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08 Musikphilosophie am Ende des 20. Jahrhunderts

I.

Die Philosophie der Musik, geschichtsmächtig noch im späten 19. Jahrhundert – als einheitlich begründete Musikästhetik – verliert im 20. Jahrhundert Zug um Zug ihre Heimstätte im philosophischen System, ihre einheitlichen Fundamente, ihre selbständige Begründung und ihre verbindliche Machtweite. Im Rückblick auf das 19. Jahrhundert zeigen sich folgende Momente:

  1. Anschauung

Bereits im Ausgang des vorigen Jahrhunderts können musikphilosophische Kategorien nur mehr notdürftig aus einer in sich geeinten Musiksprache abgeleitet und daher ebenso wenig auf eine solche – im Schwinden begriffene – bezogen werden. Die fraglosen Fundamente eines als natürlich empfundenen musikalischen Gemeinsinnes (der Geschmack kann nicht irren) zerbrechen; die ehedem entsprechenden Kategorien werden abstrakt (Übergang von Hegel zu Vischer); und der spracheinheitliche Kanon vorbildlich-urbildlicher Werke löst sich auf: die ehedem kongenial-objektiven Urteile werden subjektiv (Übergang von E.T.A. Hoffmann zu Hanslick). – In den vereinsamenden Höhen der Kunstmusik vollenden sich Autonomisierung und Individualisierung; in den Niederungen der heraufsteigenden Massenkultur und deren sogenannter Unterhaltungsmusik beginnen (atheonome) Funktionalisierung und Banalisierung frei und ungehindert zu wuchern. Ein anfangs kaum wahrgenommenes musikalisches Zweistromland (Beethoven-Rossini) schwillt rasch an und verzweigt sich con stretta in bislang ungeahnte Ströme und Anschauungen. Eine substantiell lebendige Musikkultur verwandelt sich selbst – und nicht durch äußere Verwissenschaftlichung – in eine plurale Reflexions- und Industriekultur.

  1. Geschichtlichkeit

Die Geschichtlichkeit der Musik und alles Musikalischen, noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts weithin als peripheres Phänomen erfahren und gedeutet, tritt als Ordnungs- bzw. Chaosmacht auf die Bühne des erbebenden Reiches der Musik. Die Suche nach der wahren und ewigen Natur der Musik war mitsamt dieser urplötzlich verschwunden: entweder war sie schon gefunden (und damit geschichtlich geworden), oder sie war nichts als das leitende Paradigma der neuzeitlichen Kunstmusik und ebendaher – als Natur – nie zu finden gewesen.

  1. Absolutheit

Der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts blieb es vorbehalten, die völlig autonom gewordene Musik in den Rang einer Religion mit Kult, Priestertum und Gemeinde zu erheben. Musik als metaphysischer Weltkommentar, als Sage des Seins selbst, deren Rede jenen von Philosophie, Wissenschaft und Religion gleich oder gar überlegen sei: im Innersten der Welt und zugleich deren Transzendenz. Geist von Geist in tönend bewegter Form, die – nicht Spiegel der Welt – sondern monadisches Urbild aller möglichen Welten (Kleist, Schelling, Schopenhauer) wäre: Musik daher zwanglos im theologischen wie auch im atheistischen Schlepptau mit Kierkegaards Mozart als heilig Unheiligem in der koinzidierenden Mitte.

  1. Originalität

Um ursprünglich entspringende Originalität zu sein, muß der autonome bürgerliche Komponist – Priester einer vollkommen freien Kunstreligion – dem Antagonismus zweier Forderungen gehorchen und Genüge tun: jedes Werk soll zugleich ein neues und ein allgemeines sein. Originalität und Konventionalität, einander ausschließend und dadurch erzeugend, müssen in jedem Werk, das autonomen Rang beansprucht, je neu vereinigt und dadurch als untrennbar erwiesen werden. Mit anderen Worten: die absolute Kunstmusik hat der natürlichen Vernunft des tonalen Logos zu entsprechen und zugleich die durch Geschmack und Geschichte bewiesene Originalität vergangen-gegenwärtiger Werke fortzusetzen. Nur auf gleichbleibenden Linien schreibt Musik originell neue Noten. Ohne gleichbleibenden Rahmen einfallsloser Gesetzlichkeit – der verselbständigt die epigonalen Leichen eines sich nichtwissenden Akademismus auswirft – verliert die Kategorie des Einfalls ihren sinnlichen Sinn, ihre vermittelte Unmittelbarkeit. Wo nichts selbstverständlich, ist auch nichts mehr unverständlich; nur die ungebrochene Konvention ist Fundus und Ermöglichung der spontanen Originalität. Originalität als blanker Kampf und chronische Folge von art- und gesetzlosen Individualitäten – verabsolutierter Personalstil als ultima ratio – produziert wohl ein Museum unendlicher Skurrilitäten, nicht aber Tradition als produktiv sich generierenden Antagonismus. Bereits um 1870 wird produktiv konventionelle Kunstmusik tendenziell unmöglich; sie verliert ihre (Geistes-) Gegenwärtigkeit und vermag nur noch als historische, als bewußt rückwärtsgewandte, ein gepflegtes Reservatdasein zu fristen (Brahms contra Rheinberger). Die Kräfte des Konventionellen gravitieren kollabierend in sich und erzeugen gleichsam ein neues Gestirn: die sogenannte Unterhaltungsmusik, und die Kräfte des Originellen jagen wie ein kosmischer Jet zerstiebend in die Einsamkeit des unendlichen Raumes.

  1. Formalismus

Noch an der Wende zum 19. Jahrhundert schweben die Kategorien des über Musik redenden Zeitgeistes in einer unzerteilbaren Wolke von Empfindsamkeit und Rhetorik (Harnoncourt). Der musikalische Geistesadel des Erstbürgers ist Mutation und Resultante der universalen Musiksprache des Barock – einer Klangrede sans phrase analogue, weil originär sprachmetamorph, nicht bloß sprachanalog – und der genuin musikalischen Empfindsamkeit der ancienne âme. „Motiv“, „Figur“, „Thema“, „Satz“ usf. gelten in einer uns nicht mehr nachvollziehbaren Unmittelbarkeit als sprachmusikalische Kategorien, denen die Einheit von Gehalt und Form, Gefühl und Klang, Empfinden und Ertönen selbstverständlich und daher nicht reflexiv bewußt war. Noch die Rezensionen der Erstzeugen über die Werke der Wiener Klassik wirken auf uns poetisierend, unwissenschaftlich, heroisierend, verklärend; dabei unerreichbar sachlich, erlebnisnah, kurz: ebenso treffend wie kindhaft unschuldig (Rezensionen über Beethovens Werke in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“). Um 1830 formalisiert sich die Rede des Zeitgeistes über Musik: eine Art geometrisch abstraktes Darstellen konkret lebendiger Gestalten setzt ein. Die Formkategorien verselbständigen sich und schwätzen an der Musik vorbei: „Motiv“, „Figur“, „Thema“, „Satz“ usf. stolzieren geckenhaft ohne jeden Versuch einer tonischen, geschweige empfindenden Definition. Vorarbeit zu einer Musikauffassung, die Gefühlsweise und Formdenken trennen und damit die formale Selbstreflexion und „chromatische“ Selbstanalyse („Ernste Musik“ – Schönbergs idée fixe: motivisch-thematische Arbeit sei der musikalische Logos) der Musik sowie deren Einschränkung auf fetischartig fixierbare Gefühlsidole andererseits („Unterhaltungsmusik“) vollziehen wird. Innerhalb der „Ernsten Musik“ wird die empfindsame Seite der romantischen Seele den unendlichen Tiefen des endlich erhörten Unbewußten überantwortet (Wagner). Zu gleicher Zeit verkündet die führende Musikästhetik der Stunde (Hanslick-Zimmermann) die trockene Herrschaft der musikalischen Form. Was sei – Hand aufs Herz – Beethovens Schicksalsthema anderes als ein mit simplen Dauern und Tönen gefüllter 2/4 Takt? Die Anerkennung einer Formalästhetik und damit einer philosophielosen Einzelwissenschaft von Musik überhaupt ist Teil eines Prozesses, der die Dämmerstunde der bürgerlichen Gottheit Vernunft anzeigt: die Wissenschaft des Geistes und der Natur triften zentrumlos auseinander, der bis dahin enzyklopädisch geordnete und geeinte Spieltisch einer allzeugenden und allherrschenden Weltvernunft wird verlassen: rien ne va plus. Das Paradigma des vollends über seine Aufklärung aufgeklärten Bürgertums (Hegel) zerbricht und stellt die bürgerliche Musikphilosophie vor den tiefsten ihrer Widersprüche: entweder ist die vergötterte Musik der unter-, über- oder ganz vernünftige Weltgrund selbst (Nietzsche), – oder sie ist bloßes Spiel, eine menschlich-allzumenschliche Verrichtung des Menschen, sich die Leere seiner Zeit zu vertreiben (G. Engel). Der konkrete historische Augenblick mag jeweils nur die undurchdringliche und unübersichtliche Vermischung der beiden Extreme sein, das juste milieu aus höchstem Metaphysikum und sinnlichstem Physikum, – unwiderruflich aber bleiben die Grenzen gezogen, worin sich nunmehr das musikalische Zweitstromland (E/U) bewegt.

  1. Nachschöpfertum

Der befreite bürgerliche Interpret ist in einer Person depotenzierter Komponist und omnipotenter Musikant: Priester von selbsternannten Gnaden. Noch von Schubert gescholten und gerupft, wird aus dem braven Kultdiener über Nacht ein geniales Wesen: der vergötterte Nachschöpfer. Ermöglicht durch die kollektive Vergegenwärtigung einer unendlichen Fülle gegebener Werke und deren Darbietung im Rahmen eines – der Idee nach – allgemein zugänglichen Konzertwesens. Der Erhebung des Nachschöpfers korrespondiert die Erniedrigung des Schöpfers, der komponierende Herr des Meisterwerkes wird – solange er lebt – zunehmend verbrüderlicht und schließlich zum zeitgenössischen Komponisten, – zum ausgestoßenen Außenseiter im bürgerlichen Konzerttempel. Ausnahmen wie Liszt, Busoni usf. bestätigen die wachsende Regel. Der selbstlos interpretierende Diener großer Werke aber richtet seine Selbstlosigkeit selbst: äußere und innere Pose werden unabdingbar, um im Kampf auf dem Markt der individuellen Charismen zu bestehen. Ungewißheit und Mehrdeutigkeit wird zum Maß aller interpretatorischen Dinge. Geschenktes und Gemachtes vermengen sich zum Eingemachten. Der hörende Bürger bedarf des körperlich-visuellen Charismas (z.B. Dirigentenkult), um sein Mißtrauen gegen die Höhen und Tiefen der Musik zu übermalen: der Ohrenschmaus des Werkes allein will es nicht tun. Im Reich des Konventionellen („Unterhaltungsmusik“) gehen die Uhren anscheinend weiter wie gewohnt: der Komponist sein eigener Musikant, der Musikant sein eigener Komponist. Im Reich des Originalgenies hingegen ein darwinscher Auslesekampf zwischen Diener und Herren und Herren untereinander: je mehr große (und kleine) Virtuosen, umso weniger geachtet der Zeitgenosse Komponist. Das 19. Jahrhundert gestaltet erstmals Musikkultur als lebendiges Museum: in der Eroberung und Bewahrung der Vergangenheit erweist sich die Kunst des musikalischen Nachschöpfertums als ein Jahrhundertvortakt zur Postmoderne der Künste am Ende des 20. Jahrhunderts.

