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11 Eine neue Musik aus dem Geist des Dreiklangs?

Eine neue Musik aus dem Geist des Dreiklangs?[1]

 

Was sich zunächst wie ein neuerlicher Anlauf des musikalischen New Age ausnimmt, erweist sich näher besehen als fundamentaler Anspruch einer Musikphilosophie, die mit den Kategorien des harmonikalen Pythagoräismus und der vorneuzeitlichen und barocken Trinitätstheologie die musikalische Moderne gleichsam von oben her überwinden möchte. Ausgemacht gilt solcher Philosophie, dass allein eine Letztbegründungstheorie tonaler Provenienz der im 20. Jahrhundert in eine beispiellose Krise geratenen Kunstmusik aus der Sackgasse helfen könne.

Eine Krise, die von langer Hand vorbereitet wurde, glaubt man Erwin Schadels Angaben über den Übeltäter. Die neuzeitliche Subjektivität mit ihrem „nominalistischen Subjektozentrismus“, verantwortlich zunächst für die Trinitätsvergessenheit der Neuzeit, habe schließlich bei den Komponisten der Moderne zum atheistischen Sündenfall im Reich der Musik geführt. Unter der irrigen Annahme, die Tonalität sei für die Zwecke hoher Kunstmusik erschöpft, habe man die Atonalität samt Folgen als musikalische Variante des Nihilismus frevelhafterweise musikgeschichtsfähig gemacht. Dies sei umso erstaunlicher, weil es sich bei der auf dem Dreiklang basierten Tonalität um ein in dem ewigen Seinsgrund der Trinität prästabiliert verankertes Tonsystem handle, das so wenig abnützbar sei wie die grammatikalische Struktur des indogermanischen Satzes. Ein Verstoß auch gegen das ewige harmonikale Gedächtnis der Menschheit, in dem die ewigen Proportionen der Urintervalle – Oktave, Quinte, beide Terzen – auf Grund lägen, um der Musik in naher Zukunft ein letztes und höchstes Andocken an das Absolute zu ermöglichen – eine „Musik als Trinitätssymbol“, eine gewissermaßen neue und zugleich ewige Barockmusik, diesmal unter Mithilfe einer „pneumatischen Chromatik.“

Schweres Geschütz also gegen alles, was die musikalische Moderne hervorgebracht hat, aber nicht nur gegen diese. Auch die Theorie der Musik hätte insgeheim auf derartige Thesen gewartet, da diese erstmals in umfassender Begründung die reine Wahrheit über Wesen und Sinn der Musik zutage förderten. Alle bisherige Theorie, die transzendental dialektische, die phänomenologische, und ohnehin alle empirisch geborene, hätte nicht vermocht, was nötig gewesen wäre, um das musikalische Unheil dieses Jahrhunderts zu verhindern: Tonalität und tonale Musik als unüberbietbare Repräsentanten des ewigen trinitarischen Seinsgrundes zu entschlüsseln. Dies zu leisten verspricht nun die „harmonikale Ontologie“ – und mehr noch: mittels analogischer Trinitätstheologie sei das Geheimnis des einen und ewigen Wesensgrundes der Musik auch als Prinzip aller Musikgeschichte theoretisch einsichtig und praktisch verfügbar zu machen. Ein völlig neues Kapitel sei fortan aufzuschlagen – in Musikgeschichte und Musiktheorie.

 

Ratio versus Mythos: Trinität

 

Nun ist es schon musikgeschichtlich erstaunlich, die Stimme der Theorie von einer Ontologie der Musik reden zu hören – inmitten einer Zeit, die unter ihrer rasend gewordenen Geschichtlichkeit stöhnt, zittert und sich fürchtet und zugleich ihrer musealen Geschichtslosigkeit ratlos gegenübersteht. Entsprechend hoch ist das Bußgeld für das gewagte Unternehmen: Es bedarf eines kräftigen Schrittes hinter die Neuzeit zurück, um die Gegenwart und Zukunft der Musik zu retten. Denn das in ontologischen Rang aufrückende „Kreativitätszentrum“ der Musik findet sich nicht in den Ontologien am Gipfel der Neuzeit. Die pythagoräischen Heiligtümer der musikalischen Grundintervalle werden weder an der Kantischen Stammtafel angezeigt, noch begegnen wir ihnen im Kategorienlabyrinth von Hegels Logik. Sie sind – wie die Grundelemente aller traditionellen Künste – in die Länder der Realphilosophien und Kunstwissenschaften ausgewandert und harren dort bis heute der Entdeckung ihres speziellen Apriori.

