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17 Gesprengte als stimmige Authentitzität. Zur Sophistik von Adornos Kunstphilosophie

Gesprengte als stimmige Authentizität.

Zur Sophistik von Adornos Kunstphilosophie[1]

 

Eine der zentralen Thesen der „Ästhetischen Theorie“ Theodor W. Adornos[2] – bekanntlich das Grundlagenwerk seines Philosophierens über Kunst – behauptet einen unaufhaltsamen Niedergang aller ästhetischen Gattungen „seitdem der mittelalterliche ordo gesprengt ward.“[3]

Die neuzeitliche Entwicklung bis hin zur Moderne habe die Künste zwar zu ihrer autonomen Freiheit befreit, dennoch und zugleich sei dieser Prozeß einer fortschreitenden Autonomisierung der Künste untrennbar und zutiefst „in den Prozeß des vordringenden Nominalismus verflochten.“[4]

Diese von Adorno ebenso beklagte wie als unausweichlich konstatierte Nominalisierung aller ästhetischen Gattungen der Kunst, und nicht nur der Gattungen als formaler, sondern aller verbindlichen Inhalte von Kunst überhaupt, wird in der Ästhetischen Theorie nicht nur fundamentalphilosophisch, sondern immer auch musikgeschichtlich reflektiert. Adorno wählt immer wieder Beispiele aus dem Gang der abendländischen Musikgeschichte in ihre Moderne, etwa seit Bach, um an den Begriffen und Phänomenen von Fuge, Sonate, Oper, von Tonalität, Polyphonie, Motivik-Thematik, um nur diese herausragenden Musik-Termini zu nennen, seine Thesen über den Prozeß des „vordringenden Nominalismus“ zu veranschaulichen.

Somit können auch jene, die das gefährliche Gelände der philosophischen Begriffsbildung nicht betreten wollen, um die begriffssystematischen und begriffsgeschichtlichen Dimensionen des Wortes ‚Nominalismus’ auszuloten, an einer der zentralsten Fragen der Kunst und Musik teilnehmen: der Ermöglichung autonomer Authentizität durch geschichtlich fortschreitende Individuation alles in der Geschichte der Künste erscheinenden Allgemeinen und Substantiellen. Und ebenso kann verbindlich geprüft werden, wieweit Adornos Kategorien und Urteile, Prämissen und Schlüsse tragen, wieweit sie imstande sind, alle Tücken zu bewältigen, die einer Prozeßlogik fortschreitender Authentizität von Kunst und Musik unerbittlich inhärieren. Denn das ist wohl auch der Sinn von Philosophie: zu begreifen, was geschieht, nicht aber etwas zu behaupten, das nur geschehen sollte, weil eine Theorie oder ein Zeitgeist vermeint, es sollte geschehen oder gar längst schon geschehen sein.

Seit Baumgarten treibt die philosophische Ästhetik das Bemühen um, Wesensdefinitionen von Kunst zu finden, um deren Wahrheitsansprüche gegenvergleichend mit den Wahrheitsansprüchen anderer Instanzen der Geschichte: Religion, Philosophie, Wissenschaft und nicht zuletzt mit dem politischen und sozialen Leben der je aktuellen Gesellschaft, mit den universalen Bedürfnissen und Fundamenten ihrer Eliten, korrekt zu prüfen und verbindlich zu begründen.[5]

Ist nämlich erstens ‚Authentizität’ nur ein feineres Wort für das unfein gewordene Wort ‚Wahrheit’, und erscheint Wahrheit zweitens in allen Gebieten des menschlichen Tuns und Lassens immer in zugleich praktischer wie theoretischer Dimension, dann ist mit dem Schicksal der modernen Kunst auch das ihrer Ästhetik untrennbar verflochten. Würde jene, die Kunst, radikal nominalistisch, müßte auch diese, ihre Theorie, dem totalen Nominalismus anheimfallen, also zuletzt einer individuellen und privaten Beliebigkeit, einer singularistischen Metaphysik des Singulären, die von ebenso universaler Geltung wäre, wie ehedem das Gegenteil universale Geltung wenigstens für die aktuellen Eliten der jeweiligen Epoche und Gesellschaft besaß. Philosophie als Ästhetik könnte dem Prozeß der allgemeinen Nominalisierung der Künste nicht mehr standhalten, denn sie wäre unfähig geworden, das Allgemeine des Nicht-Allgemeinwerdens alles Allgemeinen zu begreifen. Postmoderne Diskurse über Ästhetik und Künste sind vielfach dadurch stigmatisiert, daß sich zu vielen ihrer zentralen Begriffe ein sinnaufhebender Gegenbegriff gesellt, ohne daß noch ein tieferer, ein wirklich gründender Begriff sich einstellte oder gesucht würde, in dem allein die anarchische Beliebigkeit der postmodernen Begriffsbewegung, die alles und nichts behaupten zu können scheint, aufzuheben und zu überwinden wäre.

Diese Art eines strategischen Nominalismus, der die Ohnmacht unserer Vernunft angesichts und angehörs unübersehbarer Bestände an Musik und Kunst, an Kulturindustrien und Musikmärkten widerspiegelt, ist in Adornos Ästhetischer Theorie bereits angelegt. Denn die Selbstdarstellung ihrer Methode, beinahe jeden Umschlag der Argumente in ihr Gegenteil unvermittelt stehen zu lassen, sei es gegossen in monologisch in sich verkapselte Endlosabsätze oder in gleichsam befehlsartige Einzelmerksätze – Bruch reiht sich an Bruch – eliminiert ein orientierendes Fragebewußtsein darüber, ob den mit gleichsam unbekümmerter Naturgewalt auftretenden Gegensätzen und Widersprüchen nicht doch eine vernünftige Begründung beikommen und im Dienst der Sache auch zweckdienlich sein könnte.