  1. Vergesellschaftung

Der Adel bedurfte der Musik nicht als Religion, wohl aber als divertissement und recreation, was wiederum von Unterhaltung sehr genau zu unterscheiden ist. Für den wirklichen Aristokraten ist Musik Transpiration der Seele (sofern nicht Gottesdienst), keinesfalls Leidenschaft des Willens zur Freiheit oder Erlösung durch Erkenntnis, – und schon gar nicht Alltagsdroge. Die Symbiose Bürgertum-Beethoven reflektiert getreu die Verselbständigung der bürgerlichen gegen die absterbende feudale Lebensgestalt. Die Lösung vollendet sich rasch und wird bereits in der Symbiose Hanslick-Brahms, hier der bürgerliche Organisator und Kulturträger, dort der zu Lebzeiten verstehbare Neuerer, anschaubar. Kaum einen Augenblick währt das harmonische Gleichgewicht. Denn gegen seine Gesellschaft komponieren wird schon im späten 19. Jahrhundert des Genies erste Bürgerpflicht. Während die Wiener Sträuße den europäischen Bürger erstmals in Unterhaltungsseligkeit wiegen, während das bürgerliche Konzertleben das Areal der Musikgeschichte auratisch verklärt, verbleibt dem autonomen Neuerer sein Gegen-die-Gesellschaft-Sein als einzigmögliche Art eines In-der-GesellschaftSeins. Als Ungeduldeter geduldet, als Verstoßener gefördert, als Verstorbener anerkannt, als Einzelgänger Focus für die zerstreuten Vielen. Ein Los in der Nähe der Verbrecher, Asozialen und Irren; im Grunde die Rolle des Hasen, der wie gebannt auf die Schlange starrt, aber bisweilen im aggressiven ästhetischen Machtrausch selbst die Schlange zu sein meint, der sich die bürgerliche Gesellschaft zu opfern habe.

  1. Wissenschaft

Absolutes Wissen über Musik zu besitzen, war Antrieb, Anspruch und Überzeugung der philosophisch begründeten Systeme des 19. Jahrhunderts (Hegel, Vischer, Hauptmann). Erfüllt schien die Vorgabe der Aufklärung: das unendliche Räsonnement über Musik endlich zu überwinden (Rameau, Forkel). Bestätigt schien das epochale Bewußtsein weithin des 19. Jahrhunderts vom unausweichlichen Ende großer Kunstmusik, unter dessen Paradigma allein die Eule der Minerva ihren Flug ins absolute System unternehmen konnte. Eine der theoretischen Naivitäten des 20. Jahrhunderts war und ist, daß dieser absolute Anspruch des 19. Jahrhunderts durch einen Trick erschlichen sei. Es sei die sogenannte klassische Musik – unter hilfloser Disqualifikation der romantischen – als erreichtes Ideal und Urbild aller möglichen Kunstmusik vorausgesetzt worden. Dieser Vorwurf vergißt, daß die fundamentalen Voraussetzungen, die eine Epoche setzt, um Ideal, Theorie und Wahrheit für sich zu gewinnen, jeweils nur im Zirkel desselben Epochenbewußtseins getätigt werden. Das 20. Jahrhundert hätte keinen Begriff musikalischer Klassik, wäre es dem 19. Jahrhundert nicht gelungen, mit idealistischer Gehaltsästhetik und einer an den Werken und Kompositionslehren (Marx) durchgeführten Idee von Formschönheit die Parameter des Inhaltes und der Form von Musik in eins zu setzen. Und da eine harmonischere Balance zwischen vorgegebener Tradition und spontan genialer Autonomie, zwischen legitimierender Norm und belebender Individualisierung, zwischen Vernunft und Natur, seither nicht mehr erreicht wurde, erledigt sich der Vorwurf des 20. Jahrhunderts ohnehin. Noch die simpelste Formenlehre des 20. Jahrhunderts setzt das Theorem vom periodischen Achttakter voraus, um Schönbergs aperiodische Periode als Befreiung vom „starren“ klassischen Gebilde feiern zu können. Und die banalste Programmeinführung ist unter Umständen gezwungen, die heroische humanitas der Musiken Beethovens, Wagners, Skrjabins und Weberns zu vergleichen, um verstohlen der erträglichen des erstgenannten zuzuneigen. Klassische Musik und klassische Theorie sind eines Wesens, und dieses kann für sein Paradigma nicht belangt werden. Wenn Musikgeschichte ihr eigener Paradigmenkult ist, vermag dieser auch nicht von außen, aus der Position eines Metaparadigmas beurteilt zu werden. In der Regel wird auch nicht beurteilt, sondern zur Kenntnis genommen, daß z.B. der ägyptische Unsterblichkeitsglaube nur im Rahmen eines sonderbaren Körperkultes gelebt wurde. Natürlich lächeln wir über die Mythe, Beethovens Sinfonien seien die besten aller möglichen. Aber es ist die Frage, ob unser vorgeblich entmythologisiertes Paradigma – demzufolge nie endender Fortschritt Neues produziert, das ernannte Neue als apriorische Notwendigkeit und das Notwendig-Neue als das Beste aller gewesenen Gegenwarten zu gelten habe – mehr ist als eine neue Mythe und eine vielleicht lächerliche dazu. Das Neue im Reich des Denkens über Musik setzt mit den neuen Wissenschaftsparadigmen in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. In der unter 5. genannten Dämmerstunde zerbrachen die theoretischen Kanons der absoluten Vernunftsysteme. Die neuzeitliche Weltvernunft entselbstet sich in ihren letzten großen Gegensatz: Geschichte und Natur autonomisieren sich und damit voneinander. Die Geburt der großen wissenschaftlichen Ideologien – geschichtsmächtig wohl noch im 21. Jahrhundert – erfolgt aus dem Geist entlassener Philosophie. Musikgeschichtsschreibung (und -erinnerung) als positivistischer Historismus sowie Musikforschung (und -begründung) als naturwissenschaftlicher Szientismus stürmen in die vordersten Gräben an der Front des abendländischen Kampfes um Wissen und Macht. Musikphilosophie zieht sich in die hinteren Gräben zurück. Eigentlich sollte man meinen, nun erst hätte das große Zusammenarbeiten zwischen einzelwissenschaftlicher Empirie und philosophischer Begründung und Systematik beginnen können. Verschiedentlich wurden die Fanfaren eines exoterischen Halalis für die endgültige Wahrheitserforschung über Musik auch geblasen (Carriere, Riemann): vergeblich, wie sich zeigen sollte. Die empirischen Einzelwissenschaften von Musik emanzipieren sich rasch und erheben – aus entgegengesetzten Axiomen: historisch contra naturwissenschaftlich – absoluten Anspruch auf widerspruchsfreie Erkenntnis und Theorie von Musik. Nun endlich könnten die wirklichen Fundamente und Wahrheiten der Musik – frei von widerspruchsvoller philosophischer Spekulation – ans Licht geschafft werden. Statt Idee und Geist, statt transzendentaler und überrationaler Kategorien und Akte gelten erstmals empirische Realitäten und Verhältnisse – entweder rein geschichtliche oder rein natürliche – als Ableitungspfründe von geradezu neomythischer Qualität. Musik sei gegeben und erkennbar als reines Objekt (Dokument, Schall usf.). Als Ideologie des Faktischen bemächtigen sich die empirischen Musikologien des Lebens der lebendigen Musik: der Leichnam, den sie dadurch erhalten, ist das anerkannte Produkt seiner wissenschaftlichen Mumifizierung. Naturwissenschaftliche Verfahren machen eine Unzahl vermeintlich naturgegebener Konstanten der Musikpsyche dingfest (Helmholtz); als sollte die in rastlose geschichtliche Bewegung und Aufsplitterung geratene Musikerfahrung im wissenschaftlichen Labor objektiver Natürlichkeit zeitlos gestellt werden. Und geschichtswissenschaftliche Verfahren versammeln die dokumentierte Musikgeschichte, um deren ungezählte Fakten mittels der beliebig dehnbaren Kategorie des Einflusses in ein kausales Erklärungskontinuum einzureihen (Ambros, Adler usf.). Meist mit dem Anspruch, der rastlosen und unübersichtlichen Geschichtsbewegung eine objektiv-getreue Abbildung zu verpassen, wenn auch in Gestalt einer mumifizierenden Übersetzung: im Labor der Bücherwelt teilt uns die Sprache der Wissenschaft das Geschehen des Geschehenen mit. Köstlich kontrastiert damit die von Generation zu Generation wieder zu erbringende Neuschreibung der Historie: die Remumifizierung ihrer Scheinerklärungen. Das Intervall der Sekunde z.B. ist – naturwissenschaftlich gedeutet – zu jeder Weltzeit ein und dasselbe; – ob heute oder vor zweitausend Jahren, ob bei Ph.E. Bach, bei Wagner oder bei Webern. Musikhistorisch gedeutet ist das Intervall von Epoche zu Epoche ein qualitativ anderes, da es allein in und durch die Totalität der jeweiligen Musiksprache historisch lebendig, d.h. mit interessierenden Bedeutungen erfüllt wird. Die Negativität der musikgeschichtlichen Bewegung hebt die Identität aller musikalischen Kategorien der Historie auf, ohne daß deren Vertreter daran Anstoß nehmen würde. Die paradigmatische Naivität, mit der er sowohl die Unvergleichlichkeit – Unterschiedenheit – als auch die kausale Abhängigkeit und Identität der einander folgenden Erscheinungen setzt, läßt die insgeheime Austauschbarkeit des naturwissenschaftlichen und des historischen Objektbegriffes Musik offenbar werden. So besitzt die Musikhistorie zwar die Geschichte der Geschichtlichkeit, nicht aber die G e s c h i c h t e   der Geschichtlichkeit – das Ineinandersetzen von Unterschiedenheit und Identität – also nicht die arché der Ereignisse, ohne die nichts läuft, nichts sich entwickelt und organisiert, aber auch nichts sterben und enden kann, – ohne die jeder musikgeschichtliche Augenblick – und sei es der Klangfurz des Scharlatans – ist es ihm einmal gelungen, in den Mumiensaal einzudringen, zur Ehre einzigartiger Unvergleichlichkeit und traditionszeugender Verbindlichkeit und damit: in die auratische Vertikale des Verewigt-Seins aufsteigen kann. So besitzt andererseits die neuzeitliche Naturwissenschaft von Musik eine vermeintliche (oft wohlgemeint harmonikale) Natur der Musik: ein Arsenal ewiger Substrate, ein System tautologischer Formen und vereinzelter Materien, kurz: die Ewigkeit einer ontisch gedachten Schallwelt. Der Preis dafür: eine ebenso schier ewige Selbsttäuschung. Denn ein ewig mit sich identisches Urding Musik liquidiert schon im Ansatz Subjekt und Bewußtsein, von Transzendenz und symbolfähiger Natur gar nicht zu reden. Solche Bewahrung einer Natur von Musik – oft versucht im Plausch mit New-Age-Ideologien – erscheint im 20. Jahrhundert besonders ärgerlich, weil allem widersprechend, was uns der heutige Alltag musikalisch um die Ohren schlägt. Wie die historische kann auch die naturwissenschaftliche Theorie von Musik ihr methodisches Fundament nur auf stark eingegrenzter Ratio errichten: als neomythische Erdreistung im Zeichen einer kurzschlüssigen Ideeisierung des Ontischen. Kein Wunder daher, daß bereits Ende des 19. Jahrhunderts in der Musikgeschichtsschreibung alles Geschichtliche dokumentationswürdig und in der naturwissenschaftlichen Erforschung der Musik der lebendige musikalische Akt als Schallobjekt und Gehirnvibration salonfähig wird.

II.