Dieser säkularen Entwicklung widersetzt sich die harmonikale Ontologie mit Feuereifer und beinahe religiöser Inbrunst. Ist der Dreiklang die Musik in nuce, dann verdankt sich alles dessen Entwicklung – alles sowohl in der theoretischen Ableitung der Elemente, alles auch im praktischen Gang der Musikgeschichte. Während die Gegenwart noch dem Vorurteil huldigt, die konkrete Musikgeschichte als Schlachtfeld der Stile und Werke, ihrer Kompositions-, Interpretations- und Rezeptionsweisen verstehen zu wollen, hätte sie eben damit das Wesentliche der Musik versäumt.

Dieses Wesentliche sei die gleichsam geschichtslose Selbstdarstellung des Dreiklanges in den epochalen Entwicklungsspiegeln der Musikgeschichte. Und nur der harmonikalen Ontologie entberge sich der uns verborgene innerste Sinn der Musikgeschichte, nämlich eine mehr oder weniger geglückte Darstellung des harmonischen Senarius[2] zu sein.

Worauf gründet sich nun die neopythagoräische Überzeugung vom musikalischen Alleserzeuger und ästhetischen Endzweck Dreiklang? Auf die unreflektierte Gleichsetzung von Analogien mit Deduktionen, auf die undurchschaute Identifikation von stets analogischen Gleichungen mit vermeintlichen Begründungen. Am Grunde dieser Ontologien liegt ein Schluss von Analogien vor Anker, der seinen bloßen Analogie-Charakter mit antineuzeitlichem Stolz zur Schau stellt. Die Eckpfeiler der Analogien, welche die Pfahlbauten des Systems zusammenhalten sollen, lauten: a) zuunterst der trinitarische Seinsgrund – in der vorneuzeitlichen Formulierung durch die Theologie seit Augustinus; b) darüber die Resurrektion der barocken Musiktheorie mit ihrer musiktheologischen Apotheose des Dreiklangs; c) sodann die neopythagoräische Obsession an die Intervallproportionen als musikalischen Letztbegründungsinstanzen; und schließlich d) die neorameausche Fixierung an die Obertonreihe als „obertonaler“ Begründungsinstanz.

 

Vermeintliche Logik als theoretische Begründungsinstanz

 

Diese Basiselemente, durch Analogien verbunden, sollen eine tragfähige Ontologie der Musik ermöglichen, mit den Intervallproportionen des Dreiklangs im Begründungszentrum und dessen Ausfaltung – die Schadelsche Uranalogie – zu Diatonik, Dur-Moll-Tonalität und Chromatik an der Peripherie. So wird etwa der Dreiklang als musikalisches Inbild der Trinität reklamiert, und der Nachweis dieser musikalischen analogia entis erfolgt in echt mittelalterlichem Geist durch einen autoritativen Zitatenreigen durch die abendländische Trinitätstheologie. Was die harmonikale Liebe des Autors den senarischen Intervallen injiziert hat, lässt sie sich durch eine Demonstration per autoritatem bestätigen. Daher entzieht sich der harmonikalen Proportionslogik und ihrer trinitarischen Analogisierung das Entscheidende: dass der Dreiklang nicht als trinitarisch überhöhte Proportions-, sondern als harmonielogische Funktionseinheit qualitativ unterschiedener Intervalle aufgefasst werden muss, um transzendentaler Grund für einen musikalischen Bewusstseinsakt zu sein, der eine universale Intonation von zusammengehörigen Intervallen ermöglicht.

