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22 Über einige Verwirrungen der Evolutionstheorie

 

I. Begegnung am Weltgrat

 

Wenn ein Evolutionstheoretiker behauptet: „Durch den menschlichen Geist sieht die Natur sich selbst an“, könnte sich ein philosophisch gebildeter Geist versucht fühlen, diesen Spruch im Sinne Hegels zu deuten, wonach sich die Natur im Geist, zwar nicht sich und für sich selbst, aber doch als Natur, als selbst- und geistloser Antipode des Geistes zu erkennen gibt: Erst im und durch den menschlichen Geist wird die Natur als Natur erfaßbar und demnach, so frei nach Hegel, wäre der Natur ein selbstloses Selbst inkarniert, eines das sich nicht durch sich und für sich erkennen könnte, auch dessen gar nicht bedürfte.

Warum sollte ein Berg wissen wollen, daß er ein Berg, warum ein Pavian die Laufbahn eines Akademikers unter seinesgleichen einschlagen wollen? Um ihnen zu erklären, daß sie welche sind? Sie sind Pavian, ohne es wissen zu müssen. Anders der Mensch, dem es von anderen Menschen erklärt werden muß, und nicht erst in der ersten Stunde seiner Schulkarriere.

Der Unterschied scheint ein schmaler, auf schmalem Weltgrat situierter zu sein. Im ersten (evolutionslogischen) Fall wird der Natur ein Selbst, ein Selbst von Natur, ein natürliches Selbst zugesprochen; im zweiten Fall das genaue Gegenteil: die Natur, nicht als sich wissender Geist existierend, bedürfe des menschlichen Geistes, um durch diesen als Natur, als das fremde oder auch nichtfremde Andere des Geistes erkannt werden zu können. (Und selbstverständlich liegt kein Bedürfnis der Natur vor, von sich und über sich ein Wissen durch Wissenschaft zu erlangen.)

Für einen Augenblick begegnen sich Evolutionstheorie und (nicht nur Hegelsche) Geistesphilosophie auf dem schmalsten aller Weltgrade, um sich als unverträgliche Partner sogleich voneinander abzuwenden. Wie und wodurch sind unversöhnliche Partner in dieser Welt möglich?

Die Geistesphilosophie und jede, die den Namen Philosophie verdient, muß den Anspruch der Wissenschaft namens Evolutionstheorie, das eigentliche Selbst der Welt liege der Natur zuinnerst und sei dieser geschuldet und von dieser vererbt, als undenkbar und falsch zurückweisen. Die Evolutionstheorie hingegen und jede naturalistische Theorie, die das Selbst von Geist im Innersten von Natur und Materie zu verorten pflegt, muß der Philosophie und den Philosophen widersprechen: Was ihr Selbst und Geist nennt, ist Erbe und Produkt einer langmächtigen Natur, deren Name Evolution. Kein Friede, keine Übereinstimmung, nicht einmal ein Gespräch zwischen uns möglich, denn Welten trennen uns: die der modernen Wissenschaften hier und die aller vormodernen und daher vorwissenschaftlichen Theorie-Welten dort.

 

II. Das vieldeutige Selbst

 

Die Evolutionstheorie scheint behaupten oder wünschen zu wollen: ein Löwe, ein Affe, ein Bakterium, oder auch die Erde, die Sonne, das Universum schaue sich „durch den menschlichen Geist“ selbst an. Und dieser, gemeint ist „natürlicherweise“ der evolutionstheoretisch gebildete Geist, fungiere und reüssiere somit als vollendet dienstbares Mittel für diesen höchsten aller Zwecke. Der menschliche Geist habe endlich, nach langem Suchen, seinen wirklichen und endgültigen Herrn gefunden: die Natur, das Selbst der Natur. Evolutionstheorie als Vorbereitung einer neuen Naturreligion: war dies das Ziel von Neuzeit und Aufklärung?

Ein naheliegender Einwand lautet: auch wenn wir den Tieren Sprache und Denken lehren könnten, müßten die belehrten tierischen Könner nicht durch und in uns, sondern durch sich und in ihnen selbst das hervorbringen, was wir ihnen – nach evolutionstheoretischer Ansicht – nur zu leihen und zu lehren scheinen: Selbsterkenntnis und Welterkenntnis.

Was uns diese Einsicht zu vertrüben scheint, scheint die Vieldeutigkeit des Wortes „Selbst“ zu sein, das in deutscher Sprache eine ungeklärte Macht ausübt: über Philosophen wie über Nichtphilosophen, über Wissenschaftler wie über Nichtwissenschaftler. Folglich muß man nicht an Hegel, nicht einmal an Philosophie denken, wenn ein Evolutionstheoretiker behauptet: „Durch den menschlichen Geist sieht die Natur sich selbst an“; es genügt das Wörtchen Selbst, um die angedeutete Begegnung am schmalsten aller Weltgrate als weltbewegend, weil welten-trennend, zu erkennen. An ihm scheint sich wissenschaftliche von vorwissenschaftlicher Welt zu scheiden, denn die Großzügigkeit der naturwissenschaftlichen Wissenschaften im Umgang mit der Aktie Selbst ist den vorwissenschaftlichen Wissenschaften, namentlich der Philosophie, verwehrt.

Kein Evolutionsbiologe wird leugnen, daß das Selbst von Berg und Stein, von Sonne und Galaxie, von Fluß und Wolke, von Pflanze und Tier vom Selbst des Menschen unterschieden ist. Gleichwohl wird er auf dem evolutionären Argument beharren, daß das menschliche Selbst nur als ein Produkt der Evolution, als letzte Wirkung einer kontinuierlich verursachenden Kette aller natürlichen Selbste zu begreifen und zu definieren ist. Was zur Bildung und Entwicklung des menschlichen Selbstes – über die natürlichen hinaus – hinzugekommen sei, die vielzitierte Vielfalt der kulturellen Faktoren und vor allem der Sprache, das sei gleichfalls ein evolutionäres Produkt der Natur und überdies auf vielfache Weise in der Evolution der Pflanzen- und Tierwelt angelegt und vorgebildet.

Folglich sei das als „geistig“ und nichtnatürlich unterstellte Selbst des Menschen eine späte und vielleicht auch letzte Entwicklungsstufe aller natürlichen Selbste. Alles Menschliche sei durch Natur und natürliche Evolution entstanden, erklärbar, verstehbar und begreifbar. Beginnend mit der kosmologischen: der Mensch als Erbe und Enkel von Sonnenstaub, endend mit der biologischen: der Mensch als Ur-Ur-Enkel des ersten einzelligen Lebewesens auf dem Planeten Erde.

 

III. Das säkulare Schisma

 

Behauptungen und Gegenbehauptungen dieser Art haben früh schon die Ebene akademischer Auseinandersetzungen und deren Belanglosigkeit für Mensch und Gesellschaft verlassen. Den heftigen Diskussionen vergleichbar, die im 19. und 20. Jahrhundert das marxistische Gesellschafts- und Menschenbild auslöste, wird auch nun wieder über eine neue Definition des Menschen, die das Selbstverständnis des modernen Menschen mehr als nur äußerlich betrifft, öffentlich und leidenschaftlich diskutiert. Und die neuen wissenschaftlichen Definitionen des Menschen haben das Zeug zur politischen Ideologie in sich: die Protagonisten der Evolutionslehre agieren nicht selten als neue Apostel einer neuen (Nicht)Religion, als neue Menschen(ver)führer, die allen anderen, vornehmlich den religiösen Welt- und Menschenbildern den Kampf erklärt haben.

Wir erleben ein säkulares Schisma, das nicht dadurch überwunden wird, daß sich sogenannte moderate Evolutionstheoretiker, die sich als Atheisten bekennen, bereit erklären, die „religiösen Gefühle anderer“ zu achten. Den Moderaten mißfällt der Dogmatismus der Extremen, sie äußern sich indigniert über aggressive Atheisten-Kollegen wie Richard Dawkins. Diese praktizierten eine undurchschaute Kategorienverwechslung, weil sie nicht begriffen hätten, daß es „in der Religion um das Individuum Mensch“, in „Darwins Evolutionstheorie jedoch um die Entstehung der Spezies Homo sapiens“ gehe.[1]

Außerdem verwechselten sie Religion und Religiosität und übersähen, daß nur die Religion unbedingt zu kritisieren, Religiosität aber, definiert als „Sinnsuche“, unbedingt zu achten sei. Daß sich in diese Verteidigung von Individuum und Religiosität durch sogenannte moderate Evolutionisten eine dilettantische Kategorienunkenntnis eingeschlichen hat, ist evident.

Zwar ist es unsinnig, vom Menschen als von einer Art, womöglich einer Tierart zu sprechen, gleichwohl gilt für jedes Individuum Mensch, daß es nicht außerhalb seiner Gattung und deren „Arten“ existieren kann. Und auch die Evolutionslehre muß, wenn sie angeblich nur um die „Entstehung der Spezies Mensch“ bemüht ist, anerkennen, daß diese „Spezies“ (Flucht in ein Fremdwort, um der Artfrage zu entgehen?) aus Individuen bestand und besteht. Und „Sinnsuche“ ist wohl die dürftigste Kategorie, um das Wesen von Religiosität und Religion zu umschreiben; was sich schon dadurch beweist, daß die meisten Evolutionstheoretiker die Sinnressource „Evolution“ mehr als zufriedenzustellt.

 Nicht zufällig wird von den Extremen die biologische Evolution der Organismen als eine Art von Religionsersatz vorgebracht. Und sie haben leichtes Spiel damit, wenn Religion als Sinnsuche, als Suche nach Lebenssinn und „Metaphysik“, somit als unbestimmte „Religiosität“ gedeutet wird. Jeder stramme Evolutionist ist Beweis genug, daß es Menschen genug gibt, denen die Evolution der Organismen als „Religion“, als Lebenssinn, „Wertgefühl“ und Metaphysik genügt.

Indem der Moderate Religion gegen Religiosität auszuspielen versucht, scheint er behaupten zu wollen, daß das Bedürfnis nach Religion unaussterblich, zugleich aber alle aktuellen Religionen für ihn als Wissenschaftler unhaltbar sind. Er gibt also zu erkennen, daß seine Sehnsucht, eine Religion zu haben, unerfüllt blieb, weil er mangels einer passenden keine ihm entsprechende gefunden hat. Kein geringes Dilemma, mit dem der extreme und fundamentalistische Evolutionstheoretiker längst fertig wurde, weil er die Evolution als letzte und erste Sinnursache, mag sie auch bei philosophischem Lichte besehen unsinnig oder sinnneutral sein, achten gelernt hat.