Am Ende des 20. Jahrhunderts lohnt zunächst ein Blick zurück auf die Grundparadigmen der Kunstmusik in der zweitausendjährigen Geschichte des Abendlandes. In einem Satz: Musik als Kunst war entweder ein Kind des Himmels, der Natur oder des Subjekts. Sie war Äußerung und Abbildung dieser drei Substanzen und Mächtigkeiten, die sich wahrlich mächtig wußten als a) in sich unendlich, b) unüberbietbar: das erreichte Ideal und c) unzerstörbar: über alle Zukunft verfügend. In jedem der drei Grundparadigmen lassen sich zwei abgeleitete nachweisen: die Idee der permanenten Neuerung (ars = ars nova) und die Gegenidee der permanenten Erinnerung (Tradition = einzige Autorität von Kunst). Innovation und Tradition verselbständigen sich in der Machtsphäre des Subjektes (19. – 20. Jahrhundert), verzehren dessen authentische Substanz und werden schließlich geschichtsmächtig als a) subjektlose Avantgarde und b) geopfertes Subjekt der Reproduktion, manifestiert in der Wideraufführungsgeschichte der gesamten Musikgeschichte. Den genannten Grundparadigmen waren Instanzen zugeordnet, die von uns – Kindern des 20. Jahrhunderts – als heteronome bezeichnet werden: des Himmels nahmen sich Kirche und Theologie an, die Natur oblag der Gesellschaft und Wissenschaft, und das Subjekt fand sich schließlich in niemandes bergender Hand, abgesehen vom anachronistischen Versuch des Marxismus, den schaffenden Künstler als Verklärer eines neuen Himmels auf Erden zu züchten, als Appendix und Propagandist der befreiten Klasse des Proletariats, die als Natur, als Subjekt der Weltgeschichte erkannt worden war. Das Subjekt ist also seine eigene Substanz (Beethoven-Webern), ist autonom und zuletzt autolog. Das 20. Jahrhundert verdankt ihm die eigentliche Sensation im Reich der Künste: das Autonome entpuppte sich als Gegenteil seiner selbst, das auch noch seine Selbstaufhebung selbst besorgte. Aber auch die verblichenen Mächte hatten ihre unerwarteten Sensationen anzubieten: der Himmel stieg als Natur zur Erde nieder, ohne die zuständigen Behörden zu fragen, und die Natur wiederum – als Inbild normativer Vernunft – erwies sich, der Freiheit des Menschen, der Emanzipation des Subjektes, kein angemessenes Maß geben zu können. Nun ist uns also der Himmel genommen, gleichfalls die normative Natur, und das Subjekt hat sich selbst – wie es sich für ein autonomes gehört – als verbindliche Instanz liquidiert. – Was nun? Aber vorerst zurück in den Himmel. Das Mittelalter hatte sich den platonischen Ideenhimmel christlich angeeignet und darin den statuarischen Raum einer real existierenden musica coelestis gefunden. Im Rahmen der natürlichen Theologie, die sich im abgeleiteten Einklang mit Altem und Neuem Testament glaubte, wurde der antike Musikbegriff – sukzessiv erweitert und christlich begeistet – mit den Grundgestalten der entstehenden Mehrstimmigkeit vereint zum real transzendenten Urbild aller musica humana. Die sakrale Erfahrbarkeit der musica humana war der Beweis für die Existenz der musica coelestis. Diese also nicht Utopie, Grenzbegriff, fiktives Ideal oder wie sonst die Paradigmen des 20. Jahrhunderts lauten würden, sondern als Realität des Vorstellens das erstbestimmende Motiv des musikalischen Schaffens und Tuns. Letzte Spuren dieses nicht mehr wiederherstellbaren Bewußtseins – es sei denn scheinbar durch kollektive Techniken suggestiven Selbstbetrugs in den Händen fundamentalistischer Sekten und Ideologien – ist z.B. die Nichttransferierbarkeit liturgischer Musik in den Konzertsaal oder die archaische Denkweise unserer harmonikalen Grundlagenforscher, die den Komponisten des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger beschwört, zur wahren Ordnung des Seins in den Dingen der Musik zurückzukehren. Der mittelalterliche ordo musicalis traf auf eine Lebenswelt, in der jeder Augenblick des ungewöhnlichsten wie des alltäglichsten Lebens als heilig oder dämonisch ausgerichtet, als Bewegung zwischen diesen beiden erklärenden Sinnenden menschlicher Existenz empfunden wurde. Jeder Klang, jeder Ton, jede Kunst hatte im Bewußtsein des mittelalterlichen Menschen unausweichlich Anteil an dieser existentiellen Bewegung. Fern und noch undenkbar eine Welt, die jene beiden Enden eines religionsordinierten Daseins gekappt haben wird. Fern für uns wiederum eine Musik, eine Kunst, deren avantgarde Bewegung sich sämtlich im sakralen Bewußtsein eines Musikers, der zugleich Kirchenmann ist, ereignet. Wo Musik daher heiliges Tun ist, auf dem Podium: Gott und nicht die Musik, in den Herzen: Musik, aber als Mittel eines nichtmusikalischen Heilszweckes, mithin weder opus und schon gar nicht Entäußerung eines Subjektes als Subjekt. Kirche und Theologie legten die musica coelestis immer dann als strengen Gesetzeshimmel aus, wenn die musica humana avantgarde Kräfte entfaltete, um dem Übel des Novitätendranges nachzugeben. Bis in die Intimitäten des musikalischen Satzes hinein (das Wunder einer harmonischen Mehrstimmigkeit im status nascendi) wurden Verbote und Gebote, Tabus und heilige Konventionen geltend gemacht. Hatten sich die Novitäten einmal durchgesetzt, wurden sie nachträglich aus den Gesetzen des Himmels abgeleitet und das menschliche als göttliches Klingen sanktioniert. So führt die christliche Innerlichkeit als ermöglichende Quelle musikalischer Eroberungen durch Jahrhunderte einen steten fruchtbaren Kampf mit den Wächtern ihrer Institution. Daß auch im Reich der Musik Niegewesenes Wirklichkeit werden könne, und zwar nicht nur durch Kombination und Variation des sanktioniert Vorhandenen, sondern durch Transzendierung bisheriger Erfahrungen in den Fundamenten von Satz, Ausdruck, Form, Funktion usf., daß also die ars humana sich als permanente ars nova verstehen müsse, war unvereinbar mit den Doktrinen des Himmels: a) der Statik seiner Gesetze und b) der creatio ex nihil, die allein Gott reserviert zu bleiben hatte. Heute sehen wir – nicht die Gewißheit der Himmelswächter, sich des Himmels und seiner Gesetze versichert zu wissen – sondern ihre prophetische Sorge und Angst um die ars humana bestätigt: eine Supernova der musikalischen Kunst, die deren tausendjährigen Status einer ars aeterna zu stürzen droht. Einer nicht mehr durch mimetische Findung, sondern gänzlich durch Erfindung, mithin totalitäre Selbsterfindung konzipierten Kunst muß ihr eigener Himmel zur Hölle werden. Im 20. Jahrhundert geschieht es tatsächlich, daß der autonom-autologe Komponist den Versuch einer creatio ex nihil unternimmt, indem er einen völlig neuen Begriff zeugen muß (schon um die Welt vor dem vermeintlichen Fluch industrieller Banalität zu retten), der mit den bisherigen nur das Nichts gemeinsam hat. Material, Sprache, Intention, ja sämtliche Voraussetzungen bisheriger Musik werden vernichtet, um durch und in diesem Akt die neue, niegewesene zu schaffen. Stand am Anfang des christlichen Abendlands das Paradigma aller Paradigmen: Himmel-Erde, Gott-Mensch, so am Ende das Paradigma vollkommener Paradigmenlosigkeit. Angesichts der Irreversibilität des ganzen Prozesses ein unverkennbarer Hinweis auf einen radikalen Neuanfang in fundamentis musicae und zugleich ein Hinweis auf die innere Identität von Himmel, Natur und Subjekt: Der Kreis wird erst am Ende als solcher erkennbar. Die Wächter der Institution über Musik verfügten angesichts des dynamischen Innovationsprinzips der ars humana im Grunde nur über drei dogmatische Kontrapunkte: 1.Die fundamentalen Neuheiten der ars musica waren samt und sonders des Teufels, waren der Versuch des diabolus in musica, die heiligen Klänge in profane Gefilde zu entführen. 2. Die Novitäten waren ein deutlicher Hinweis darauf, daß die musikalischen Himmelsgesetze noch nicht zur Gänze und vielleicht noch nicht einmal adäquat – in veritas musicae – in die ars humana Eingang gefunden hatten. (Die süße Terz noch ein Werk des Teufels, gewisse rhythmische Modi vor der Trinität unerlaubt usf.) Die Anerkennung des Neuen als Fingerzeig des Himmels selbst hätte freilich die Demontage des dogmatischen Gebäudes der musica coelestis zur Folge gehabt. Sie sollte von der Instanz – der ecclesia triumphans nach deren Ende – nachgeholt werden müssen.   3. Im Gefolge der Occamisten war die perenne Innovation ein Hinweis weit ärgerlicherer Art, noch unendlich ärgerlicher als die handgreiflichen Schandtaten des Teufels an Frau Musica: der Himmel war womöglich liberal, es war ihm gleichgültig, in welcher Weise die ars humana sich musikalisch erging, da er sich ihre kultischen Opfer in verschiedenster Ausgestaltung gefallen ließ oder ihre Opfer nur als scheinhafte, weil nicht die nackte anima erreichend, erachtete.