Philosophische Theorie scheint bei Adorno auf der Höhe der Praxis moderner Kunst, die sie begreifen möchte, sie scheint das Kunstwollen und Kunstmüssen der ästhetischen Moderne bis in ihre Extreme getreulich und beinahe sklavisch nachzuvollziehen, – bis hin zum krassesten Gegensatz ästhetischer Moderne in der Deutung Adornos, wonach den radikal befreiten Werken der ästhetischen Moderne zum einen der höchste Authentizitäts-Rang von Kunst überhaupt zukomme und dennoch zum anderen und zugleich die stimmige Produktion von Kunstwerken durch ein Veto der Geschichte seit dem 20. Jahrhundert soll unmöglich geworden sein.

Einerseits vermöge kein aktuelles Kunstwerk nochmals die inneren Bedürfnisse des Geistes moderner Menschen verbindlich und verbindend zu befrieden, keines das Gemeinschaftsethos moderner Gesellschaften zu artikulieren und zu repräsentieren; andererseits sei der Verlust jeglichen Gemeinschaftsethos durch die Bösartigkeit der total verwalteten Welt eine Hauptursache der beleidigenden Kündigung des inneren Kompositionsauftrages an eine moderne Musik als universal zeitgemäße Kunst; der Hauptgrund des Verlustes jener inneren Identität von Gesellschaft und Kunst, die alle Epochen der europäischen Vormoderne prägte, folglich eine Schuld der modernen Gesellschaft, ja geradezu eines ihrer Fundamental-Verbrechen, und ebendaher die moderne Kunst beauftragt, um der zu rettenden Humanität willen, so inhuman wie nur möglich zu werden. Das endgültig gesprengte Humanitätsideal als letztes in der Folge aller nachmittelalterlichen, als einzig noch verbleibendes Humanitätskonzept für aktuelle Kunst? War dies das letzte, das wirklich allerletzte Wort des durchgeführten ästhetischen Nominalismus?[6]

 

II.

 

Noch heute spüren wir in dieser widersetzlichen und unversöhnten Denkbewegung das Erzittern und Erschrecken der Ästhetischen Theorie Adornos angesichts des Abgrundes, über dem sie schwebte, und wir sehen nun offenen Auges, wie sie versuchte, durch bewußt inszeniertes Verschweben und Verstreuen ihrer Begriffe – vom Gegenteil soll immer auch das Gegenteil gültig sein, ohne daß ein Vermittlungsgrund die widerstrebenden Teile zu einem Ganzen fügen soll – dem aufgerissenen Abgrund standzuhalten. Dem entspricht das fast unausgesetzt enigmatische Formulieren Adornos, das dennoch und zugleich auf normative Ansprüche pocht, wie auch die eigentümliche Unbestimmtheit vieler seiner Begriffe mit apodiktischer Rhetorik überwältigen möchte. Zu klären, wieweit die Enigmen Adornos und Heideggers austauschbar sind, ist jedoch nicht Aufgabe dieser Abhandlung.

Das epochale Resultat der durchgeführten Nominalisierung faßt Adorno in der bekannten Eingangsthese seiner Ästhetischen Theorie mottohaft zusammen: im Reich der Künste sei nur mehr selbstverständlich, daß in ihm nichts mehr selbstverständlich sei, nicht einmal mehr die fraglose Existenz von Kunst.[7]

Und die epochale Konsequenz dieses epochalen Resultats artikuliert Adornos bekannte Radikal-Maxime: wirkliche Kunst von heute und morgen könne nur mehr durch totale Selbstverrätselung nochmals als Ausdruck authentischer Kunst wahrgenommen werden; Dinge habe sie nun zu schaffen, von denen wir nicht wissen können und sollen, was sie sind.

Blicken wir von diesem Endresultat des Adornoschen Denkens über Kunst und Musik auf dessen Entwicklung zurück, auf die unzähligen Wertungen und Zuordnungen von Komponisten und Werken der Musikgeschichte, die uns in den Texten Adornos begegnen, können wir unschwer die Grundfolie seiner Urteile und Deutungen erkennen, die Basis-Antinomie nämlich, daß einerseits alle musikalischen Werke, die sich den Freiheitsforderungen der modernen Individualisierung radikal stellen, einen Fortschritt an Differenzierung des Ausdrucks, deren formgebender Werkkonstruktion und dessen jungfräulichem Material darstellen, selbstverständlich unter der Max-Weberschen-Voraussetzung eines endlosen Fortschreitens der Musik auf höhere als bisherige Rationalitätsstufen ihres Wesens; doch andererseits soll der terminus ad quem eben dieser Entwicklung das genaue Gegenteil oder vielmehr das Nicht-mehr-Gegenteil sein, daß nämlich die Musik als wirklich moderne Kunstform das ultimative Jenseits von Rationalität und Irrationalität anzupeilen hätte. (Die dritte Möglichkeit im Thesenraum, daß eine Klassik der Moderne die Klassik aller musikalischen Klassiken wäre, um es postmodern frivol zu formulieren, wurde von Adorno mehrmals als unsinnig zurückgewiesen. So blieb einzig noch die Utopie des integralen, vollkommen durchkomponierten Werkes, – als ob die höchste Rationalität von Musik als konstruierte ausgerechnet im mimetischen Reich der Kunst hätte sinnvoll existieren können und sollen.)