‚Sinn‘ scheint sich jeder, nicht nur der wissenschaftlichen Definition zu entziehen, also dürfe sie jeder Wissenschaftler nach dem Bedürfen seiner Wissenschaft definieren. Wem die Tatsachen der wissenschaftlich erforschbaren Tatsachen nicht genügen, der suche nach anderen Sachen, aber er sei sich bewußt, auf diesem Weg die Grenzen des rationalen wissenschaftlichen Weltbildes hinter sich zu lassen. Den Gefilden der religiösen Gefühle, Dogmen und Verheißungen lägen wissenschaftlich unhaltbare Einstellungen zugrunde; Überzeugungen, die ein wahrhaft wissenschaftlich aufgeklärter Geist zurückweisen müsse, auch wenn er dafür von den Religiösen oder/und von sich selbst als „religiös unmusikalischer Mensch“ bezeichnet wird.

Das atheistische Zelotentum eines Dawkins erregt den Unmut moderater Evolutionstheoretiker, aber es scheint sich eher um ein dumpfes Unbehagen als um eine stichhältige Argumentation zu handeln. Für den strikten Evolutionisten benötigt die Evolution keinen Gott; aber jeder Mensch benötige die Evolution; folglich benötige einzig und allein das wissenschaftlich unwissende Individuum einen Gott. Kann der moderate Evolutionstheoretiker gegen diese Folgerung aus evolutionären Prämissen Argumente vorbringen, die auch den fundamentalistischen Evolutionstheoretiker erreichen und berühren?

 

IV. Zwei Zufallsnotwendigkeiten und der Satz der Tatsache

 

Daß er sich nicht der Argumente von „intelligent design“ bedienen kann, scheint evident. Jenseits der Evolution ist für die Evolutionstheorie auch der moderaten Art kein „intelligenter Entwurf“ möglich und notwendig. Und die Sinnfrage: warum und wozu das Ganze?, stellt sich im wissenschaftlichen Evolutionsparadigma nicht, weil die immanenten Mechanismen der Evolution unter der Grundkategorie Zufallsnotwendigkeit stehen. Im Geschehen der Evolution ist noch der zufälligste Zufall durch notwendigste Notwendigkeit determiniert.

So bleibt nur die Alternative: entweder wird alles Leben und alles Werden und Vergehen des Lebendigen darwinistisch im Sinne kausaler Zufallsnotwendigkeit und ihrer Mechanismen erklärt; oder, sofern die dabei entstehende Sinnlücke unheimlich und unerträglich berührt, wird ein Schöpfergott vorausgesetzt und angenommen, der durch freie Schaffenswillkür ohne übergeordnetes Telos und ohne immanente Notwendigkeit dieselbe Welt durch kontingente Kausalität hervorgebracht hat.

In beiden Fällen könnte der Jetztzustand von Welt und Mensch auch völlig anders aussehen. Womit der strengen Zufallsnotwendigkeit des evolutionären Denkens die willkürliche Zufallsnotwendigkeit eines schöpfungstheologischen Denkens konvergiert. Der gesetzlichen Zufälligkeit namens „Evolution“ hat die willkürliche Zufälligkeit namens „Schöpfung“ durch göttliche Schöpferfreiheit nichts voraus.

 

V. Rekonstruierte und tatsächliche Tatsachen

 

Über und unter den Evolutionstheorien sei Streit möglich und auch notwendig, kein Streit aber sei möglich über den Satz, daß die Evolution eine Tatsache sei. Der unter empiriegeneigten Wissenschaftlern immer noch verbreitete Aberglaube, daß das Wort ‘Tatsache’ eine magische Wahrheitsmacht ausübe, denn was Tatsache sei, das sei durch diesen erlauchten Status unwidersprechlich wahr und wirklich, hält den Tatsachensatz offensichtlich für einen Grundsatz, dem apriorische Geltung und Garantie zukomme.

Nun ist eine Tatsache aber zunächst nur ein Ding der sinnlichen Gewißheit: von dieser im Hier und Jetzt angreifbar, wahrnehmbar und beschreibbar. In diesem Sinn kann die Tatsache Evolution nicht Tatsache sein. Wenn die Evolutionstheorie jedoch die Genese aller Dinge, die uns sinnlich gewiß werden können, gleichfalls als Tatsache bezeichnet, sollte sie sich dessen bewußt sein oder werden.

Ausnahmslos jedes sinnliche Ding, das uns in einem Hier und jetzt präsent werden kann, hat eine Genesis dieses seines Tatsachenbestandes hinter sich (und einen seiner Vergänglichkeit vor sich), der es durch viele und oft ganze andere Hiere und Jetzte geführt hat, die an ihrem Ort und zu ihrer Zeit gleichfalls sinnliche Tatsache gewesen sein mögen oder künftig noch sein werden. Aber die sophistische Zweideutigkeit des Wortes “Tatsache”, ähnlich der des Wortes “Selbst”, darf, auch und gerade im Interesse wissenschaftlicher Wahrheit, nicht unterschlagen werden.

Ohne Zweifel ist der heutige Zustand unseres Sonnensystems Tatsache (wenn auch nicht für die sinnliche Gewißheit, weil unser Planetensystem nicht als Ganzes durch sinnliche Wahrnehmung anschaubar ist); aber dessen galaktische Entwicklung durch einige Milliarden Jahre ist gleichfalls Tatsache. Gleichfalls? Zwei Fälle oder Arten eines identischen Gattungsbegriffes von Tatsache?

 Folglich kann und muß es auch über den Satz: “Evolution ist eine Tatsache” Streit und Diskussion geben, weil es sich um einen Satz der Evolutionstheorie handelt, und weil dieser Satz nicht bestimmt, in welchem Sinn das Wort Tatsache gemeint ist, wenn es von der Evolutionstheorie in den Mund genommen wird. Tatsachen im eigentlichen Sinne lassen sich beobachten und beschreiben, Tatsachen im evolutionären Sinne lassen sich rekonstruieren, und alle Rekonstruktionen von Genesen und Entwicklungen sind theoretisch-wissenschaftliche, stehen somit nicht unter Frage- und Diskursverbot.

Wissenschaft darf sich am allerwenigsten durch Tabuworte leiten, schon gar nicht durch Tabuworte beschränken lassen. Das Problem des evolutionären Tatsachenbegriffes, aus unzähligen Tatsachenbegriffen zusammengesetzt zu sein, läßt sich auch am zentralen Evolutionsbegriff der Vererbung von Erbanlagen thematisieren.

 

VI. Die Vererbung der Vererbung

  

Seitdem die moderne Genetik die Vererbung des Erbguts durch sexuelle Fortpflanzung aufzuklären begonnen hat (die moderne Molekularbiologie im Gefolge von Gregor Mendels Pflanzenhybriden), wird immer deutlicher, wie Moleküle, Gene und Chromosomen zusammenwirken. Es wird immer evidenter, was ehedem unzugänglich war: Nach welchen Gesetzmäßigkeiten und zugleich unter welchen Bandbreiten von scheinbar nur zufälliger Variabilität die unsichtbar wirkende Evolution arbeitet. Evolution als „wirkliche Tatsache“ kommt erst in Sicht, wenn die Vorgänge der Vererbung als reales Mittel für den Zweck Evolution nachweisbar geworden sind.

Denn erst jetzt ist evident, wie Fortpflanzung zur Stabilität und Veränderung von Arten im Reich der Tiere und Pflanzen beiträgt, und wie daran auch noch die Menschheit, obwohl keineswegs an die Evolution der Tier- und Pflanzenwelt gefesselt, teilnimmt. Eltern von Menschen sind stets auch biologische Eltern, und diese unterliegen schon als biologische zugleich dem moralischen Gesetz beispielsweise des Inzestverbotes, weil dagegen zu verstoßen, moralisch wie biologisch nicht zu verantwortende Folgen zeitigt.

Da „die Evolution“ als Tatsache nur als Kompositum einer Vielfalt von (bewiesenen) Grundtatsachen behauptet werden kann, erhebt sich die Frage nach der Rangordnung der bewiesenen Grundtatsachen, die nicht mehr auf der Ebene empirisch-naturwissenschaftlicher Beweisführung erörtert und beantwortet werden kann. Oder mit anderen Worten: Evolutionstheoretiker müssen für die biologische Natur und die sie erkennende Theorie Darwins beantragen, daß sie „vielfältig bei aller Einfachheit“ sei.[2]

Das Prinzip „Evolution“ sei „ganz einfach“, aber die Realisierung des Prinzips beweise, schon durch die Vielfalt der Arten, daß es von unüberbietbar fruchtbarer Einfachheit sei. Wie der Einzeller am Anfang gewesen, aber durch sein Anfangen und (Selbst)Teilen am Ende eine Welt unübersehbar verschiedenartiger Vielzeller geworden, so folge auch aus Darwins einfachsten Grundsätzen die Erklärbarkeit der gesamten biologischen Welt durch seine ausformulierte Theorie.

Was in der Physik noch gesucht wird: die eine und einfachste Grundkraft, aus der alle vier Grundkräfte der physischen Welt hervorgegangen sind und vielleicht immer noch hervorgehen, diese „theory for everything“ sei durch Darwin und Nachfolger für die biologische Welt gefunden: das einfache Gesetz, aus dessen variabler Anwendung jede Realität als Grundtatsache von Evolution beweisbar sei.

Freilich nur postfaktisch, niemals prognostisch, denn erst im Nachhinein wird durch Evolutionsforschung und -theorie erkennbar, zu welcher neuen Art und Variabilität auch innerhalb der Art – etwa unter verschiedenen Populationen ein und derselben Art – das Prinzip Variabilität des Genmaterials geführt hat. Theoretisch hypothetisch kann, da unbelangbar, eine grenzenlose und somit totale Variabilität unterstellt werden, praktisch und in der Realität von Evolution geschieht immer nur, was geschieht und geschehen ist.

Der Extremfall realisierter Totalvariabilität wäre die Fähigkeit des Genmaterials binnen kürzester Zeit neue Arten und beliebig viele neue Arten generieren zu können. Aber schon das theoretische Extrem: alle Arten sind durch variable Variabilität entstanden, weshalb beliebig andere hätten entstehen können, reicht aus, um eine Grenze des „Prinzips Variabilität“ aufzuzeigen, über das jede Evolutionstheorie Rechenschaft zu geben versuchen sollte. Evolution existiert nicht als evolutionäre Anarchie, in der jedem Genmaterial zu jeder Zeit alles Mögliche möglich wäre.[3]

 

VII. Tatsachen und Grundtatsachen

 

Es resultiert der Widerspruch, daß „Evolution“ einerseits nichts als eine Tatsache, zugleich jedoch auch eine „Grundtatsache“ sein soll. Sie soll als Ensemble vieler verschiedener Grundtatsachen der eigentliche Grund aller evolutionären Tatsachen sein – womit Evolution als Tatsache und Grund (und Zweck) ihrer selbst behauptet wird. Es ist tatsächlich, was die Tatsache als Grund begründet – eine erörterungsbedürftige Tautologie, deren abgründige Antinomie lautet: eine Tatsache soll Norm für eine Tatsache und zugleich nur die Tatsache einer Tatsache sein.

