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25 Moralischer Weltfortschritt und Schopenhauers Mitleidsmoral

 

I.

 

Wodurch neue Weltzustände in die Welt treten, ist im Fall technischer Innovationen und politisch-militärischer Eroberungen evident: Die Erfindung fliegender Fahrzeuge ermöglichte einen Himmel voller Flugzeuge; und die Entdeckung Amerikas und anderer Erdteile ermöglichte das Zeitalter des Kolonialismus. Wodurch aber werden neue moralische Weltzustände Realität, etwa eine Welt ohne Sklaverei, eine Welt mit staatlich organisierter Armenfürsorge, nicht zuletzt der moderne Sozialstaat, den das heutige Europa als Vorbild für die Zukunft aller Kontinente und Kulturen empfiehlt?

Vier Antworten scheinen zuzureichen, die Frage nach der komplexen Kausalität des Woher, Wodurch, Womit und auch des Wozu neuer moralischer Weltzustände aufzuklären. Es sind entweder hervorragende Einzelpersonen, Pioniere und Revolutionäre einer neuen politisch-moralischen Welt; oder es sind Weltzustände, in denen „die Zeit reif wurde,“ unhaltbar gewordene Weltzustände zu verabschieden; oder es sind schlicht und einfach nur die Prinzipien, nach denen sich Einzelne und Weltzustände organisieren und motivieren, wenn sie zur Tat der großen Veränderung schreiten; oder es sind schlußendlich spezielle Institutionen der je aktuellen Weltzustände, die eine Vorreiterrolle bei der Konzipierung und Durchsetzung neuer Weltzustände übernehmen.

Weil das „oder“ zwischen diesen Antworten kein trennendes Oder sein kann, folgt wie selbstverständlich deren Zusammenfassung in die Einheit einer einzigen Antwort. Kein Einzelner ist nur ein Einzelner; kein Prinzip ist schon deswegen auch ein wirksames; kein Weltzustand als solcher ist handelndes Wesen; keine Institution ist außerhalb von Staat, Gesellschaft und Kultur möglich. Eine formale Antwort (auf die formale Frage nach der Kausalität von moralischer Weltveränderung), die formal bleibt, auch wenn wir „Weltzustand“ durch eine Reihe von Institutionen wie Staat, Kirche, Stadt, Gemeinde, Verein, Gesellschaft usf. näher beschreiben. Und dennoch eine vernünftige Antwort, weil formale Antworten den Vernunft-Vorteil haben, regulativ auf alle möglichen Weltzustände und deren Wechsel und Besserungen anwendbar zu sein. Beispielsweise auch auf negative Veränderungen der Weltzustände, auf Veränderungen nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren.[1]

Und warum nicht auch auf aktuelle Änderungen von Weltzuständen, bei denen noch ungewiß ist, ob, wann und durch welche Strategien und Ereignisse sie gelingen könnten? Die Verwandlung der Zweiten, der islamischen Welt in eine, die mit den moralisch-politischen Standards der Ersten Welt wird mithalten können, steht erst am Anfang ihres entscheidenden Stadiums von Revolution und Umwälzung. Welche Einzelnen folgen dabei welchen Prinzipien in welchen Institutionen konkreter Staaten, Gesellschaften oder auch nur Guerillaverbänden, um das Ziel der Mission entweder zu Fall zu bringen oder erfolgreich zu vollenden? Ist ein Weltkrieg unvermeidlich oder vermeidbar, die dramatische Alternative zwischen Scheitern und Gelingen zu entscheiden?

In der Mutation der Ersten Welt zu einer neuen moralischen und politischen Welt war die Überwindung von Sklaverei und Leibeigenschaft, ebenso die Durchsetzung von staatlicher Armenfürsorge und flächendeckendem Sozialstaat gewiß nur ein Aspekt im Prozeß der gesamten Weltumwälzung Europas und Amerikas. Dennoch kein peripherer und unwesentlicher, weil Freiheit und Gleichheit Zentralbegriffe (und zugleich handlungsbefähigende Motive und Motoren) der Umwandlung waren. – Sie sind es auch für die Umwälzung der Zweiten Welt in eine Erste.

In gewisser Weise, könnte man daher unterstellen, stehe die Zweite Welt am Anfang des 21. Jahrhunderts ebendort, wo sich die Erste Welt, jedenfalls in Europa, am Anfang des 19. Jahrhunderts befand. Die damaligen Revolutionen und Kriege standen zwar auch schon unter dem verhängnisvollen Prinzip eines Kampfes der europäischen Nationen gegeneinander, nichtsdestotrotz zugleich auf dem Weg zu Demokratie und neuer politischer Moralität im Zeichen von Freiheit und Gleichheit. Und auch darin war der formale System-Kontext von Einzelne-Prinzipien-Institutionen-Staaten ein permanentes Regulativ der Geschichte, jenseits dessen Geschichte als Geschichte so wenig wie Geschichte als moralischer Fortschritt denkbar ist.

 

II.

 

Man hat der Kirche, vornehmlich der katholischen, oft die Frage gestellt, wie es geschehen konnte, daß sie als Institution einer Religion der Barmherzigkeit in den Epochen ihrer triumphalen Regentschaft, als sie noch führend an der politischen Macht partizipierte, verabsäumte, Sklaverei und Leibeigenschaft als zutiefst unchristlich und verwerflich zu erkennen und zu beseitigen. Die theologisch-kirchlichen Antworten auf diese Frage fielen und fallen gekonnt historistisch aus: Der Geist jener Epochen wäre für die neue Freiheit und Gerechtigkeit noch nicht reif gewesen. Und da der Geist der Kirche immer auch jenseits der Zeit und Geschichte wohnhaft sei, sei es nicht Aufgabe von Religion und Kirche, weder in den Macht- und Prinzipienwechseln der weltlichen Geschichte endgültig Bescheid zu wissen noch auch in diese führend und machtvoll einzugreifen.

Ob diese Variante des christlich-kirchlichen Selbstverständnisses ein Erbstück der langen Tradition mönchischen Ordensdenkens ist, sei dahingestellt. Daß sie mit ihrer gegenteiligen Variante nicht problemlos harmoniert, ist bekannt: Ein Kloster ist eine Welt für sich, aber Klöster waren und sind stets auch Ausgang missionarischer Orden – nicht erst neuerdings weltweit und „global.“

In jener Welt, der innerkirchlichen, genügt es, in der Wiederkehr göttlicher Zeit, in der kollektiv erinnerten Heilsgeschichte zu leben, also das natürliche Jahr von Erde und Sonne sowie das säkular-politische Jahr der aktuellen Weltgeschichte in ein stationär um sich kreisendes Kirchenjahr zu verwandeln. Dieses bleibe frei und unbehelligt von den stets in neuer Gestalt wiederkehrenden Krisen, Kriegen und Unheilen der Geschichte.

In dieser Welt, der außerkirchlichen, wären aber die „Zeichen der Zeit“ jeweils und allerorten zu erkennen, um dieser Erkenntnis gemäß in die Geschichte doch auch geschichtlich, irdisch, menschlich einzugreifen. Sind aber der Heilsgeschichte keinerlei konkrete politische Prinzipien für anstehende Veränderungen und Fortschritte zum Besseren in der Geschichte zu entnehmen, erklärt dies auch das Mangelhafte jener historistischen Antwort von Theologie und Kirche über deren vormoderne Verfehlungen. Stets erst nachträglich werden daher allgemeine Prinzipien der Religion, etwa Nächstenliebe, die angeblich in Judentum und Islam nicht grundlegend wäre, als ermöglichender Grund für jene säkularen Revolutionen und modernen Veränderungen der Geschichte in Anspruch genommen.

Und „nachträglich“ ist nicht harmlos gemeint und nicht harmlos vollzogen: „Deutsche Christen“ beispielsweise verkannten, daß sich das historische Novum Hitlerdeutschland nur höchst problematisch und verhängnisvoll mit den Prinzipien des Christentums vereinbaren ließ. Ihr Irrtum hinterließ die Einsicht, daß religiöse Grundprinzipien prinzipiell zu allgemein und zu unpolitisch sind, um die „Zeichen der Zeit“ vernünftig im Sinne des moralischen Fortschritts erkennen zu können. Religiöse Wahrheiten bewahren nicht vor politischen Irrtümern. Analog dazu konnten und können sich russische Christen dazu überreden, einen orthodoxen Kurs pro Stalin und pro Putin als wahren christlichen Kurs zu glauben. Und zu diesen Übeln der verkannten oder nicht erkannten „Zeichen der Zeit“ kommen bekanntlich die theologisch-religiösen hinzu, denn auch Kirchenspaltungen und Religionskriege fielen und fallen unter „Zeichen der Zeit.“

Das religiöse „Erkennet die Zeichen der Zeit“ ist somit als Quietiv eines utopischen Postulats erkennbar. Was schon daran ersichtlich wird, daß es so viele Zeichen wie Deutungen gab und gibt: unübersehbar viele und keine von verbindlicher, keine von verbindender Kraft und Macht.

 

III.

 

Bekanntlich ist das formale Regulativ-System „Einzelne-Prinzipien-Institutionen-Staaten“ nur die eine, nur die vordergründige Seite der Medaille. Die andere Seite der Geschichte ist die materiale, weil stets neue Inhalte auf das Fließband Geschichte gehievt werden, teils durch ruhige, oft sogar unbemerkte Evolutionen, teils durch heftige Revolutionen, die sogar Instanzen, die von Gottes Gnaden eingesetzt waren, über Bord werfen.

Um nun beim Aufspüren und Durchsetzen neuer Weltzustände die Position des heroischen Einzelnen zu stärken und sogar als allein führende Instanz zu fundamentieren, greift man oft und gerne in die Kategorien-Schatzkiste der Entdecker-, Erfinder- und Eroberer-Zunft. Der „Pionier“ des Neuen erscheint plötzlich als unverdächtige und überzeugende Gestalt, um die Botschaft von heroischen Einzelgründern neuer moralischer Weltzustände und Weltentwicklungen verkünden zu können.

So wird beispielsweise der Unterhausabgeordnete William Wilberforce als jener „einzige Mann“ präsentiert, auf dessen Antrag im Jahre 1807 der Sklavenhandel im Britischen Empire verboten wurde.[2] Oder Graf Rumford (1753-1814) wird als „Abenteurer der Wohltätigkeit“ und „Pionier der Armenfürsorge“ vorgeführt, der in Amerika Schulen für Soldatenkinder und Arme geschaffen, zudem „Sparöfen und die berühmte Rumfordsche Suppe aus billigsten Stoffen erfunden“ hatte.[3]

Nun wäre es billig nachzuweisen, daß weder Kolumbus noch Cortés noch die Erfinder des Autos und der Glühbirne auf einer einsamen Insel als erleuchtete Einzelgänger wirkten. Auch ließen sich ungezählte weitere Altruisten der Armenfürsorge und staatlichen Wohlfahrt anführen, die gleichzeitig mit dem berühmten Suppenerfinder als heroische Mitbegründer und Akteure der ersten Stunde tätig waren.