Das Paradigma des mittelalterlichen Komponisten, Erfüllender eines vorgegebenen ordo zu sein, nur darzustellen, was schon existiert, nur zu finden und niemals zu erfinden, findet sich abschließend und die gesamte Bewegung der drei Grundparadigmen erschöpfend im 20. Jahrhundert – bereits völlig metamorphisiert – im a) vollkommen geschichtlich individualisierten Begriff autonomer Kunstmusik und im b) vollkommen säkularisierten Begriff standardisierender Weltmusik. Unter a) wird der Himmel zur Geschichte – zur autonomen Eigengeschichte musikalischer Kunst – die Himmelsgesetze folglich zu geschichtlichen, deren strenge Notwendigkeit auszuführen, die heilige alias geniale Pflicht des autonomen Subjekts wird. Beliebte Rechtfertigungsfigur des modernen Komponisten: Einer hat es ja sein müssen (Schönberg). Unter b) wird die einst normative Natur zum tonalen Arsenal industrieller Technologie. Unter dem Diktat des Marktes werden den industriell produzierten und medial kommunizierten Nummern der Unterhaltungskunst die Weltgesetze eines weltstandardisierenden Geistes und Sinnes eintätowiert. Die neue Weltnorm, der verbindliche Standard einer die ganze Welt unterhaltenden Musik bedarf nicht mehr des Originären (Himmel-Natur-Subjekt), woraus die abendländische Norm lebte und wofür sie starb. Reznicek zu seiner Frau (morgens nach einer mit „Donna Dianas“ Ouvertüre durchkomponierten Nacht): Ich habe einen Welterfolg komponiert. Für das Denken des späten 20. Jahrhunderts scheint das Innovationsprinzip der abendländischen Kunstmusik: – Niegewesenes könne und müsse werden – geradezu kongenial konform mit einer Religion und Theologie, zu deren zentralen Lehrstücken Eschatologie und kommendes Gottesreich zählen. Verständlich daher, daß die perenne Avantgarde unserer Tage mitunter auch auf diesen – letzten – Zug aufzuspringen versucht. Nach freiem Belieben (und Interviewpartner) machen unsere Kreationisten des Niegewesenen für ihre Anfänge bei Null und Nichtig eine theonome Bindung und Verpflichtung geltend, mithin die Autorität des Himmels, des nunmehr entleerten gesetzlosen Himmels, dessen Leere als Fundament eines unbekannt neuen Subjekts reklamiert wird. Dergleichen wäre für das Mittelalter, aber auch für Renaissance und Aufklärung, ja noch für das autonome Subjekt des bürgerlichen Genies, solange dieses seine Tradition spontaneisierend verzehrte, unmöglich gewesen. In der Rückschau sehen wir, daß das Mittelalter im Innovationsprinzip der (noch lange nicht freien) ars musica zugleich die Entleerung seines mit antiken Ideen erfüllten Kunsthimmels fürchtete. Im 20. Jahrhundert – nachdem sich alle Realitätsbegriffe umgewendet haben – ist bereits die Annahme einer real existierenden musica coelestis Ideologie und Unwahrheit. Amt und Lehre des Mittelalters aber scheinen uns die christliche Offenbarung missverwendet zu haben, um vermeintlich ewige Weltbilder und antike Vorstellungen von musikalischer Gestaltung als himmlisches Herrschaftsmittel gegen die Innovation der Künste einsetzen zu können. Vor diesem Hintergrund geschieht im Spätmittelalter die bekannte Wende zur Renaissance. Sämtliche Inhalte der diesseitigen Welt werden erstmals als Sprachen Gottes erfaßt, systematisch gedeutet und zur Mimesis der somit freien Künste freigegeben. Der Weltbegriff beginnt sich zu differenzieren und darin zu offenbaren. Die Musik entdeckt die Euphonie des Klanges und entfaltet ihre harmonischen Perspektiven; sie ist Selbstschönheit, aber noch nicht absoluter Selbstwert, noch nicht autonome Selbstgeltung; sie scheint noch nicht selig in sich selbst. Sie wird gleichsam als Nachklang eines im Echo verklingenden himmlischen Urklanges erfahren. Sie ist natürliches Abbild natürlichen Klanges, also transparentes Symbol der in der Natur urbildhaft immanenten Transzendenz (Kepler, Werckmeister). Dürers Hase weiß sich verklärt in der unübertrefflichen haecceitas seines Wesens. Er ist originär und dennoch ohne Schuld der Vereinzelung. Die Welt wird ihrer Substanz als Natur, als Erscheinung ihres Anderen, ansichtig und anhörig, der euphone Klang wird als unmittelbares Ereignis seines transzendenten Wesens erfahren, die Weltanschauung ist – in der Intention des Paradigmas – zugleich Schauung ihrer Idee, ist die Versenkung der Erscheinung in ihr Wesen, ist die Rückführung jedes Einzelnen in ihr bergendes und gestaltendes Allgemeines. Hier wird zum ersten Mal eine Weltmusik jenseits von mythisch oder religiös vermittelten Himmelsgesetzen denkbar, eine Musik, die als musikalischer Repräsentant der Idee von Natur zu uns sprechen könnte, als Medium einer vor dem Schöpfer und Bewahrer der Idee geeinten Menschheit. Dennoch verbleibt Musik als Kunst noch lange ein geduldiger Ableger der geistlichen. Nur zögernd wird Musik als selbständig zu begründende Idee, als Eigenmächtigkeit, als natürliches, in sich reflektiertes und dennoch nicht teuflisches Tun zugestanden, – und erst ganz zuletzt die Realität eines opus perfectum aus Klängen. Die Freisetzung der Euphonie in Harmonie, Rhythmus, Instrumentarium, Klangvermittlung usf. geschieht als immer zugleich wissenschaftliche Suche nach den ewigen Gesetzen der Musik-Natur. In der Renaissance treiben die Künste selbst und allein die wissenschaftliche Weltdifferenzierung voran, – ars est scientia. Der Komponist, kirchlich und höfisch gebunden, versteht sich bereits als ursprüngliches Organ, als Medium sui generis, als Verwirklicher der gefundenen Unterschiede und ihrer harmonischen Einheitssetzung. Sein schöpferisches Leben ist Manier des Ewigen. Er ist nicht spontaner Erfinder, weder mit noch gegen die Tradition, er hat nicht individualisierende, unwiederholbare Einfälle, der innovatorische Trieb ist noch nicht Zwang zum Originellen, sondern der originale zum gattungsmäßig Urbildlichen. Das Schaffen des Künstlers ist noch nicht um seiner selbst willen da, noch ferne ist die uneingebundene Verselbständigung der Kreativität, diese ist daher auch noch nicht vergötzbar als Urschöpfertum des Genies, als Urgewalt des Unbewußten, als Fetisch der Pädagogik, und schon gar nicht als Genius eines unverwechselbaren Personalstils, zuletzt als ausschließende Privatsprache des vereinsamten Subjekts. Ockgehem studiert seine Vorgänger nicht aus geschichtlichem Interesse, nicht um sich von ihnen ausschließend zu unterscheiden durch eine neue Manier sui generis (wodurch der Begriff der Manier aufgehoben wäre), sondern um den natürlich-geschichtlich vorhandenen eine gleichartige hinzuzufügen. Jenseits von guter Originalität und böser Epigonalität wird die Substanz entstehender Tonkunst, noch in die Schalen der Natur gehüllt, entfaltet. Die als Natur gehörte Idee von Musik wird in naturgleicher Arten- und Exemplardifferenzierung vorangetrieben. Damals war es noch möglich, einen neuen Desprez, einen neuen Ockeghem usf. zu erwarten. Aber spätestens nach 1750 ist es fatale Unkenntnis des grundlegenden und unumkehrbaren Paradigmenwechsels (der eben das autonome Subjekt samt Geschichtlichkeit und Spontaneität den bergenden Hüllen der Natur entschält), im 20. Jahrhundert einen neuen Beethoven, im 19. einen neuen Bach, im 21. einen neuen Schönberg zu erwarten. Gewiß beginnt die Individualisierung in anfänglichen Keimen bereits im 16. Jahrhundert, wenn etwa Glareanus opera als qualitativ vereinzelte gegeneinanderstellt, um sie als pädagogische monumenta zu verwenden. Aber primäre Intention ist immer noch der spiritus auctoritatis als objektive Manier und nicht als subjektiver Personalstil, also der als Raupe verpuppte Schmetterling künftiger Originalität und Vereinzelung.   Die radikale Differenzierung des Weltbegriffs im Zug der Neuzeit (Descartes) degradiert und erhebt die Natur zum Objekt. Sie wird sukzessive freigegebener Gegenstand. Das Reich einer objektiven Klangwelt entsteht, in dem scheinbar rein objektorientiert geforscht, beobachtet, experimentiert usf. wird. Die Natur wird Objekt eines Subjekts, das sich als neue Weltmacht erfährt und behauptet. Folgerichtig unterwirft es das Objekt den analytischen und mechanischen Prozeduren seiner Freiheit. Unter der Mächtigkeit autonomer Wissenschaften und Künste sind die Tage heteronom gebundener, aber auch einer als symbolfähige Natur in den Armen der Idee schlafenden Musik gezählt. Heute erscheint es uns im Rückblick geradezu rührend, wie durch die ganze Aufklärung bis herauf zu Kant die irreversible Entzweiung von Natur und Geist gerade im Reich der Kunst und nicht zuletzt jenem der Musik als aufgehoben gedacht wurde: weil die unmittelbare Einheit der Getrennten als innerstes Wesen von Kunst und Musik zu erkennen sei. Und allerdings ist vor diesem Hintergrund jede Melodie Mozarts ein Mysterium unaufgebbarer Versöhnung (Don-Giovanni-Menuett). Auch um den Preis einer künstlichen Simulierung des Naturschönen im Kunstwerk konnte die sich verlierende Einheit nicht gerettet werden. Als im Zuge des 19. Jahrhunderts der ästhetische Schein jener Versöhnung zusammenbrach, wurde die weltgeschichtliche Uraufführung von Kitsch im Gefolge der „natürlichen Künste“ (via klassizistische Naturmalerei und Musik) unausweichlich. Kunst wurde endgültig eine eigene Naturratio, und die ehemals ihr eingebundene verabschiedete sich als objektivierte aus den Gefilden der autonomisierenden Kunst (z.B. Impressionismus), um ihrer wissenschaftlichen Differenzierung und deren technologischen Synthesen (z.B. Fotografie) entgegenzueilen. Gerade die Aufrichtung einer streng natürlichen Kunst im 18. Jahrhundert – Glucks Prinzipien von Einfachheit, Natürlichkeit und Wahrheit (1767) – führten zu einer Kunst als Über- und Gegennatur, da ihre allgemeine natürliche Sprachlichkeit wie auch deren Individualisierung Setzung des die Natur zurichtenden Subjektes waren. Erstmals entsteht ein natürlicher Geschmack, der eines Bildungshimmels vollkommener Individualitäten und damit der ständigen Reproduktion einmaliger Werke bedarf, um darin das autonome Eigenleben einer musikalischen Kunst anzuschauen. Jetzt erst scheint die Schönheit der Musik selig in sich selbst. Endgültig löst sie ihre kirchlichen, höfischen, feudalen und zuletzt bürgerlichen Fesseln. Alles naturhaft Vorgegebene tonaler Form und geistigen Gehalts wird zum freiverfügbaren Objekt und Material des freigesetzten Subjektes, d.h. zum wesenlosen Schein, der der Freiheit einer willkürlich werden müssenden Phantasie verfällt. In der entstehenden sogenannten Unterhaltungsmusik wird der Schein als wesenloses Spielmaterial gehandelt, um den Akten des Zeitvertreibs jene Scheininnovation zu verleihen, die mit dem Bedürfniskonsens des entstehenden Weltstandards konformgeht. In der Kunstmusik aber (nachmals folgerichtig: „Ernste Musik“) wird die Leere des Scheins als schmerzhaftes Negativum empfunden und in bitterer Analysis gewußt. Der Schein wird als Konvention zur Furie, die es zu töten gilt, die Überwindung des Gewesenen durch bestimmte Negation wird zum Gesetz künstlerischer Spontaneität, wodurch diese angesichts der Entauratisierung aller verbindlichen Formen und Inhalte in tödliche Bedrohung gerät. Denn alles Gewesene überwinden ist das Programm exakter Selbstauslöschung: auch das Überwindende wird schließlich überwunden, die Gegenwart als totale Negation fällt in erinnerungslose Vergangenheit. Mit einem Wort: Musik – in allen Selbst- und Fremdbeziehungen – wird dem entfesselten Subjekt und damit unbegrenzter Erfindbarkeit, Beherrschung und Verzehrung überantwortet; – und das Subjekt? – sich selbst, zu eben diesen Leitbildern instrumenteller Vernunft. Unter diesen Auspizien bedurfte es kaum des Schrittes eines Jahrhunderts (des 19.), um das satztechnisch-kompositorische Handwerk – letzte objektive Differenzierung der Manier göttlicher Natur (Musik) – zur verlassenen Ruine zu machen. Dieser noch im frühen 19. Jahrhundert verbindliche Ort für alle Kriterien formaler Richtigkeit des corpus musicae wurde vom freigesetzten Geist des Subjekts eilends verlassen, um im 20. endgültig zum touristischen Besichtigungsgut für Kompositionsschüler und Musikforscher degradiert zu werden. Daß aber Musik als Kunst nur mehr in Gestalt syntaxloser Sprache, zuletzt als entgrammatikalisierte Experimentalsprache zu überleben sucht, so daß über deren Sprachverständlichkeit kein gesellschaftlicher Konsens hergestellt werden kann, ist notwendige Manifestation der radikal individualisierten ästhetischen Maxime: daß nicht mehr gilt: dasselbe auf immer andere Weise, sondern ein immer Anderes als Einziges und Einselbiges im Hier und Jetzt des unwiederholbaren Augenblicks. Die Fiktion einer erfahrbaren Nichtwiederholbarkeit von musikalisch dargestellter Zeit wird zum letzten – verzweifelten – Raum auratisch klingender Andersheit erhoben. Bereits der späte Beethoven wußte sich dem Willen zur Macht des einzigartigen Werkes in einer Weise verpflichtet, die Rücksichten auf den gesellschaftlichen Konsens des bürgerlichen Geschmacks zunehmend ausschloß. Damit entdeckte das 19. Jahrhundert endgültig, daß Naturschönes in und für Musik nicht als normative Gegebenheit, sondern immer nur als Setzung einer je und je gesellschaftlich vermittelten Intention existiert hatte. (Tod der Obertonreiche als deus ex machina). Durch dieses radikal freie Verhältnis zu normativer Natur ist Kunstmusik die Avantgarde schlechthin für die Individualisierung und Autonomisierung aller Künste im Rahmen des sich unendlich differenzierenden modernen Kunstbegriffes geworden. Alle Künste (mit Ausnahme der neu entstehenden) „musikalisieren“ sich im 20. Jahrhundert, sie werden weltlos, abstrakt, – im Selbstverständnis freilich: innerer, verschlüsselter Monolog einer katastrophischen Übergangswelt, indem sie im Zeichen autonomer Rationalität und analytischer Weltvernunft einen je nur auf die Sinnlichkeit ihres eigenen Materials bezogenen Ratio-Begriff im Labyrinth der entfesselten Subjektivität (Gehlen) auszubilden gezwungen sind. Ist aber das Innovationsprinzip primäres und zuletzt einziges Paradigma im Labyrinth der sich individualisierenden und formalisierenden Subjektivität, muß dies am Ende die Fundamente der Musik als eines L e b e n s (teleologisches Ganzes organischer Akte) zerstören. Nicht verwunderlich daher, daß sofort beim ersten Auftreten der Innovationsratio im Zeichen des entfesselten Subjekts vom Dämon des sich individualisierenden Meisterwerks Reißaus genommen wird, – in Gestalt der planen Leichtmelodie (Rossini) als Reduktionsform und Zurücknahme der Differenzierung. Musik komponieren ist – im neuen unterhaltsamen Gestirn (vgl. I/4) – ein säkulares Geschäft, nicht bedeutsamer als andere, nicht weniger wichtig als Kochen und Nichtkomponieren. Die nunmehr gewußt gewollte (konventionelle) Nicht-bzw. Scheinninnovation serviert die gesamte Naturgeschichte der Musik als bekömmlich verkochte Unterhaltungsspeise. Es half wenig, daß sich dieses unerwarteten säkularen Geisteskindes weder die Träger der bürgerlichen noch später der sozialistischen Musikkultur urheberschaftlich annehmen wollten – Alimente waren angesichts der prächtigen Weltkarriere des Waisenkindes unerforderlich – gerade das unerwünschte, nicht bezweckte, nicht pädagogisierte Geisteskind sollte im 20. Jahrhundert die führende Novität des Musiklebens der Welt werden; gerade das Nichtinnovatorische sollte die Welt-Innovation, das Niegewesene und zugleich verbindlich alles Umfassende und alles Durchdringende werden. Nochmals: Kunstmusik (Tonkunst) wird im 19. Jahrhundert von allen heteronomen Fesseln entfesselt, dafür aber an die Individualisierung ihrer eigenen Substanz und Form gebunden: Sie wird Selbstausdruck, Eigengeist, Selbstdarsteller, gleichsam Pantokrator einer neuen gnostischen Substanz, um den Preis radikaler Formalisierung des musikalischen Geistes. Jedes nichtindividualisernde Gestalten wird geistlos – aus der Perspektive des entfesselten Subjekts – und als solches: Spielmaterial der entstehenden Unterhaltungskunst, die mit dem neuen – alten – Material (Premiere der postmodernen Decodierung) im Reich des neuen Zerstreuungsgeistes, dem an der Wirkung der Klänge alles, an deren substanzieller Bewegung und Bedeutung nichts mehr gelegen ist: das Varieté eines Perpetuum mobile von Abwechslungen, um halbwegs lebendig durch die gefristete leere Zeit des säkularen Weltalltages zu kommen.