 Daher kehrt auch an jeder empirisch bewiesenen „Grundtatsache“ die Frage nach dem Grund wieder zurück, wie um den Geburtsfehler des empirischen Beweises: Tatsache und Grund beziehungsweise Grund als Tatsache und Tatsache als Grund auszugeben, auffällig zu machen. Warum ist die nachgewiesene Vielfalt sexueller Fortpflanzung ein kausaler Faktor der Evolution der Arten?

Weil molekulare Gründe dafür kausal sein könnten, lautet die evolutionäre Forschungsantwort, die, sofern als Tatsache (demnächst) bewiesen, sogleich die nächste Grundfrage provozieren würde: wodurch sind molekulare Gründe, welche die Evolution zur Entwicklung durch sexuelle Fortpflanzung nötigen, begründet?

Wie kein empirischer Tatsachen-Grund als zureichender Letztgrund, kann auch nicht das Ensemble aller (bekannten) empirischen „Letztgründe“ als Substitut eines wirklichen Letzt- und Erstgrundes bewiesen werden. Ein Ensemble ist kein gründendes Ganzes, es enthält kein Prinzip seiner Ensemblebildung und ist nichts als die (Gesamt)Tatsache aller (nach Belieben) versammelbaren empirischen Grundtatsachen.

Ist aber die Evolution nur eine Tatsache und keine Norm, können auch deren Sub-Tatsachen wie Selektion, Anpassung und Kampf ums Dasein nur als Tatsachen, nicht als Normen missioniert werden. Daß das Gegenteil geschieht, ist evident: die genannten Subtatsachen seien normativ nicht nur für die biologische Geschichte, sie seien normativ auch für die kulturelle Geschichte der Menschheit – lautet das normative Credo der meisten Evolutionisten. Der Widerspruch von Norm und Tatsache wird ignoriert – wie ein Geschwür, dessen Operation aufgeschoben wird.

 

 VIII. Die beobachtete Beobachtung

 

Behauptet die Evolutionstheorie, daß die Variabilität von Genen, Individuen und Arten sowie das Ganze der „höheren taxonomischen Kategorien“ empirisch beobachtbar sei, so wird in diesem Satz unterschlagen, daß empirische Beobachtung an empirische Einzelfälle, an empirisch partielle Beobachtungsfelder gebunden bleibt. Niemals kann das Ganze empirisch existenter Populationen empirisch beobachtet werden.

Noch weniger kann die Evolution der genannten Kategorien – Gene, Individuen, Arten, Klassen, Gattungen -, auf die es der Evolutionstheorie doch eigentlich ankommen müßte, durch einfache empirische Beobachtung beobachtet werden. Schon nur kurzzeitige, etwa dezenniäre Entwicklungen bedürfen, um empirisch beobachtbar zu sein, raffinierter, subtil vergleichender empirischer Beobachtungsprogramme.

Und daß es für ausgestorbene Arten, von denen Fossilien vereinzelter Individuen gefunden wurden und werden, keine direkte oder gar eine vergleichende empirische Beobachtung längst verschollener Entwicklungen geben kann, leuchtet ein. Entwicklungen müssen erschlossen werden, und ein Erschließungsbegriff von Evolution ist etwas anderes als ein sogenannter Tatsachenbegriff. Die Unterscheidung von Tatsachen- und Vernunftwahrheiten ist auch für die Theoriebildung der Evolutionstheorie unhintergehbar.

Die Versicherung, es gehe in der Evolutionstheorie eigentlich immer nur um die Feststellung von Tatsachen – ihr emphatisches Akzentuieren von „Grundtatsachen“ – versucht das Problematische einer Verifikation von Tatsachenaussagen durch nichts als empirische Aussagen zu verhüllen. Wird Empirie durch Empirie erklärt, bleibt noch zu erklären, warum dies eine umfassende – alle Tatsachen erklärende – Erklärung sein soll und sein kann.

 

IX. Identität und Variabilität: der durchgehende Durchgang

 

Vor allem aber wird das Problem „Grundtatsache“ dadurch kritisch, daß sein kategorialer Inhalt eine problematische Vereinigung von ‚Variabilität‘ und ‚Identität‘ versucht. Denn als Kategorie muß eine definitorische Identität der genannten Instanzen – Gene, Individuen, Arten undsofort – behauptet werden; aber als Variabilität muß dieselbe Identität als bloß temporal existente Durchgangsvariabilität, somit als permanente Nichtidentität behauptet werden.

Ist jede Art und jedes Individuum sowie alle deren „Bestandteile“ stets nur eine Übergangsvariabilität von einer anderen Identität (Art, Individuum, Genapparat undsofort) zu einer wieder anderen Identität, kann auch die Kategorie „die Evolution“ nur als sich selbst aufhebende Systemkategorie verstanden werden.

Sie ist total, nichts kann außerhalb ihrer werden und vergehen, aber sie kann nicht als identische Kategorie an- und ausgesprochen werden, noch gar als Norm, weil sie jede Norm stets wieder nur aufhebt und vernichtet. Und als Tatsache ist sie nur ein Ensemble unübersehbarer Tatsachen und deren Entwicklungen, ein Allwort, keine Kategorie, kein tragender Grundbegriff einer die Welt erklärenden Theorie.

Nun könnte man einwenden, daß die Nichtidentität der Identitäten – der Arten und Individuen, (aber auch der jeweiligen erdgeschichtlichen Umwelten) – eine mitunter Millionen Jahre währende ist; und daß Individuen nur als eher kurzfristige Durchgangstationen ihrer Arten existieren, versteht sich. Doch sollte eine Theorie, die Universalität und Tatsächlichkeit beansprucht, über die von ihr sowohl erzeugte und benutzte „Dialektik“ ihrer Grundbegriffe gründliche Aufklärung zulassen. Sind Arten nur Durchgangsstationen anderer Arten, sollte man den Mut und die intellektuelle Kraft haben, diesen Ansatz theorie- und wahrheitsfähig zu machen.

Dies umso mehr, wenn klar ist, daß in der Evolutionstheorie aus Einzelbeobachtungen meist vereinzelter Funde ein allgemeines Prozedere von Entwicklung, also durch Induktion ein System von Welt und Weltentwicklung erschlossen wird. Wissenschaftliche Weltbilder müssen Kategorien, Ansätze und Methoden religiöser Weltbilder verneinen und vermeiden. Es lohnt nicht, denn es ist unlauter, weil pseudoreligiös, die traditionelle Relation von Schöpfer und Schöpfergott durch die vermeintliche Ersatzrelation von Evolution als Tatsache und Evolution als Schaffensprinzip zu ersetzen.

 

X. Umweltkausalität und Selbstkausalität

 

Aber der evolutionswissenschaftliche Tatsachenbegriff dröselt sich nochmals und schier endlos vervielfältigbar auf, wenn man den Komplex Umweltkausalität miteinbezieht, ohne welchen die Evolutionstheorie ihr Konzept von Evolution nicht formulieren kann. Denn die Realität biologischer Entwicklung wird niemals nur durch innerorganismische Aktivitäten als einzigen Ursachen der Evolution der Lebewesen – Flora und Fauna – bestimmt.

Was soeben noch als eine einfache Tatsache der Kausalität genetischer Veränderung erschien, das wird, im Licht der stets mitwirkenden Umweltkausalität besehen, zu einer zweifachen Tatsache, von der fraglich wird, welche Kausalität welche andere kausiert. Und da die innerorganismischen wie auch die umweltverursachten Veränderungen der Evolution (der Arten und Individuen) nicht zwei, sondern schier unendlich viele sein müssen, verliert sich die einfache (Grund)Tatsache, die eine Wirkung einfacher Ursachen sein sollte, in ihr radikales Gegenteil: in hyperkomplexe und auch quantitativ unübersehbare Strukturen und Welten, innerhalb welcher „Tatsachen“ geradezu wie Inseln inmitten unbewältigbarer Ozeane residieren.

Sie scheinen Heimat und Sicherheit zu gewähren, scheinen (Grund)Fakten zu präsentieren, an denen der Forscher an Land gehen kann, obwohl er eigentlich nur unter dem Meeresspiegel aller Kausal-Prozesse sowohl der Umwelt wie der Organismen in ihrer schier endlosen Vielfalt ansichtig werden könnte. Wenn der Archäopteryx als Urvogel populäre Karriere gemacht hat, wen interessiert dann noch die Realität dieser evolutionären Kausalität? Es wird schon irgendwie möglich gewesen sein, wie genau, das mögen die Experten unter sich ausmachen.

Wenn heutige Evolutionstheoretiker darauf hinweisen, daß schon Darwin die biologische Entwicklung der Arten keineswegs unter nur biologischem Blickwinkel gesehen habe, und daß es Biologen gewesen seien, die entdeckt hätten, daß „das Geschlecht der Reptilien temperaturabhängig“ sei, dann erstaunt die Naivität dieser Aussage.[4] Denn welcher Organismus welcher Evolutionsstufe wäre nicht über seine Sinne und Sinnesorgane mit abertausend Fäden an die sogenannten Faktoren der Umwelt gebunden, ohne durch diese verdammt zu sein, nicht als Sinn und Sinnesorgan wirken zu können?

Faktoren, die in der Regel unbeachtet bleiben, auch wenn sie eine conditio sine qua für Existenz und Gedeihen aller Lebewesen sind. (Auf dem Mond müßten sich Reptilien mangels zureichender Schwerkraft als dauerhochhüpfende Heuschrecken betätigen, sofern sie ohne Atmosphäre einen Luftersatz-Stoff gefunden hätten, der ihre Atemorgane versorgen könnte.)

 

XI. Zu viel Überproduktion

 

Auch die – scheinbar empirisch überprüfbare – Grundtatsache einer Überproduktion der biologischen Arten erhellt die Problematik von „Grundtatsache“ und „empirischer Überprüfbarkeit“ als Methodenansatz evolutionärer Theoriebildung. (Außerdem hätte sich Darwin einer sachfremden Theoriebegründung schuldig gemacht, sollte er sich bei der behaupteten biologischen „Überproduktion“ tatsächlich auf ökonomische Theorien von Hobbes berufen haben. Warum soll die Lehre und Praxis menschlicher Ökonomie Grund und Ursache biologischer Entwicklungen sein? Weil insgeheim das Umgekehrte vorausgesetzt wird: biologische Entwicklung sei Grund und Ursache aller ökonomischen Gesetze und Entwicklungen?)