Und hinsichtlich der Revolutionierung des Verhaltens der christlichen Welt zur Sklavenfrage könnte schon ein oberflächlicher Rückblick zeigen, daß quer durch die Erste Welt und gegen den Widerstand Spaniens, Portugals und Rußlands in einer Mehrheit von Staaten und Kolonialterritorien die Abschaffung von Sklaverei und Leibeigenschaft vorangetrieben wurde.

Schon drei Jahre vor der einschlägigen Erklärung des Wiener Kongresses wurden für die Länder der Habsburgischen Monarchie – mit dem Inkrafttreten des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Jänner 1812 – Sklaverei und Leibeigenschaft verboten. Denn jeder Mensch, verkündete der §16 des ABGB, habe angeborene, „schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als Person zu betrachten. Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht, wird in diesen Ländern nicht gestattet.“

Folglich erhebt sich der Verdacht, der Versuch, auserwählte heroische Einzelne als alleinige Begründer, Erfinder und Durchsetzer weltgeschichtlicher Veränderungen, auch für moralische, zu positionieren, könnte dem (prinzipienlosen) Prinzip „Zufälligkeit“ in der Geschichte der Menschheit geschuldet sein. Eine Denkweise, die „Kontingenz“ als Erst- und Letztbegriff für Geschichte und Geschichtsphilosophie beantragt, weil das Gegenteil undenkbar sei. Ein Denken in und für Fortschritte, gar in moralischen Belangen, würde die Möglichkeit nichtkontingenter Entwicklungen in der Geschichte unterstellen.

Dies aber sei ebenso naiv und unrealistisch wie konstruiert und idealistisch. Wozu aber „Heroen“ für zufällige Entwicklungen und zufällige „Prinzipien“, für neue Weltzustände und neue Moralen, die sich durch beliebige andere ersetzen ließen? Das Kontingenzdenken muß sich den Vorwurf, selbstwidersprüchlich zu argumentieren, gefallen lassen. Zufällige Heroen für zufällige Inhalte und Zwecke sind weder sinnvoll denkbar, noch wurden sie jemals in der Menschheitsgeschichte gesichtet.

Da sich überdies aus einer empirischen Erhebung der Umstände und Faktoren geschichtlicher Bewegungen und Veränderungen, auch von weltumwälzenden Revolutionen, sei es zum Guten oder Schlechten, niemals deren rechtmäßige Fortschrittlichkeit (oder unrechtmäßige Rückschrittlichkeit) ableiten läßt, kann die Frage, ob Kontingenz oder Nichtkontingenz in der Geschichte arbeite, wühle und (wenn überhaupt) vorwärtstreibe, niemals auf empirischer Ebene allein gestellt oder gar beantwortet werden.

Der Kontingenzstandpunkt argumentiert solitär, nominalistisch und selbstwidersprüchlich: Wenn sich nicht zufällig Einzelne gefunden und als machtvoll Wirkende betätigt hätten, wäre es nicht zu großen und nachhaltigen Veränderungen gekommen. Der Nichtkontingenzstandpunt argumentiert universal und prinzipatorisch: Wenn nicht der Sog und die Kraft neuer Prinzipien und Ideen anfangs Einzelne, dann viele und deren gesellschaftliche Verbindungen erweckt und aktiviert hätten, wäre die Entwicklung des Novums unmöglich erfolgt. Solipsistischer Individualismus gegen holistischen Universalismus: Wobei jedoch dieser imstande ist, jenen als Moment zu integrieren, sogar als notwendiges Moment vorauszusetzen und als Mittel einzusetzen, nicht aber kann jener, die Lehre vom zufällig, aber „heroisch“ agierenden Einzelkämpfer, das „Moment“ von Idee und Prinzip integrieren.

Für das radikale Kontingenzdenken ist die Geschichte ein Reigen von Zufällen, zu dem die „Heroen“, im Guten wie im Bösen (eine Gleichstellung, die den Kontingenzglauben vollendet), die Musik machen, die Trommel schlagen, die Trompete blasen und schlußendlich auch noch die Posaunen des Jüngsten Gerichts ertönen lassen.

Nach dem Kontingenzdenken könnte man der These, die Menschheit könnte immer noch auf der Stufe rechtmäßigen Kannibalismus verharren, wenn sich nicht zufällig Befreier von dieser auch wiederum zufällig eingetretenen Kultur des Kannibalismus eingefunden hätten, mit keinem Argument widersprechen. Mit anderen Worten: wer die Geschichte der Menschheit nicht als Kampf um ein fortschreitendes höheres Recht begreift, kann nicht verbindlich von Geschichte als verbindender Menschheitsgeschichte denken und reden, noch auch dementsprechend – moralisch qualifiziert – handeln.

Wäre den Deutschen ein deutscher George Washington beschieden gewesen, wären sie vorbildliche Demokraten geworden; wäre den Amerikanern der schwierigen Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts ein Hitler beschieden gewesen, hätten sie als begeisterte Anhänger einer rassistischen Diktatur versucht, die ganze Welt zu unterwerfen. Dergleichen Naivitäten richten sich selbst: als dezisionistische Zufallsannahmen, deren verkappte Prophetien sich durch sich selbst hätten erfüllen können. Zufallsdenken ist stets nur eine Variante von Wunschdenken.

 

IV.

 

Am Streit um Menschenrechte für Sklaven und Leibeigene sowie am Kampf um die Entwicklung eines neuen Sozial-Staates, der nach 1800 in der Ersten Welt sein kritisches Stadium erreichte, läßt sich exemplarisch einsehen, daß der Kampf um jeweils höheres Recht im Zeichen höherer moralischer Zwecke die Geschichte der Menschheit als moralische Geschichte vorantreibt. Ein zufälliger Kampf, ein vergeblicher Kampf? Weil erstens doch nur bestimmte kontingente Mächte der Geschichte, damals die Gegner von Spanien, Portugal und Rußland einen Konsens erzielten und diesen – zunächst auch nur in ihrem Machtbereich – durchsetzten? Und weil zweitens Armenfürsorge und Wohlfahrtsstaat mittels falscher Begründung durch falsche „Heroen“ wären durchgesetzt worden – wie die Einwände Kierkegaards im Zeichen eines verkannten Christentums und Schopenhauers im Zeichen einer verkannten Mitleidsethik belegen?

Wir sahen, daß formale Regulative und deren Erklärungssysteme in der moralischen Fortschrittsfrage nicht orientieren und nicht entscheiden können. Das gute wie das schlechte Neue muß den formalen Regulativen der Menschheitsgeschichte folgen.[4] Was aber rettet die inhaltlichen Konstitutive der Geschichte davor, aus relativer – spezifischer – oder totaler – immerwährender – (Macht)Kontingenz zu entspringen? Noch jeder (barbarische) Weltzustand der Menschheit war dereinst rechtmäßig und überdies religiös und moralisch begründet und gelebt: Der Kannibalismus nicht weniger als jede der vielen Kulturen, die noch heute von westlichen Kulturhistorikern als „Hochkulturen“ beschrieben werden, obwohl sie menschenverachtende Rituale (Menschenopfer als permanenter Götterdienst) praktizierten.

Offensichtlich kann die vorhandene Rechtmäßigkeit gegebener Weltzustände nicht das Rettende (in) der Geschichte sein. Denn erstens sind viele und sehr verschiedene Welt- und Kulturzustände noch gegenwärtig und für vermutlich lange Zeit geschichtsmächtig. Und unter diesen sind einige, deren moralisch-politische Normen nicht mit den Moralen der Ersten Welt übereinstimmen, die ihrerseits um die Weiterentwicklung ihrer Standards bemüht sind. Die Unterschiede der unterschiedlichen Rechtszustände in der Ersten Welt scheinen allerdings vernachlässigbar im Vergleich zum großen Gefälle zur Zweiten und Dritten Welt. Ein Gefälle, das mehr ist als nur ein Rahmen für den unvermeidlich gewordenen „clash of civilizations.“

Gäbe es aber gar keine verbindlichen Prinzipien, nach denen sich zwischen gutem und schlechtem Novum unterscheide ließe, könnte wiederum nur das „Prinzip“ relativer (Macht)Kontingenz als fragwürdiges Kriterium Geltung erlangen. Moralische Zwecke könnten nicht als Selbstzwecke eingesehen und durchgesetzt werden. Auch hätten wir in diesem Fall keine Kriterien, zwischen den vielen Rechtmäßigkeiten aktueller Kulturen jene zu bevorzugen und zu ermächtigen, die offen und mutig für neue moralische Zweckmäßigkeiten und deren Verbindlichkeit und Entwicklung eintreten. Wir müßten das Resultat eines Kampfs aller Kulturen gegen alle als „Gottesurteil“ abwarten und anerkennen.

Die Kollision von moralischer und machtbegründeter Rechtmäßigkeit wird auch am Vetorecht der Großmächte im UN-Sicherheitsrat ersichtlich. Obwohl sich in den Charten der UNO eine Mehrheit fand, die forderte, daß nicht Macht und Machtkontingenz, sondern Vernunft unter den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit entscheiden und die Menschheit vorwärtsbringen soll. Aber trotz dieses Widerspruchs gilt immerhin: de jure sind Sklaverei und Leibeigenschaft weltweit und „global“ überwunden und der soziale Wohlfahrtsstaat der Ersten Welt übt seine Sogwirkung nach wie vor auf alle Kulturen aus.

 

V.

 

Wer versucht, die Ursprünge des modernen Wohlfahrtsstaates zu erkunden, wird auf die Massenverelendung durch die industrielle Entwicklung stoßen. Weil der vormoderne Ständestaat mit den Folgen dieser Entwicklung heillos überfordert war, entstanden an der Wende zum 19. Jahrhundert neue, transkirchliche Formen einer gesellschaftlich organisierten Fürsorge und Wohltätigkeit. Die Stunde der heroischen Philanthropen eröffnete die Ära einer neuartigen Human- und Zivilreligion, weil offensichtlich auch die kirchlichen Systeme des Ständestaates die Grenzen ihrer Armen-, Kranken- und Sterbefürsorge erreicht hatten.