Wer hätte nicht das oftmalige Schwanken Adornos zwischen diesen Extremen seiner Deutungsaxiome bemerkt, wer nicht hätte den dahinter stehenden Kampf der Musik wenigstens gefühlt, mit jedem neuen musikalischen Kunstwerk unter den Bedingungen der real existierenden Moderne den Kampf gegen die drohende Kontingenz aufs je wirklich Neue bestehen zu müssen, – in den Dimensionen des auszudrückenden Inhaltes, der zu gestaltenden Form und des zu gebrauchenden Materials sowie in der Dimension der Verbindung dieser Dimensionen zu Musik als Geist.

Einmal sollen beispielsweise nichttonale Strukturen als Fortführung und höhere Rationalität der tonalen Strukturen der Vormoderne einsichtig und einhörig sein, etwa als „komplementäre Harmonik“ oder als „funktioneller Kontrapunkt“; dann wieder wird das Scheitern dieser Konzeption, zwar verdeckt und verstreut, dennoch im Sachzusammenhang zu eruierbar, konstatiert.[8] Künstliche Kategorien können auch im Reich der Kunst und Musik nicht eine neue Sprache, Syntax und Stil, nicht eine neue höhere Musikalität aus dem Schacht des philosophischen Denkens zutage fördern, wenn in der Sache Musik dergleichen nicht stattfinden kann.

Einmal soll serielle Musik den Selbstwiderspruch der dodekaphonen beseitigen, lediglich einen Parameter der Musik modern, alle übrigen aber vormodern organisieren zu wollen; dann wieder soll die Serialität ihren Umsturz in die Kontingenz organisierter oder auch nichtorganisierter Aleatorik, ein Schein-Unterschied, der kein Publikum jemals vom Sessel rührte, büßen, und somit wird auch auf diesem Pfad die Hoffnung auf das integrale, endlich vollkommen durchkomponierte Werk als uneinlösbare Rationalitäts-Utopie zunichte.[9]

Einmal soll der ästhetische Kampf der Moderne gegen den Einbruch der Kontingenz in das Gehäuse des aus Notwendigkeit gezimmerten Kunstwerkes nur die bruchlose Fortsetzung und Vollendung des siegreichen Kampfes der vormodernen Kunstwerke und ihrer Originalitätsgenies sein; Schönberg der zu sich gebrachte Beethoven; wieder andernorts aber widerruft die Unhaltbarkeit dieser These den heroischen Kampfesmut ihrer jugendlichen Prognose, sehr zur Unfreude Schönbergs und seiner Schülerkreise. Webern habe die noch abzuhakenden Töne der Reihe unwillkürlich gehört, heraus- und vorausgehört auf eine unmittelbar vollziehbare Totalität von Reihe hin; das Zwölftonsystem aber als Regelung der Vermeidung von Tonhöhenwiederholungen habe eben diese Spontaneität des modernen Komponisten wieder vernichtet und über den falschen Tafelgesetzen eines pseudomusikalischen Zwangsaltars geopfert. Die gesuchte neue Einheit von Freiheit und Gesetz im Gelände einer wahrhaft modernen Vermittlung von Form, Material und Inhalt hatte sich abermals nicht als verbindliche Kompositionspraxis dem aktuellen Fortschreiten der Musikgeschichte ein- und vorschreiben lassen, obwohl doch das emanzipatorische Programm einer stets wieder höheren Rationalität von Musik immer noch arbeiten und fortwirken sollte.[10]

Ist aber weder die These von einem endlosen Rationalitäts- noch von einem vollziehbaren Individualitäts-Fortschritt bis Sankt Nimmerlein haltbar, ebenso nicht die Gegenthese einer Vollendung durch eine Moderne als „Klassik“, sei es an ihrem Beginn als heroischer Sprengung des vormodernen Sprachcharakters von Musik wie alles Allgemeinen und Verbindlichen ihrer universalen Humanitätsbotschaften, noch auch am fiktiven Ende der Moderne als integrale Gestaltung einer Musik durch ein vollkommen durchgebildetes Werk, dessen Parameter und Eigenschaften in gleicher Nähe um ein hierarchiefreies Zentrum organisierbar sein sollten, dann wissen wir als Zeitgenossen der aktuellen Postmoderne, die gemütlich und bequem über beiden Traditionen Platz genommen, daß sowohl die lange Geschichte der ersten wie die kurze Geschichte der zweiten Traditionsbildung abgeschlossen hinter und gleichsam unter uns liegt. Folglich ist die Gretchenfrage an die Musik-Geschichte nicht mehr zu umgehen: wie sollen wir vergleichen, wenn vormoderne und moderne Authentizität permanent in einer Kultur kollidieren, die sich als Marktkultur jenseits der vormodernen Elitekultur positionieren muß; und wenn die moderne Gesellschaft zudem noch die Musik aller der Unterhaltungsgenres und ihrer Vermischung als globale und leitende Authentizität moderner Musikkultur institutionalisiert und anerkennt?

 

III.