III

Virtuell besitzt die Erste Welt im ausgehenden 20. Jahrhundert eine nie zuvor verfügbare Vielfalt musikalischer Sprachen, Ausdrucks- und Verwendungsweisen. Reell eine gleichfalls niegewesene Standardisierung und weltweite Vereinheitlichung des Gebrauchs von Musik oder was davon übrigblieb. Technologische Industrie – neues Produktivkraft: Elektronik – und die Tauschgesetze der Märkte steuern die Premiere säkularer Weltmusik. Die Musiken lokaler Kulturen verlieren in der technologisch vernetzten endgültig ihre traditionelle Überlieferung, ihr authentisches Selbstverständnis und damit den Ort ihrer bisherigen Fortsetzbarkeit. Die ethnologische Enteignung wird gerade durch wissenschaftliche Versuche, sie zu verhindern, endgültig vollstreckt. Europa verliert im Jahrhundert des unselig untergehenden Abendlandes endgültig die Position der kulturellen Führungsmacht. Alle Versuche des 20. Jahrhunderts, das unmittelbare Leben und spontane Schaffen der großen Kunstmusik auf gleicher Höhe in anderer Gestalt fortzusetzen, mißlingen. Kein Durchbruch zu neuer allumfassender Naivität, keine die Epoche verbindlich durchdringende Kunstsprache, keine gegenwärtige Gegenwart, in der – wie früher – die Vergangenheit produktiv aufgehoben und vergessen gewesen wäre. Zunehmend erkennt sich die musikalische Moderne am Ende des 20. Jahrhundert selbst als das Scheitern dieses Versuchs. Der avantgarde Saltomortale in die Postmoderne seit den Siebzigerjahren bekennt ein, daß es nicht geglückt ist, durch bewußte Negation der Tradition eine neue, der vergangenen gleichrangige, zu eröffnen. Die Suche nach dem verbindlich Neuen und Eigenen, nach nichtnegativ in sich gegründeter Originalität und Authentizität konnte damit aufgegeben werden. Der Weg zur Negation der Negation wurde nicht gefunden, konnte auch nicht gefunden werden, weil innerhalb eines Kontinuums durch Negation immer nur ein relatives, nie ein absolutes Diskretum, es sei denn durch Zerstörung des Kontinuums, gewonnen werden kann. Im Blick auf das Ganze daher zwei Kardinalfragen: was ist für die kommende Weltmusikkultur aus der Selbstzersetzung der abendländischen Musiksubstanz zu folgern und von einer alsbald vollendet säkularisierten Technologie-Kultur zu erwarten? Nochmals die Totale der Antagonismen: eine schier unendliche Pluralität von Musiken in babylonisch scheintolerantem Nebeneinander: der chaotisch allmähliche Zusammenschluß von Kontinental- und Nationalkulturen in das Andere einer entstehenden Weltkultur; Voraussetzung dazu: die fortschreitende Säkularisierung von Klang und Musik als internationalem Unterhaltungsmedium in den Industrien technologischer Rationalität; und als bereits peripheres Phänomen derselben Säkularisierung: die nominalistische Selbstzersetzung der Erste-Welt-Kultur im Zeichen innovatorischer Individualisierung. Noch am Beginn des 20. Jahrhunderts war die Erwartung einer neuen, in ihrer Neuheit begründeten und beständigen Musikkultur ein mächtiges, Individuen zeugendes und leitendes Paradigma. Die Hoffnungen – auch im Eingeständnis der Förderer (Scherchen) – haben sich nicht erfüllt. Kunst als Kind des Subjekts war unweigerlich den Prozeduren analytischer Vernunft ausgesetzt und im Labyrinth autonomer Individualisierung zu autologer Formalisierung geführt; die Lebensfundamente der Substanz wurden im Reich des Werkmeisters gelöscht. Der Genesis dieser Zersetzung nachzugehen, war wichtig, weil auch die Unterhaltungskunst ein Produkt, gleichsam das Konventionalprodukt dieser Zersetzung ist, – der notwendige Dünger entstehender Säkularkultur. Die Säkularisierung geht auf das Schuldkonto der Ersten Welt, sie ist das notwendige Weltverhältnis des sich durchführenden Weltbegriffs der Neuzeit. Mit anderen Worten: das Verschwinden autonomer Kunstmusik als weltbestimmender Kulturmacht ist Anlaß zur Trauer nur im Blick auf die Paradigmen des Abendlandes: Ohnehin ist klar, daß die Menschheit im Begriff ist, in allen und also noch wesentlicheren Bereichen als von Musik und Kunst die Bewegung von Himmel, Natur und Subjekt abzuschließen, um sich auf der Ebene eines neuen Äons (kommender Gott, überlebende Erde und Menschheit, dialogisches Subjekt) als Weltgemeinschaft zu konstituieren. Die Bedeutung von Musik im Selbstverständnis des Menschen unter den Dimensionen vollkommener Säkularisierung und absolut gewusster Geschichtlichkeit wird eine radikal andere: und vor dieser Bewegung in das Andere nehmen sich die Auseinandersetzungen der heutigen europäischen Avantgarde – ob sie vielleicht erst Prae- oder noch immer Avant- oder doch schon Postgarde sei – bereits wie der Streit von Gartenzwergen aus, deren verwüsteten Besitz die Eigentümer längst verlassen haben. Im 20. Jahrhundert ist es endgültig vorbei mit Musik als Kunst im Sinne allgemeingültiger ars scientia. Alle Wiederbelebungs- oder revolutionären Fortsetzungsversuche sind gescheitert (Schönberg, Hauer, Webern, Hindemith u.v.a., etwa diverse harmonikale und klangwissenschaftliche Kompositionssysteme). Musik als ars scientia, der Inbegriff des abendländischen Kunstparadigmas: Musik als Synthese von verbindlichem Können und Genius, weltgeschichtlich einzigartig, behauptete in ihrem Grundaxiom – in der Bewegung durch Himmel, Natur und Subjekt – daß es eine ureigene – authentische – Art von Wissenschaft sei, Klänge zusammenzusetzen, die substantiell und eigengesetzlich – im Inbild ewiger Natur – aufeinander hören; eine diesen Klängen selbst wesensgemäße Wissenschaft, durch deren Praxis allein Selbst-Verständlichkeit und Selbst-Leben von Klängen in Gestalt von Kunstwerken das Licht der Welt erblicken könnten. Verfügt aber die Kunst einmal über eine selbstlegitimative und praxisgezeugte Wissenschaft eines teleologisch vorgegebenen Naturbildes, so vermag es dieses wie eine Sprache gleichsam als verbum mentale, als Logos ihres Wesens, systematisch zu artikulieren und im Gang der Epochen die zusammenhängende Entwicklung einer Natursprache mit dem Endtelos autonomer Individualisierung zu entfalten. Rückwirkend daher die musikgeschichtliche Einsicht, daß die abendländische Tonkunst ihre eigene Wissenschaft war, systematisch artikulierte Wissenschaft ihrer eigenen Natur, die folglich ihrer Erkenntnis als einer im Zusammenhang ihres Wesens zu l e s e n d e n Naturgeschichte harrt. Diese „Naturwissenschaft der Musik“ war das monadische Innerste ihrer Kunstentwicklung, die eben im Reich des autonomen Subjekts zu Ende kommen mußte als erfüllte und ausgesprochene. Sie war in den großen Komponisten der tätige Gott, der Geist, die Tradition, das Kontinuum, in dem – inmitten aller Willkürlichkeiten und geschichtlichen Bedingungen – Freiheit als Natur und Natur als Freiheit im Medium der Klänge möglich wurde. Die großen nominalistischen Subjekte des 20. Jahrhunderts überstürzen sich geradezu darin, neue Kriterien für eine neue Natur von Musik als Kunst aufzufinden. Aber die prophetischen Hypothesen in Gestalt von Werken und Theorien entpuppten sich samt und sonders als Fiktionen einer nicht vorhandenen Natur. Darüber kann auch die sich rechtfertigende Ableitung ihrer Versuche – z.B. Notwehr des Kunstschöpfers in verzweifelter Gesellschaftslage, wissenschaftsanaloge Rationalisierung oder wissenschaftsfreie Sensibilisierung von Klangsinnlichkeit, Konformsuche mit relativitätstheoretischer Physik, Ausdruckssuche für ein Jahrhundert, das in katastrophischen Umbrüchen den Menschen maßloses Leid und entwürdigendes Schicksal zufügte, nicht hinwegtäuschen. Die konkrete Paradoxie des nominalistischen Genies im 20. Jahrhundert lautet: je mehr der Komponist ans Kontinuum der ars scientia wiederbelebend oder revolutionär anzuknüpfen versucht, desto mehr wird er antinomer Esoteriker seiner individuellen Art: Schöpfer von Postindividualität, die nicht mehr ihresgleichen (an)erkennt, weil sie im Prinzip mit keiner anderen in irgendeiner konkreten Gemeinsamkeit Identität haben soll und daher nicht mehr mit den anderen intersubjektiv vermittelbar ist. Der Komponist und Musiker jeglicher Unterhaltungsmusik im 20. Jahrhundert ist gleichfalls postindividuell (substantielle Einzigartigkeit ist kein Thema im Reich säkularer Wirkungskunst); und insofern ist die todernste Musik des Esoterikers die Wahrheit der lebenslustig unterhaltenden; aber anderenteils bedient sich der Unterhaltungsgeist schamlos – in den Ohren des Esoterikers – der tonalen Weltmaschine, die ihm medial und technologisch verstärkte Auftritte als intersubjektives Supersubjekt und damit bei den Massen die Erweckung organisierter Erlösungshysterien ermöglicht. Die antinome Postindividualität aber (der autologe Komponist) löst nicht nur Handwerk, gemeinsame Sinnlichkeit, allgemeine Syntax und kollektive Lust, Apollo und Dionysos, sondern mit alledem die traditionsvermittelte Autonomie des ästhetischen Geschmackes auf, dessen Urteil bislang die Erfahrungsbasis einer verbindlichen Beurteilung von Musik und ihrer Geschichte war.   Weil es der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts nicht geglückt ist, das Paradigma der Natur weiterzuführen, noch an dem des Himmels anzuknüpfen, noch auch im Labyrinth des autonomen Subjekts Bleibe und Fortkommen zu finden, weiß sie sich von den langmächtigen Schatten der ars scientia fundamental in Frage gestellt (Ansermet). Und nur solange das Innovationsparadigma der ars supernova als geschichtsmächtiges geglaubt und befolgt wird, wird diese gleichfalls mit fundamentaler In-Frage-Stellung ihres Widerparts reagieren. Die letzte Auflage des alten Streites zwischen moderni und antiqui muß daher im und um das Wesen der Musik selbst erfolgen. Wesen ist nun endgültig das Gewesene oder das Zukünftige, keinesfalls aber die sich innovatorisch negierende Gegenwart. Allein die Tatsache, daß das Gewesene seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr in der Gegenwart verschwindet, sondern von dieser getrennt bleibt in permanenter Wiedererinnerung und Aufführung, ist ein Zeichen des Sieges der antiqui: ihnen gehört die Gegenwart, in ihnen vollzieht sich die Synthese von Himmel, Natur und Subjekt, also die sich verewigende Geschichte der Kunstmusik als Idee ihrer Natur. Die zu Ende gekommene Idee aber muß sich zuletzt als Unidee, als a) machtloses Unwesen und Unmöglichkeit und b) als überreicher Lieferant der Elemente ihres Scheins – ihres Leichnams gleichsam – für die neue Säkularkunst der technologisch regierten Weltmusik manifestieren.