Während die katholische Kirche immerhin schon 1891 die Zeichen der Zeit erkannte – der „Arbeiterpapst“ Leo XIII. hatte „Rerum Novarum“ schreiben lassen, die „Mutter aller späteren Sozialenzykliken“ -, scheinen Sören Kierkegaard, Existenz-Christ der ersten Stunde nach Hegel, unlösbare Schwierigkeiten mit der neuen Zeit belästigt zu haben. Während der Papst das „freie Spiel der Kräfte“ für gescheitert erklärte und den späten Stände-Staat seiner Zeit unter die Kuratel neuer Pflichten nahm, fand der dänische Philosoph und Theologe mehr als ein Haar in der Suppe der neuen Fürsorge für neuartige Arme und Erniedrigte.

Die Erfolge der weltlichen Heiligen, denen sogar Denkmäler errichtet wurden, erregten seinen existentialchristlichen Zorn. Mit der organisierten Armenfürsorge, so der erboste Zelot eines zeitlosen Christentums, das sich zu jeder Zeit quer und abseits stellen müsse, habe die Gesellschaft lediglich einen neuen Weg zum Reichtum gefunden – und zwar der Helfer und Fürsorger – somit die „Charakterlosigkeit einer modernen Heuchelei.“

Tatsächlich war der Erfinder der Rumfordschen Suppe als reicher Mann in den Adelstand erhoben worden. Und mit nicht weniger Abscheu las Kierkegaard von enormen Reichtümern, die sich der französische Literat Eugène Sue mit Romanen über das Elend des Pariser Proletariats erschrieben hatte. Der Verfasser der „Mystères des Paris“ (seit 1843) trete „für die Sache der Armen ein und verdient eine halbe Million daran.“[5]

Hinter diesen Invektiven stand das theologische Argument, eine Vereinnahmung und Transformation des Christentums in eine Religion des Mitleids verkenne und mißbrauche den wahren Auftrag und die wahre Botschaft der wahren Religion Gottes.

Das frühere Christentum („in Altertum und Mittelalter“) habe noch „Sinn und ethischen Respekt für die existentielle Durchsichtigkeit“ des Religiösen gehabt. Die moderne Heuchelei eines dekadenten Spiels mit dem „Objektiven“ und der „Sachlichkeit“ sei der früheren Kirche noch unzugänglich gewesen. Worte und Kategorien, die dem Kenner zeigen, was gemeint ist: eine leidenschaftliche Kritik an Hegels Staatslehre und dessen objektiver Vernunftsittlichkeit.

Kierkegaards allergische Reaktion auf den neuen Weltzustand läßt deren Schwäche erkennen: sie leugnet neue moralischen Forderungen an Staat und Gesellschaft, und sie fürchtet, Hegels Deutungsversion eines sich als „Sittlichkeit“ vollbringenden Christentums (der Staat als Gott auf Erden) könnte eine angemessene geschichtliche Reaktion sein. Aus heutiger Sicht ist evident, daß weder diese noch jene Reaktion zielführend waren, denn auch Hegels Sittlichkeitsstaat führte Europa nicht aus seinen nationalistischen Sackgassen und deren Weltkriegen. Und der moderne Staat und dessen säkulare Rechtstaatlichkeit lassen eine plurale Vielfalt an Moralen zu, die nicht mit Hegels Idee einer geschlossenen Sittlichkeit autonomer Volksgeister vereinbar ist. Nicht zufällig war Hegels Lehre durch die nationalistischen und kommunistischen Ideologien Europas mißbrauchbar.

Kierkegaard muß das Ideal des völlig selbstlosen Gebens und Wohltätigseins (das letzte Hemd, nach der linken Backe die rechte) als zeitloses christliches Ideal verklären. Er verkennt nicht nur, daß religiöse Imperative nicht imstande sind, politisch-moralische zu begründen und staatsverbindlich zu organisieren. Die neuartige und extreme Notlage zwang den industriellen Staat ohne Wahl, sich als sozial engagierter Samariter zu organisieren. Und ohne organisierten Reichtum: kein verbindlich helfender Sozialstaat.

Er verkennt überdies, daß dieser Staat nicht mehr jenseits öffentlicher Meinung und ihrer – prominenten – Meinungsbildner existiert, – ein völlig neuer Zustand von Staat und Gesellschaft gegenüber „Altertum und Mittelalter“, denen solche Zustände weder durchsichtig noch überhaupt ansichtig waren. Auch Kierkegaard existiert bereits als moderner Zeitungleser und erfährt „aus seiner Zeitung“ vom Elend der Welt und vom Glück reicher Philanthropen und Literaten.

Und beim Verklären von „Altertum und Mittelalter“ übersieht der streitbare Protestant, daß in den nach Zünften organisierten vormodernen Ständestaaten das Fürsorgewesen einerseits dem Willen der Mächtigen und andererseits den Mitteln und Organen der Kirche oblag. Ein rechtlich ungesicherter Dienst an Armen, Kranken und Sterbenden, der mit überaus „undurchsichtigen“ Reichtümern rechnen mußte. Die Verteilung gehorchte dem juste milieu fürstlicher und kirchlicher Gnadenorganisation. [6]

 

VI.

 

Hans Blumenberg kritisierte Kierkegaards existentiales Christentum, das sich als ewiges Ideal präsentiere und daher unfähig sei, das neue Übel zu erkennen und adäquat zu bekämpfen. Denn der Hauptzweck der neuen und reichen Philanthropen und Literaten sei gewesen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Elend der unter unmenschlichen Bedingungen existierenden Klassen zu lenken. Und für dieses Gut sei der „Nebenzweck“, Reichtümer und Ruhm zu erwerben, als gutes Mittel erlaubt, ja unumgänglich gewesen. Die neue Öffentlichkeit mußte durch effiziente Darstellungsformen für neue Aufmerksamkeiten auf neue moralische Zwecke mobilisiert werden.

Die Welt liege immer im Argen, könnte man mit Kant ergänzen, aber immer in anderer Weise. Und wer behauptet, das jeweils neue Arge sei stets und immer von „biblischem Ausmaß“, begeht den Denkfehler, die Normativität einer Zeit (die im Fall der „biblischen Zeiten“ überdies nicht eindeutig dingfest zu machen ist, weil sie Jahrtausende umfaßt) für alle Zeiten als Norm vorzuschreiben. Nur ein Denken (und Handeln?), das die Position eines „biblischen Denkens“ einnehme, sei als wahrhaft menschliches Denken zu taxieren.

Offensichtlich birgt dieses Denken ein ganzes Nest ignorierter Widersprüche. Nur ein Credo quia absurdum est kann daran festhalten, um biblisches Denken als moralisches Denken von überzeitlicher Verbindlichkeit zu konstruieren. Läßt sich das Prinzip biblischer Gastrechte auf die Prinzipien moderner Asylrechte anwenden oder gar als deren Grund und Grundlage behaupten?

Kierkegaards Ansinnen, die Maxime seiner Angewohnheit, Bedürftigen stets nur geringe Almosen zu geben, sei als universale christliche Maxime begründbar, erscheint uns merkwürdig. Christliche Nächstenliebe dürfe nicht zu Mitleid verkommen, war sein Argument, indes wir Heutigen, offenbar moralisch(er) geworden, allenfalls argumentieren: Bedürftige auf einen Schlag in Unbedürftige verwandeln, könnte deren Kraft, durch eigenen Willen und eigenes Können unbedürftig zu werden und zu bleiben, beschädigen und brechen.

Indem sich aber die christliche Nächstenliebe Kierkegaards gleichsam nicht (modern) entehren lassen möchte, wird deren Gesinnung, auch für sie selbst, ungleich interessanter und wichtiger als das Tun des Helfens. Der vermeintlich nach unveränderlichen Prinzipien handelnde Samariter wird zum Pharisäer seines biblischen Samaritertums. Dieser ist sich wohl „durchsichtig“ im Sinne Kierkegaards, aber blind im Sinne eines freien und spontanen Tuns ohne Vorbehalt.

Daß aber jemand wenig „gibt“, um nicht aus unchristlichen Motiven geben zu müssen, enthält bereits das Prinzip einer Unterstellung: Die von Kierkegaard heftig kritisieren Philanthropen hätten gegeben, um mehr zu erhalten, als sie gaben. Philanthropische Erfindungen seien des Teufels Trick, die Undurchsichtigkeit eines nur scheinchristlichen Verhaltens zu verschleiern. Daß die Kritisierten weder so knifflig dachten, noch so verzwickt handelten, konnte sein „durchsichtiger“ Blick nicht (mehr) erkennen.

In der Bibel heißt es bekanntlich, der Almosen gebende Pharisäer erschwindle mit reichen Gaben sozialen Eindruck; das Almosen der armen Witwe zähle mehr als der Reichtum des gebenden Priesters. Nach diesem Modell und Beispiel denkt Kierkegaard sein Modell von Durchsichtigkeit: Klares Motiv, klare Tat – ein Almosen ist ein Almosen, und dabei soll es bleiben. Das vormoderne Ideal von vormoralischer Gesinnung qua Durchsichtigkeit fordert somit Almosen und nichts als Almosen zu geben. Das vormoderne Almosengeben erscheint als ewige normative Szenerie, aller sozialen und ökonomischen Relationen enthoben. Aber die vormodernen Relationen waren nur den modernen enthoben, und diese sind von jenen um moralische Lichtjahre entfernt.

Offensichtlich dachte Kierkegaard den modernen Philanthropen als modernen Almosengeber, und weil dieser plötzlich reich und reicher wurde, handle es sich um einen reproduzierten und zugleich gesteigerten („charakterlosen“) Nachfolger des reichen Pharisäers der Bibel. Was dieser zum Schein seiner moralischen und religiösen Besserstellung tat, das tut jener auch noch zur Erweiterung seines Geldbeutels. Wie schändlich und unchristlich, wie heuchlerisch und scheinobjektiv muß die moderne Welt (geworden) sein, wenn sie sich solcher „Undurchsichtigkeiten“ schuldig macht.

Kierkegaard notiert im Revolutionsjahr 1848, das 19. Jahrhundert habe das „eigentlich Christliche“ zum „bloß menschlichen Mitleid“ herabgesetzt. Christus sei „umgeschaffen“ worden, obwohl es eine falsche Vorstellung sei, anzunehmen, Mitleid mit Christus sei ein wahrer Bestandteil des Christentums.