 

Wir müssen erkennen, was mit dem Beginn der Moderne endgültig abgebrochen wurde, weil es als nicht fortsetzbare Vollendungsgeschichte endgültig hinter uns liegt, und was endgültig neu eröffnet wurde an möglichen Verwirklichungen eines noch ungelebten Partikularwesens von Kunst und Musik, ohne nochmals den Irrlichtern einer neomarxistischen oder bildungsbürgerlichen Utopie von einem neuen Menschen durch eine neue Musik und Kunst in die Sackgasse zu folgen. Es ist legitim und musikgeschichtlich notwendig, wenn eine Legion postmoderner Komponisten Schuberts „Winterreise“ rekomponiert und als „eigentlich“ modern erkennt und erhört; aber der Rang von Schuberts Musik liegt jenseits dieser (Rück)Projektion und Vereinnahmung für die Zwecke der ästhetischen Moderne und Postmoderne. Wäre dem nicht so, könnte Schuberts „Winterreise“ nicht die sogenannte ideale Gegenvorlage für die Eigentlichkeit des Winters von Moderne und Postmoderne abgeben.[11]

Adorno weiß um das Grundproblem seiner Fortschritts-Antinomie, aber er scheut deren Lösung, er möchte sie, die nicht-beruhende, auf sich beruhen lassen. Verständlich, das Scheitern des Marxismus als Diamat schien die Möglichkeit einer geschichtsphilosophischen Utopisierung der Künste als neomarxistisches oder bildungsbürgerliches Leitbild für eine ganz andere Gesellschaft und Kultur offen zu halten. Kurz: das Vakuum einer wirklich politischen Philosophie ist auch die Crux der ästhetischen Philosophie Adornos.

Weil die ästhetische Moderne in ihren heroischen Tagen davon ausging, daß der radikalisierte, gesellschaftlich einwurzelbare Autonomiestatus moderner Kunst eine Individualisierung ihrer Sprache und Sinn-Gestaltung hervortreiben werde, die zugleich als universale bestehen und politisch eingreifen werde können, als normierende Gesellschafts- und gar Menschheitsrevolution, als Basisrationalität künftiger Moderne insgesamt, fiel die triviale Einsicht unter den Tisch, daß die von Adorno selbst untrüglich erkannte Sprengung des übersinnlichen Substrates der vormodernen Gattungen und Inhalte durch deren neuzeitlichen Werke-Vollzug bis hin zum Beginn der Moderne, niemals denselben Rang an Traditionsbildung, niemals denselben Rang an Authentizität, nicht denselben ästhetischen Wert, nicht denselben Grad an universaler Individuation, nicht denselben Sinn und Zweck von Kunst enthalten und darstellen konnte und sollte, wie im Gegenvergleich dazu der Gang der Künste durch die noch nicht gesprengten Gattungen und Freiheitsinhalte der vormodernen Epochen bis hin zu ihrer äußeren Kulmination am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts.

Nach Adorno ist „ein Fortschritt der Kunst weder zu verkünden, noch zu leugnen“,   – eine paradoxe These und nur ein Beispiel für unzählige, die zunächst durch isolierte und aufgelöste Unvermitteltheit provozieren, indem sie befehlsartig eine Erleuchtungs-Unmittelbarkeit vorreden, die keine Widerrede gestatte.[12] (Das im Begriff von Kunst und Musik, ihres Wesens und ihrer Geschichte Zusammengehörige an verstreute Stellen zu zerstreuen, um die unaufgelösten Widersprüche zu verbergen, ist nicht nur rhetorische Manier, es ist Methode eines Denkens, das als modern fragmentiertes, als spontan ästhetisches und künstlerisch-intuitives hoffte, den stets disparateren Phänomenen der ästhetischen Moderne und ihrer Herkunft aus und ihrer Beziehung auf die historisch gewordene Vormoderne gerecht zu werden. Ständig überschreitet Adorno die Grenze zu nominalistischen Konstitutionslogiken, um diesen Überschritt stets wieder zu dementieren.)

Die zentrale Erleuchtungs-Unmittelbarkeit Adornos ist bekannt: im Namen eines namenlosen Nicht-Identischen, eines Besonderen, das kein Allgemeines bergen könne und solle, geböten Kunst und Musik, alle Anmutungen eines sich als Vernunft gerierenden Denkens zurückzuweisen, sich zu verweigern dem Begriff, dem eigenen wie dem in diesem sich erkennenden. Hinfällig wäre demnach die Rede von Gattungen und deren Substantialität, die durch Individuation ihres universalen Substrates vergingen, um im Vergehen ihres Vergehens eine Geschichte unvergänglichen Wesens zu offenbaren, und auch die Rede von einer Auflösung und Sprengung der Gattungen wäre von der noch unaufgelösten und ungesprengten Geschichte der vormodernen Gattungen und ihrer Individuationen durch universale Personalstile und Werke nicht zu unterscheiden. Dennoch lesen wir an anderer, nicht nur gleichsam verstreuter Stelle, daß es in den Geschichten der Gattungen partielle Knotenstellen geben soll, herausragende Stadien; und um solche aufzuspüren, figurieren Fuge, Sonate und Oper an vorderster Front in Adornos musikgeschichtlichen Reflexionen.[13]

Zwar sei die Erkenntnis älterer Kunst durch den rückwirkenden Nominalismus der Moderne unhintergehbar geprägt[14]; nicht mehr interessiere unsere moderne Erfahrung an Bachs Musik, ob weltlich oder geistlich, vokal oder instrumental komponiert sei, sondern wesentlicher seien für uns die Komplexion und Dichte des Komponierten, die wahrhaft fortschreitenden Verfahrensweisen Bachs; dennoch sei noch in moderner Perspektive erkennbar, daß Bach die Form der Fuge aus „Ansätzen seiner Vorgänger“ zu einer unüberbietbaren Höhe der Vollendung geführt habe, weshalb sie „eigentlich als Form nach ihm verstummte“. Und der Prozeß dieser gattungsgeschichtlichen Erhebung, die in Bachs Fugen-Ingenium kulminierte, sei „objektiv determiniert“ gewesen, denn „das von ihm Vollbrachte zog die Konsequenz aus dem, was unstimmig in den älteren Canzonen und Ricercaren wartete und forderte.“[15]