Dass der trinitarische Metaphern- und Proportionenkosmos, der sich hierbei mit bewundernswerter Gelehrsamkeit entfaltet, nicht leistet, was er wähnt, geleistet zu haben, zeigt sich auf allen Ebenen der theoretischen Ableitung und ihrer vermeintlichen Anwendung auf den Prozess der Musik in ihrer Geschichte. So müssen es sich die genannten Gebilde der senarischen Ausfaltung gefallen lassen, durch proportionstheoretische „Komplexitätsreduktion“ auf die trinitarisch überhöhten Proportionen der Intervalle hin analogisiert und dadurch für abgeleitet gehalten zu werden. Diatonik und Dur-Moll-Tonalität sind aber nicht nur ein eigenständiger Funktionenkosmos, in dem die Proportionsverhältnisse als integrierte aufgehoben sind. Handschin vermochte die vor-durmoll-tonale Diatonik gänzlich ohne Dreiklangslogik durch funktionale Quintengenerierung abzuleiten. Die Funktionsgebilde sind auch ohne ihre syntaktische und idiomatische Gestaltung im Stil der Epochen und Werke nicht adäquat zu begreifen.

Die trinitarisch proportionstheoretische Ontologie der Musik verkümmert zu einer harmonikal-theologischen Ästhetik der Elemente, die die konkret funktionale und semantisch prozesshafte Bewegung der Musik in ihrer Geschichte außer sich hat: Peinlich spürbar bei der unhaltbaren Deutung der spätromantischen Chromatik, die sich wegen einer Vernachlässigung der quinthaften Diatonik zugunsten der distanzlosen Terz in eine falsche Süßlichkeit und zuletzt, also wegen eines harmonikalen Verstoßes, in die Atonalität hätte verirren müssen. Die chromatische Struktur ergäbe sich aus der Verbindung von oktavhaftem Dreiklang und quinthafter Diatonik, folglich ist sie terzhaft, ein vollendetes Terzereignis, das versöhnt in den Dreiklang zurückzukehren hätte. Dem widerspricht die konkrete musikgeschichtliche Chromatik; der Respekt der Spätromantiker vor dem Dreiklang war dürftig, und dies nicht aus harmonikalen Gründen. Die Dreiklangsontologie prallt auf die schmerzhafte Spitze der widersprechenden Musikgeschichte, denn die Chromatik der Spätromantik kann auch in einem harmonikalen System nicht als verirrt gebrandmarkt und zugleich als Systemvollendung gepriesen werden.

Dennoch arbeitet sich in dieser Musikphilosophie der Schematismus trinitarischer Analogisierung, die vermeintliche Allwirksamkeit des trinitarischen Prinzips, durch alle Ebenen der Tonalität und ihrer Musik. Das Oktavhafte, das Quinthafte und das Terzhafte begegnet uns daher auch als vermeintliches kategoriales Grundgerüst für die Kadenzgestalten des Vierstimmigen Satzes. Und auf der höchsten Stufe sei die tonale Musik zuletzt – sub specie aeternitatis – als oktavhafte Harmonik, quinthafte Melodik und terzhafte Polyphonie zu begreifen. In solch überbordenden Analogien, die von fern an die Dreierschematismen der orthodoxen Hegelschüler erinnern, ist vom in-sich-kreisenden Geist des harmonikal trinitarischen Denkens, nicht vom Geist der Musik in ihrer Geschichte die Rede. Von Musik-Geschichte – einzig möglicher Ort musikalischer Theophanie – vom Geist der Stile, ihrer Syntax und Idiomatik, vom Geist der Werke, ihrer radikalen Individualisierung seit 1800, von der abendländischen Entwicklung einer tonalen Klangsyntax, der etwa Roland Eberlein[3] nachspürte, wird uns kaum mehr als das Gerippe gezeigt.

