, beginnt gegen die ideale Definition von ‚ideal’ und ‚typisch’ zu verstoßen.[6]

[1] Und es ist wohl nicht zufällig, daß am Ende der Vormoderne nochmals der Versuch einer Ästhetik erscheint, der Geschichte und Begriff der Kunst trennen möchte. Die moderne Kunst schien aus der Unendlichkeit des Vernunftbegriffes nicht mehr deduzierbar. Auch die genannten klassizistischen Ästhetiken (Vischer, Carriere, Hanslick und viele andere) versuchten es mit einer die geschichtliche Bewegung der Kunst gleichsam stillstellenden oder „ewig“ reproduzierenden Bewegung, einer gleichsam zeitlos sein sollenden, einer nur mehr um die eigene Achse rotierenden Kunst und Kunstschönheit. Auch als antimoderne Kunst, die keine der überkommenenen Gesetze und Regeln von Kunst hätte überschreiten dürfen, hätte sie ihr posthistoire nicht verhindern können, – im Gegenteil.

[2] Ein Künstler, der sein unversöhnbares Leiden an einer sinnlos erfahrenden Welt vollkommen hoffnungslos (das Wort der Vormoderne) beziehungsweise vollkommen illusionslos (das Wort der Moderne) darstellt, etwa Kafka, kann durch Hegels Ästhetik nicht als Künstler erfasst werden. Denn wer die Realität als unvernünftige verfälsche (würde Hegel sagen), habe nur ein individuelles Leiden und Verzweifeln dargestellt, eine individuelle Krankheit und Absurdität, die als dargestellte keinen Wahrheits- und daher keinen Schönheitswert besitze. – Wie aber, wenn eben diese Individualität, in einem Zustand kollektiven Leidens und Unglückes sich erfährt und aufschreibt, um eben dadurch mehr als ein bloß individuelles, eben ein repräsentatives aufzuschreiben, in dem sich daher auch die Künstler zuerst wiedererkannten, und alsbald nicht nur die Künstler, sondern eine immerhin respektable Lesergemeinde jenseits der (unbesiegbaren) Riesengemeinde moderner Unterhaltungsleser und immer noch traditioneller Romanleser? – Was unterscheidet Kafka von Kleist?

[3] Auch hier preschte die Form des Romans vor: Grimmelshausen und andere.

[4] Vgl. Leo Dorner: (Essays) „Dürers Selbstbildnis 1500“ auf dieser Homepage.

[5] Eine „Musikwerkstatt“ dieser Art war etwa die der Mannheimer Periode, als sich die Gattung der Sinfonie auf den Weg ihrer Selbstfindung zu machen begann. – Daß aber das erreichte „Mustergültige“ das „ewige“ Missverständnis des Klassizismus enthält, dem schon Aristoteles nicht widerstehen konnte, versteht sich. Clementis Sonaten waren gewiß mustergültig, aber es fehlte ihnen das „Typische“ jener Individualisierung, durch die in Beethovens Sonaten ihr wirklich vollendetes Ende jeglicher vormodernen Typenbildung erreicht werden konnte. Auch das Mustergültige und Typische der vormodernen Kunst-Geschichte geschah nicht jenseits ihres Fortschritts und Fort-Ganges. – Keine wiederholbare (als Klassizismus reproduzierbare) Klassik der Musik sein zu können, zeichnet die Klassik der Wiener Klassik aus. Sie allein war es wirklich, – dem christlich-neuzeitlichen Entwicklungsweg einer sich autonomisierenden Kunst entsprechend. Die vormodernen Klassiken der Einzelkünste der christlichen Periode konnten – im Unterschied zur antiken – nur als verschwindende Knotenpunkte geschichtlich erscheinen.

[6] Wagners Opernmelodien sind gewiß interessanter als jene Volkslieder, die in seinen Opern als Staffage und Zitat auftreten dürfen, aber sie sind über den Typ der naiven Typenbildung hinaus, und sie sind auch schon zu raffiniert, um nochmals auf Mozarts Weihen und Lorbeeren Anspruch erheben zu können. – Moderne Kunst kann nur reflektierte Typen erzeugen, die durch die Zersetzung der naiven und vormodern klassischen (Stil und Gattungs-)Einheit von Form, Inhalt und Material nicht nur hindurchgegangen sind, sondern diesen Durchgang auch nicht überleben können und sollen. – Noch Kafkas paranoide „Helden“ sind „Typen“, aber der Sinn von Typus hat nun alle vormodernen Inhalte, Maßstäbe und Idealitäten in sein Gegenteil verkehrt. Und nicht anders und doch in seiner Weise anders agiert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ seine Modernität und Reflektiertheit aus.