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Kapitel XXVIII

XXVIII.

 

Alle vormodernen Künste haben die geschichtliche Entwicklung ihrer Autonomisierung abgeschlossen, sie sind nur mehr als moderne existenzmöglich; in ihr posthistoire eingetreten, haben sie alle vormodernen Hierarchien ihres Formwesens wie ihrer Inhalte (die Auftrags- und Bedeutungshierarchien des Geistes der vormodernen Eliten, denen sie einst als Selbstausdruck dienten)hinter sich gelassen.[1] Der Willkür bloßer Kunsteliten und der Anarchie des Marktes ausgeliefert, müssen sie in einer Expertenkultur existieren, in der nun zwar der Künstler das Zentrum ist, aber nur jener, der den Durchbruch in die Prominenz geschafft hat. Inhaltlich und formal wie material kann jede Möglichkeit von Kunst Wirklichkeit werden, – kein Kunstexperte wird sich scheuen, selbst noch (selbst)erklärte Anti-Kunst als Kunst anzuerkennen und in den diversifizierten Kanon des Marktes einer speziellen Kunst aufzunehmen.[2]

 

Die These, daß eine Kunst, die nur mehr als Marktkultur existiere könne, für Leben und Geist des modernen Menschen unwesentlich und überflüssig werden müsse, verkennt, daß die moderne arbeitsteilige Gesellschaft nicht nur die Produktion der Künste, sondern generell jede Produktion, und nicht nur die Produktion, sondern auch alle sogenannten Dienstleistungen, in welche Domäne die Kunst nun die (Un)Ehre hat, aufgenommen zu werden, über Märkte und deren Konkurrenz anbieten muss.

 

Die Produktion von Kunst ist somit auf einen Kunstkonsumenten angelegt, der durch die unendlichen Räume des unendlichen Angebots nach partikularen und individuellen Geschmacks- oder Besitzmaximen streunt und sich nimmt, was ihm gefällt, oder was ihm als (mit)nehmenswert eingeredet wurde. Unter unzähligen Sonderwelten kommt es auf eine mehr oder weniger nicht mehr an, vorausgesetzt, sie kann sich in der Anarchie der Märkte (wenigstens für einige Zeit) existenzfähig erhalten.

 

Rudimente der vormodernen Hierarchien des Lebens von Kunst finden wir nicht nur an den höheren Schulen der Kunst- und Musikausbildung (siehe Anmerkung 206), wir finden sie, allerdings um den Faktor Masse multipliziert, auch auf den Märkten aller Unterhaltungsgenres, die daher nicht bloß als Marktkultur, sondern nochmals als wirkliche Lebenskultur gelebt werden, wenn auch auf dem Niveau einer absinkenden Unterhaltungskultur.

 

Doch auch deren Angebot ist in eine unübersehbare Vielfalt diversifiziert, und die Regression der modernen Gesellschaft in eine sogenannte Spaßgesellschaft hat auch deren sogenanntes Kulturbedürfnis limitiert, es hat sich, trotz aller Gleichheit und Toleranz, eine Zweiklassenkulturgesellschaft gebildet, die öffentlich vollkommen tolerant zu agieren pflegt. Dennoch gilt: Wer die Wonnen eines Popkonzertes oder eines Musikantenstadels goutiert, dürfte die einer Kunstbiennale oder einer modernen Musiktheater-Oper in der Regel verschmähen, – und umgekehrt.[3]

 

Die vollständige Autonomie, welche die vormodernen Künste als moderne erreichten, führte zu deren vollständiger Gleichberechtigung im Verhältnis zueinander und zur modernen Gesellschaft. Dies widerspricht erstens nicht nur dem vormodernen Zusammenleben dieser Künste, es widerspricht überhaupt dem Geist dieser Künste, der die Grenzen seiner hierarchisch organisierten Rückkehr aus der äußerlichsten Äußerlichkeit in die innerlichste Innerlichkeit nur gewaltsam sprengen kann.

 

In den vormodernen Stadien dieser Künste waren die Aufgaben der Einzelkünste im Dienst an Religion und Gesellschaft der gemeinsamen Lebenssache und den Bedürfnissen der führenden Eliten gemäß gegliedert und funktional begrenzt; es war geregelt und organisiert, welcher Kunst welche Freiheit oblag, die des absoluten Geistes (der höchsten und tiefsten Freiheit vormoderner Gesellschaft) – später auch des nationalen – verbindlich zu versinnlichen und festlich darzustellen. Und diese „Regelung“ nahm auf die begrenzten Möglichkeiten der vormodernen Einzelkünste genaueste Rücksicht.