IV

 

Die Geschichte der Individualisierung im Reich der Kunstmusik ist bis Ende des 19. Jahrhunderts im Bild der organischen Knotenlinie darstellbar. Linie (Wesen) und Knoten (Individuation) sind untrennbar: die Linie ist das Produkt der Verknotung, die Verknotung bezieht alle Kraft aus dem Telos der Linie. Die großen Subjekte sind kristallisierte Konzentration der Linie selbst, die Linie: differenziert erfahr- und erzählbare Geschichte der substantiellen und akzidentellen Konzentrationen, damit der Beweis ihrer Fortsetzbarkeit, Bestätigung ihrer Identität und eines ungebrochenen Maßstabes, vor dem sie im erfahrbaren Kontinuum der Geschichte ihren verbindlichen Ort zugewiesen erhalten, somit als Folgeereignisse des progressiven Schicksals der Idee erkennbar sind.   Damit ist es im 20. Jahrhundert vorbei: die letzten großen Subjekte verbindlicher Kunstmusik erscheinen als Endpunkte einer je eigenen Linie und vollstrecken die Diaspora der Grundlinie: sie machen Ernst mit dem Begriff durchgeführter Individuation: Unteilbares, Einzigartiges zu sein. Dies stellt die Musikphilosophie des 20. Jahrhunderts vor das Problem, wie denn über nominalistische Monaden und deren intendierte Subjektsprachen allgemein und verbindlich zu urteilen wäre. Problemlos scheint die historische Musikwissenschaft auf der Folie des nicht hinterfragten Innovationsprinzips die Musiken der großen Subjekte (z.B. Schönberg, Webern, Hauer, Hindemith, Bartok, Strawinsky u.a.) zu vergleichen, indem sie deren Unvergleichliches aus der Erfahrung aufnimmt und im empirischen Zirkel durch deiktische Akte demonstriert; mehr noch vergleicht sie deren theoretische Äußerungen und Bekenntnisse, um sich an diesen die Gewißheit einer unverwechselbaren Größe und unteilbaren Eigenheit zu bestätigen. Nicht immer ist ihr dabei bewußt, daß nur das gegeneinander Andere entscheidend ist für die wirkliche Konkretion von innovatorischer Individualität: denn Gemeinsames oder Beeinflußtes, Abhängigkeiten und dgl. wären das noch nicht Überwundene, das erst noch zu Individualisierende, das belanglos Konventionelle, ein unverarbeiteter Rest, der dem Zeitgeist, nicht dem Individuum gehörte, also das noch (Mit)Teilbare, noch nicht das schlechthin Unteilbare. Wenn aber gilt: was beim Einen, gilt nicht beim Anderen, zerfällt unausweichlich über die unvergleichlich Vereinzigten sowohl Identität wie Vermittlung nicht nur der wissenschaftlichen Rede, sondern auch der kollektiven (bisher im Zeichen des verbindlichen Geschmackes vollzogenen) Erinnerung. Je divergenter die Vereinzigten, umso ausgehöhlter jeglicher Allgemeinbegriff, je fiktiver die Vermittlung, umso gewaltsamer die Subsumierung, je verschwindender die Identität, umso fremdbestimmter die Organisation der Erinnerung (Festivalkultur). In wissenschaftlicher Perspektive muß daher der Allgemeinbegriff moderner Kunstmusik (nach 1945 ohnehin) solange formalisiert werden, bis sich an und durch ihn selbst keine allgemein gesicherten Unterschiede mehr feststellen lassen; und die Kompositionspraxis den Beweis dazu vorausschickt, indem sie den Vereinzigten jede gemeinsame Handwerkslehre, jede gemeinsame Ästhetik, jede gemeinsame Syntax musikalischer Sprachlichkeit aus Herz und Kopf entwendet.

Die emanzipierte Dissonanz ist als Kategorie das undefinierbare Neutrum von Klang überhaupt – gemäß ars scientia: ein musikalisches Unding – da sich nur mehr gegen Nichtklang und Stille bestimmt. Hier bereits wird der Rubikon des musikalischen alea iacta sunt überschritten. Ohne Kriterien und Kategorien aus dem Fundus der ars scientia ist nicht einmal eine fiktive Anwendung eines Allgemeinbegriffs aufs Vereinzigte möglich, – eine emanzipierte Dissonanz nicht als Dissonanz verbindlich ansprechbar, geschweige erfahrbar. Daher die Willkürlichkeit und tolerierte Unüberprüfbarkeit aller theoretischen Begrifflichkeit der Musikmoderne, sobald sie über die tautologische Beschreibung des Technischen hinauswill.

Ist nun hier nach wissenschaftlicher Redlichkeit kein Ausweg, so scheinbar leicht im Geist der Zeit: in diesem – also in uns – wirkt ja nach wie vor die kollektive Naivität des ursprünglichen Sinn und Unsinn setzenden historistischen Paradigmas: ungebrochen werden die vereinzigten Subjekte als Attribute einer (fiktiven) Substanz neuer großer Kunstmusik des 20. Jahrhunderts erklärt und damit zu einer wiedergeburtlich der Wiener nachfolgenden „Klassik der Moderne“ hochverklärt: getreu unserem selbstverständlichen Kunstverständnis von Geschichte, daß das Neue von Heute das Ewige von Morgen sei, einer Ersten Wiener Schule eine Zweite und dieser noch unzählige weitere folgen werden (H.D. Klein). Halten aber historisches Bewußtsein und Forschung an der regulativen Idee eines identischen und fortsetzbaren Traditionskontinuums fest, so sind sie gezwungen, geradezu manisch an den Subjektsprachen des 20. Jahrhunderts kategoriale Gemeinsamkeiten – das unterirdische Beeinflussungssystem – zu suchen. Nicht um die Individuationen zu diskreditieren, sondern um die entdeckten Gemeinsamkeiten als prophetische Zeichen eines neuen Reiches neuer Kunst, mithin des durch neue Kunst noch zu schaffenden neuen Menschen (Stockhausen) belegend zu deuten. Und dem Einwand, es sei sonderbar, eine neue allgemeine Mitteilbarkeit musikalischer Kunst auf dem Weg über das Unteilbare und Unmittelbare erreichen zu wollen, wird erwidert: gerade in der autarken Eigenheit der Monaden gegeneinander werde schon in naher Zukunft die erhellende Sicht auf den gemeinsamen, aus der Zukunft verschleiert hereinsprechenden Grund freigegeben, aus dem letztlich und erstlich die Individuationen hervorgegangen seien: dann werde sich die jetzt noch zukünftige, jetzt noch fiktive Substanz dieses utopischen Grundes auch in Fleisch und Blut des Musikers als neue Natur, als endlich nichtnegativer Motor weiterer Individuation – nicht zuletzt dank endlich kreativer Musikpädagogik – am erreichten Ufer des Andersseins entschleiern. Das Gelingen der Moderne wird vorwegnehmend unterstellt. Als wissenschaftliche Formulierung eines neuen Kunstparadigmas müßten aber ausschließlich neue Kategorien, ohne Rückgriff auf den Fundus, begründende Geltung geben. So müßte das grundandere Zusammengehen von Klängen, Dauern, Farben und Stärken in einer gänzlich neuen ars scientia selbstlegitimativ begründet werden. Darüber setzt sich die prophetische Berufung auf eine Differenzierung künftiger Substanz und Natur hinweg; leicht ist es dann, zu behaupten, die Moderne hätte das Grunddilemma ihres Projektes gelöst: eine ganz eigene Art eigenen Wesens und zugleich nur eine neue des vergangenen zu sein. In Gestalt unverbindlich unverbindbarer Subjektsprachen hätte die Kunst des 20. Jahrhunderts die verbindliche Erbschaft der Tradition angetreten und die Linie der Vergangenheit zur verpflichtenden Fortsetzung der schon anwesenden Zukunft weitergeknotet.

V

Bereits im 19. Jahrhundert erwacht im Labyrinth autonomer Subjektivität die Suche nach dem m u s i k a l i s c h e n   G e d a n k e n, der bei und durch sich selbst reine Kreativität und Begründung eigenen Sinnes wäre. Kunstmusik möchte endlich Herrin im eigenen Haus sein und durch voraussetzungsloses Selbstdenken eine Gestalt neuer Freiheit und Weltdifferenzierung werden. Das Paradigma schlechthin befreiter und in sich gegründeter Musikrationalität – bei theoretischem Gewahr werden (Hanslick) sofort an Beethovens Methode, in den Formen mit den Formen zu komponieren, geknüpft – verwandelte die Geschichte der Kunstmusik alsbald in ein rastlos rasendes Unterwegssein zu einer Freiheit vollkommener Eigengesetzlichkeit. Am Ziel ihres Selbstseins werde Musik aus den erkannten Gesetzen eigener Sprachlichkeit neu geboren werden, und wenn es sein müsse – seit Schönberg – als Phönix aus der Asche zerstörter Konventionalgeschichte.