 

Brüchigkeit des ästhetischen Wunschdenkens

 

Der postmodernen musikalischen Trinitätstheorie entgeht zudem, dass ihr Ansatz ohne die von ihr ausgiebig verteufelte Neuzeit nicht ersinnbar wäre. Ihre Anleihen bei den Errungenschaften der neuzeitlichen Subjektivität sind zahllos und ihr Versuch, diese gegen ihren neuzeitlichen und modernen Sinn zu bürsten, die Grundaporie ihres Unternehmens. Nicht nur ist der Dreiklang als harmonische Intervalleinheit eine Errungenschaft von Tonsystem und Tonsatz der neuzeitlichen Mehrstimmigkeit und ihrer Säkularisierung seit dem musikalischen Barock. Dieser Epochenbruch war mehr und anderes als eine bloße „historische Phasenverschiebung“ zwischen einer nun wahren, weil dreiklangsgegründeten musikalischen Praxis und einer noch mangelhaften Musiktheorie innerhalb der trinitarisch denkenden mittelalterlichen Theologie und Philosophie – noch bei Athanasius Kircher ist die Quarte, nicht die Terz, trinitätsfähig. Weder garantiert das trinitarische Denken des Mittelalters das tiefste Verständnis musikalischer Wirklichkeit noch sind Kompositionsweise und Werkgestalt des musikalischen Barock als ewiges Muster für heutiges und künftiges Komponieren zu verabsolutieren.

Zwangsläufig führt die trinitarisch-harmonikale Deutung zu einem völlig ungeschichtlichen Dreiklangsverständnis: Neuzeit und Barock hätten Dreiklang und Terz bloß wiederentdeckt. Immer schon hätten die Urintervalle die musikalische Praxis bestimmt, eine These, die nicht dadurch zu beweisen ist, dass die quantitativen Proportionen der musikalischen Intervalle per analogiam auch an den äußeren Gestaltproportionen von natürlichen und anderen Gegenständen aufzufinden seien. Auch verführt das omnipotente Selbstverständnis des harmonikalen Denkens, das meint, aus Intervall-Proportionen den geschichtlichen Epochenkosmos aller Musik ableiten zu können, zu einer abstrusen Theoriehybris. Antike und Mittelalter hätten auf Dreiklang und Terz als Basiselemente verzichtet, weil Pythagoras die „Naturterz“ als Harmonie noch nicht zugelassen hätte.

Weiters verdankt sich auch die Dur-Moll-Tonalität als vermeintlich vollendete Ausfaltung des Dreiklanges nicht der Fortsetzung, sondern der Überwindung des mittelalterlichen Proportionendenkens durch eines in Funktionen, das keine Rücksicht mehr auf außermusikalische Heteronomien in Gestalt kirchlich-theologischer Trinitarien oder vermeintlich kosmischer Relationen nimmt. Die mehrstimmig geführten Akkorde des freien tonalen Satzes, die seit Dufays Kehre von 1435 zum musikalischen Mikrologos der schlüssigen (parallelen, plagalen, authentischen) Kadenz und zum Makrologos eines geschlossenen Systems von Tonarten führten, sind nicht durch analoge Übertragung der senarischen Urintervalle zu begreifen. Ganz abgesehen davon, dass auch der religiöse Komponist des Barock nicht den Dreiklang als Gehalt seiner Musik meint, wenn er ihn als Mittel für höhere als harmonikale Zwecke verwendet.

 

Problemfall: temperierte Stimmungssysteme

 

Dass die temperierte Stimmung ein Paradefall einer nichttrinitarischen Unterwerfung des musikalischen Tonhöhenmaterials ist, sollte einleuchten. Dennoch wird der temperierte Ausgleich der Halbton-Kommata im Sinne einer prästabilisierten Zwölftonordnung der Intervalle gedeutet, womit sich der harmonikale Ansatz auf das Geleise seiner dodekaphonen Gegner begibt, die mit Schönberg und Pfrogner die diatonische Siebenordnung als Spezialfall einer temperierten Zwölfordnung begreifen wollten. Durch keine harmonikalen Analogien und Anleihen bei der biblischen und vorchristlichen Zahlenmythologie des Quantums zwölf ist jedoch der temperierte Halbton als neues Intonationsgrundintervall einer „pneumatischen Chromatik“ zu begründen. Es sprengt den Ansatz, wenn am Ende nicht der Senarius, sondern die Zwölfzahl temperierter Halbtöne der harmonikale Garant einer letzten „höchsten musikalischen“ Kontaktaufnahme mit der göttlichen Seinsharmonie sein soll. Ähnlich tappte bereits Hauer mit seinem atonalen Weltmelos von Gnaden eines atonalen Weltenbaumeisters in die Falle der temperierten Stimmung und fetischisierten Zwölfzahl – es waren lediglich die täuschenden Attrappen einer neuen Musik und Musikalität.