Ähnlich werden Beethovens Sonaten, Sinfonien und Quartette gattungsgeschichtlich gedeutet, ihr unüberbotenes Gelingen, mitermöglicht durch objektive Gleichsinnigkeit mit dem aufsteigenden Bürgertum, bezeuge ein herausragendes Stadium der Musikgeschichte, in dem das Ethos der Gesellschaft und das Ethos der Musik nochmals desselben Geistes Kinder gewesen seien – „obwohl bereits zu seiner Zeit dieses Gelingen, die innere Übereinstimmung mit der Gesellschaft, keineswegs ohne weiteres mit der äußeren Rezeption zusammenfiel.“[16]

Erst durch Beethoven, für dessen Stil die Redeweise der klassischen Sonate konstitutiv gewesen sei, sei der „spät-absolutistische Stil des Wiener Klassizismus“ zu sich gekommen. „Nichts derart ist mehr möglich, Stil liquidiert.“[17] Oder noch deutlicher: „Kein späteres Werk könnte dem Wahrheitsgehalt von Beethovens letzten Quartetten sich an die Seite stellen, ohne daß doch deren Position, nach Material, Geist und Verfahrungsweise, noch einmal, und wäre es von der größten Begabung, sich einnehmen ließe.“[18]

Welchem Adorno-Leser fielen bei diesen Aussagen nicht die disparaten und oft direkt widersprechenden ein, die Adorno, euphorisch in den heroischen Wiener Jahren der Schönberg-Schule, über die Werke der Schule veröffentlicht hat. Deren Quartette, Sinfonien und Sonaten wurden als überlegen auskonstruierte bewertet, während die Beethovenschen als lediglich naturalistische Vorstufen abgewertet wurden. Adorno: „Und daß Schönberg, willentlich oder nicht, Beethovens Reflexion fortsetzt, wie man auf rechte Weise Quartette schriebe, führte zu jener Expansion des Kontrapunktes, die dann das gesamte musikalische Material umstülpte.“[19] Und dieses Umstülpen und Expandieren (nicht zufällig ökonomische und naturhafte Termini) sei nicht freigesetzt freies Erfinden und Suchen neuer Formen, sondern das altvertraute nichtnominalistische Gegenteil gewesen, wie uns durch Dekret eines dezisen Satzes mitgeteilt wird: „Wer authentische Formen schafft, erfüllt sie“.[20] Daß der Sinn des Wortes „Authentizität“ hinter dem Rücken dieser Sätze mehr als nur seine Kleider gewechselt hat, bedarf wohl keiner Erklärung. – Die Liste disparater und unversöhnbarer Thesen ließe sich an Adornos Texten belegen und nach Belieben verlängern.

 

IV.

 

Man könnte einwenden, eine disparate Thesenlogik dieser Art beschreibe doch nur unumwunden und exakt die disparate Realität der Moderne im Bereich von Kunst und Musik. Mag sein; dennoch stehen wir heute vor der Frage, wie wir den Diskurs über Kunst und Musik vor dem ultimativen Absturz in Beliebigkeit und Kontingenz bewahren sollen, wenn ein epochaler Zustand droht, in dem nominalistische Konstitutionslogiken, die nur mehr privat und ideologisch gezimmerten Individualkalkülen folgen, das öffentliche Sagen über Kunst und Musik regieren?

Ist das principium individuationis den musikalischen Gattungen als deren Erfolgs- und Zerfallsgeschichte unausweichlich eingeschrieben, weil es als allgemeines Prinzip zugleich die Substanz des Allgemeinen jeder Gattung verzehren muß, somit die Kraft und Tiefe des in ihren Werken verbindlich und verbindend erscheinenden und erschienenen Geistes, der eine Gesellschaft, deren Eliten und deren Ethos trägt und zugleich von diesen getragen wird, dann gilt allerdings die These Adornos, diesmal als vernünftige Paradoxie formuliert: „Die Bahn, die allein den Kunstwerken als die ihres Gelingens offenbleibt, ist auch die fortschreitender Unmöglichkeit“[21] Der Preis für die durchgeführte Individuation ist gattungsgeschichtlich zu bezahlen; sie führt nicht zur Dauer-Reprise einer zeitlosen Wiederholbarkeit von Individuation auf gleichbleibender Höhe in den Positionen von Geist, Inhalt, Form und Material. Daher vermag die ästhetische Moderne als gesetzte Postmoderne das adornitische Leitbild eines vollkommen durchrationalisierten, eines vollkommen durchgebildeten Werkes, das eine freie Sprache der Musik auf höchster musikalischer Rationalitätsstufe verwirklichte, weder glauben noch anpeilen. Es gibt keine Kunst traditioneller Herkunft, und die des Films steht jenseits des traditionellen Gegensatzes von ästhetischem Nominalismus und Universalismus, die Kunstwerke als Repräsentationsmonaden eines hierarchielosen Geistes demokratischer Freiheit und Mündigkeit hervorbringen könnte.