Die großen Subjekte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehen ihre Individuation daher nicht als narzißtische Ausbildung unverwechselbarer Personalstile um ihrer selbst willen, und schon gar nicht als des Sisyphos Suche um der Suche willen, sondern als heroischen Dienst an der Idee von Musik als Kunst: dieser endlich zu einer Sprache zu verhelfen, die sich gänzlich eigenem Denken verdanke. Beethoven wird zum auctor auctoritatis und das schlechthin stringente Werk zum gelobten Land einer neuen musikalischen Selbst-Verständlichkeit. Beethoven hatte ja vorgeführt, wie sogar das bereits konventionell gewordene tonale Substrat vereinzigartigt werden könne. Mit (nicht in) der Form eines Fugenthemas klopft die Musik in der „Fünften“ an die Pforte ihres Schicksals; nicht mehr ist die Form Funktion des Themas, sondern dieses ist Funktion der – neuen – Form; nicht mehr folgt Musik den Bahnen eines vor-geführten Gesprächs vorgesetzter Stimmen, sondern das Thema ist mittelhaftes Substrat, das im Dienst der individuellen Form das tonale Idiom und die altwerdenden Gesetze verbraucht. Die bisherige – z.B. barocke – Durchstrukturierung geht verloren und muß durch die der Durchführung, d.h. des autonomen Durchdenkens motivisch-thematischer Selbstgespräche der harmonischmelodischen Individualisierung ersetzt werden. Der Verlust des Gleichgewichts von polyphonem Kontrapunkt und melodiegesetzter Harmonie ist der zu bezahlende Preis: erstmals wird die Dissonanz – der ursprünglich Zeit bewegende Klang – freigesetzt, erstmals wird sie ihrer Verschleißbarkeit offenbar, erstmals muß sie ihren Verbrauch komponieren (Beginn von Beethovens Klaviersonate op. 111). In der Selbstdurchführung des musikalischen Denkens an jedem vorgegebenen Substrat – so der deutende Blick der Zweiten Wiener Schule auf ihren Mentor – sei von nun an neue Verständlichkeit und allgemeine Natürlichkeit verbürgt – wenn auch mitunter erst nach dem Tod der prinzipientreuen Nachfolger anerkannt. Beethovens Musik habe die Möglichkeit des Prinzips bewiesen: die Produkte seines musikalischen Denkens seien jedermann unmittelbar zugänglich, in aller Welt nachvollziehbar und als gleichsamige Natur die Lösung ihrer Antinomie: unmittelbare Verständlichkeit einer einzigartigen Gestalt. In der Nachfolge Beethovens, so die Rückprojektion der Zweiten Wiener Schule – Avantgarde des 20. Jahrhunderts – sei es unumgänglich geworden, im Zeichen einer sich denkenden Musik zu komponieren. Und eben diese Rückprojektion (vgl. die Analogie zum Paradigma historistischer Naivität) ist es nun, die das avantgarde Subjekt hindert, einen unverstellten Blick auf sein eigenes Verhältnis von Theorie und Praxis zu gewinnen. Als praktisches verhält es sich radikal individualisierend: das Vorangegangene ist zu überwinden, die Konvention aufzulösen, alle Substrate individualisierend zu signieren. Als theoretisches aber deutet es diese seine eigene Tätigkeit als Ausdruck einer Suche nach dem neuen Allgemeinen, das wiederum – im Prinzip – mit jenem der großen Vergangenheit identisch sei, z.B. in Beethovens urschöpferischer Methode, durch motivisch-thematische Arbeit auratische Einheit zu stiften. So gelangt der Beethovennachfolger zur Grundthese seines Selbstverständnisses: durch radikale Fortschreibung der Individualisierung immer nur „dasselbe“ zu erreichen wie Beethoven, dasselbe auf höherer Ebene, dasselbe in höherer Gestalt. „Höher“ soll nur bedeuten „differenzierter“, d.h. einer differenzierteren Zeit, Sinnlichkeit usf. entsprechend, einer späteren musikgeschichtlichen Stunde. Aber nichtsdestoweniger gilt: trotz höchster Differenzierung zugleich einfachste Faßlichkeit (Webern). Die Rache des Irrtums ist unerbittlich, der verstellte Blick entlarvt sich als Handlanger der analytischen Vernunft. Im leidenschaftlichen Akt der Rückprojektion eines formalen Verstandesbegriffes ästhetischer Zweckmäßigkeit in die Geschichte der Musik verwechselt das moderne Subjekt diesen seinen eigenen analytischen Tätigkeitsbegriff mit der noch geeinten, noch nicht mit ihrem Natursubstrat zerfallenen Substanz von Musik. Zwangsläufig daher die Behauptung, die Substanz bleibe unverändert dieselbe, das Neue sei neue Art derselben Gattung, sei in jeder neuen – durch bestimmte, fortschreitend verzehrende Negation gewonnener – Einzigartigkeit deren sich vermittelnder Kern. Unweigerlich wird damit das Denken des musikalischen Denkens zum neuen Gattungswesen der Musik, – in der Rückprojektion sogar der Beethovenschen aufgerichtet. Vergessen wird darüber, daß auratisches Denken ohne Substrat, an dem und in dem es dächte, unmöglich, eine Sinnlichkeit ohne Natur, eine Individualisierung ohne allgemeine Materie, eine Form ohne Formierbares, also leere Formieren, letztlich: die zufällige Klangform der Stille wäre (Webern: Leben heißt, eine Form verteidigen). Im Selbstverständnis der Zweiten Wiener Schule wird also Tätigkeit und Substrat getrennt, durchaus im Sinn des neuzeitlichen Paradigmas einer radikalen Trennung von Subjekt und Objekt, eines Beherrschens von Natur und Sinnlichkeit durch den völlig freigesetzten G e d a n k e n   des neuzeitlichen Subjekts. Die Subsumierung der klassisch-romantischen Werkgestalt unter einen zweckrationalen Verstandesbegriff musikalischen Denkens erklärt die – selbsterhaltungsnotwendige – Naivität Weberns (nachdem er das Substrat in allen Parameter beinahe völlig aufgelöst und verzehrt hatte) – im Gefolge Schönbergs der festen Überzeugung zu sein, auf geradezu wissenschaftliche Weise die einfache Verständlichkeit eines neuen – dem Jahrhundert entsprechenden – Einzigartigkeitsidioms gefunden zu haben; mit anderen Worten: ein neuer Beethoven, der folgerichtige des 20. Jahrhunderts geworden zu sein, dessen Melodien die Briefträger schon bald auf der Straße vor sich hin pfeifen würden. In tieferem Sinn hatte Webern recht: er wurde der wirkliche Beethoven des 20. Jahrhunderts: der unmögliche, der verstummende, sich auflösende, die Individuation beendende.

 

VI

Es ist absurd, auf einem zerfetzten Seil tanzen zu wollen, noch absurder auf dessen zerstreuten Schattenstrichen. Aber es hat die Konsequenz des Paradigmas: die abendländische Kunstmusik bleibt sich treu bis zuletzt, auch ihr Sterben gehört der Idee. Nach 1945 wiederholte sich das Spiel von Gedanke und Substrat an der Scheinsprachlichkeit Weberns selbst. Diese – selbst schon das Resultat einer unendlichen Negativität des Subjekts und die vollendete Verzehrung des identischen Substrats – wird zum Substrat und methodischen Vorbild einer neuerlichen Individuation gemacht. Im Zeichen vollendeter Herrschaft über und durch das „avancierteste Material“ wurde nun nicht mehr Brot und Wein, sondern der eigene Magen verzehrt. In der totalen Serialisierung der Reihentechnik: – Vollendung der motivisch-thematischen und das endlich gefundene Denken des musikalischen Denkens – wurde unumstößlich erwiesen, daß die ersehnte immanente Notwendigkeit des musikalischen Gedankens dessen Gegenteil in der Maske stupend leerer Tätigkeit ist: beliebiges Spiel, eine Unfolge von Pirouetten des Zufalls, die bekanntlich in einem allerletzten Schritt zum Pseudosubstrat einer allerneuesten Musik als Nichtmusikmusik erhoben werden, indem am Zufall alles Zufallenden zufällige Techniken, sogenannte Determinationen, erprobt werden. Erst hier wurde erkannt – vom Subjekt der Individuation selbst – was offenbar in der Verblendung serieller Macht noch unmöglich war: daß längst schon das Paradigma nicht mehr galt: alles hänge mit allem zusammen kraft denkerischer Entfaltung des urgedanklichen Keimes, sondern: alles sei von allem getrennt, kraft ebendesselben, aber zerfällten Keimes. Die Individuation fällt – erlöst – in den Kern des Subjekts zurück. Schweigend schreitet der Autologe im Käfig seines Schweigens um sich herum: er bestaunt seine vormalige Existenz, er weiß sich von sich und seiner Vergangenheit getrennt und befreit. Der (Un)Komponist setzt sich zufällig, gleichgültig, dem Skelett der vollendeten Individuation ist Sein oder Nichtsein dasselbe. Gleichgültig, ob sein Produkt Werk oder Ereignis oder beider Gegenteil, gleichgültig ob Musik oder Nichtmusik oder als Nichtmusik Musik oder als Musik Nichtmusik. Doch das Skelett hat noch eine Frage an den Lauf der Welt: ob nicht jede Musik schon Nichtmusik geworden sei?

Damit fallen alle Grenzen zwischen eigentlich und uneigentlich; das Uneigentliche ist eigentlich, das Eigentliche ist uneigentlich geworden. Das Eigentliche der Kunst ist ihre Uneigentlichkeit geworden. In diesem Geschehen ist Größe und Mut: denn der in seine Leere bewußt eingehende Künstler bekennt sich zu seiner Freiheit, Schöpfer seiner Selbstnegation, Darsteller seiner letzten Selbstdarstellung zu sein. Er setzt sein Leben dafür ein, und er weiß: er wird Anerkennung finden, bei gar wenigen zwar, aber schon ein einziger wäre ihm die ganze Menschheit. Denn dieser Eine beweist noch immer die Existenz des Paradigmas im ohnmächtigen Beifall, in der ratlosen Rührung der Gemeinde gegen die beklagte Gleichgültigkeit des Weltlaufs. In diesem Augenblick verschwindet das Paradigma: der Geist des Anerkennenden ist das Skelett selbst: die Anerkennung des gleichgültigen Tuns ist gleichfalls gleichgültig geworden. Es ist gleichgültig, dies gehört oder nicht gehört zu haben, an ihm Gefallen oder Mißfallen gefunden zu haben, Gleichgültigkeit oder Interesse bekundet zu haben; nur dabei gewesen soll man sein, gestellt soll man sich haben, für einmal noch soll die verschwindende Minderheit die Fiktion der schweigenden Mehrheit spielen: demokratische Negativität hat sich endgültig der Wirklichkeit von Neuer Kunst bemächtigt. Und die Tropfen des Ruhmes höhlen nicht den Stein der Einsamkeit des Sich-Gleichgültigen. In Masse hat sich der moderne Zeitgenosse längst darüber verständigt, daß die Kunst des Zufalls seine Lebens- und Existenzprobleme nicht löst, geschweige versöhnt oder gar verklärt. Und sich für das Gleichgültige zu sensibilisieren, scheint ihm eine unerträgliche Verhöhnung angesichts einer mit affirmativen Musiken erfüllten Welt apokalyptischer Selbstdestruktion. Ausgangspunkt der autonomen Bewegung war: das wahre Denken musikalischen Denkens zu finden, die von jeder Fremdbestimmtheit befreite Ratio musikalischer Sinnlichkeit. Gefunden wurde: die Fremdheit des Komponisten von sich selbst und die durchgeführte Allesgetrenntheit in sinnlicher Gestalt. Ausgangspunkt war: ausschließlich immanente Kriterien des Musikalischen zu entdecken und zu entfalten und damit sämtliche überkommenen, nicht durch autonome Musikratio begründeten Unterscheidungen wie z.B. von wesentlichen und akzidentellen Parametern des Klanges (Höhe und Dauer/Farbe und Stärke) auszuscheiden. Ein für alle Mal sollten die irrationalen Vorentscheidungen der Tradition, die Unvernünftigkeiten der Konvention, die heteronom bestimmten Scheinerklärungen bisheriger Anschauungen über das Wesen des Musikalischen, mit einem Wort: die Grundparadigmen der ars scientia als durchschaute und daher überwundene Selbstverständlichkeit aus den Angeln gehoben und auf den Schutthaufen der Geschichte geworfen werden. Aber die Suche nach absolut neuer Selbstverständlichkeit sollte die bisherigen Selbstverständlichkeiten – strenger und freier Satz, motivisch-thematische Arbeit, Identität des Werkbegriffs usf. – nicht nur demontieren, sondern zugleich den Erklärungsgrund der bisherigen (in der Wiederaufführungskultur weiterhin geltenden) erbringen. Daher die merkwürdige, das historistische Paradigma auf den Kopf stellende These: allein von der neuesten Musik her seien die früheren zu verstehen, zu interpretieren, zu beurteilen. Indem das individuierende Subjekt den völlig rational begründeten Begriff seiner Tätigkeit suchte, war es immer schon fundamentale – Grund und Zweck bedenkende und umgrabende – Reflexion seiner Praxis und dadurch ein völlig anderes als das noch durch Vermittlung eingebildeter Natur unmittelbar reflexionslos sich entwickelnde Subjekt. Im Knoten der Avantgarde wird Musik selbst: Denken über Musik, in nuce: Musikphilosophie. Denken über Musik wird gleichberechtigt, ja in vielen Fällen sogar wichtiger als das sinnliche Denken, als das Komponieren von neuen Klängen. Vorbei sind Zuversicht und Gewißheit, durch genialische Praxis allein den allumfassenden Begriff von Musik im Zeichen wirklicher Neuheit finden zu können. Daher die steigende Zahl der Aussteiger aus dem Kahn strenger Individuation und Autonomisierung. Von vielen Möglichkeiten seien zwei erwähnt. Nochmals: der Komponist wird Privatphilosoph seiner musikalischen Reflexion; meist auf der Ebene von Bekenntnissen artikuliert er seine Ratlosigkeit angesichts des über sein Tun verhängten Verlustes jeglicher Selbstverständlichkeit. Zuletzt entwirft er Möglichkeiten möglichen Komponierens: das Konzept wird die Praxis selbst. Oder der nimmt das Paradigma zurück: nicht das Neue sei Ziel des Suchens, sondern das Suchen selbst sei schon das Ziel, und sei es nun für immer und ewig: rastlose Innovation ohne Korrektiv der Verewigung, ohne das höchste Sinnbedürfnis künstlerischen Tuns: das Bleibende zu schaffen, bleibt der brüchige Felsen seiner Existenz. Das nackte Subjekt muß sich als einzelnes zum Knotenpunkt eines fiktiven Allgemeinen setzen, als Pantokrator einer immer nur möglichen, nie vollständig wirklichen, nie in einem anerkennenden W i r lebendigen Musik.   Lange vor der beschriebenen Krisis autonominierter Kunstmusik ist der Geist der Unterhaltungsmusik aus dem Kahn der Individuation ausgestiegen (vgl. Beethoven-Rossini I/1). Als säkularisiertes Abfallprodukt des Meisterwerkes der ars scientia, als Leichtmelodie ohne Werkintegrität, zehrt sie von der originalen, nun aber nicht mehr als ars scientia durchgeführten Kunstmelodie. Und gerade der Hit – das Pseudoarkanum aller Unterhaltungsmusik – lehrt uns, der zweckrationalen Deutung vergangener Kunst zu widersprechen.