Sofern diese Gedanken heute überhaupt noch verstehbar und insofern befragbar sind, wird man sie als sicheres Indiz für eine (radikale) Verwandlung, nicht des Verschwindens des Christentums sehen müssen. Was für Kierkegaard ein sicheres Anzeichen des Verschwindens war, war ein zunächst undeutliches Zeichen einer Verwandlung, die unwiderstehlich eingesetzt hatte. Und diese Verwandlung war es auch, die der Kirche das Zepter aus der Hand nahm, als der Prozeß der Überwindung der Sklaverei und des vormodernen Ständestaates samt seiner vormodernen Armenfürsorge eingesetzt hatte.

Nicht allein der Neid auf reiche Philanthropen, sondern zuvor schon der Neid auf eine neue Welt, die sich anheischig machte, das Christentum als universale Befreiungs- und Fürsorge-Institution zu beerben, erregte des christlichen Denkers Zorn.

Konnte es sein, daß die wahre Religion und wahre Kirche (obzwar in Konfessionen zerfallen), die bislang über den einzig wahren Zugang zur wahren Moral auf Erden verfügte, nunmehr Schein und Ideologie und somit Unwahrheit geworden war?

Daß die bisherige Christenheit (in modernem Verständnis) in ein Pharisäertum ihres vermeintlich einzig wahren Glaubens und Mitleidens herabgesunken war, was den Offenbarungseid über die Frage erzwingt, wie und wodurch denn christliches und menschliches Mitleid zu unterscheiden sind. Daß sie einst unterschieden waren, ist dokumentiert und aufgezeichnet, als Grundsatz und „Bestandteil“ christlichen Glaubens. Wie ersichtlich wird an den Kollisionen und Kontradiktionen der christlichen Glaubenskriege, die auch die Frage, wie und ob überhaupt ein katholisches mit einem protestantischen Mitleid übereinstimmen könne, umfaßten.

Kierkegaards Versuch, das Christentum nochmals als weltlose Bastion gegen die neue Welt zu retten, wirft unweigerlich die Frage auf, wie er sich den Unterschied des wahren vom falschen Mitleiden dachte. Das christliche Mitleiden mußte sich gegenüber allem weltlichen und auch gegenüber einem vermeintlich modernen christlichen Mitleiden auszeichnen. Konnte nur der vollkommene Christ mildtätig sein, weil nur er im Leidenden ein Ebenbild des leidenden Christus erfuhr? Und diese Erfahrung wäre ganz ohne Mitleiden möglich? Das erscheint uns Spätgeborenen eine kleinliche Maxime, die ein enges Herz Gottes voraussetzt.

Kierkegaard verkennt, daß die modernen Mitleidenden nicht mit Christus Mitleid haben wollen, auch nicht die Christen unter ihnen. Und diese Einsicht führt wohl auch zu einer ultimativen über Kierkegaards theologische Annahmen: Die modernen Mitleidenden würden den Menschen, den leidenden, ob seiner Mitleidswürde vergöttlichen. Modern formuliert: das Christentum, schon im Sprung zur Menschheitsreligion, soll nochmals auf seinen Status als Ständereligion eigenen Standes zurückgerufen und zurückgehalten werden.

Mittlerweile, am Beginn des 21. Jahrhunderts, haben sowohl die christlichen Kirchen wie auch die moderne Staatenwelt die Kierkegaardschen Bedenken gegen eine organisierte Erweiterung der christlichen Nächstenliebe weit hinter sich gelassen. Bei der allmählichen Durchsetzung der Menschenrechte fragt man kaum noch, ob diese christlichen oder anderen Ursprungs sind, oder auch unter christlichen oder anderen Zwecken durchsetzungswürdig sind. Die schon im späteren 19. Jahrhundert einsetzende politische Bewegung, internationale Konventionen zu Kriegs-, Flüchtlings- und anderen humanitären Rechten festzuschreiben und durchzusetzen, dürfte unumkehrbar sein, auch wenn sich immer wieder neue Ideologien und Diktaturen mit menschenverachtenden Zwecken einfinden. Kierkegaards Unterstellung, die organisierte Erweiterung der Menschenliebe werde am Ende nur den Egoismus fördern, war vorkantischen und egoistisch-apolitischen Ursprungs.

 

VII.

 

In diametralen Gegensatz dazu stand Schopenhauers Ermächtigung des Mitleids als tragfähige Basis einer modernen, einer zeitgemäßen Moralität. Dieser atheistische Antipode Kierkegaards, der sich als Vollender der Kantischen Philosophie und Ethik wahrnahm, hatte nach eigener Einschätzung als erster Philosoph der Philosophiegeschichte den seiner Ansicht nach geglückten Versuch unternommen, Moralität auf Mitleid, somit Ethik auf eine universale Theorie des Mitleidens zu gründen.

Und wie Kant von seiner Moralphilosophie behauptete, sie formuliere lediglich Prinzipien, nach denen vernünftige Menschen immer schon handelten oder handeln wollten und sollten, so beanspruchte auch Schopenhauers Mitleidsethik, wenn nicht zeitlose, so doch zeitaktuelle Universalität: Sie denke und formuliere nur, wonach die Menschheit künftig handeln sollte. Anders als Kierkegaard sah sich Schopenhauer durch seine Zeit bestätigt. Die „Abenteurer der Wohltätigkeit“ und „Pioniere der Armenfürsorge“ vollzogen, was seine Lehre lehrte. Der Versuch des vormodernen Ständestaates, das Elend der modernen Industriegesellschaft zu bändigen, könne nur auf der Grundlage einer neuen Moralität und Ethik gelingen.

Mit dem Ableben Schopenhauers hatte sich auch der Vernunftstaat Hegels verabschiedet; Deutschland ging einer ungewissen, vielleicht glorreichen Zukunft entgegen, schon fünf Jahre später durfte die neue (verspätete) Nation ihre Reichsgründung, ausgerechnet in Paris, feiern. Und dazu konnte man in seiner Zeitung gewiß auch berührende Zeilen über deutsches Mitleid mit bemitleidungswürdigen Franzosen lesen.

Mitleid ist ein Gefühl, hatte Kant gelehrt, das uns im Handlungsfalle, wenn es gilt die Frage zu beantworten, was zu tun Pflicht sei, nicht nur behindern und verwirren, sondern sogar vergleichgültigen und zu Fehlschlüssen verleiten könne.[7] Nicht Gefühle, nur gesetzgebende Vernunft sei als Ratgeber des moralisch denkenden und handelnden Menschen sinnvoll und zweckmäßig.

Dieses Kantische Diktum wird von Schopenhauerianern bis zum heutigen Tag als Kantisches Verdikt gegen Mitleid und Mitleiden überhaupt gelesen. Eine Fehllesung, weil das Verdikt „nur“ den Ratgeber betrifft, nicht das menschliche Fühlen und Mitfühlen überhaupt, das jederzeit unser Handeln und dessen Beurteilung begleitet. Kants Begründung der Ethik wollte moralisches Handeln nicht der Willkür von Toleranz und Mitleid ausliefern. Weder Mitleid noch Mitleidlosigkeit sind Kants Thema, und sie sollen auch nicht Maxime sein, wenn moralisches Handeln aus Pflicht wirklich werden muß.

Schopenhauer entsetzte sich über Kants Vernunftrigorismus in Ethik und Moral. Dessen Pflichtenethik erschien ihm als „Apotheose der Lieblosigkeit“, weshalb sie in der (damaligen) Gegenwart – wir halten in der Mitte des 19. Jahrhunderts – zur Erfolglosigkeit verdammt sei. Es ist in der Tat sehr wahrscheinlich, daß Schopenhauers Ethik in Deutschland und unter Deutschen beliebter und erfolgreicher war als Kants Ethik jemals gewesen sein wird. Läßt sich daraus folgern: Hätte man Kant rechtzeitig und wirklich verstanden, wäre Hitler in Deutschland unmöglich gewesen?

Wie dem auch sei, Pate für Schopenhauers Mitleidsethik konnte nicht Kant, es mußte und konnte nur Rousseau sein. Schopenhauers Begeisterung für den „größten Moralisten der ganzen neueren Zeit“[8] verstellte ihm vernünftige Zugänge zu Kants Ethik, oder vielmehr war der fehlende Zugang zu Kants Einsichten Grund und Ursache seiner Rousseau-Begeisterung. Wenn Schopenhauer verkündet, Rousseau habe seine Weisheit nicht aus Büchern, sondern aus dem Leben geschöpft, könnte man in Kants Schriften zur Moralität ähnliche Versicherungen finden. Seine Moralphilosophie sei nicht als Schulphilosophie gedacht, die moralischen Prinzipien seien denen der „gemeinen Menschenvernunft“ nicht ferne, folglich handle es sich um Welt- und Lebensphilosophie in tiefsten Sinne.[9]

Vergeblich Kants diesbezügliche Beteuerungen, wenn Schopenhauer an den Weisheiten des Antipoden Rousseau rühmt, daß sie für die Menschheit, nicht für das Katheder bestimmt sind. Verdächtig freilich, daß er am französischen Freund der Menschheit dessen Fähigkeit rühmt, „moralisieren zu können, ohne langweilig zu sein.“ Ethische Begründungen der Moralität sollten jenseits der Alternative von Langweile oder Kurzweile erörtert und verstanden werden. Es zeugt von einem abgeschmackten Zeitgeist, wenn Schopenhauer bei philosophischer Belehrung und Studium unterhalten und von Langweile befreit werden möchte.

Der Vorwurf, Schopenhauer hätte eine Mitleidsethik vertreten, um im Strom seiner Zeit mit zuschwimmen, dürfte zu harmlos geschlungen sein. Denn der Zeitgeist als Geist seiner Zeit pflegt auch Philosophen immer schon zu binden, noch ehe diese daran denken, ob sie mitschwimmen oder nicht mitschwimmen wollen. Es ist eine unwiderstehliche Anziehungskraft im Wesen jedes Zeitgeistes auch auf die denkenden Geister jeder Zeit. Und man muß zugeben: allein nur Nichtmitschwimmen ist noch kein Garant für wahres Schwimmen in richtiger und guter Richtung.

Wenn schon das Christentum, zum Entsetzen Kierkegaards, nur mehr als Mitleidsreligion verstanden wurde, darf es nicht verwundern, wenn Schopenhauer das Mitleid als Maß für den Wert der moralischen Gefühle ansetzte. Wonach also das moralische Handeln danach zu beurteilen wäre, ob und wie es dem Grundgefühl Mitleid geschuldet wird. Als ob moralisches Bewußtsein und moralisches Gefühl identisch wären – eine falsche Gleichsetzung, die Schopenhauer, ein doch an Kant geschulter Philosoph, nicht hätte unterlaufen dürfen.

Schopenhauer rühmte sich, eine originelle Begründung für eine Ethik des Mitleids gefunden zu haben. Diese sei allein imstande, alle bisherigen Arten von Ethik, nicht zuletzt die an den langweiligen Kathedern der deutschen Universitäten im Gefolge Kants immer noch gelehrte Vernunftethik abzulösen.