Evolutionstheorie, die unterstellt, sie verfüge über (tatsächliche) Kriterien für biologische Normalproduktion, fabriziert fabelhafte Fehlschlüsse. Manchmal entsteht gar der Eindruck, die moderne Ein-Kind-Familie der Ersten Welt könnte oder sollte eigentlich auch für die biologische Evolution (ohnehin der Menschheit) Maßstab und Norm sein. Jedenfalls könnten die „fittesten“ Arten ganz ohne „Überproduktion“ existieren, nachdem sie sich einmal als Sieger im „Kampf ums Dasein“ etabliert hätten.

Nicht zufällig ist die Frage der quantitativen Population ein Gebiet, das Evolutionisten gern benutzen, um über die Brücke „demographische Entwicklung“ der Menschheit naive Analogieschlüsse zu präsentieren und biologische Grundtatsachen als Grund und Ursache demographischer Probleme in den Drei Welten der gegenwärtigen Welt zu präsentieren.

Daß Übervermehrung in einer für alle Arten prinzipiell feindlichen (natürlichen) Umwelt eine conditio sine qua non ist, sollte einleuchten; daß sie ihre Grenzen (der Erzeugungs- und Erhaltungsmöglichkeit) haben muß, freilich auch. Aber diese Grenzen sind nicht nur von Art zu Art, von Population zu Population, von Weltzustand zu Weltzustand extrem verschieden. Um die genauen quantitativen Grenzen von „Übervermehrung“ bzw. Nicht-Übervermehrung anzugeben, müßten die statistischen Wahrscheinlichkeitswerte durch die Zusammenführung einer ungeheuren Vielfalt kausaler Faktoren erhoben werden.

Und Multikausalität als heuristisches Modell ist das Gegenteil von Grundtatsache. Die Grundtatsache, daß Löwe und Höhlenbär die nördlichen Breitengrade seit der letzten Eiszeit verlassen haben, kann durch die fata-morgana-Kategorie Überproduktion, nicht beantwortet werden. Ohnehin widerspricht auch die Kategorie „Überproduktion“ der Kategorie „Anpassung“ – zwei Grundtatsachen der Evolutionstheorie, die in ihrer direkten Relation konkret empirisch zu erörtern sind.

 Die Selbstverständlichkeit, mit der moderne Evolutionstheoretiker vom Feld natürlicher Populationen natürlicher Arten (Fauna und Flora) in das Feld „schrumpfender Bevölkerungen“ und „Überbevölkerung der Erde“ wechseln, ist auch für den modernen Leser selbstverständlich geworden.

 

XII. Allzumenschliche Produktionsraten

 

Denn da Menschen doch zweifellos auch „Organismenpaare“ sind, müsse für Implosion und Explosion der Bevölkerungsentwicklung auf diesem Planeten (auch eine Instanz und ein Ort, den wir mit Flora und Fauna zu teilen scheinen), die biologische Evolution als Erklärungsinstanz zuständig sein. Diese Fehlprämisse bedarf einer zweiten, um sophistisch zu funktionieren: auch die Umwelt des Menschen darf keine andere sein als „die immer gleiche Biosphäre, von der wir alle leben müssen.“[5]

Und wie schon kein Normaltier sinnloser Überproduktion huldige, weil sich dies mit dem Verbrauch seiner Umweltressourcen nicht vertrage (obwohl ein Kriterium für normalen Verbrauch und normale Fortpflanzung nicht angegeben wird), sollte auch eine wieder normal gewordene Menschheit sich dieser natürlichen Norm besinnen. Anders nicht, sei die „Überproduktion von homo sapiens“ einzudämmen.

Die scheinbar nicht absurde Rede von „Produktionsraten“ bei Menschen, wird auch in ihrer moralischen Verwerflichkeit nicht mehr bemerkt. Denn unterstellt wird, daß die Evolutionstheorie, moderne Leitwissenschaft aller Wissenschaften nicht nur, sondern neuerdings auch selbsternannte Globalpolitik der gesamten Menschheit, über einen Normenkodex dessen verfüge, was gesunde und normale sowie einzig überlebensfähige, weil an die „immer gleiche Biosphäre“ angepaßte Bevölkerungsentwicklung zu sein habe.

Daß aber bei vermehrungsunwilligen „Populationen“, wie weithin bei den europäischen, ganz andere Gründen verantwortlich sind, solche nämlich, die sich nicht einmal an Haut und Haaren aus der Evolution der Lebewesen herbeiziehen lassen, wird nicht mehr wahrgenommen. Ideologien sind sich gewiß, stets alles und noch ein bißchen mehr erklären zu können. Wendete man gegen die evolutionistische Demographie beispielsweise ein, daß Überalterung und Beschränkung des modernen Sozialstaates schrumpfende Bevölkerungen problematisch machten, könnte auch die „Ressource“ Sozialtstaat mit einigen rhetorischen Tricks als das „immer gleiche Bruttosozialprodukt“, dessen Variabilität sekundär sei, vorgeführt werden.

Wie im Reich der Lebewesen nur über vorhandene Ressourcen das Spiel von erfolgreicher oder nicht erfolgreicher Anpassung funktionieren könne, so auch beim Sozialstaat: wo nichts mehr verteilt werden kann, weil nicht mehr zureichend in die Kranken- und Pensionskassen eingezahlt wird, da sei auch Vater Staat nicht mehr überlebensfähig.

Diese erweiterte Lehre des marxistischen Klassenkampfs – denn nun kämpfen alle Klassen ums Überleben eines andersherum klassenlos werdenden (Sozial)Staates – scheint ebenso überzeugend wahr und unwiderlegbar richtig zu sein, wie es einstmals die marxistische Lehre war. So und nicht anders wirken Ideologien, die ihren Zeitgeist in Geiselhaft genommen haben, ehe sie von den nächsten Ideologien der nächsten Zeitenkinder abgelöst werden.

 Wenn Evolutionstheoretiker auch noch die Sterblichkeit des Menschen als zentralen Mitgrund eines menschlichen Zwanges zur „Überproduktion“ von neuen Menschen behaupten, funktioniert der sophistische Trick der evolutionistischen Argumentation mit tödlicher Treffsicherheit. Was unter vormodernen Zuständen gang und gäbe war, da nur Kinder in großer Zahl das soziale Überleben der stammesgesellschaftlichen Großfamilie sichern konnten – obwohl dies nicht erklärt, weshalb Kindestötung in den archaischen Gesellschaften der Vormoderne erlaubt war -, dies soll nun erklären und rechtfertigen, weshalb alle westlichen Kulturen zu steter „Überproduktion“ anzuhalten wären, obwohl zugleich gelten soll, daß die drastische Überbevölkerung in der Zweiten und Dritten Welt der begrenzten Umweltressource Planet widerspreche, weil dessen Umwelt „die immer gleiche Biosphäre sei, von der wir alle leben müssen.“

Für die Evolutionstheorie folgt aus empirischen Tatsachen, „daß jene Individuen am besten überleben und sich vermehren, die mit ihren Lebensumständen am besten – angepaßtesten – zurechtkommen.“[6] Diese Tautologie der natural selection: bestangepaßte Individuen kommen im Kampf um den vorhandenen Bestand an Gütern am besten zurecht, wird ungescheut auf den vermeintlichen Zwang des Menschen, aus Sterblichkeitsgründen für Überproduktion von seinesgleichen sorgen zu müssen, sowohl als beschreibendes Tatsachenmuster wie zugleich als mahnende Norm, die einzuhalten sei, angewandt.

Sind Absurditäten nicht mehr überbietbar, haben sie sich absurdum geführt, pflegte man früher zu sagen, als man noch nicht an die alles lenkenden Grundtatsachen der biologischen Selektion glauben mußte. Wie rasch eine solche Lehre von rassistischen oder anderswie biologistischen Ideologien politischer Mächte in Dienst und Geiselhaft genommen werden könnte, möchte man sich nicht einmal in Ansätzen ausmalen.

 

XIII. Zur Gesamtfitness unserer Kulturgene

 

Evolutionstheoretiker haben kein Problem zu behaupten, daß die „Gesamtfitness der Gene“ – gleichgültig ob von Individuen der Arten von Fauna und Flora oder ob von Individuen der „Spezies“ Mensch – entscheidend sei für „soziales Verhalten und die Evolution der Kultur.“ Dabei ist es noch nicht lange her, daß bürgerliche Kulturwissende beispielsweise das Wesen von Künstlern und Genies nicht als Ausbund an Gesundheit, sondern im Gegenteil als kränkelnde Außenseiter und auserwählte Einzelgänger predigten.

Aber damals wußte man noch nichts von der lenkenden und alles regelnden Macht der Gene. Und daß „soziales Verhalten“ und „Evolution der Kultur“ in einen (Gen)Topf geworfen werden, erregt weder Anstoß noch Kritik. Denn es ist evolutionslogisch evident, daß nur Individuen, deren Gene durch großartige Gesamtfitness („inclusive fitness“) arterhaltende Populationen gewährleisten („identical by descent“ und „extended phenotype“) auch die besten Sozialverhalter und erfolgreichsten Antreiber der Kultur sein müssen.[7]

Keine (evolutionäre) Frage, daß zu den allererfolgreichsten Repräsentanten einer „evolutionären Kultur“ der Phänotyp Evolutionstheoretiker zählen muß. Durch seine Einsicht in die grundlegenden Prozesse der Evolution, die auch alle Kultur bestimme, hat er die Gene der Individuen seiner Art zu höchster Gesamtfitness geführt.

Er zeigt und sagt uns, woher wir gekommen und wohin wir gehen, und vor allem: daß und wie wir zu kämpfen und zu siegen haben. Schon der unter seinesgleichen geführte Kampf ums Dasein beweist dies eindrücklich: denn die Plätze an den Futter- und Anerkennungströgen auch dieser Gelehrtenrepublik sind begrenzt; ein Dawkins macht für seine Kollegen vom Fach noch keinen Erfolg des Phänotyps seiner Art aus.

Aber nach den Äußerungen über die „Überproduktion“ durch „organismische Paare“ muß man sich keine Sorgen um die Durchsetzungskraft der evolutionstheoretischen Gene durchsetzungswilliger Evolutionstheoretiker machen: Eine evolutionsangepaßte, gentechnisch aufgerüstete Heirats- und Kinderzeugungspolitik der Individuen dieses Phänotyps wird zur Bildung kultureller Großdynastien führen – mit noch unabsehbar erfreulichen Folgen für die Kulturentwicklung der absolut wissend gewordenen Menschheit. In jedem Bereich von Kultur und Gesellschaft werden Evolutionstheoretiker die geistige und praktische Führung übernehmen.