Obwohl die Gattungen „entsprungen und vergänglich“ sind, bemerkt Adorno süffisant, „haben sie gleichwohl etwas mit Platonischen Ideen gemein.“[22] Absterben mußte das authentische Leben der Fuge, weil die Ausdrucksbedürfnisse der Komponisten nach Bach immer differenzierter und dynamischer wurden; und die verwesende Gattung mußte sich einesteils als Muster-Schablone an den historisch orientierten Schulbetrieb der Musikpädagogik verdingen, andernteils als rasch archaisierende Form den individuellen „Auskonstruktionen“ des reflektierten Komponierens der ästhetischen Moderne zur Verfügung stellen. Dieses könne und müsse die „nackte Idee“ von Fuge dem modernen Ingenium entlocken, eine je individuelle Abstraktion der vormodernen Einheit des Geistes von Fuge in ihren Momenten von Inhalt, Form und Material.[23] Der logifizierte Geist von Musik, Feind der eigenen Sinnlichkeit geworden, triumphiert, aber zu spät, weil nur mehr modern und postmodern, und in der Tat lassen sich die Hybrid-Fugen des späten Beethoven als Vorstufen dieses Prozesses deuten; und die Frage nach dem Gelingen und Nichtgelingen moderner und postmoderner Fugen wird illusorisch, weil objektiv unentscheidbar, wenn die vollendete Bahn von Fuge im Ingenium Bachs in radikal moderner Perspektive zugleich ignoriert und tabuisiert werden muß. Nach Adornos Einsicht führt auch ein mehr oder weniger naiv sich stellendes Weiterkomponieren in den bisherigen Bahnen von Fuge nur zur Mimikry-Produktion von Als-Ob-Fugen, erst recht ein aggressiver Beitrag zur Zerstörung von stimmiger Form und Gattung; Musik über Musik, als Nachschein vom verblichenen Erstschein vergangener Gattungen, hat nur mehr die eigene Geschichte, nicht mehr das aktuelle Leben von Musik und moderner Gesellschaft, ihrer Eliten und ihres Ethos zum Inhalt.[24]

Fragwürdig daher Adornos Heilmittel, an anderer Stelle vorgebracht, der Teleologie objektiver Gattungen und Typen sei zu mißtrauen, „weil auf sie kein Verlaß sei“, sie seien zu attackieren, um ihr substantielles Moment zu bewähren.[25] Dieser Appell widerspricht unversöhnt und unvermittelt der Einsicht in die fortschreitende Unmöglichkeit der Werke auf der Bahn ihres gattungskonformen Gelingens, wie wir soeben vernommen haben. Substanzen von ästhetischen Gattungen, und nicht nur von ästhetischen, die geschichtlich nicht vergehen könnten, wären ewige Essenzen von Geist und Freiheit, sie würden Geschichte als Ferment von Geist und Freiheit liquidieren. Nur in unserer universalen Erinnerung zeigt sich das Unvergeßliche der Geschichte, nur einer absoluten Erinnerung das absolute Wesen von musikalischer Kunst im Vergehen ihres vergänglichen.

Das Form-Telos einer vollkommen durchgebildeten Musik, die in vollkommener Freiheit von vollkommener Freiheit sprechen sollte, mittels hierarchielosen Materials in hierarchielosen Formen, um im Dienst einer gewaltlosen Freiheit über Natur jenem Geist zum Erscheinen zu verhelfen, von dem eine ästhetische Elite des späten Bürgertums noch in ihrer neomarxistischen Mutation nicht abließ zu träumen, dieses Form-Telos lag für Adorno bekanntlich im motivisch-thematischen Komplex von Musik als musikalischer Sprache. Wie im Dunstkreis der Schönberg-Schule verkündet, sollte das Motivisch-Thematische das eigentlich Sprechende, die eigentliche Substanz auch noch einer zu findenden nachtonalen Musiksprache sein. Wäre dies möglich gewesen, hätten wir allerdings erlebt, was wir nicht erlebt haben, (und lediglich als Teilnehmer am Leben der Genres der Unterhaltungsmusik und des Jazz erlebt haben, allerdings auf deren Niveaus), daß sich abermals eine Geschichte von Gattungen in der Geschichte der Musik eingestellt hätte, die sich nach Syntaxen und Stilen spezifiziert hätte, um gattungsbegrenzten, also zugleich kollektiven und individualisierbaren Inhalten jene Werkformen zuzuspielen, die objektiv nach original und epigonal, und auch nach konkreten Entwicklungsstadien einer neuen Musiksprache – Frühmoderne, Hochmoderne, Spätmoderne – beurteilbar gewesen wären.

Weil Adorno verkennt, daß jedes nichttonale Material ein in sich gebrochenes Konvolut der nominalistischen Entwicklung sein muß, denn anders konnten die Grenzen des Originalgenies der Vormoderne, die vormodernen Grenzen von verbindlicher Syntax und Epochenstil, die Grenzen von Formenkanon, Gattungsgehegen und gemeinsinnigem Ethos mit der Gesellschaft gar nicht aufgebrochen werden, verkennt er oder vergißt er stets wieder, daß die Prämissen und Zwecke des vormodernen Individuationsprozesses unter keinen Bedingungen die des modernen sein und bleiben können.