Denn einzig die Überwindung von Grausamkeit durch Mitleid sei der wahre Grund wahrer Moralität und Ethik. Mit dem Gespann Grausamkeit-Mitleid scheint Schopenhauer den Grundgegensatz von Kants Freiheitsethik: Böses-Gutes und dessen Konkretisierungen auf einen tieferen Grund verlagert zu haben. Doch ist das Gegenteil der Fall, weil Grausamkeit – als Gesinnung und Handlung – zwar verselbständigtes und maximiertes Böses ist, Mitleid jedoch – als Gesinnung und Handlung – keineswegs als maximiertes und eigentliches Gutes begründbar ist.

Durch das Gefühl Mitleid, interpretiert als moralisches Prinzip, wäre die Sklaverei niemals überwunden worden, wie sie auch nicht durch das Gefühl Grausamkeit, interpretiert als unmoralisches Prinzip, in die Welt gekommen ist. Und wohl nicht zufällig, daß die Begründung der Herrenmoral seines Schülers Nietzsche, der eines Tages aller Mitleidsethik seines Lehrers überdrüssig wurde, noch „origineller“ ausgefallen ist.

Bei einem Denker, der mit Gefühlen als Begründungsbegriffen operiert, wäre zu erwarten gewesen, daß er nicht Mitleid, sondern Liebe als Grund-Gegensatz zum vermeintlichen Grundgefühl Grausamkeit eingesetzt hätte. Sollte er diesen vermeintlichen Begründungsweg vermieden haben, um nicht mit dem von ihm abgelehnten Christentum in gleiche Fahrspur zu geraten? Ringen aber Mitleid und Liebe um den Rang, tiefer und begründender als das moralische Gute zu sein, so ist keine Entscheidung in diesem Rangstreit möglich, weil Gefühle nicht mit Begriffen oder Ideen wie dem „Guten“ oder dem „Moralischen“ und deren vermeintlicher Abstraktheit vergleichbar sind.

 

VIII.

 

Schon der basale ethische Unterschied, daß es bei moralischen Prinzipien unhintergehbar um den Unterschied von Gesinnung und Handlung und deren Folgen geht, muß von Gefühlen, die an deren Stelle treten sollen, ignoriert werden. Soll Liebe beispielsweise Gesinnung und Handlung des Menschen vollständig bestimmen, muß sie, um als moralisches Prinzip Verbindlichkeit zu erlangen, mehr sein oder werden als nur Liebe. Wäre der liebe Nächste in allen Fällen unserer Liebe würdig, wären wir seiner beliebigen Selbstliebe hilflos ausgeliefert.

Und dies kann nicht zu gegenseitiger Achtung und Anerkennung, nicht zu gemeinsamem Handeln Grund und Grundlage sein. Schopenhauer muß geahnt und gefürchtet haben, daß Mitleid den Gefühlsbegriff Liebe beerbt und eben darin dessen (moralischen) Aporien unterworfen bleibt. In auffälliger Parallele zu Kierkegaards gescheitertem Versuch, Liebe als christliche von aller säkularen Liebe, die sich den Dienst der Erniedrigten und Bedürftigen stellt, abzugrenzen.

Auch Mitleid muß sich der Grunddifferenz von Gesinnung und Handlung stellen, wenn sein Philosoph den Grundsatz aufstellt: „Verletze niemanden, sondern hilf allen, so viel du kannst.“[10] Denn „Helfen“ ist mehr und anderes als Bemitleiden, und die Maxime, niemanden zu verletzen, kann nicht aus einer Maxime zu grausamer Gesinnung und grausamem Verhalten, die bei einigen oder gar bei allen Menschen anzutreffen wäre, abgeleitet werden. Kant hätte gegen Schopenhauers zitierten Satz nichts einzuwenden, außer daß er nicht für wahr gehalten hätte, dieser Satz sei durch ein Gefühl, dem von Mitleid als Antigefühl gegen Grausamkeit, begründbar.

Kinder können bekanntlich sehr grausam zueinander sein. Versuchte man auf die Grausamen lediglich begütigend einzuwirken, indem man deren Mitleidsfähigkeit mobilisierte, würde man ihnen eine verkehrte Moralität lehren und beizubringen suchen.

Ist Dein Nächster ein nur bemitleidungswürdiges Geschöpf, mehr noch: soll er dieses sein und bleiben, damit deine Mitleidsmoral, die deine eigene Grausamkeitsunmoral überwindet, wirksam wird, kann dein Nächster nicht dasselbe von Dir fordern: ein ebenfalls Bemitleidungswürdiger zu sein und zu bleiben. Unseren kleinen Grausamen würde eine sehr schwache Moralität angelernt, die sie untauglich machte, ihre gleichaltrigen Feinde als achtungswürdige Geschöpfe und ihren Austausch untereinander als freien und menschenwürdigen zu erkennen. Auch unter Kindern ist der Kampf um anständige Sozialität nicht durch einen Tanz auf dem fiktiven Grundseil von Gewalt und Nichtgewalt, von Grausamkeit und Mitleid zu gewinnen.

Ein mitleidsfreier Kampf um Anerkennung mag ebenso langweilig sein wie eine philosophische Ethik, die lehrt, daß schon unter Kindern ein gemeinsames Gutes und nicht ein gemeinsames Mitleiden als Handlungsgrundlege zu suchen ist. Beides mag auch „moralisierend“ sein, aber es ist menschliche Realität und deren moralische Vernunft.

Es ist unstatthaft, dieser Suche nach gemeinsamen Handlungsgütern einen kasuistischen Strick zu drehen, indem man auf Kranke, Leidende, Geschädigte und Sich-Schädigende und nicht zuletzt Sterbende verweist. Denn diese stehen – am anderen Ende der Kindheit – wiederum in einer Situation, nicht (mehr) zu gemeinsamem Handeln befähigt zu sein. Doch selbst ihnen ist es in der Regel peinlich, wenn ihnen nur aus Mitleid geholfen wird. Moralität aus Mitleid ist Scheinmoralität, und Barmherzigkeit aus Liebe (Moralität im Ausnahmezustand) konnte der Atheist Schopenhauer nicht namhaft machen.

Auch Kant würde mit Schopenhauer den Satz, »Schade allen, so viel du kannst«, für einen Inbegriff des Bösen halten, als Umkehrung wahren moralischen Verhaltens. Aber daraus folgte für Kant nicht, daß Mitleid und Mitleiden als Inbegriff des Guten anzusehen sind. Denn schadendes verhält sich zu nicht schadendem Verhalten nicht wie grausames zu mitleidendem.

Im Übrigen ist der Versuch, das moralisch Gute als Abwehr des Grausamen zu begründen, ungefähr so sinnvoll wie ein Versuch der Ästhetik, das Schöne der Künste und der Natur durch Abwehr des Häßlichen begründen zu wollen, obwohl ohne deren Überwindung in der Tat kein Schönes, weder in Kunst noch in Natur möglich ist. Auch eine Theorie des Gewissens, die das Gegenteil von Gewissen als dessen Grund setzte, wäre auf Sand gebaut; und eine Ontologie, die dem Begriff des Seins den des Nichts als Grund voraussetzte, hätte sich schlecht beraten lassen.

Im Grunde erfindet Schopenhauer Ethik als ein ästhetisierendes Theorie-Kunststück. Den bewußt grausam Bösen vor Augen, der die Leiden und Schmerzen anderer als Zweck an sich genießt, konstruiert er Moral als Abwehr von Sadismus. Verirrt ins Reich der Pathologien, gleicht er dem Apostel einer Heilkunst und Gesundheitslehre, der im System der Krankheiten nach den Kriterien für Gesundheit und Normalität sucht.

Wie die „Blumen des Bösen“ der gleichzeitig anbrechenden ästhetischen Moderne ein neues Reich der Kunstschönheit versprachen, an das moderne Kunst und Ästhetik bis heute glaubt, fesselt Schopenhauer ein Hang zum Morbiden und Sadistischen, eine Art Gier nach den Krankheiten und Grausamkeiten seiner Zeit, um an die Legitimität seiner Mitleidsethik als unwiderlegbare glauben zu können. Wer aber generell zu Mitleid motiviert und sensibilisiert, der unterstellt einen permanent möglichen Einbruch des Krankhaften und Abartigen in die Welt der Sittlichkeit und Moralität. Und weil dieser Bruch in der Realität der Welt nicht zu leugnen ist – die Welt liegt immer im Argen (Kant) -, schnappt die Falle zu, und Schopenhauer erblickt Allgemeinheit und Notwendigkeit, wo das Gegenteil vorliegt.

 

IX.

 

Schopenhauer, überzeugt von der unwiderlegbaren Wahrheit seiner Lehre, legte diese einer Abhandlung zugrunde, die er 1840 bei der Königlich Dänischen Sozietät der Wissenschaften in Kopenhagen einreichte, um die Palme einer begehrten Preisschrift zu erlangen. Selbstverständlich überzeugt, diesen Preis zu erlangen, steigerte sich seine Enttäuschung über die erfolgte Ablehnung in Wut und Zorn. Er rächte die erlittene Grausamkeit mit vermeintlich gleicher Münze, obwohl doch die königliche Ablehnung durchaus als glänzende Bestätigung seiner Lehre aufgefaßt werden konnte.

Doch Selbstmitleid war Schopenhauers Sache nicht, und Selbstmitleid kann auch nicht verbindlich in einer Welt gefordert werden, die nach den Grundsätzen seiner Ethik funktioniert. Grausamkeit und Mitleid widerstehen nicht dem wechselwirkenden Mechanismus von wütender Rache oder stoischer Gleichgültigkeit: Zwei „Gefühle“, die unter vormodernen Sitten noch als Rechtszustände funktionierten. Schopenhauer ließ das vernichtende Gutachten auf eigene Kosten veröffentlichen, um aller Welt deutlich zu machen, daß ihm grausames Unrecht zugefügt worden sei.