 

XIV. Darwins Einheit des Lebens

 

Darwin habe die „Einheit des Lebens“ begründet, indem er nachgewiesen habe, daß alle Spezies aus einem Ursprung, einem allerersten Einzeller entsprungen sei. Dieser evolutionäre Begriff von Einheit („descent with modification“) übersieht, daß Einheit ohne Vielheit unmöglich, und daß das Prinzip von Einheit nicht dem genealogisch ersten empirischen Glied einer Vielheit von Leben aufgebürdet werden kann.

Das erste Glied kann nicht Ursache und Grund seiner selbst als „Einheit“ einer Vielheit sein. Auch kann es nicht zureichende Ursache der Modifikation seiner selbst zu anderen – modifizierten – Arten seiner Anfangsart sein. Das Anfangen eines ersten Einzellers ist keines von Prinzip, keines von Einheit, keines von Systembildung. Der Evolutionstheoretiker stellt sich – in einer Art von sanftem und doch mächtigem Selbstbetrug – nur vor, daß durch eine kausale mechanische Prozedur, die zugleich als zufallsnotwendige vorausgesetzt wird, alle Modifikationen aus dem ersten noch unmodifizierten Lebewesen entstanden sind.

Am Anfang war alles gut und in Einheit mit sich und der Welt; dann aber kam der Sündenfall der Modifikation und der Kampf der Arten ums Überleben. Seitdem überleben nur die stärksten und bestangepaßten, und die letzten in dieser wunderbaren Kette – die „Spezies Mensch“ – hat überlebt, um das Andenken des Vater-Mutter-Bakteriums alles Lebens zu ehren. So scheint der Evolutionstheorie das Wunder geglückt, einen neuen Ursprungsmythos des Lebens gefunden, einen wissenschaftlichen an die Stelle aller religiösen, die unglaubwürdig wurden, gesetzt zu haben.

Mit diesem Mythos im Rücken wird Unvereinbares vereinbar, ähnlich wie in den religiösen Mythen Unvereinbares vereinbar war. Der Mensch soll ein Verwandter der Primaten, damit aller Tiere, damit auch der ersten Tiere, somit ein Enkelkind der eigentlichen Primaten, der Urbakterien sein. „Gleichzeitig“ aber soll er „einzigartig“ sein, obzwar wiederum „in aller Verschiedenheit mit allen anderen Lebewesen verbunden.“[8]

Was hilft uns die Zusicherung, daß die Verwandtschaft und Herkunft des Menschen vom Stammbaum der Tiere „molekulargenetisch bewiesen“ sei, wenn zugleich mit Kategorien wie „Einzigartigkeit“ und „Verschiedenheit“ auf dem Niveau eines unbedarft vorphilosophischen Denkens hantiert wird? Wenn der Sonderstatus des Menschen jederzeit unter Berufung auf empirisch bewiesene Tatsachen widerrufbar ist?

Der Mensch ist dann, obzwar ganz und gar nur Tier, weil ein Geschöpf der Evolution des Lebens, zugleich ganz und gar kein Tier, weil „einzigartig“ und „verschieden“ von allem Leben in Fauna und Flora. Evolutionstheoretikern, die so sprechen und verkünden, fällt gar nicht (mehr) auf, daß sie ein Problem formuliert haben, nicht dessen Lösung.

Daß sie letzteres glauben, kann nur bedeuten, daß sie das „Einzigartige“ des Menschen letztlich doch als ein Produkt der Evolution annehmen, somit für eine Erbschaft des Urbakteriums und seiner erfolgreichen Modifikationsgeschichte halten.

Zudem fällt unter diesen Prämissen der ständig geübte Überschritt von der Naturgeschichte des Lebens von Fauna und Flora in die Geschichte von Menschheit und Kultur überaus leicht. In die Fallen, die man sich selbst gestellt hat, fällt man am leichtesten, in sie ist man immer schon gefallen. Wer Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte gleichsetzt, weil er glaubt, die Gesetze jener seien auch die Gesetze dieser, erzeugt und missioniert einen naturwissenschaftlichen Mythos.

 

XV. Darwins Gradualismus und die Länge der Zeit

 

Schon das darwinsche Dogma, daß die Evolution sich strikt gradualistisch – als lückenloses Kontinuum gradueller Veränderungen vollzieht – kann nicht auf die Geschichte der Menschheit, auch nicht auf deren Beginn angewandt werden. Auch dann nicht, wenn man verschiedenen natürlichen Arten und deren Populationen verschiedene Geschwindigkeiten ihrer graduellen Entwicklung zugesteht.

Was schon für die Natur und deren Geschichte problematisch ist: daß es niemals zu Sprüngen, niemals zu Revolutionen, folglich niemals zur Bildung von Novitäten gekommen wäre, ist als Prämisse und Grundkategorie der Geschichte der Menschheit eine absurde Hypothese. Die evolutionistische Auffassung von Einheit als bloßer Modifikation einer anfänglichen Art, zwingt die orthodoxe Evolutionslehre zur Annahme, Novitäten auch in der Natur und ihrer Evolution seien Kategorienfehler und eine Fiktion.

Und Zweifel an dieser Annahme beschwichtigt die Evolutionstheorie gewöhnlich mit dem Hinweis auf die unvorstellbare Dauer der Evolution, auf die unvorstellbaren Zeiten und unvorstellbar langen Stadien der graduellen Veränderung von Arten zu anderen Arten – also nicht durch Argumente, sondern durch eine Beschwörung, die als Mittel sophistischer Überredung dient.

Es dürfte nicht zufällig sein, daß die Evolutionstheorie bevorzugt mit „der Länge der Zeit“ (der Evolution) operiert. Zwar wird die Zeit einerseits als nur äußere „zur Verfügung stehende Bedingung“ der Evolution eingeführt. Da aber gemäß evolutionärer Welterklärung die Evolution erster Grund und erste Ursache von allem sein muß, wird mehr als schleichend unterstellt, die Zeit könnte ein Produkt der Evolution sein, wenn auch vielleicht nur deren „unvorstellbare Länge.“

 

XVI. Evolution als Macht oder Katastrophe

 

Kommt aber die unvermeidliche „Klimakatastrophe“ zur Sprache, sind es nicht die langen Zeiten und langsamen Veränderungen der Evolution, die als Überredungsmittel eingesetzt werden, sondern im Gegenteil die großen und ungeheuren Veränderungen der Erde, ihrer Gestalt und ihres Klimas, die den Evolutionstheoretiker verleiten, die gegenwärtigen Veränderungen des Klimas der Erde als klimapolitische Harmlosigkeit zu verniedlichen. Gegen vulkanistische Epochen „unvorstellbaren Ausmaßes“, die etwa das zerbrechende Pangäa gesehen, sei die heutige „Klimakatastrophe“ ein „Pipifax.“[9]

Daß er dabei die Grenzen seines angestammten Gebietes von Flora und Fauna zumindest teilweise verläßt, fällt ihm zumeist gar nicht auf. Evolution ist Evolution; und ob die des Lebens oder des Universums ist gleichgültig, wenn Evolution das Zauberwort ist, auf das alle Welt zu hören gelernt hat.

Sind aber für den Biologen Gestalt und Klima der Erde nicht mehr als neue „Herausforderungen für die unvorhersagbare Innovationskraft des Lebendigen“,[10] hat er vergessen, daß er soeben noch den kontinuierlichen Gradualismus der Evolution als Dogma, wenn auch mit differenten Geschwindigkeiten verkündet hat. Einerseits soll das Leben an der Kette mechanischer Kausalität die Modifikationen der Arten durch Variation des Erbgutes durchlaufen; andererseits soll es die „Kreativität des Lebens“ sein, die sogar mit einer „unvorhersagbaren Innovationskraft“ ausgestattet sei.

Als wäre eine immer nur kontinuierlich und gradualistisch wirkende Evolution doch zu langweilig und brav, zu determiniert und einfältig. Einerseits soll das Leben und alles Lebendige das strikte Produkt einer Modifizierungskausalität namens „Evolution“ sein, andererseits soll das Leben, wenn auch vornehmlich in der Auseinandersetzung mit den Wechselzuständen und katastrophalen Veränderungen von Mutter Erde, als selbständige Macht, eigenschöpferische Substanz und kreative Spontaneität wirken.

So steht Kraft und Macht des Lebendigen gegen Kraft und Macht der Evolution. Und wie um doch die Übermacht der Evolution nachzuweisen, wird bei dieser Gelegenheit gern an die unzähligen ausgestorbenen Arten erinnert, die nicht die Kraft hatten, der Überkraft Evolution zu widerstehen. Denn diese wollte offensichtlich das Überleben einiger und das Aussterben vieler Arten, und die Frage erhebt sich, wie unter diesem Paradigma das Leben und Überleben der „Spezies Mensch“ zu taxieren wäre. Auch dies ein Überschritt, welcher der Evolutionstheorie leichtfällt, wenn die Gesetze der Evolution als zureichende Gesetze der Menschheitsgeschichte erkannt wurden.

 

XVII. Die evolutionstheoretische Gretchenfrage an die Kultur

 

Das Dilemma jeder Evolutionstheorie, welche die „Einzigartigkeit“ des Menschen und seiner Geschichte retten möchte, kehrt an jedem Inhalt kulturgeschichtlicher Art wieder – am brisantesten bei der Frage nach Ursprung und Herkunft von Mensch und Kultur. Die evolutionstheoretische Gretchenfrage lautet: wie entstand Kultur aus Natur, wie entstand der Mensch aus der Natur, die er doch überragt und überspringt? Was befähigte die Natur zur Emergenz ihrer selbst in ein anderes selbst? Was gab ihr die Macht, aus Natur Nichtnatur zu zaubern?

So lange leben wir Menschen schon in den Gehegen der Kultur und Geschichte und verstehen immer noch nicht den Zaubertrick der Evolution, der dies ermöglicht hat. Jetzt ist kein Unbehagen an der Kultur mehr angesagt, jetzt bleibt uns nur noch das Erstaunen und Erschrecken über ihre Möglichkeit. Vielleicht existiert sie gar nicht, denn möglicherweise haben wir sie noch nicht als Mutation, Variation und Selektion des Lebens von Flora und Fauna erkannt?

Manchmal erstaunen Psychologen über Biologen: diese könnten den Unterschied differenter Entenarten auf hundert Yard erkennen, aber den Unterschied von Ente und Mensch zu erkennen, sei ihnen verwehrt.[11] Der Grund liegt wohl darin, daß sich der evolutionäre Biologe längst schon als nachgeborene und erweiterte Ente erkannt hat. Und wie kleinlich ist gegen diese großartige Erkenntnis die Hypothese von angeblichen Differenzen zwischen Tier und Mensch.