Das bürgerliche Musikbewußtsein interpretierte die Form der Fuge bekanntlich als eine entweder ewig resurrexierbare in tonalem Gewande oder in jedem Gewande von Material; Tonalität wäre demnach nur Gewand gewesen, nicht zur Substanz der vormodernen Musik gehörig; diese Position finden wir, wenn auch unreflektiert um ihre Konsequenzen, beispielsweise bei Sechter, Bruckner, Vischer, Hanslick und gewiß auch bei Schenker; indes uns Halm, der die vielleicht immer noch stimmigste Fugentheorie vorgelegt hat, die absurde These zumutet, die Fuge stehe am Beginn des 20. Jahrhunderts vor ihrer eigentlichen Biographie, vor ihrer großen Zukunft.

Andernorts weiß Adorno, daß das principium individuationis, dem sich zunächst die Besonderung und Individualisierung der Werke einer Gattung verdankt, als vollkommen durchgebildete Durchbildung ins Gegenteil umschlagen muß; am Ende seiner Gattungsgeschichte verfügt der auskomponierte Komponist nicht mehr über normierbare Grenzen, die ihm unreflektiert, mimetisch erlaubten, aus dem Visier seines differenziertesten Ausdrucksbedürfnisses die Empirie seines faktischen Lebens auszuschließen und die ihn davor bewahren könnten, kontingente Inhalte faktisch und oft beinahe protokollarisch als Kunst und Musik zu präsentieren.[26]

Ist es aber nicht authentisch, wenn ein Individuum seinem individuellen Ausdrucksbedürfnis nachgeht und alles was ihm in seinem Leben begegnet in individueller Sprache von Kunst weitergibt? Keine Frage, und unleugbar fallen Leben und Kunst in der ästhetischen und Moderne und Postmoderne wieder zusammen; aber dieses „wieder“ in seinem abgründigen Sinn zu erkennen, dies ist die Aufgabe, die uns nach Adorno gestellt bleibt. Im Reich der Kunst gibt es keine Authentizität von Formen an sich; ebenso keine von Inhalten an sich, und am allerwenigsten von Materialien an sich.

Im Leben aber ist alles, was wir erleben authentisch, noch das Falscheste und Böseste, wenn es gegen das Wahre und Gute gehalten bleibt; aber Kunst war dereinst die transzendierende Darstellung von Leben als Geist, nicht das Leben des Lebens und dadurch ein höheres als das Leben. In dessen höchsten Namen, in einem unbekannten Namen von absolutem Geist, ist Kunst und auch Musik dereinst aus den Fesseln der vormodernen Gesellschaften aufgebrochen, um das Land völlig befreiter Autonomie zu gewinnen. Was wird aus dieser, wenn sie gezwungen wird, „wieder“, nun aber ohne inneren Auftrag, delegiert an und regiert von Kulturmärkten, in das Leben zurückzukehren?[27]

Daß kein Begriff von ästhetischer und künstlerischer Authentizität verbindlich zu formulieren ist, der sich nicht den Differenzen von vormoderner, moderner und postmoderner Authentizität stellt, dürfte einsichtig geworden sein. Und dabei sollten wir uns auch nicht länger scheuen, den richtigen Namen von Postmoderne zu erkennen und auszusprechen: in der ästhetischen Moderne sind alle traditionellen Künste in ihr Posthistoire eingetreten.

 

 

Erschienen in: „Querstand I. Beiträge zu Kunst und Kultur.“ Hrsg. von der Anton Bruckner Privatuniversität. Regensburg 2005; S. 187-200.

 

Mit freundlicher Genehmigung der ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg

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[1] Textfassung eines Vortrages beim Adorno-Symposion 2003 (Musik und Authentizität) am Mozarteum Salzburg.

[2] Zitiert nach der Ausgabe der ersten Auflage. Herausgegeben von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt 1970.

[3] A.a.O., S. 297.

[4] A.a.O., S. 296.

[5] A. G. Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735, als Vorlesung 1742 in Frankfurt a.O.), und Aesthetica (1750, Nachdruck 1961)

[6] A.a.O., S.9. – Der gesellschaftliche Ort von Kunst sei ungewiß geworden: „Die Autonomie, die sie erlangte, nachdem sie ihre kultische Funktion und deren Nachbilder abschüttelte, zehrte von der Idee der Humanität. Sie wurde zerrüttet, je weniger Gesellschaft zur humanen wurde. In der Kunst verblaßten kraft ihres eigenen Bewegungsgesetzes die Konstituentien, die ihr aus dem Ideal der Humanität zugewachsen waren.“

[7] A.a.O., S.9. – “Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht. Die Einbuße an reflexionslos oder unproblematisch zu Tuendem wird nicht kompensiert durch die offene Unendlichkeit des möglich Gewordenen, der die Reflexion sich gegenübersieht.“

[8] Adorno, Die Funktion des Kontrapunkts in der neuen Musik. In: Nervenpunkte der Neuen Musik (Ausgewählt aus “Klangfiguren“) Hamburg 1969, S. 67 ff. – Über die illusionären Kategorien eines (nichttonalen) „funktionellen Kontrapunktes“ und einer „komplementären Harmonik“ siehe Leo Dorner: Zum Paradigmenwechsel der Musik im 20. Jahrhundert I (1997, unveröffentlicht).

[9] Adorno, Nervenpunkte der Neuen Musik (Ausgewählt aus “Klangfiguren“) Hamburg 1969.

[10] Adorno, Anton von Webern. In: Nervenpunkte der Neuen Musik (Ausgewählt aus “Klangfiguren“) Hamburg 1969, S. 54 ff.