 

Während daher im System des Geistes von Kunst und Geschichte alle Künste gewissermaßen erst in der Dichtung und deren Geist ihre Kulmination erfahren,[4] scheinen sie als moderne in gleichgeistiger Weise befähigt, die Freiheit der Kunst und darüberhinaus die des modernen Menschen auszudrücken, an welchem Widerspruch zweitens ersichtlich wird, daß diese Freiheit der modern gewordenen Künste der Vormoderne nur mehr eine von und für Kunst sein kann und soll, nicht mehr die des innersten und absoluten Geistes der modernen Gesellschaft.[5]

 

Während daher zwischen den zu sich und ihrer Gleichheit befreiten Künsten jede nur denkbare Symbiose eingegangen werden kann, jede ersonnen, veranstaltet und inszeniert werden kann, ist die Freiheit des modernen Menschen über jede dieser Äußerungen immer schon hinaus, die Freiheit der Künste kann ihn weder nochmals wirklich überraschen noch zu irgendeiner Freiheit, die über die der Kunst hinaus- und in den Grund von Gott, Welt und Mensch hineinreichte, befreien.[6]

 

Dies auch der Grund dafür, daß alle Künste ihre eigenen Abteilungen und Richtungen fürs „Magische“ und „Spirituelle“ einrichten mussten, selbstverständlich mit eigens dafür gerüsteten Chefkünstler und Kommentar-Rhetoren. Nun scheint jede Kunst einen direkten Draht zum Innersten und Absoluten zu besitzen, und an diesem Märchen wird ebenso eifrig gewoben wie gesprochen.

 

Dazu kommt drittens das historische Faktum, daß alle vormodernen Künste, nach Erlangen ihrer vollständigen Gleichberechtigung, unerbittlich auf die Macht der technologischen Künste treffen, auf deren völlig neue Arten und Weisen, die moderne (und die historische) Welt darzustellen und zu reflektieren, und ebenso auf deren soziale Reichweiten, die alle vormodernen um den Faktor Masse und Globalität übertreffen.[7] Neuerlich ein Appell zu neuen Symbiosen, in denen die vormodernen Künste endgültig als vormoderne verschwinden könnten.[8]

 

In der vormodernen Kultur verfügen die vormodernen Künste über einen direkten Draht zum Innersten und Absoluten vormoderner Freiheit nicht infolge der materiellen und formalen Spezifität (oder gar autonomen Differenzierung und Entgrenzung) ihrer Art von Kunst, sondern zuerst und zuletzt durch jene Inhalte, welche die Religion und die regierenden Eliten den Einzelkünsten zuwiesen, damit diese, allerdings nach deren je aktuellen Entwicklungsstufen (unterwegs zur totalen Autonomie), die Aufträge erfüllen. Gotische Architektur verdankt sich gotischem Geist, nicht sich selbst und noch weniger umgekehrt. Die Freiheit der gotischen Architektur verdankte sich einer neuen religiösen Freiheit, die durch deren architektonische Vergegenständlichung konkrete („kathedrale“) Urbanität wurde.

 

Selbstverständlich ist moderne Architektur Ausdruck modernen Geistes, aber dieser ist keiner von Religion, welcher der Architektur Aufträge erteilen könnte, an deren Normenideale der Architekt sich halten müsste; auch keiner irgendeiner Elite der modernen Gesellschaft, die dem Architekten Aufträge erteilte, die auf verbindliche Schönheitsideale zurückgreifen könnte; nicht einmal eine Elite von Technokraten vermag die Autonomie des Architekten und seiner technologischen Galeeren zu binden. Einzig der Geist der modernen Marktgesellschaft und ihrer sich rapide entwickelten Technologien bindet den modernen Architekten und dessen aktuelle „Zunftästhetik“, die im Fall der Architektur, urbanste aller Künste, den aktuellen sozialen und politischen Zweckdienlichkeiten am wenigsten unter allen Künsten sich entziehen kann.

 

New Yorks Ground Zero soll nicht nur das Gedenken an die Opfer des Massenmordes von 9/11 durch Mahnmale und Inschriften tradieren, es soll auch, nach Auskunft der beauftragten Architekten, durch einen 1776 Fuß hohen „Freedom Tower“ ein architektonisches Zeichen der modernen westlichen Welt setzen, ein Symbol der Freiheitswelt, nicht zuletzt gegen eine unfreie (vormoderne) Welt, die der freien Welt einen auch daher „asymmetrischen“ Krieg um die Weltherrschaft erklärt hat. Gewiß wird es unter den unzähligen Eliten New Yorks und der USA kaum eine geben, die diesen Auftrag zur Zeichen- und Symbolbildung nicht mitträgt; aber wie diese Zeichen und Symbole architektonisch sich gestalten sollen, darüber entscheidet zuerst die Phantasie der Architekten, und diese rangiert, mangels Idealnormen architektonischer Art, im Rang eines Erfinders von (je neuer) Architektur.[9]

[1] Allenfalls an den höheren Schulen der Kunst- und Musikausbildung finden wir in der modernen Gesellschaft noch Rudimente der vormodernen Hierarchien. Mitunter sogar einen unwillkürlichen Gradus ad Parnassum der Werke und Stile, welcher der Entwicklung der Künste folgt, um an der Grenze zur Moderne zu kollabieren oder ungeachtet des (Ab)Bruchs, der die Moderne von der Vormoderne trennt, illusionär fortgeführt zu werden. – Nicht zufällig waren viele moderne Künstler stolze Autodidakten ihrer Kunst, beispielsweise Schönberg und Karkoschka, ein verständlicher Bruch, denn wie sollte eine traditionelle Ausbildungsstätte für eine Kunst ausbilden können, die mit der Tradition brechen muß. Mittlerweile existiert beides – das Traditionelle und das Moderne – scheinharmonisch zusammen, wie es das erreichte posthistoire einfordert.