Die harmonikale Theorie unterschlägt den von Hindemith beklagten Fluch der allzu leicht errungenen Tonverbindung mittels temperierter Stimmung. Wird diese verabsolutiert, etwa auf der Tastatur des Klaviers, steht der Verabsolutierung einer vermeintlich intonierbaren atonalen Chromatik nichts mehr im Wege. Die vielen illusionären Selbstbegründungsversuche atonaler Tonsysteme müssten allerdings ein warnendes Beispiel sein. Übersehen wird, dass die moderne Chromatik als geistiges Kind der temperierten Stimmung das Resultat der Aggregatsumme von diatonischen Skalen ist, die auf allen temperierten Stufen errichtet werden können, und zugleich geistiges Kind der konkreten Werk- und Stilgeschichte: der Individualisierung und Nominalisierung der musikalischen Sprache im 19. und 20. Jahrhundert.

Daher ist es auch unmöglich, durch eine vermeintlich harmonikale Deduktion der temperierten Chromatik eine – tonale – „pneumatische“ Kohärenz einzubilden, die uns eine verbindliche neue chromatische Mehrstimmigkeit samt neuem Kontrapunkt und Harmonik bescheren könnte. Schon die musikhistorische Tatsache, dass Dodekaphonie und Serialität aus der spätromantischen Chromatik hervorgingen, müsste überzeugen, dass eine chromatische Mehrstimmigkeit jenseits der spätromantischen, die es an Universalität und Entwicklungskraft mit der traditionellen des strengen und freien Satzes aufnehmen könnte, weder zu unseren musikgeschichtlichen Aufgaben noch Möglichkeiten zählt. Die Chromatik mit diatonischem Rückhalt ist längst musikgeschichtliche Realität geworden, ohne doch zu einer neuen „pneumatischen“ Musik globalen Anspruchs geführt zu haben. Denn die Sept- und Nonakkorde samt ihren chromatisierbaren Skalen auf jeder Stufe, deren sich der Jazz bedient, bleiben in der Regel an tonale Vollzüge gebunden. Dennoch hat der Jazz weder mit Trinität noch mit trinitarischen Strukturen etwas im Sinn, da sein sportiver Gebrauch von Tonalität und Chromatik diese lediglich als Transportmittel für rhythmisch dominierte Improvisationen verwendet, ohne eines eigenen chromatischen Tonsystems und Tonsatzes zu bedürfen.

 

Teilton-Spektren als harmonikales Konstrukt

 