Daher fragt die Evolutionstheorie bis heute, wie uns Darwins Theorie der natürlichen Selektion zu neuer Einsicht in die evolutionäre Entstehung der Kultur verhelfen könnte. Die letzten „noch offenen Fragen“ der Kulturevolution könnten durch die moderne Evolutionsbiologie beantwortet werden. Und dies seien immerhin die „für uns Menschen wichtigsten“ Fragen, weil offensichtlich das Wissen um unsere Herkunft zu einem Wissen um unser Wesen führt.

Man könnte der Evolutionstheorie dankbar sein: durch Jahrtausende und mehr bemühten sich Religionen und Mythen, Theogonien und Theologien, Weisheitslehren und Philosophien um die Herkunftsfrage; und keine Antwort, die nicht gesucht und gefunden worden wäre. Jetzt aber kommt die Evolutionsbiologie und macht die schon etwas langweilig und ungelöst verbliebene Frage wieder spannend. Alle bisherigen Antworten werden Makulatur, wenn sich die Evolutionsbiologie auf neue Suche nach neuen Antworten begibt. Denn wer sonst wäre befähigt, der „ungeheuren Herausforderung“ Evolution gerecht zu werden?

 

XVIII. Omnipotente Kreativität der Natur

 

Daß die Kulturgenesis-Frage schlicht und ergreifend auf die Frage nach der „Entstehung“ der ersten Menschen hinausläuft, durch evolutionäre Entstehung nämlich, ist evident. Und da wir ohnehin längst von Baumkulturen und Bienenkulturen, von Pflanzen- und Tierkulturen zu sprechen und hören gelernt haben, steht der Lösung des Problems vielleicht nur mehr ganz wenig im Weg. Am Ende des Weges wird die Einsicht in die „bewiesene Tatsache“ eines nur graduellen Unterschieds von Natur und Kultur stehen, das Problem wird sich als Scheinproblem, die Frage als Nichtfrage, und das Zauberwort „evolutionäre Entstehung“ als Letztwort entpuppt haben.

Denn in der Tat: nur für den moderaten Evolutionstheoretiker liegt hier noch eine Frage und ein Problem vor; für den fundamentalen ist die Frage längst gelöst: Der Mensch und dessen Kultur ist ein fortgesetzter Teil der Natur, ein Stück fortgeführte Evolution, und daher können die Fragen der Kultur und ihrer Geschichte auch nur (mehr) durch die erfolgreichen Methoden der Evolutionslehre beantwortet werden.

Unter moderaten Evolutionstheoretikern ist in diesem Zusammenhang ein Verweis auf die Vielfalt und Kreativität der Natur beliebt. Zwar wird dadurch die Frage nach einer möglichen evolutionären Genesis der Kultur nicht näher beantwortet – oder doch? Weil die Vielfalt der Natur deren Kreativität beweise, folglich auch deren Kreativität als kulturschaffende Kreativität wirksam (gewesen)sei?

Ist es nicht evident, unterstellt das evolutionäre Denken, daß unser natürlicher Tiervater, der sogenannte letzte Primat, so kreativ und ursprünglich schöpferisch war, den ersten Menschen zu zeugen? Und da es gewiß viele verschiedene Primaten-Arten gegeben hat, wurden sogleich viele und vielfältig verschiedene Menschenspezies in die Welt der Evolution gesetzt.

 

 XIX.  „Die Natur lernt immer hinzu, die Kultur umso mehr“

 

 Also steht die Kreativität der Natur am Anfang aller Kultur. Und da sich die Kreativität der Natur als permanente Evolution ihres Lernens und Problemlösens erwiesen habe und immer noch erweist, bestehe Grund zur Annahme, daß zwei Grundsätze das Verhältnis von Natur und Kultur bestimmen und begründen: „Die Natur lernt immer hinzu!“, und daher „die Kultur umso mehr.“ [12] Gegen die Naivität eines Bewußtseins zu argumentieren, das „natürliches Lernen“ mit wirklichem Lernen gleichgeschaltet hat, scheint unmöglich zu sein.

Die Unterstellung, daß die Kultur von der Natur gelernt habe zu lernen, weshalb alles kulturelle Lernen und Tradieren nur die Fortsetzung des natürlichen Lernens und Tradierens sei, ist ebenso rührend wie unbedarft. Offensichtlich fehlt den meisten Evolutionstheoretikern ein philosophischer Minimalbegriff von Lernen, der sie davor bewahren könnte, in die Falle hanebüchener Sophismen zu tappen.

Da nicht mehr zwischen Instinktverhalten der Tiere und wirklichem Lernen unterschieden wird, ein Unterscheiden, das durch die Einsicht in das evolutionäre Lernen der Natur hinfällig geworden sei, folgt man einer Logik falscher Oberbegriffe und ihrer metaphysiklosen Metaphysik. Unter das „Prinzip Lernen“ sei das Lernen der Natur und das der Kultur subordiniert, aber im evolutionären Vollzug dieser Unterordnung unter das Prinzip sei selbstverständlich das Lernen der Natur die naturgeschichtlich erste Art der Begriffsgattung Lernen, das Lernen der Kultur die zweite und abgeleitete Art derselben Gattung.

Die Naivität, mit der sich dieses Denken äußert, ist im doppelten Sinne entwaffnend. Denn einerseits ist es kaum noch möglich, ein falsches Bewußtsein dieser Art mit Argumenten zu erreichen; andererseits scheint es selbst keiner wirklichen Argumente mehr zu bedürfen, um sich und andere für überzeugt zu halten. Wie es nicht mehr zur Reflexion auf seine Annahmen angehalten werden kann, kann ihm auch nicht mehr klar gemacht werden, daß Lernen nur als selbstreflexiver Akt möglich und wirklich ist.

Daß folglich Lernen Gedächtnis und Gedächtnisbildung voraussetzt, wovon das „Lernen“ der Natur grundsätzlich unterschieden ist. „Lernt“ eine Tier-Art über Millionen Jahre ihren Hals zu dem von Giraffe verlängern, ist dies nicht Lernen, sondern, mit den Termini der Evolutionstheorie gesprochen: Anpassen, instinktives Umbilden und Vererben der neuerworbenen Anpassungsfähigkeit.

 Würde nun dennoch behauptet, das „Instinktlernen“ der Tiere gehe dem Kulturlernen des Menschen voraus, dieses sei letztlich ein abgewandeltes Produkt von jenem, hätte uns der problematische Versuch der Evolutionstheorie, den Anfang von Kultur aus einem evolutionären Ende von Natur abzuleiten, wieder eingeholt. Man hätte einen Abgrund übersprungen, den die Evolutionstheorie scheinbar nicht überspringt, sondern auf einer bequemen Brücke begeht, ein Gang über eine Brücke, die sie selbst gebaut hat – aus fiktivem Material, nach fiktivem Plan.

Denn ein Brückenübergang von Natur in Kultur, von Tier zu Mensch kann nur behauptet, er kann nicht (als „Grundtatsache“) bewiesen werden, weil die „Situation“, in der sich ein noch instinktiver Primate zu einem erstmals lernenden und handelnden Menschen verwandelt, nicht nachgestellt und folglich nicht empirisch rekonstruiert werden kann. Daher ist die These von einer gradualistischen Kausalität, die jener letzte Primat bemüht habe, um sich in einen ersten Menschen zu verwandeln, nichts als eine Hypothese, die ihre zenonische Schuldigkeit schuldig bleiben muß. Durch graduelle Veränderung kann das Novum Mensch nicht entstanden sein. Denn nichts hindert das Graduelle der natürlichen Evolution, das unendlich teilbare Kontinuum dessen, was graduell verändert wird, ins Unendliche zu verändern, ohne es jemals zu verlassen.

Weil aus dem Tier kein Mensch entstehen konnte, existiert kein Mensch als Nichttier; dieses Fehlurteil der Evolutionstheorie ist zu berichtigen: Weil aus dem Tier als Tier kein Mensch entstehen konnte, existiert der entstandene Mensch als Nichttier. Weil die Schildkröte von Achilles nicht eingeholt werden kann, bleibt sie Primat und Sieger; ist zu berichtigen: Weil Achilles, da Nichtschildkröte geworden, die Schildkröte durch einen Sprung distanziert hat, ist er Sieger und mehr als ein angepaßter Primat – ein Läufer und Held, kein Tier und kein Primatenenkel.

 

XX. Evolutionstheorie und das Mysterium der Schrift

 

Daher ist auch das Lob, das manche Evolutionstheoretiker der Kultur und dem kulturellen Lernen mitunter spenden, vergiftet. Wird zugestanden, das kulturelle Lernen sei umfassender und besser, sei nachhaltiger und tiefer usf., unterstellen diese und andere Optimierungsprädikate eine Vergleichbarkeit zwischen natürlichem und wirklichem Lernen, weil letztlich und erstlich – in evolutionärer Letzterklärungsperspektive – doch nur ein gradueller Unterschied vorliege, eine nur graduelle Weiterentwicklung dessen, was die Natur schon weiß und gelernt hat. Nach dieser Methode, die sich gegen ihren Selbstbetrug immunisiert hat, kann noch die Atombombe als erweitertes Dinosauriergebiß umgedeutet werden.

Die Unterstellung, Kultur und Geschichte der Menschheit habe das von der Evolution der Natur immer schon praktizierte Hinzulernen lediglich perfektioniert, muß – unausgesprochen oder nicht – alles Denken und Sprechen, alles Handeln und Schaffen des Menschen auf eine Stufe des Operierens der Natur mit Genen und deren Mutationen, der Entwicklung von Arten und auch des Aussterbens von Arten stellen.

Während die Natur durch Vermischung der Gene und ihre zufällige Variation und lediglich in der Generationenfolge mutierender Arten dazulerne, verfüge die Kulturentwicklung des Menschen über sozusagen kulturelle Gene und Organe, die ihr erlauben, das erlernte Wissen und Können auf nichtgenetische und übergenerationenhafte Art und Weise zu behalten, zu tradieren und zu erweitern. (Diese vermeintlichen Gene wurden von (un)witzigen Evolutionstheoretikern als Meme in populären Umlauf gebracht.) Nicht allein Zufall regiere daher die Entwicklung der Kultur, sondern organisierter und gewollter Zuwachs an Wissen und Können – und dieser Vorsprung aller Kultur vor der Evolution sei vor allem durch Sprache und Schrift ermöglicht.

Warum die Evolutionstheorie ausgerechnet Sprache und Schrift zu kulturellen Favoriten zu erheben pflegt, muß Verdacht erregen. Denn da sie den Tieren ohne Umstände Sprachvermögen in ihrer Art zugesteht, bleibt einzig die Schrift und deren Verbindung mit Sprache als Urquelle und Urdokument von Kultur zurück. Hätten Menschen nicht die Schrift erfunden, hätten sie sich von den Tieren und deren Art des Dazulernens nicht unterscheiden müssen. Womit sich die Evolutionstheorie als säkulare Nachfolgerin der religiösen Schriftgläubigkeit enthüllt.