Das Gutachten der Königlichen Sozietät fiel vernichtend aus – man schrieb von „schlechter Gesellschaft“, in der man sich bei der Lektüre von Schopenhauers Abhandlung „Über die Grundlage der Moral“ befinde. Sogar der Begriff Gerechtigkeit wurde bemüht, denn die königlichen Kuratoren berichteten, sie hätten „gerechten und schweren Anstoß“ an Schopenhauers Abhandlung nehmen müssen.[11]

Ein „gerechter Anstoß“ mußte Schopenhauer als äußerte Ungerechtigkeit, ja Unmöglichkeit erscheinen. Denn in seiner moralischen Welt haben Menschen entweder Mitleid mit allem und jedem, oder sie sind auf der anderen Seite des Mitleids: grausame Verursacher desselben. Tertium non datur, denn das vermeintlich Dritte – Gleichgültigkeit – ist jederzeit als heimtückisch gesteigerte und sich verstellende Grausamkeit durchschaubar. Schopenhauer sah sich beschimpft und beschimpfte die Beschimpfenden mit gleicher Münze. Kein Ausnahmefall in einer Welt grundgelegter Grausamkeit. Sollen wir mit dem grausamen Denker Mitleid haben, um seine Theorie endgültig zu diskreditieren?

Seine Unterstellung, die Sozietät hätte sich einer Beschimpfung schuldig gemacht, folgte dem schuldigen Fehlurteil seines unhaltbaren Vorurteils. Ein Teufelskreis, dem im Ring von Grausamkeit und Mitleid durch keinen Kampf zu entkommen ist. Schopenhauer bestätigte handelnd an sich selbst, daß das, was er zu behaupten können glaubte: Moralität aus Mitleid sei möglich, unmöglich ist. Er fiel in die selbstgestellte Falle einer selbstgestellten Prophezeiung.

Man sollte meinen, Schopenhauer, jahrzehntlanger Leser von Kants Schriften, konnte doch nicht entgangen sein, was dieser über Gefühle (nicht nur von Mitleid und Bosheit) als unzureichende Begründungsfaktoren für Ethik und Moralität geschrieben hatte. Aber diese Lektüre war vergessen, wenn Schopenhauer zeit seines Lebens die Zeitung zur Hand nahm. Der leidenschaftliche Zeitungleser sammelte, was die Zeitungen aus aller Welt Tag für Tag über grausame und grausamste Verbrechen, die Menschen einander antaten, berichteten. Und welcher Mensch wird unter den Bedingungen dieser Gewohnheit nicht beizeiten ein gewisses Ressentiment und Vorurteil gegen die Welt seiner Zeit entwickeln?

Da auch Philosophen nur Menschen sind, speziell und unausweichlich in den Fragen der Politik ihrer Zeit, müßte man ihnen das Zeitunglesen verbieten, falls sie gedenken, auch diese Lektüre, nicht nur die philosophische von Philosophen, zum Stoff philosophischer Argumente zu machen. Karl Rosenkranz hatte seine tägliche Zeitungslektüre noch humoristisch als morgendlichen Weltsegen bezeichnet. Bei Schopenhauer wurde daraus das Einlernen von Unsegen und Haß auf die Welt, die zuließ, was unter der Macht seiner Ethik, wäre sie nur schon in der Welt dieser mächtig, niemals mehr zugelassen würde.

Man kann daher mit Grund annehmen, daß er durch seine tägliche Zeitungslektüre, anders als der gewöhnliche und stets massenhaft existierende Leser, niemals abstumpfte: auch (zu erwerbende) Gleichgültigkeit war seine Sache nicht.

Der verläßlich gewohnheitsmäßige Leser, vollendet im Abonnement-Leser inkarniert, verliert zwar nach und nach seinen (kindgeborenen) Glauben an eine Welt, die nicht im Argen liegen könnte oder sollte. Aber weder verzweifelt er darüber, – nur hin und wieder läßt er Dampf durch erregte Leserbriefe (und dessen digitale Nachfolger) ab -, noch eröffnet er einen privaten Weltkrieg gegen die Mächte einer unheilbaren Welt. Er sieht lesenden Auges: das Unheil nimmt seinen Lauf, und sein eigenes Heil liegt nun einmal darin, dabei zu sein und dabei gewesen zu sein. Und je leidenschaftlicher das Dabeisein seiner Lektüre, umso gemütlicher dessen Logensitz.

Anders Schopenhauer, der aus einer Philosophie der Zeitungsmeldungen eine Philosophie der Moralität destillierte, um das akademische Verständnis von Moralphilosophie, das sich immer noch um eine Pflichtenlehre mittels staatsgenehmer Normen und Sätze des moralischen Sollens, sittlicher Maximen und Imperative bemühte, endgültig hinter sich zu lassen. Als hätte er sich schon im Voraus als Opfer des Schicksals seines Volkes und seiner Widersacher in zwei Weltkriegen erahnt. Nicht vom idealen Sollen bester Imperative, sondern vom tragischen Sein des realen menschlichen Lebens müsse die neue und endlich zeitgemäße Ethik ausgehen.

Schopenhauers Flucht in das leidenschaftliche Ressentiment verführte ihn zu einem religiösen Sendungsbewußtsein: Seine neue Lehre sei zur Erlöserin der üblen und argen Welt berufen. Umso grimmiger sein Zorn über die schnöde Welt, die seine Lehre zurückwies und nicht begreifen wollte, was an der Zeit war, endlich begriffen zu werden. Der Zelot seiner erleuchteten Lehre wollte und konnte nicht begreifen, daß Mitleid immer nur ein therapeutisches, niemals ein moralisches Mittel gegen die Grausamkeiten der Welt sein kann.

Noch heute und wohl für immer, solange die Menschheit unter unvollkommenen Bedingungen existiert, gilt unausweichlich, daß jeder Mensch, auch jeder Philosoph, der die berichteten Grausamkeiten der Welt täglich sammelt, um sich daran nicht mitleidend zu ergötzen, sondern eine Lösung eines ungelösten Rätsels zu suchen, ein Don Quichotte gelebter Mitleidsmoral werden muß.

Schopenhauer, der besonders in den englischen Zeitungen fündig wurde, wußte über jede Variante von Mord, über die abartigsten Verbrechen, über das System der die Menschheit schändenden Schandtaten gründlich Bescheid. Sein Forschen und Suchen war ohne Zweifel gut gemeint: einer Mutter, die ihr eines Kind lebendig begraben, das andere durch siedendes Öl, in den Mund gegossen, getötet hatte, war mit moralischen Appellen und Imperativen nicht mehr beizukommen. Das Übel mußte tiefer liegen und durch ein tiefergreifendes Mittel bekämpft und überwunden werden.

Kants Formel vom radikal Bösen in der menschlichen Natur erfuhr bei Schopenhauer eine moderne Konkretisierung: Angeborene Grausamkeit konnte nicht (mehr) durch moralische Beeinflussung und Erziehung, nicht einmal durch das Strafrecht kuriert werden. Die akademische Philosophie habe nicht begriffen, daß sie ein Ungeheuer hätte begreifen müssen, den (un)menschlichen Willen zur Grausamkeit. Erst wenn jeder Mensch zugleich als Unmensch erkannt ist, kann die Wurzel des abgründigen Übels ausgerissen werden. Und Mitleid lautet der Name des Heilmittels, auf das man schon früher gestoßen wäre, hätte man sich nicht auf Moral durch Vernunft, auf Ethik durch Sollens-Sätze, auf ein Gutes von gottgegebener Herkunft versteift.

Aus heutiger Sicht könnte man in Schopenhauers leidenschaftlicher Anklage auch einen Protest gegen die damals einsetzende politische Marginalisierung der Philosophie, gegen den Verlust ihrer Orientierungskraft für Gesellschaft und Kultur, gegen die Trennung von Philosophie und moderner Welt sehen. Allerdings im bedrückenden Wissen, daß auch seine Philosophie – einer Willensmetaphysik, Ideen-Ästhetik und Mitleids-Ethik – ungeeignet war, die – ohnehin nur unterstellte – frühere Orientierungsmacht wiederherzustellen.[12]

 

XI.

 

Auf den Denkwegen seiner Moralphilosophie hatte Schopenhauer erkannt, daß der Grausame ein Mensch ist, der gänzlich ohne Mitleid handelt. Und daraus folgte in den Spuren Kants die transzendentale Ermöglichungsfrage seiner neuen Ethik: Wie es ist möglich, gänzlich ohne Mitleid zu sein? Sollte aber diese Frage beantwortbar sein, mußte auch ein Weg auffindbar sein, Milderung oder sogar vollständige Überwindung gänzlicher Mitleidlosigkeit zu bewerkstelligen.

Eine aktive Mitleidsmoral, aller sonstigen Moral vorgängig, sollte das Konzept einer neuen Menschheit vorstellen, die endlich ihr wahres Grundübel erkennen und beseitigen könne. Womit auch erkenn- und heilbar das tragische Faktum wäre, daß die zivilisierte Welt unter der Decke ihrer Scheinmoralität deren Gegenteil mit sich fortschleppe – analog zur festen Erdkruste, könnte man ergänzen, in deren Untergrund, im neuerdings entdeckten Erdmantel, glühende Ozeane schmelzender Lavamassen kreisen und toben.

Schopenhauer wußte um die Ausnahme- und Alleinstellungslage seiner Ethik. Die Ethiken der philosophischen Tradition hatten ausnahmslos nicht das Tandem grausame Tatsachen-mitleidendes Helfen als Ansatz ihrer moralphilosophischen und moraltheologischen Begründungen gewählt. Und deren Theodizee-Fragen konnten für einen atheistischen Neo-Platoniker und Willens-Metaphysiker im Frankfurt des 19. Jahrhunderts nur Luftfragen, nur sinnlose Erörterungen sein.

Als er sich Grausamkeit als Exzeß des Egoismus erklärte, fiel Schopenhauer in die Falle eines nächstens Irrtums. Denn kollektive Grausamkeit dürfte in der Geschichte kaum weniger Realität sein als die kriminelle von Einzeltätern, über die auf den Lokalseiten aller Tageszeitungen berichtet wird.

Man hat versucht, Schopenhauers neue Ethik pragmatisch zu verteidigen: Er habe gar keine (tiefe und begründete) Erklärung für das Phänomen Grausamkeit suchen wollen, er habe zuerst und zuletzt nur nach einem wirksamen Gegenmittel gesucht. Aber auch diese Verteidigung muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß durch Mitleid allein noch kein einziger der bisherigen moralischen Weltfortschritte erdacht und durchgesetzt worden wäre.

Die Wirklichkeit des menschlichen Lebens (womöglich in allen, auch politischen Dimensionen) auf die Alternative Grausamkeit-Mitleid reduzieren, ist eine theoretische Grausamkeit, ist bornierte Selbsttäuschung. Ein sich verfehlendes ethisches Begründungsdenken sucht stets in falschen Extrem-Ecken des (Un)Moralischen nach unmöglichen Auswegen. Dem permanent wirksamen Unheil des Bösen in Menschheit und Menschheitsgeschichte ist durch radikale Konkretionen, die sich für das Gegenteil von ethischen Abstraktionen halten, nicht beizukommen. Sie sind just die Abstraktion, für deren Gegenteil sie sich halten.