[11] A.a.O., S. 315. – “Dem naiven Bewußtsein, wie noch dem des Musikers, mag ein Lied aus der Winterreise authentischer dünken als eines von Webern, als sei dort ein Objektives getroffen, hier der Gehalt auf bloß individuelle Erfahrung eingeengt. Aber diese Distinktion ist fragwürdig. In Gebilden von der Dignität der Webernschen ist die Differenzierung, die fürs ununterrichtete Ohr der Objektivität des Gehalts Abtrag tun, einst mit dem fortschreitenden Vermögen, die Sache genauer auszuformen, vom Rest des Schematischen zu befreien, und eben das heißt Objektivation.“ – Adorno überspielt die Aporie seiner fragwürdigen Infragestellung von Schuberts Winterreise mit scheinnaiver Rhetorik: Objektivität ist auf der Stufe der (Webernscher)Objektivation nicht mehr die authentische Objektivität der Schubertschen, weil die Webernsche Individuation die erfüllte Dialektik des Allgemeinen und Besonderen von Musik zu Ende „attackiert“ hat; die Gattung existiert gleichsam nur mehr als ihr objektives Gerippe, ein Skelett von Lied, allerdings authentisch, aber als Skelett. Das Argument Adornos ist authentische Sophistik.

[12] A.a.O., S. 310.

[13] A.a.O., S. 312. – “Kontinuität ist überhaupt nur aus sehr weiter Distanz zu konstruieren.”

[14] A.a.O., S. 312.

[15] A.a.O., S. 300.

[16] Adorno, Schwierigkeiten I. Beim Komponieren (1964). In. Gesammelte Schriften (1970-1986) Bd 17: Musikalische Schriften IV, S. 18 (Digitale Bibliothek Band 97, S. 14143). – Dieser rezeptiven Ungleichheit liegt jedoch die zwischen den fundamentalen Bedürfnissen einer Gesellschaft und deren Bedürfnis nach neuer Kunstmusik voraus: „Wo eine Sache kein objektives gesellschaftliches Bedürfnis in sich selbst hat – damit meine ich: nicht ein Äußerliches befriedigt, sondern es in sich reflektiert -, wird die Sache auch in sich ausgehöhlt. Das, was die Gegner der neuen Musik mit Vorliebe ihren experimentellen Charakter nennen, ist weithin die Anstrengung, mit dieser Situation des Ausgehöhltseins fertig zu werden, indem man die Situation des zitternden Bodens sich zueignet, womöglich gerade sie durchs Kunstwerk zu objektivieren trachtet.“

Ebenda, S. 15. (Digitale Bibliothek Band 97, S. 14140)

[17] A.a.O., S. 307.

[18] A.a.O., S. 310.

[19] A.a.O., S. 298.

[20] A.a.O., S. 298.

[21] A.a.O., S. 301. – “Hilft längst der Rekurs aufs vorgegebene Allgemeine der Gattungen nicht mehr, so nähert sich das radikal Besondere dem Rand von Kontingenz und absoluter Gleichgültigkeit, und kein Mittleres besorgt den Ausgleich.“

[22] A.a.O., S. 300. – “Je authentischer die Werke, desto mehr folgen sie einem objektiv Geforderten, der Stimmigkeit der Sache, und sie ist stets allgemein.“ Jedoch gilt in historischer Konsequenz: „Die Formen präponderieren so lange übers Subjekt, bis die Stimmigkeit der Gebilde mit jenen nicht mehr koinzidiert. Das Subjekt sprengt sie um der Stimmigkeit willen, aus Objektivität.“

[23] A.a.O., S. 298.

[24] A.a.O., S. 298. – “Wer dennoch die bald sich archaisierende Form benutzt, muß sie ‚auskonstruieren’, ihre nackte Idee anstelle ihrer Konkretion hervortreten lassen; Analoges gilt für andere Formen. Konstruktion der vorgegebenen Form aber wird zum Als ob und trägt bei zu ihrer Zerstörung.“

[25] A.a.O., S. 299. – “Die bündige Diskjunktion von Nominalismus und Universalismus gilt nicht. Ebenso wahr ist, was der schmählich vergessene August Halm in der Mitte akzentuierte, die Existenz und Teleologie objektiver Gattungen und Typen, wie daß auf diese kein Verlaß ist, daß sie attackiert werden müssen, um ihr substantielles Moment zu bewähren.“ – Adorno unterschlägt hier, daß August Halm am Beginn des 20. Jahrhunderts der Gattung Fuge eine – verläßliche, eine unzerstörbare – große Zukunft, somit eine universale Renaissance prophezeit hatte. (August Halm, Von zwei Kulturen der Musik, München 1913.)

[26] A.a.O., S. 299. – “Die Nötigung zum Nominalismus aber geht nicht von der Reflexion aus, sondern vom Zug der Werke, insofern von einem Allgemeinen von Kunst. Seit unvordenklichen Zeiten trachtete sie, das Besondere zu erretten; fortschreitende Besonderung war ihr immanent.“

[27] Im Zusammenhang mit Krise und Verfall des musikalischen Einfalls: „Wie im Hellenismus, nach dem Verfall der griechischen Polis, das emanzipierte Individuum nicht an Kraft zunahm, sondern zusammenschrumpfte, immer geringeren Raum für seine Realisierung fand und schließlich auf das Ideal reduziert wurde, verborgen zu leben, so ergeht es offenbar in der Musik.“ – Adorno, Schwierigkeiten II. In der Auffassung neuer Musik (1966) In: Gesammelte Schriften (1970-1986) Bd 17: Musikalische Schriften IV, S. 53 (Digitale Bibliothek Band 97, S. 14178).