Zu den ungedeckten Anleihen bei den Errungenschaften der Neuzeit zählt weiters, dass die harmonikale Theorie das rameausche Epochenvorurteil teilt, aus der Anordnung der Obertonreihe ließen sich Kategorien zur Beurteilung der Grundintervalle, etwa harmonisch, konsonant, dissonant usf., ableiten. Der Grund für die Nötigung dazu ist naheliegend: Zwischen den theologischen Kategorien und Metaphern für die Trinität hier und der harmonikalen Absolutsprechung der Dreiklangsintervalle als Urharmonie dort klafft ein Abgrund. Eine direkte Subsumption unter die Trinität setzte sich im 20. Jahrhundert dem Vorwurf aus, ein beliebiger Glaubensartikel zu sein, ungenügend auch den Ansprüchen verbindlicher Ontologie. Folglich soll der Subsumierung der Schein wissenschaftlicher Empirie und Verifikation zuteilwerden. Aber diese Anleihe bei der neuzeitlich naturwissenschaftlichen Akustik rettet nicht eine unhaltbare Konstruktion. Denn eine Theorie, die die Dreiklangsintervalle als unübersteiglich harmonische ermitteln möchte, muss dies allein aus einer – stets funktionalen – Logik der Intervallbeziehungen, ohne Rückgriff auf deren Teiltonspektren, die lediglich die Differenzen der Klangfarben repräsentieren, leisten. Die diesbezüglichen Argumente Hauptmanns, Handschins und Ansermets, wonach das Obertonfeld nicht als Begründungsressource für die musikalisch konkreten Intervallbeziehungen fungieren kann, sind unhintergehbar. Das rameausche Epochenvorurteil sollte also zumindest in den Köpfen der philosophischen Musiktheoretiker ausrottbar sein. Dass der „obertonale“ Rückgriff unhaltbar ist, müsste jedem schon an der Fehleinschätzung der Schönberg-Schule aufgehen, wonach sich der Unterschied von Konsonanz und Dissonanz lediglich einer musikhistorischen Gewöhnung an diverse Obertonfelder verdanken sollte. Auch Martin Vogels[4] Naturseptime könnte dereinst noch in den erlauchten Kreis der Urharmonie aufgenommen werden, ließen sich die transzendentalen Urfunktionen der Dreiklangsintervalle durch „Einbeziehung“ von Obertonfeldern erweitern. Weder „Abbildung“ noch „Einbeziehung“ noch eine physiologische Massage des musikalischen Unbewussten konnten die ideologische Analogisierung von realen Intervallbeziehungen mit bloßen Teiltonbeziehungen retten. Wenn sich aber selbst die (einzel)wissenschaftlich gezeugten Analogien der Neuzeit als unhaltbar entpuppten, wie dann erst die neopythagoräisch gezeugten einer trinitarisch harmonikalen Musikontologie.

Zuletzt müssen für die kritisch beleuchtete „Trinitäts“-Theorie auch noch die großen Komponisten der Neuzeit – etwa Bach, Mozart, Beethoven – obgleich doch der Epoche „nominalistischer Subjektozentrik“ angehörig, in den Dienst der harmonikalen Elementenästhetik treten. Einzelstellen aus ihren Werken werden stets so interpretiert, als seien sie Belege für eine adorierende Darstellung der harmonikalen Elemente des Senarius, während sie doch nur Belege für die Engstirnigkeit der harmonikalen Obsession sind, in der Musik drehe sich alles um den Dreiklang. Konsequent wird dann Neue Musik jenseits der Tonalität als sinnlos, weil seinswidrig bezeichnet und die aberwitzige These aufgestellt, die Dodekaphonie sei im Dritten Reich verworfen worden, weil sie ähnlich repressiv gewesen sei wie die Diktatur des Regimes. Schadel verkennt, daß die Dodekaphonie zerfiel, nicht weil sie ein „repressives System“, sondern weil sie als Tonsystem und Tonsatz überhaupt nicht möglich gewesen war. Und deren Komponisten und Repräsentanten wurden aus Gründen verfolgt, für deren Schändlichkeit sich auch das harmonikale Denken nicht hergeben sollte, auch nur den Anschein einer Rechtfertigung zu liefern.

 

Intellektueller Zirkel: Henne oder Ei?

 

Die harmonikale Ontologie, der Gefahr steter Überreduktion ausgeliefert, verfällt deren methodischem Wahn: kommt alle Musik aus dem Dreiklang, und kommt der Dreiklang aus der Oktave, so resultieren handfeste Urwesen, jener Aberglaube an das Erste und Ursprüngliche, der jeden Ansatz spezieller Ontologie im 20. Jahrhundert korrumpiert und für regressive Ideologien anfällig macht. Dies berührt den Kern der harmonikalen Methode; denn was diese unter „Ableitung“ versteht, ist stets eines durch Analogien, deren letzter – nicht mehr analoger, sonder realer – Grund in gewissen Zahlenproportionen liegen soll. Eine wirkliche Ableitung hat es aber mit den ursprünglichen Qualitäten der Sache als Bestimmungen ihres Begriffes zu tun; nur auf diesem Weg ist der Autonomie der Sache gerecht zu werden und die Heteronomie theologischer Analogiekategorien, harmonikaler Proportionskonstanten wie auch die Pseudogeometrie räumlich vorgestellter Teiltonproportionen zu durchschauen. In der harmonikalen Denkweise wird daher die Besonderung des Prinzips der Sache immer nur als Verdopplung eines urhaft Ersten gedacht. So soll die Quinte unmittelbar als Echo aus der Oktave hervorgehen, und diese soll das eigentliche Wesen jener sein. Und die Terz „fließe“ durch proportionsanaloges Hervorgehen aus der in der Obertonreihe oktavierten Quinte. Unverkennbar ist die Anstrengung des harmonikalen Denkens, Proportionen der Obertonreihe als disponierendes Unbewusstes für alles musikalische Bewusstsein zu behaupten. Aber die Kürzung der Partialbrüche der Obertonreihe auf die realen von wirklich intonierenden Intervallen, etwa von 4:6 auf 2:3 einer Quinte von ganzen Tönen, hat unser Bewusstsein immer schon vollzogen, wenn es eine Quinte intoniert und hört.