Warum die Evolutionstheorie dabei vergißt, daß die Geschichte der Menschheit ganz ohne Schrift beginnen und sich entwickeln konnte, weil alle Schrift nur als späte Frucht am Baum der Kultur wachsen konnte, könnte ebenso Verdacht erregen wie die Frage, warum die Evolution, die den Tieren doch Sprache dazuzulernen ermöglichte, darauf vergaß, ihnen auch das Erfinden und Anwenden von Schriften beizubringen.

 

XXI. Sophistik der Evolutionstheorie

 

Offensichtlich ist auch das Wort ‚Sprache‘, nicht anders als das Wort ‚Lernen‘, überaus tauglich, als sophistischer Allgemeinbegriff eingesetzt zu werden. Die Methode des Selbstbetrugs bleibt identisch, lediglich die Inhalte wechseln nach Belieben. Scheinbar schweben „Sprache“ und „Lernen“ und alle anderen sophistischen Genera über Evolution und Geschichte; und diese beiden Welten scheinen unter letzten metaphysischen Kategorien gleichberechtigt subordinierbar.

Ein Schein, den die Evolutionstheorie erkennt und auflöst, um die geglaubte gerade Linie von erster zu zweiter Evolution, von Kultur als kontinuierlicher Fortsetzung von Evolution als wissenschaftliche Wahrheit zu verkünden. Eine selbsterzeugte Wortmetaphysik wird durch eine Tatsachenmetaphysik überwunden: auch dies ein neoreligiöser Offenbarungsbefund, der zu denken gibt. Die Religionstauglichkeit der Evolutionstheorie verdankt sich keinem Wunder, sie ist einer falschen Offenbarung geschuldet.

Das evolutionäre Erklären muß sich auch die Frage gefallen lassen, wie die zufallsbestimmte Entwicklung der Evolution Grund und Ursache (Prinzip und Gesetz) einer nichtzufallsbestimmten Entwicklung der Kultur sein soll, wenn gleichzeitig behauptet wird, daß alles kulturelle Lernen nichts als ein erweitertes natürliches Lernen sei. Die Notwendigkeit der Erfindung und Anwendung von Schrift kann nicht das Produkt zufälliger Entwicklung sein.

 Diese und ähnliche Argumente werden die (fundamentale) Evolutionstheorie nicht davon abhalten, einen Vorschuß auf die Zukunft der Forschung zu nehmen. Nicht auszuschließen sei, daß durch nachhaltige Untersuchung doch noch ein Gen oder mehrere, zuständig für die Erfindung und variable Anwendung der Schrift, gefunden werden. Womit unterstellt wird, es gäbe bereits kulturelle Eigenschaften deren natürliche Genetik zweifelsfrei feststehe. Daß die genannten Vorschüsse lediglich die totalitäre Position eines fundamentalistischen Naturalismus reflektieren, bleibt ihr verborgen.

Daran ändert sich nichts, wenn ein Junktim zwischen Genetik und Gehirnforschung hergestellt wird. Da das Verhältnis beider – Gene und Gehirn – noch nicht ausreichend erforscht sei, könnten auch im Gehirn jene materiellen Quellen ausfindig gemacht werden, denen sich die Aktiva und Fakta von Sprache und Schrift verdankten.

Schon die empirisch nachgewiesenen Sprachzentren im menschlichen Gehirn scheinen doch zu verbürgen, daß diese Zentralen den Sprecher Mensch wie eine Filiale führen; daß der Mensch wie eine Marionette, die ihr Marionettenspieler sprechen läßt, spricht, also nicht wirklich und frei spricht, sondern gelenkt und gehirngesteuert. Fehlt noch das Gen, das sich ein Gehirn bildete, um von dessen Besitzern als Grund und Ursache alles Lebens und aller Kultur erkannt zu werden.

 

 XXII. Gefährliche Überlegenheiten und gefährliche  Überlegungen

 

Den fundamentalen Naturalismus der Evolutionstheorie bezeugt auch eine gewisse grünpolitisch zudringliche und oberlehrhafte Kassandra-Haltung. Sie möchte die Menschheit, darunter tut sie es nicht, warnen, auf ihrem vermeintlichen Überlegenheitsthron nicht übermütig zu werden. Sie möge sich nicht über die Grenzen und Möglichkeiten der Natur erheben: Mensch gedenke, auch Du bist nur ein Tier – in zeitgemäßer Abwandlung des römischen Begleiters der triumphierenden Imperatoren: Caesar bedenke, auch Du bist nur ein Mensch.

Da die Evolution bereits in vielen ihrer Wirbeltiergruppen zur Kultur vorzustoßen versuchte – „von den neukaledonischen Krähen bis zu Walen oder Wölfen“ – kann dieser in der „Gattung Homo“ geglückte Versuch von der Evolutionstheorie nur als evolutionslogisch normaler anerkannt werden. Obwohl er zugleich als zufälliger denunziert werden muß, weil die Prämisse der Evolutionstheorie, wonach die Variationen der Mutationen des Erbgutes keinen nichtzufälligen Zielen und Zwecken unterliegen, immer nur zufallsnotwendige Erfolge und Glücke anerkennen kann.

Dennoch soll auch dieses Produkt, die „Gattung“ oder „Spezies“ Mensch – die Evolutionstheorie ringt noch um die richtige Klassifikation des Menschen – ein problematisches, ein gefährdetes, sogar ein durch sich selbst bedrohtes sein, ein Fall von Nichtanpassungsfähigkeit, den die Evolution noch nicht erblickt hat.

„Unsere Überlegenheit gegenüber der Natur, die wir durch unsere Hybris über Nacht, buchstäblich umnachtet, zu vernichten drohen, zeigt dies bedrückend eindeutig.“[13] Die mahnende Stimme der Evolutionstheorie, inszeniert sich als Bewahrerin der Schöpfung: Wäret ihr Dinosaurier geblieben, wäre euch die Atombombe nicht in den Sinn gekommen. Sie bemerkt nicht, daß sich aus evolutionären Gründen nicht moralisch argumentieren läßt. Sie sorgt sich zuerst um den Erhalt der Natur, danach um den Erhalt der Menschheit, und weil sie beides nicht trennen kann, ist ihr moralisch sein sollender Appell selbstwidersprüchlich.

Es gibt keinen evolutionären Grund, keinen Zweck und kein Motiv der Evolution, die mögliche Selbstvernichtung der Menschheit als evolutionswidrige Tat anzuprangern. Daher ist es zweideutig, aus Liebe zur Natur für die Erhaltungswürdigkeit der Menschheit einzutreten. Die Natur dieser Erde würde auch nach einem atomaren Menschheits-Holocaust durch und als Evolution fortbestehen, sie hat bereits ähnliche und vermutungsweise ärgere Katastrophen überlebt.

Offensichtlich haben Evolutionstheoretiker Probleme, sich mit ihrem Menschsein anzufreunden. Sie möchten durchaus oder ein wenig oder auch ein wenig mehr nochmals das sein, was sie ihrer Ansicht nach einmal waren: Tiere und Tiergeschichten. Sie kritisieren die ohnehin nur vermeinte „Überlegenheit“ des Menschen über die Natur, weil diese Überlegenheit, die offensichtlich die Grenzen der evolutionären Anpassung unkontrolliert passiert hat, nur dazu diente und dient, die Natur und deren Evolution durcheinanderzubringen und nachhaltig zu stören oder gar gänzlich zu zerstören. Es ist dieselbe Evolution, die von der Evolutionstheorie als Urheberin der ungeheuersten „Katastrophen“ namhaft gemacht wird. Nur Menschen hätten – vielleicht – die Dinosaurier vor dem Aussterben bewahren können.

Spricht sich die Evolutionstheorie daher für den Erhalt der Menschheit aus, argumentiert sie morallogisch, nicht evolutionslogisch, sie appelliert aus Menschenliebe und zieht eine Karte aus (nicht) ihrer moralischen Bildungskiste, die sie freilich zugleich nur als erweiterte Evolutionstruhe verkennt.

Wäre der Mensch nur Teil der Natur, oder sollte er dies eigentlich sein und bleiben, wie es die Evolutionstheorie immer wieder einmahnt, bestünde kein Grund, ihn zu bewahren und zu retten, denn als Teil der Natur wäre er den Prozessen der Natur als letztem Schicksal ausgeliefert – ohne irgendein Recht und ohne irgendeine Verpflichtung auf Existenz außerhalb und überhalb der Natur. Und da nach strikter evolutionärer Einsicht alle Übel der menschlichen Kultur doch nur Folgerungen und Steigerungen evolutionärer Prozesse sein können, folgt auch daraus kein Recht und keine Verpflichtung, jenseits der Natur nach Gründen einer Rettung der bedrohten Menschheit zu suchen.

Daher ist es auch sinnwidrig, wenn die Evolutionstheorie die Überlegenheit des Menschen preist – denn sie muß diese im nächsten Atemzug, sich auf ihre evolutionstheoretischen Prämissen besinnend, als Verirrung denunzieren. Schon das saloppe Wort „Überlegenheit des Menschen“ verrät ein schwaches Denken, dessen naturalistischer Horizont alles „Kulturelle“ lediglich im Horizont von Natur und Evolution zu beurteilen vermag.

 

XXIII. Kultur als Teil der Natur

 

Wenn Evolutionstheoretiker daher über den Sinn oder Unsinn des Wortes „Kultur“ räsonieren, kann das Ergebnis nur erfreulich simpel sein: „Kultur“ ist keineswegs als „Gegensatz“ zur Natur, sondern einzig als „deren Höherentwicklung“ aufzufassen. Ein rührender Glaubenssatz, verdankt einer naturalistischen Religion: Die Evolution der Natur ist das Absolute des evolutionären Menschen. Wie Kinder zwar in Widerstreit mit ihren Eltern geraten können, aber nichtsdestotrotz auf deren Schultern stehen müssen, folgt aus jeder Evolutionstheorie, die dogmatisch ihren Prämissen vertraut, eine perfekte und lückenlose Genealogie aller Kultur aus der Evolution der biologischen Natur.

Wer somit einen Gegensatz von Kultur und Natur konstruiere, denke unwissenschaftlich, weil vorevolutionär. Er folge einem vorwissenschaftlichen Denken, das noch nicht begriffen habe, daß alles durch die Evolution geschaffen wurde, alles in ihr fortwährend umgeschaffen und alles auf deren Ende hin fortgeschaffen wird.

Daß der Evolutionstheorie gehorsam dient, wer Kultur als Wurmfortsatz der Natur interpretiert, weil sie als „deren Höherentwicklung“ zugleich deren Bedrohung und Vernichtung sei, steht außer Frage. Der Eifelturm als sinnlos erweiterter Vogelbau, die Atombombe als sinnlos erweiterte Raubtierkralle: Beide bedrohen nicht mehr nur Individuen fremder Arten, sondern nun sogar die Existenz der eigenen „Spezies“ und deren globale Umwelt.