Dennoch bleibt unbestreitbar, daß das Leiden am Bösen und das Tun durch Böses in der Geschichte der Philosophie nicht zu deren zentralen Themen zählte, wohl auch nicht in den bekannten Ethiken der Tradition. Das prominenteste Beispiel eines Versagens nicht nur von Philosophie, auch von Religion und Theologie: die Hinnahme der Sklaverei ist ein heikles Thema bis heute. Denn wo kein Schuldbewußtsein vorhanden, scheinen keine Fehlurteile und keine schuldigen Taten möglich, scheint kein Böses wirklich gewesen zu sein. Paulus rät den Sklaven, ihren Herren treu zu bleiben, Gottes Wille gehe vor und sei mit ihnen. Die Sache sei durch Gott entschieden, und was jenseits davon liege, könne keines Menschen Denkaufgabe sein.

Und trotz dieser heiklen Thematik (das moralische Bewußtsein vergangener Epochen und Gewissen kann nicht nach dem moralischen Leisten späterer Epochen gerichtet werden) bleibt gleichwohl bestehen: Nicht Mitleid mit den Sklaven, sondern einzig die Abschaffung aller Sklaverei konnte das Ziel von Ethik und vernünftiger Freiheit sein. Man mußte das „Objekt“ des Mitleids beseitigen, nicht durch vermeintlich objektiv geltende Mitleidsethik erhalten.

Noch durch fast zwei Jahrtausende galt auch in der Geschichte des Christentums eine nicht nur grausame, sondern widermenschlich böse Unvernunft als gute und gottgegebene Selbstverständlichkeit. Dabei war (spätes) Mitleiden mit den Sklaven eine durchaus notwendige Vorstufe einer neuen Ethik, die eine neue Politik begründete. Aber das vorgestufte Mittel darf nicht mit seinem Zweck verwechselt werden. Allein dieser war der wahre Grund der neuen Ethik und neuen Politik. Widrigenfalls müßten wir die Motivation der Nordstaaten Amerikas, einen Krieg gegen die Südstaaten zur Befreiung der Sklaven und Beendigung der Sklaverei zu beginnen und siegreich zu beenden, in neuer Weise deuten: als grausame Tat machtegoistischer Staats-Politik.

Im Ferngefecht mit den Ethiken der philosophischen Tradition tat Schopenhauer alles, um seine unhaltbare Position zu halten und zu festigen. Er griff sogar zum Mittel ausgesuchter Kasuistik und erdachte sich folgende Parabel: „Man setze zwei junge Leute, Gaius und Titus, beide leidenschaftlich verliebt, doch jeder in ein anderes Mädchen; und jedem stehe ein wegen äußerer Umstände bevorzugter Nebenbuhler durchaus im Wege. Beide seien entschlossen, jeder den seinigen aus der Welt zu schaffen, und beide seien vor aller Entdeckung, sogar vor jedem Verdacht vollkommen gesichert.“[13]

 

XII.

 

Schon Balzac hatte eine ähnliche Parabel ersonnen, als er den möglichen Fall konstruierte, Menschen könnten durch bloße Willenskraft einen chinesischen Mandarin töten, um in dessen Besitz und Vermögen zu gelangen. Bei Schopenhauer scheitert das geplante Verbrechen seiner Protagonisten, weil sich jeder derselben „nach einem Kampf mit sich selbst“ gegen die Ausführung der Tat entscheidet. Obwohl sie demnach völlig unbehelligt von aller Welt, ihr eigennütziges Vorhaben hätten ausführen können, verzichten sie auf Vorteil und Nutzen zugunsten eines Überlebens der Nebenbuhler. Niemals wäre in einer Zeitung eine Meldung über die vollzogene Tat erschienen, kein Schopenhauer hätte sich jemals über die neueste Grausamkeit der Menschheit ereifern können, immerwährende Straflosigkeit wäre garantiert gewesen.

Scheinmoralisch verwundert sich Schopenhauer über seine Protagonisten: Wie sie unter dermaßen gesicherten Umständen auf ihre Absicht verzichten konnten, sei verwunderlich, und dieses moralische Wunder bedürfe einer neuen Erklärung. Denn die bisherigen seien entweder unzureichend oder völlig versagend. Weder hätten sich seine bestaunungswürdig gütigen Nicht-Täter auf einen mit Strafe drohenden Willen Gottes, noch auf ein universales Sittengesetz im Sinne Kants und Fichtes berufen, auch nicht auf ein moralisches Gefühl im Sinne Hutchesons, noch weniger auf Spinozas moralischen Utilitarismus, wonach dem Menschen nichts nützlicher sei als ein anderer Mensch. Worauf indessen?

Mitleid und Erbarmen, lautet die Antwort, habe die potentiellen Täter vor ihrer Tat zurückschrecken lassen. Im besagten Kampf der Möchtegern-Mörder mit sich selbst habe der „Impuls“ des Mitleids den „Impuls“ der Grausamkeit besiegt. Das Impulsbündel Mensch ist demnach fähig, den Willen zur Grausamkeit zu besiegen, wenn er sich nur das Beispiel der Schopenhauerschen Fiktiv-Gestalten zum Vorbild nimmt.

An Schopenhauers konstruierter Welt – kein Anwesender, der Böses erblickt – fällt deren Harmlosigkeit auf. Er ahnt nicht, daß ein Jahrhundert kommen wird, in dem Welten nicht nur denkbar, sondern in jeder Diktatur real sein werden, deren Machtapparate – Parteien, Geheimdienste, Vernichtungslager – Verbrechen bis hin zu Massenmord nicht als Verbrechen, sondern als erstrebenswerte Taten für das Gemeinwohl des Staates definieren werden. Nicht nur Straflosigkeit, sogar Belobigung und Anerkennung wird den Tätern samt Mithelfern und Mitläufern zugesagt.

Die Versessenheit auf sein vermeintlich neues und höheres moralisches Prinzip macht Schopenhauer blind. Daß Mord an Nebenbuhlern unter keinen „günstigen“ Umständen moralische Norm sein kann, dies zu erkennen, sollten kurze sehende Blicke in alle normativen Ethiken der Philosophiegeschichte ermöglichen. Die beiden mordlüsternen Liebhaber bedürfen keinerlei „Impulse“ von Mitleid und Erbarmen, um die Amoralität ihres beabsichtigten Tuns erkennen zu können. Die Amoralität ist durch die Norm der Moralität erkennbar. Dies mag einen „Kampf“ im Gewissen der potentiellen Mörder anfachen, weil ihr Wollen vom Gelüst, die Nebenbuhler zu beseitigen affiziert ist. Und oft genug siegt die, nicht grausame, sondern schlicht böse Maxime über die gute, wenn Einsicht und Wollen des Guten fehlen.

Die moralische Norm bliebe selbst dann erkennbar und gültig, wenn ein Staat von Teufeln (unter Menschen) verfügte, daß einige unter ihnen oder – im Extremfall suizidaler Katastrophenlage – sogar alle getötet werden sollen. Der atomare Selbstmord der Menschheit ginge zwar auf das Gewissen der Menschheit und würde daher trotz deren physischer Vernichtung als Makel des Bösen in der intelligiblen Welt, deren Kenntnis Menschen nicht unbekannt bleibt, wenn sie als Menschen geboren werden, bestehen bleiben. Woran sich übrigens auch die Hoffnung knüpft, die Menschheit möge niemals nur ihren eigenen Prämissen und Zwecken ausgeliefert werden.

Hingegen ist es offensichtlich, daß eine Mitleidsmoral kein moralisches Postulat für ein Bestehenbleiben der Menschheit setzen kann. Denn Mitleid, höchstes moralisches Prinzip geworden, kann jederzeit fordern, der Menschheit Existenz zu beenden, weil nach ihrem bemitleidungswürdigen Fürwahrhalten das Nichtsein von Menschen besser wäre als deren Sein und Dasein. Das Nichtsein beseitigte Leid und Leiden, Böses und Grausamkeit, es beendigte die fatale Existenz eines Wesens, das von Hiobs Schicksal stets und überall mit Vernichtung bedroht wird. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

 

XIII.

 

Man hat Schopenhauer vorgeworfen, seine Neugier nach, sei durch eine Faszination durch Grausamkeit motiviert – verwandt dem Treiben jener Journaille, die ihn über die neuesten Grausamkeiten „auf dem Laufenden hielt.“ Diesbezüglich hätte sich Schopenhauer als Bruder Kierkegaards im gleichen Geiste betätigen können: Auch der über Unglück und Unheil berichtende Journalist berichtet gewinnbringend, auch wenn er von Berufs wegen vorgibt, nur zum Besten aller Wesen, auch und besonders der Bemitleidungswürdigen unter ihnen, berichten zu müssen.

Doch ist der größere Schaden einer Mitleidsethik, die meint, jedes Verbrechen könne verziehen werden, nur die Grausamkeit nicht, die Tatsache, daß sie keinen Rechtsbegriff zu entwickeln vermag, den doch Staaten und Nationen unausweichlich benötigen, wenn sie ihren Gemeinschaftswillen unter einen Verfassungsvertrag stellen wollen.

Abgesehen davon, daß Grausamkeit, deren Nachweis im Fall realisierter Verbrechen nicht durch unmittelbare Evidenz möglich ist, lediglich das Strafmaß über die begangene Untat erhöht, ist Grausamkeit somit keine Tat, sondern nur eine „Zutat“ zur Tat. So wird auch bei Tierquälerei, die nur Menschen an Tieren verüben können, der Grad an Grausamkeit und die Intensität der Absicht ins Kalkül der Rechtsprechung gezogen. Aber das Tun und die Tat sind das Verbrechen, nicht der Geist der Gesinnung, in dem und durch den sie verübt werden. Es ist der Täter und dessen Tat und nicht sein entweder normaler oder pathogener Charakter, der beurteilt wird. Es sei denn, wirklich pathologische Charaktere – Sadisten jeder Art und Abart – erscheinen auf der Gerichtsbühne, um abgeurteilt und in einschlägige Sicherheitsverwahrung geführt zu werden. Das Pathologische hat in der Grundlegung der Ethik nichts verloren.

Wie Kant begründete, ist schon der Versuch, das Moralische auf Gefühle und deren Widerstreit zu begründen, ein gleichsam pathologisches Versuchen. Schopenhauer bestätigt diese Einsicht, wenn er seine Fixierung auf Grausamkeit dadurch rechtfertigt, daß die Grausamkeit die „äußerste Zuspitzung des Egoismus“ sei. Verankert in den äußersten Tiefen des menschlichen Gefühlslebens, müsse sie demnach durch äußersten Altruismus geheilt werden. Weil Grausamkeit die Grenzenlosigkeit des Egoismus beweise, müsse auch das Gegenmittel grenzenlos sein. Grausamkeit sei das Böse in höchster Verwirklichung, folglich sei Mitleid das Gute in höchster und bester Ausführung.