Da Schadel die Begründung musikalischer Intervalle gemäß einer Analogie mit den mathematischen Proportionen der Intervalle denkt, diese wiederum in der Obertonreihe vermeintlich akustisch-empirisch gegeben vorfindet, glaubt er die spezielle Funktionalität musikalischer Intervalle, die stets durch deren syntaktische Relationen mitbestimmt wird, aus den Obertöneproportionen abgeleitet und dem Kodex einer ewigen Tonalität eingeschrieben zu haben. Aber nicht nur ist die musikalische Funktion der Intervalle geschichtlichem Wandel unterworfen, sie ist auch nicht direkt auf die Relationen quantitativer Verhältnisse zu begründen. Denn die Grundproportionen sind im transzendentalen Bewusstsein musikalischer Intonation nur als aufgehobene, als syntaktisch integrierte fähig, Grundfunktionen in musikgeschichtlich konkreten Tonsätzen und Musizierweisen zu übernehmen. Und wie sich die Proportionen in den Funktionen, müssen sich auch diese wieder in der Praxis des Komponierens, Musizierens und Hörens als Ausdrucksmittel für ästhetische, religiöse und andere Zwecke opfern. Musikalische Elemente zur Finalbedingung der musikalischen Praxis zu erheben, ist die Ursünde des harmonikalen Denkens.

Da Schadel die qualitative Negation als Hegelschen Nihilismus verteufelt und verwirft, muß er das „Energiefeld“ Obertonreihe als undurchschauten und illusionären Statthalter seiner analogisierten Trinität in Anspruch nehmen. Konsequent wird ihm die Oktave zum Geist aller Geister, zum Wesensvater aller musikalischen Elemente. Und am Wildwuchs der Metaphern und Analogien ist dann unschwer die Grenze und das Scheitern einer Theorie zu erkennen, die nicht vermag, was sie so gern sein möchte: Grund aller musikalischen Gründe. Dies ist auch der Grund dafür, daß ständig harmonikale Analogien an außermusikalischen Gebilden aufgesucht werden, um sich den Glauben an die absolute Begründungsmacht der Intervallproportionen zu bestätigen. So sollen etwa die Grundformen der Diatonik und Dur-Moll-Tonalität den Elementarstrukturen des Satzes der Wortsprache: Subjekt-Kopula-Prädikat entsprechen. Die vielfach behauptete Abnutzung der Tonalität sei daher so absurd wie die Behauptung, Sprache werde durch Sprechen abgenutzt. Offensichtlich blendet sich der harmonikale Geist selber durch Fetischisierung falsch verewigter Formen sein Wahrnehmungsorgan für semantische Veränderungen. Wenn schon ein externer Vergleich zwischen Sprache und Musik, dann wäre hier ein Hinweis auf den konkreten Gang einer Sprache, etwa der deutschen durch ihre Entwicklungsstufen von Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch, angebracht gewesen.