VII

Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit zierten das traditionelle Meisterwerk bis herauf zu R. Strauss und Mahler, – nicht allein durch die Stimmigkeit des Zusammenhang stiftenden motivisch-thematischen Denkens, sondern zuvor immer schon durch die Originalität des melodischen Einfalls und Flusses. Das originale Thema, das originale Motiv: die aus Millionen Möglichkeiten ausgewählte und unmittelbar erkennbare Melodie ist ein Akt ursprünglicher Phantasie: ein Akt, in dem Denken und Natur, Tätigkeit und Substrat der Musik noch ungetrennt verbunden sind. Ihn anderwerks zu wiederholen, produziert unmittelbar Epigonalität und wird als Diebstahl gebrandmarkt. Die originale Signierung der Klangmaterie ist die eigentliche Quelle geglückter Individuation, ihr locus amoenus, denn hier ist sie noch geschenkte, hier muß sie noch nicht erarbeitet, nicht erdacht und zusammenkonstruiert werden. Auch wird die Denkarbeit der Durchführung durch die Findung des Geschenkten entkrampft und versöhnt: in den Bahnen natürlichen Scheins gehalten. Als Urwort in den tonalen Raum hineingesprochen, ist der Einfall gleichsam ein mythisches Stigma, eine vorrationale Tätowierung von Klängen, die sie befähigt, ins kollektive Gedächtnis der Menschheit als deren Selbstausdruck aufgenommen zu werden. Die bewußte musikalische Denkarbeit ist noch ganz Inspiration, das bewußt Erfundene ein unbewußt Vorgefundenes: Das Subjekt gehört bereits ganz sich selbst und ist doch im Haus der originalen Intuition zugleich Gast im Haus der Tradition, aus deren Substanz es gleichsam Einfälle regnet. Es ist bereits vereinzigte, aber noch nicht vereinzelte Individuation. Und nur an diesem original stigmatisierten Meisterwerk vermag unser ästhetischer Geschmack als verbindliche Instanz Authentisches von Epigonalem zu unterscheiden. Unbewußt und oberflächlich besitzen wir also bereits die Idee als regulatives Prinzip für das Ja und Nein unseres Erfahrungsurteils, das jede geglückte Individuation auf der Folie des identischen Kontinuums erkennen und nachvollziehen kann. Die intuitive Originalität des Werkganzen, die naturgeborene Phantasiegestalt der Melodie, die Kollektive schaffende Einzigartigkeit des Einfalls, sind daher für die unmittelbare Wirkungsgeschichte der Werke das Entscheidende und Erstgeltende. Das motivisch-thematische Denken ist nur ein Moment an der natürlichen Aktivität der (noch tätigen) Substanz. Ohnehin würde der bewußte Vollzug der motivischthematischen Arbeit z.B. an einer Beethovenschen Sinfonie deren Erlebnis in eine analytischsynthetische Reflexion schematischer Gedanken verwandeln.

Von der unmittelbaren Wirksamkeit des originalen Melodiewortes ernährt sich der sogenannte Hit der Unterhaltungsmusik. Er ist das säkularisierte Stigma des Einfalls, der gleichsam körperlose Schaum von Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit, Schein vom Schein, Schaum der Welle, Flucht der Abstraktion. Der Prozeß, in dem die Unterhaltungsmusik die Säkularisierung der Kunstmusik vollbringt, entfaltet das eigentümlich Neue ihrer Kunst: immer nur die leichte Seite der musikalischen Individuation zu bewahren, die schwere und eigentliche abzustoßen. Die Kunst der Unterhaltungsmusik ist es daher, die Identität des Einfalls unberührt zu belassen, ohne etwas dabei zu denken, ohne etwas aus ihm heraus- oder in ihn hineinzudenken, der Zeit eine Gestalt zu geben, die dem Subjekt kollektives Selbstvergessen gewährt. Es ist die wirklich gedankenlose und gedankenfreie Kunst der Kunstlosigkeit, eine Kunst, deren Sinn ausdrücklich darin fundiert ist, nicht Erkenntnis zu sein, weder der Welt noch seiner selbst. Die Unterhaltungskunst, allen voran die Unterhaltungsmusik, ist somit ein weggelegtes (Enkel)Kind von Himmel, Natur und Subjekt. Diese weisen zwar Vater- und Mutterschaft entrüstet zurück; aber wenn einmal die Differenzierung des neuzeitlichen Weltbegriffs die allumfassende Säkularisierung gezeitigt hat, ist die Herausbildung einer Kunst vollkommen säkularen Geistes unabwendbar. Und bringt die Weltdifferenzierung eine Welt hervor, die sich alles ist und alles bedeutet, so ist die Unterhaltungskunst das moderne Kind seiner Ahnen durchaus, gegen Transzendenz und Anderssein immun, glücklich und zufrieden mit und in einer Welt, der sie ihr autoerotisches Selbstverhältnis im Perpetuum mobile einer gnostischen Eudämonie bestätigt. Dieser ihr Weltauftrag macht sie notwendig zum Todfeind der nichtunterhaltenden Erkenntniskunst, ihrem verzweifelten Geschwisterkind, das sich im Gegensatz zum Weltglück des Weltkindes, als zweifelnde Transzendenzkunst, auf der Suche nach radikalem Anderssein und Nichtmehrsein zu artikulieren versucht. Das ernste Kind schämt sich des leichtsinnigen Geschwisters in einer Welt, die nach seiner Ansicht ein Jahrhundert nicht mehr vorstellbarer Katastrophen und nicht mehr darstellbaren Leidens über die Menschen gebracht hat. Angesichts des beispiellosen Weltunheils erscheint ihr das Treiben und Lassen der leichten Kunst als Zynismus und Verhöhnung des Menschen in schwerer Notzeit. Die Antwort des Weltkindes lautet bekanntlich: gerade in schwerer Zeit bedürfe die Menschheit des leichten Stoffes, aus dem die weltvergessenden Träume sind. Wie dem auch sei, welche Kunstart die Bedürfnisse der heutigen Menschheit verantwortungsvoller erfüllen mag, eines scheint unter den Bedingungen totaler Säkularisierung von entscheidender, weil beide radikal verändernder Bedeutung: Noch niemals hatten Musik und Kunst – weder als Kinder des Himmels, noch der Natur, noch des Subjekts – einer geschlossenen, einer vollkommen diesseitigen Welt angehört. Vollendet sich aber diese Anhörung im Zuge der Weltdifferenzierung durch Schaffung einer technologischen Zweitwelt im Rahmen totaler Klangbeherrschung, so werden die Materialzellen der Musik und damit ihr Geist substantiell verändert. Was einst und bisher ihr Wunderbares und Geheimnisvolles, das Weltfremde ihrer Sprache, die Symbolfähigkeit ihrer Gesten war, die sie bevollmächtigten, die tiefsten Inhalte menschlicher Existenz, ja als Geist und sogar Urform allen Geistes (Hanslick) zu erscheinen, alles das ist dahin, wenn sie zum Ding in einer Welt unendlicher Dinge, zum Zivilisationsgut eines nur mehr habenden Bewußtseins wird. Dann ist sie als Objekt fixierbar, reproduzierbar, industriell herstellbar, jederzeit und beliebig konsumierbar und ausgesetzt dem Arsenal vollendeter Simulationstechniken. Und dem unter diesem Paradigma aufwachsenden Menschen wird sie als beliebig Machbares und Gemachtes, als Austauschbares und Wegwerfbares, als Hinfälliges und Wiederholbares, als Zufälliges und Simulierbares erscheinen. Die Nichtunterhaltungskunst des 20. Jahrhunderts versteht sich weithin als Einspruch gegen die säkulare Standardisierung von Welt durch die allesdurchdringenden Machenschaften der Unterhaltungskunst. Sie versteht sich als Entwurf eines Neuen und Anderen unter apokalyptischen Vorzeichen. Tenor ihres Gehaltes: das Nichtige dieser Welt sei das verstellte Absolute und daher als Nichtiges vor- und darzustellen. Dies führte nach 1945 in einer technisch industrialisierten Umwelt zum Imperativ einer Sensibilisierung für Geräusche und deren Variationen durch Verfremdungstechniken jeglicher Art. An den klingenden Objekten totaler Säkularisierung soll das Gegenteil oder auch nur die Möglichkeit eines Andersseins wahrgenommen werden. Zugleich aber und im selben Akt soll im apokalyptischen Arrangement alltäglicher Geräusche die jederzeit mögliche Weltkatastrophe vorweggenommen werden. Das wahrnehmende Subjekt wird einerseits aufgerufen, durch Negation seiner traditionsbedingten Wahrnehmungsmuster die Maske eines archaischen – uranfänglichen – Bewußtseins mitten in einer technologischen Umwelt aufzusetzen, andererseits ein weltkritisches, höchst modernes, zu spielen. Endgültig hat sich damit das Innovationsprinzip neuzeitlicher Kunstmusik aus der Ebene des Schaffens und Machens auf die Ebene der Wahrnehmung, der sogenannt ästhetischen, also auf den äußersten Rand seiner Existenz zurückgezogen. Während das Subjekt in der standardisierten Klangwelt verohnmächtigt wird, wird es in der apokalyptischen allmächtig, um durch beliebige Wahrnehmung über Sein oder Nichtsein von Musik zu entscheiden. Die vorgeschriebene Fetischisierung der Geräusche im Rahmen eines voraussetzungslos wahrnehmenden Bewußtseins ist vergleichbar mit den beliebigen Neuigkeiten des säkularen Tages und seinen Scheinindividualisierungen im Standardbereich der Unterhaltungsmusik. Dem Problem des Hits: auf erlangter Glatze den Schein einer Lockenpracht vorzutäuschen, entspricht in der Avantgardekunst die Erhebung der industriellen Alltagsmittel (in der Postgardekunst die Erhebung der durchschnittlichen Traditionsmittel) in die pseudoauratische Sphäre einer suggestiven Wahrnehmung. Noch immer also unterscheidet unser Bewußtsein zwischen authentisch und säkular, zwischen original und simuliert, zwischen erlebt und suggeriert: nur im Vergleich mit großer Kunstmusik der Tradition kann zwischen wahrer und falscher Unmittelbarkeit unterschieden werden, nur das vollkommen enttabuisierte Bewußtseins des Gesamtabendländers ist der Raum, in dem das Gebirge der Kunstmusik als Idee erkennbar wird. Der aporetische Fortschrittsgedanke der Neuzeit muß die Geschichte der Musik als unendliches Vergehen, als ewige Vergänglichkeit deuten: die letztentwickelte Musik ist die höchstentwickelte aller gewesenen. Diesem Nonsens antwortet der historistische: die gewesenen seien jeweils nur aus ihrer eigenen Epochenummittelbarkeit oder der faktologischen Verbindung ihrer historischen Tatsächlichkeiten zu verstehen. Der Fetischisierung von Geschichte entspricht die grenzenlose Innovatisierung der Zukunft. Zwei Arten spätneuzeitlicher Vernunft, die Idee zu köpfen, ihr wirkendes Wesen als inexistent zu behaupten, obgleich dies die List der Idee ist, die Ahnungslosen für ihren Zweck zu gebrauchen: a) das Innovationsprinzip als konstitutives zu Ende zu bringen, um den Begriff der Musik als ars scientia zu vollenden und b) das Historizitätsprinzip zu erwecken, um die erfüllten Stadien der Entwicklung aus der Ferne der Vergangenheit heranzubringen und dem Wissen der Idee zu integrieren.

 

Erschienen in: Musicologica Austriaca 11: Teilöffentlichkeiten. Zusammengestellt von Wolfgang Winkler, hrsg. von Walburga Litschauer. Wien 1992; S. 71-100.