Nun ist es richtig, daß der grausame Egomane, der seine Selbstliebe am intensivsten erfährt, wenn er Tiere oder Menschen quält, ja tötet, ein entgrenzendes Phänomen ist, das keine Grenze kennt. Jede Grausamkeit läßt sich durch immer noch grausamere Verbrechen überbieten. Ebenso das genaue Gegenteil: der Altruismus ist ein grenzenloses Unternehmen, die Mannigfaltigkeit und Intensitätssteigerungen des Helfersyndroms sind bekannt. Aber weder das Ich-Syndrom noch das Helfersyndrom, weder die Ich-Liebe noch die Freundes- oder Fremdenliebe können Moralität begründen, weil Liebe nicht das „Fach“ ist, das hier zur Debatte steht. Lediglich aus Liebe (oder Haß) moralisch handeln, ist noch kein moralisches Handeln.

 

XIV.

 

Aber hat Schopenhauers Mitleidsethik, deren tieferer Grund eine Grausamkeitsethik war, nicht doch, angesichts der Verbrechen der modernen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, prophetisch gedacht? Hat er vielleicht unbewußt gespürt, daß der Mensch der anbrechenden Moderne zu neuen und bald auch kollektiv organisierten Grausamkeiten fähig sein werde? Zu solchen, die sogar die Grausamkeiten der Antike und des Mittelalters, die der römischen Gladiatoren und christlichen Religionskriege überbieten könnten? Auch Nietzsche ekelte sich bekanntlich bei dem Gedanken, wozu seine deutschen Spießer fähig wären, wenn man sie nur ließe. (Im Ersten Weltkrieg wird sein „Zarathustra“ das Sturmgepäck der „gebildeten“ deutschen Soldaten bereichern.)

Auf der Suche nach einer „recht emphatischen Hyperbel“ für die aus Egoismus resultierende Grausamkeit wurde Schopenhauer fündig: „…mancher Mensch wäre imstande, einen anderen totzuschlagen, bloß um mit diesem Fette sich die Stiefel zu schmieren.“[14] Eine anprangernde Übertreibung des 19. Jahrhunderts, die Menschen des 21. Jahrhunderts als vorwegnehmende Andeutung der Greuel des 20. Jahrhunderts erscheint. In dessen Vernichtungslagern wurden bekanntlich noch die menschlichen Überreste einer nutzbringenden Verwendung und Verarbeitung zugeführt. Ist es demnach nicht verständlich und wohlbegründet, wenn man im Deutschland des 20. Jahrhunderts Schopenhauer als moralischen Propheten gepriesen hat? Auch in Deutschland hatte sich doch erfüllt, was seine Moralphilosophie in principio vorgedacht hatte. Oder ist seine Lehre von der grundsätzlichen Grausamkeit des Menschen nicht eine Warnung und Anprangerung, sondern ein mitverschworener Teil des Übels, eine vorauseilende Mitläuferin des kommenden Unheils?

Oder ist sie beides: Anklägerin und zugleich Wegbereiterin künftiger Grausamkeiten? Schon weil es in dieser Welt über diese (philosophiegeschichtliche wie politische) Frage keine Instanz geben kann, die ein eindeutiges und objektiv beweisbares Entweder-Oder-Urteil fällen könnte, ist mehr als Vorsicht geboten. Die vorliegende Unentscheidbarkeit und Zweideutigkeit ist ein notwendiges Resultat der unhaltbaren Moralphilosophie Schopenhauers. In den Labyrinthen zwischen Grausamkeit und Mitleid lassen sich immer nur scheinmoralische Wege, überredende Lösungen und beschwörende Begründungen finden. Der Apfel einer Philosophie, die man zugleich loben und verdammen muß, beherbergt einen vergifteten Wurm. Weder Lob noch Verdammung sind wirklich exekutierbar. Sagt man, Schopenhauers Moralphilosophie habe sich durch vorauseilende Geißelung und aufklärerische Aufdeckung künftiger Grausamkeit bewahrheitet, kann man gegensagen, sie habe sich der Vorbereitung künftiger Grausamkeiten angedient.

Auf die Frage, ob in der Geschichte der Menschheit ein moralischer Fortschritt möglich sei, würde Schopenhauer wohl mit einem Hohnlachen antworten. Und wäre die Frage, ob dieses Hohnlachen berechtigt oder unberechtigt sei, gleichfalls unbeantwortbar, wären alle Versuche, Argumente für einen diesbezüglichen Fortschritt anzuführen, vergeblich. Denn gerade nach dem 20. Jahrhundert scheinen sich Argumente für Rückschritte in gleichem oder sogar Übermaß anführen zu lassen. Mehr noch: angesichts einer möglichen atomaren Selbstauslöschung der Menschheit, scheint die Frage insgesamt unglaubwürdig und illusionär geworden zu sein.

Verteidiger Schopenhauers verteidigen dessen Moralphilosophie bis heute mit dem Argument, die akademische Moralphilosophie des 19. Jahrhunderts habe sich als unwirksam erwiesen, die kommenden Übel zu verhindern. Ein negatives Argument, das den Splitter im Auge des (akademischen) Kollegen bemerkt, nicht aber den Balken im Auge des eigenen, vermeintlich unakademisch überlegenen Geistes. Kant konnte und durfte sich nicht als moralischer Religionsgründer der Deutschen präsentieren und Schopenhauer, der vorgab, dies verborgener Weise zu sein, hatte keine Religion außer einer erbarmungswürdig religionslosen.

Prosaischer formuliert: Die Resultate der akademischen Moralphilosophie mögen nicht bedacht haben, was in Deutschland demnächst alles möglich sein werde. Aber die Schopenhauersche Moralphilosophie, die das Künftige angeblich vorhergesehen hat, wäre als Grundlage eines neuen Gewissens aller Deutschen vollkommen unfähig gewesen, das Unheil eines regressiven Nationalismus, der sich als Welterlöser verstand, zu verhindern. Die Grausamkeitsmoral des nationalsozialistischen Deutschland ist eine Verwandte der Denkungsart Schopenhauers und Nietzsches, sofern es bei dieser Verwandtschaft überhaupt noch auf philosophische Vergleiche und „Genealogien“ ankommt.

Da sich Mitleid moralphilosophisch auf Grausamkeit reimt, gilt das gegebene Verwandtschaftsurteil auch für das Selbstmitleid Deutschlands nach 1945. Deutschland nahm (nach der europäischen Rache von 1815) seit 1871 eigenständige Rache für die vorangegangenen Triumphe Frankreichs. Hätte eine politisch verinnerlichte Mitleidsethik die Racheethik der Deutschen vor dem Ersten Weltkrieg heilen können? Und trivial die Einsicht, daß nach vollbrachtem Holocaust Mitleid nicht helfen kann, die geschehene Vergangenheit zu „bewältigen.“

 

Leo Dorner, Dezember 2015

 

 

 

 

 

[1] Versinkt eine (Weimarer) Republik in eine rassistische Diktatur, ebenso eine (russische) Monarchie in eine menschenverachtende (kommunistische) Diktatur, kann auf diesen und jeden anderen real geschehenen Prozeß historischer Veränderung das formale Zusammenspiel einer wechselwirkenden Kausalität der genannten Faktoren angewandt werden.

Jede Partei einer neuen Bewegung benötigt Führer, Kader und Mitläufer; sie erobert den Zeitgeist und dessen öffentliches Meinen durch ihre neuen Prinzipien; sie formiert neue Institutionen, und sie setzt zum welthistorischen Sprung an, die ganze Welt zu erobern; und sie stürzt, weil und wenn ihre Amoralität und Unvernunft ans Licht gebracht wird.

[2] Henning Ritter, Philanthropie und Grausamkeit. Über Schopenhauers Ethik. In: Merkur, Mai 2010. S. 373 ff.

[3] Ebenda.

[4] Ein Grundsatz, der übrigens allen Argumenten der Verteidiger menschenverachtender Diktaturen und Halbdiktaturen zur Grundlage dient: „Nicht alles war schlecht unter NN.“

[5] Zitiert nach Henning Ritter, Philanthropie und Grausamkeit. Über Schopenhauers Ethik. In: Merkur, Mai 2010. S. 373 ff.

[6] Zur Veranschaulichung lese man Benevenuto Cellinis Memoiren, – wenn möglich ohne Goethes Auslassungen.

[7] »Selbst dies Gefühl des Mitleids und der weichherzigen Teilnehmung, wenn es vor der Überlegung, was Pflicht sei, vorhergeht und Bestimmungsgrund wird, ist wohldenkenden Personen selbst lästig, bringt ihre überlegte Maximen in Verwirrung und bewirkt den Wunsch, ihrer entledigt und allein der gesetzgebenden Vernunft unterworfen zu sein.« Kritik der praktischen Vernunft. https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/kant/aa05/118.html

[8] Zitiert nach Henning Ritter, Philanthropie und Grausamkeit. Über Schopenhauers Ethik. In: Merkur, Mai 2010. S. 373 ff.

[9] Zitiert nach Henning Ritter, Philanthropie und Grausamkeit. Über Schopenhauers Ethik. In: Merkur, Mai 2010. S. 373 ff.

[10] Zitiert nach Henning Ritter, Philanthropie und Grausamkeit. Über Schopenhauers Ethik. In: Merkur, Mai 2010. S. 373 ff.

[11] „Auch kann nicht verschwiegen werden, daß mehrere hervorragende Philosophen der Neuzeit so unziemlich erwähnt werden, daß dies gerechten und schweren Anstoß erregt.“ Zitiert nach Henning Ritter, Philanthropie und Grausamkeit. Über Schopenhauers Ethik. In: Merkur, Mai 2010. S. 373 ff.

[12] Wie der Weg von Hegel zu Nietzsche vor allem über Schopenhauer führte, hat Karl Löwiths gleichnamiges Buch bekanntlich grundlegend untersucht: „Von Hegel zu Nietzsche.“

[13] Zitiert nach Henning Ritter, Philanthropie und Grausamkeit. Über Schopenhauers Ethik. In: Merkur, Mai 2010. S. 373 ff.

[14] Zitiert nach Henning Ritter, Philanthropie und Grausamkeit. Über Schopenhauers Ethik. In: Merkur, Mai 2010. S. 373 ff.