Gegen das neuzeitliche Denken, speziell gegen das dialektische und das der musikalischen Moderne, wird schließlich noch der Vorwurf des Machbarkeitswahns erhoben. Aber dieser Vorwurf fällt auf Schadels Ansatz zurück; denn gegen eine Theorie, die durch harmonikales Know-how vermeint, eine neue absolute Musik affirmativen Gehaltes einleiten zu können, sind die atonalen Versuche und Werke der „nominalistischen Subjektozentriker“ des 20. Jahrhunderts geradezu harmlos. Und auch an Arvo Pärts Pseudos des Rückgriffs, für obiges Konstrukt reklamiert, müßte aufgehen, daß die Tonalität weder noch einmal zur Frische und Jungfräulichkeit des 17. Jahrhunderts aufgemöbelt noch als dur-moll-spezifische mit einer ewig prästabilierten Dreiklangs-Sprache von Musik gleichgesetzt werden kann.

Schadels harmonikaler Perspektive erscheint es rätselhaft, daß die Tonalität von den Komponisten des 20. Jahrhunderts in Frage gestellt wurde. Aber noch rätselhafter müßte ihm erscheinen, daß die zu quasi-sakralen Ehren erhobene Tonalität in den öffentlichen und privaten Tempeln der Unterhaltungsmusik, die als tonale zur Weltmusik geworden ist, säkulare Omnipräsenz gewonnen hat. Die Menschheit hat sich längst um das mediale Lagerfeuer des Kleinen Einmaleins von Dreiklang und Diatonik und deren metrisch-rhythmischen Gesponsen geschart, um dem neuen Gesang des Great-Song-Book zu lauschen. Die Sorge um den Fortbestand einer vom Dreiklang geführten Musik trägt Eulen ins digitalisierte Athen der Musikgeschichte. Und ebenso ist die Suche nach harmonikalen Bedingungen für eine neue tonale Kunstmusik anachronistisch, da der Glaube, sie stehe als „pneumatische Chromatik“ musikgeschichtlich vor der Tür, lediglich eine er unzähligen Facetten des postmodernen Komponierens erreicht. Die Behauptung aber, die Tonalität sei nur an ihrer Oberfläche, nicht jedoch in ihrem ewigen Seinsgrund abnützbar, der Dreiklang sei zu allen Zeiten ein und derselbe, ist ebenso unwahr wie die These, der Ganges sei für uns derselbe Strom wir für die verschiedenen Entwicklungsstufen des Hinduismus.

Aller Kritik zum Trotz ist es das Verdienst von Schadels voluminöser Darstellung der harmonikalen Tradition, mit deren Axiomen wieder vertraut gemacht und die aktuelle Diskussion über verbindliche musiktheoretische Grundlagen bereichert zu haben. Eine Diskussion, die vom Relativismus der Musikhistorie ebenso wie vom naturwissenschaftlich akustischen und empirisch psychologischen Reduktionismus wegkommen muss, soll sie dem Beliebigkeitsdenken der Gegenwart in Sachen Musik begegnen. Gerade diese Situation hätte freilich zwingen müssen, über Wesen und Grenzen der harmonikalen Methode zu reflektieren, nicht deren Vorurteile unreflektiert – lediglich um eine theologischen Analogie-Unterbau erweitert – auf die eigene Tradition und die der Musik anzuwenden.

 

 

Erschienen in: Österreichische Musikzeitschrift 1999, Heft 9; S. 21-31.

[1] Rezensionsaufsatz über eine Publikation zur harmonikalen Musiktheorie, die für eine radikale Erneuerung der Kunstmusik auf tonaler Grundlage plädiert: Erwin Schadel, Musik als Trinitätssymbol. Einführung in die harmonikale Metaphysik. Frankfurt/Wien 1995. (Schriften zur Triadik und Ontodynamik Bd.8)

[2] Senar, Senarius: eigentlich der dem griechischen Trimeter entsprechende lateinische Vers mit sechs jambischen Versfüßen; von der harmonikalen Musiktheorie vom Metrum auf die Harmonik übertragen. Die Proportionszahlen der Dreiklangsintervalle sollen letzter und erster Grund für den Dreiklang sein, also für eine ursprünglich harmonische Einheit im Reich der Intervalle, und diese Einheit soll wiederum erster und letzter Grund der Musik überhaupt sein.

[3] Roland Eberlein, Die Entstehung der tonalen Klangsyntax. Frankfurt/Wien 1994.

[4] Martin Vogel, Die Naturseptime – Ihre Geschichte und ihre Anwendung. Bonn 1991.