[2] Expertenkultur und Anarchie des Marktes bedingen einander, weil die Partikularität der Experten mit der Partikularität und Individualisiertheit der Kunstproduktion mitgehen muß; der „Experte“ ist zwar immer auch Macher der Künstler, aber diesem Machen setzt die Anarchie des Marktes Grenzen, weil sich auf seinen Plätzen und in seinen Nischen eine unbeherrschbare Vielfalt des Angebots einfindet, die kein Macher und Experte – etwa durch Kultur- oder Kunstleitbilder – nochmals steuern kann. – Kunstmessen, Biennalen, Kunsthallen (der neue Name für den aussterbenden „Museum“) und ähnliche Einrichtungen sind daher unersetzlich und marktstrukturierend geworden. Es sind die „Salons“ des Marktes, nicht der (arbeitsteilig differenten) Eliten der modernen Gesellschaft.

[3] Obwohl die Unterhaltungsgenres der Künste ins Lebenszentrum der modernen Kulturspaßgesellschaft gerückt sind, (vermutlich nach den Genres des Sports gereiht) müssen auch sie nun von „Experten“ begleitet, kuratiert, kommentiert und prominentisiert werden (als Orientierungshilfe für den zunehmend desorientierten Spaßkulturkunden), – und oft genügt dabei der Status von „Promi“, um weitere „Superstars“ machen zu helfen. Freie Marktanarchie und Überbevormundung interagieren fröhlich und belangvoll: jedem Tierchen sein Pläsierchen.

[4]Weshalb wir die kräftigsten Zeugnisse, Beschreibungen und Erörterungen aller nichtsprachlichen Künste der vormodernen Epochen, die noch kaum („wissenschaftliche“) Wissenschaften der Künste kannten, der vormodernen Dichtung und Prosa verdanken.

[5] Nicht nur im Bewusstsein der Massen dürften die Aktien der Musik höher stehen als die der zu Literatur und Schriftstellerei säkularisierten Dichtung; und die moderne Architektur dürfte dem Nennwert der modernen Malerei kaum hinterherhinken. Schon gibt es Ausstellungen über die Ästhetik moderner Museumsbauten.

[6] Jede noch erzielbare Überraschung kann die beiden Termini ad quem moderner Kunstfreiheit: zum einen durch Kunst frei und anders „denken“ und „reflektieren“ zu lernen, – und zum anderen durch Kunst befähigt zu werden, mit „allen Sinnen“ sich und die Welt zu erleben, nicht mehr überbieten. Die zweite Freiheit versorgt der Film unüberbietbar, obwohl ihm Gerüche und Getaste in der Regel gleichgültig bleiben, und die erste erregt und befriedigt jeder moderne Lexikonartikel von einiger Tiefe und Aktualität; die Wissenschaftskunst einer mehrautorigen Artikel-Erarbeitung (Wikipedia), die sich um die Arbeit des Begriffes und die (multimediale) Erörterung seiner Phänomene verbindlich bemüht, ist auf der Höhe moderner Reflexions- und Sinnenfreiheit.

[7] Alle vormodernen Künste bezogen sich vorsäkular auf Religion und Philosophie und ebenso auf die erst noch entstehenden wissenschaftlichen Weltbilder: anfangs kultisch, dann theonom, schließlich unschuldig schön, weil die erste Autonomie ihres Geistes diese Blüte ermöglichen sollte und mußte. (Palestrina-Bach-Mozart)

[8] Sterben die Eliten, die ein elitäres Kunstleben der vormodernen Künste tragen müssen, stirbt die Fortsetzbarkeit ihrer bisherigen Tradierung. Ein „demokratisches“ Kunstleben funktioniert nur als unterhaltendes.

[9] Anders als die vormoderne Gesellschaft von ihrer Architektur, lässt sich die moderne Gesellschaft von ihren Star-Architekten überraschen, was nicht ausschließt, daß jeder Entwurf erst noch dem Spießrutenlauf unzähliger Gegenstimmen und zuvor schon – kein Bauen ohne einschlägigen Wettbewerb – die Phalanx der Gegenentwürfe besiegen muß. – Erst dann darf CAAD (Computer Aided Architectural Design) die digitale Kette vom Entwurf bis zur Endausführung des Plans realisieren. Computerprogramme, anfangs für militärische Zwecke, später für Luft- und Raumfahrt sowie in Design und Produktion der Automobilindustrie eingesetzt, bestimmen das moderne Architekturbüro, in dem Reißschiene und Tusche ausgedient haben.