 

XXIV. Philosophie meint im Nachhinein alles besser zu wissen

 

In einer pluralen Wissenschaftskultur ist es jedoch unvermeidbar, daß Evolutionstheoretiker auch nichtevolutionäre Deutungen von Kultur und Geschichte der Menschheit zur Kenntnis nehmen müssen.

Weil es „Bibliotheken von Büchern“ über das Verhältnis von Natur und Kultur gibt, und dies nicht nur von Biologen, sondern auch von Geisteswissenschaftlern: „Anthropologen, Soziologen, Historikern, Ethnologen, Psychologen, natürlich Philosophen, die im Nachhinein alles besser zu wissen meinen,“[14] würde eine wirkliche Aufarbeitung dieses Kultur-Schismas durch den Evolutionstheoretiker diesen allerdings in den Zwist eines beinahe tragischen Rollenspiels führen.

Einerseits steht er in der Gefahr, als Kulturanalphabet verhöhnt zu werden, dem nicht einmal die primitivsten Definitionen von Philosophie zugänglich sind; andererseits muß er sich als führender Repräsentant der führenden Universalwissenschaft für Kultur und Menschheit verstehen, weil er seine Theorie für schlechthin universal hält, da sie über das Entstehen und Vergehen von Kultur und Kulturen ein letztes und erstes Bescheidwissen verkündet.

Einerseits muß er tolerant sein und jede (Wissenschafts-)Meinung zulassen, sogar solche, die „im Nachhinein alles besser zu wissen meinen“; andererseits kann er kaum bestreiten, daß er sich in seiner Perspektive einer sinnlosen Konkurrenz vorbiologischer Wissenschaften gegenübersieht, die allenfalls in partikularen und sekundären Fragen der Kultur, nicht mehr aber in den fundamentalen Auskunft erteilen kann.

Solcherart über Wohl und Wehe der Menschheit in wissenschaftliche Verantwortung berufen, muß besonders die Philosophie seinen Zorn erregen, weil diese Wissenschaft noch nicht einmal diesen erlauchten Namen verdient, fängt sie doch mit nichtempirischen Behauptungen an, um bei metaphysischen oder beliebigen zu enden. (Sie macht keine Voraussetzungen als nur dies: keine Voraussetzungen zu machen.)

Nicht einmal wissend, woher die Gedankenwelt ihres Gehirns gekommen, fing sie dennoch zu philosophieren an, ohne das geschichtliche Erscheinen der Evolutionstheorie abzuwarten und folgsam um Denk-Erlaubnis zu fragen. Ein Fehlverhalten, dem bekanntlich die Religionen bis zum heutigen Tag in noch frevelhafterer Weise huldigen. Hat nicht längst schon Auguste Comte das Ende des Zeitalters der Metaphysik ausgerufen und nicht zufällig in demselben Jahrhundert, in dem Darwins Theorie erschien?

Doch läßt sich schwerlich leugnen, daß der Evolutionstheorie im Selektionskampf um die besten Ränge im Gehege des Besser-Wissen-Meinens mittlerweile die Qualität einer neuen Metaphysik zugewachsen ist. Wußte die Philosophie lediglich im Nachhinein alles besser, scheint die Evolutionstheorie schon im Vorhinein alles besser wissen zu können.

Denn eine Theorie, die genomisch exakt über alle Mechanismen von Mutation und Selektion Bescheid weiß, kann durch die Machenschaften der Evolution nicht mehr überrascht werden. Mögen die abenteuerlichsten Mutationen und Selektionen in künftiger Natur oder Kultur geschehen, die Evolutionstheorie wird nach Prüfung der Tatbestände immer sogleich wissen, warum alles so kommen mußte, wie es gekommen ist.

Die unter Anthropologen beliebte Definition von Kultur, sie sei das komplexe Ganze, dem alle Teile von Kultur angehören, muß dem Evolutionstheoretiker als eigenbrötlerische Definition einer einzigen Spezies, der des Menschen erscheinen. Dagegen wird jeder evolutionstheoretische Biologe selbstlosen Zweifel anmelden, denn eine nur auf seine Art „zugeschnittene Kultur“ sei eben gerade das nicht, was die Anthropologen wähnen, definiert zu haben: das Ganze von Kultur.

Und auch dem Versuch, Lehren und Lernen als zentralen Teil aller Kulturteile, aus dem alle hervorgingen, zu definieren, kann ihn nicht befriedigen. Denn diese binnenkulturelle These vergißt den entscheidenden Herkunftspunkt von Lehren und Lernen und damit den von Kultur überhaupt: Das Verhalten der Traditionsbildung hat der Mensch von den Tieren übernommen, bei diesen vorgefunden und danach erfolgreich oder auch verhängnisvoll erweitert und gebläht.

Denn schlicht und ergreifend gehe es um die „erlernte Tradition von Verhalten bei Tier und Mensch, die nicht nur auf Nachkommen übertragen wird, auf sie vor allem, sondern auf Verwandte, ja sogar Fremde“.[15] Die Tiere kannten Schulen und Universitäten schon für ihre Nachkommen und Verwandten, noch nicht für Fremde – womit die Kultur des Menschen als fremdgehende Natur ertappt und erkannt wäre.

 

XXV. Das gesuchte Tier im Menschen

 

Der beliebte evolutionäre Topos, die menschliche Kultur wurzele tief in der „Natur der tierischen Lebewesen“, verdiente eine eingehende semantische Analyse und Therapie. Ein Bildwort von sozusagen unwiderstehlicher Kraft, denn was verwurzelt ist, das hat eine Wurzel nötig, und wurde eine gesichtet: „die Natur der tierischen Lebewesen“, scheint das Problem Verwurzelung keines zu sein.

Ein Topos, der ein Paradigma verwirklicht, das bestätigt, was es prophezeit, das erkennt, woran es glaubt und das sieht, was es weiß – ist gewöhnliches Eigentum keiner besonderen Spezies von Mensch. Als ob die Zirkel des ideologischen Denkens wiederkehren müßten wie die Zyklen der periodisch agierenden Natur. Wie Stamm und Äste die Wurzel des Baumes erweitern, so Mensch und Kultur die Wurzel des Baumes Natur; und die Harmonie der Monade Natur sorgt für alle ihre Kinder.

„Wurzelt“ der Mensch im Tier, wurzelt die Menschheitsgeschichte in der Tiergeschichte, und dieser Prämisse folgend sucht die Evolutionstheorie zuerst und zuletzt nach dem Tier im Menschen. Im evolutionären Paradigma kann die Frage, ob bei dieser Suche nicht zugleich eine nach dem Menschen in seinen „Tiervorfahren“ unvermeidlich sei, nur sekundär und verschämt gestellt werden. Würde sie gestellt, entdeckte die Evolutionstheorie einen Selbstwiderspruch in den Prämissen ihres Paradigmas.

Einerseits soll die Erweiterung der Natur zur Kultur eine wirkliche sein; andererseits soll diese wirklich eine nur zufällige sein. Der Kern sei notwendig, die Schale sei zufällig, weil offensichtlich schon der Kern selbst unter der für die Evolutionstheorie unüberschreitbaren Kategorie Zufallsnotwendigkeit existiert und evolutioniert. Und weil diese Kategorie gleichfalls der evolutionären Erweiterung der Natur entsprungen sein muß, als deren letzte wissenschaftliche Erweiterung, kann über den Wert oder Unwert aller evolutionären und aller anderen, beispielsweise auch der mathematischen Kategorien immer nur in und durch und an evolutionären Grundtatsachen reflektiert werden.

Als ob die Evolution der Natur als Ontologie ihrer und aller Kategorien tauglich wäre. Evolutionstheorie denkt evolutionstheoretisch, weil Evolution sich dazu evolutionierte; aber dieses „dazu“ darf nicht und kann nicht gedacht werden, wenn Zufallsnotwendigkeit den Prozeß der Evolution determiniert und regiert.

Angesichts dieses Befundes ergibt sich die Frage, ob und wie Evolutionstheorie ihren naiven erkenntnistheoretischen Dogmatismus erkennen und überwinden kann. Sie muß über der Evolution stehen, und soll dies zugleich nicht können. Sie muß ein Teil der Evolution sein, und kann dies zugleich nicht sein.

Sie ist sich ein Rätsel, weiß dies aber nicht, weil sie sich als absolut wissenschaftliche Wissenschaft glaubt und versteht. Sucht sie daher nach dem Tier im Menschen, sucht sie zugleich, ohne dies zu ahnen, nach sich selbst, nach den Gründen ihres Denkens und ihrer Kategorien – in Gründen von Wurzeln, die nichts als Wurzeln sein könnten.

 

XXVI. Das antiteleologische Kopfzerbrechen

 

Der eingangs festgestellte Unterschied von fundamentaler und moderater Evolutionstheorie gründet daher nicht allein im Gegensatz von atheistischer und nicht-atheistischer Theorie und Weltanschauung, sondern zuvor schon im Gegensatz einer radikal antiteleologischen und einer weniger oder gar nicht antiteleologischen Auffassung von Evolution. Kein radikal evolutionistischer Atheist, der nicht die radikal antiteleologische Position verinnerlicht hätte; und kein moderater Evolutionstheoretiker, dem die Kategorie Zweck und finale Kausalität nicht hin und wieder ein kaum zu beschwichtigendes Kopfzerbrechen bereitete.

Diesem weicht jeder Evolutionstheoretiker aus, der „nach dem Tier im Menschen“ sucht, weil unter diesem Teil-Paradigma immer schon feststeht, daß der Mensch nichts weiter als ein erweitertes Tier ist. Und ob dies hat sein sollen, wird als sinnlose, weil antievolutionär denkende Frage abgewiesen.

Unterm Teil-Paradigma einer halb oder ganz zugelassenen Teleologie steht nur fest, daß das „Endprodukt“ der Evolution der Mensch ist, und wie dies hat möglich sein können, kann nicht mehr unter Rekurs auf lediglich zufallsnotwendige Entwicklungsprozesse gefragt und beantwortet werden.

Sucht man daher in der Gegenrichtung: nach dem Menschen im Tier, also vom erreichten Zweck her nach dessen zureichenden Mitteln, kann die zentrale Frage nach der Genesis eines Wesens, das nicht als Teil der Natur existenzfähig ist, nicht mehr umgangen werden.

Auch bei Zuteilung von ansteigenden „Intelligenzstufen“ an alle Tierarten, wonach beispielsweise das Bakterium weit unter der Geistesrepräsentation des Pferdes rangierte und die Annahme von lediglich zufallsnotwendigen Arten-Unterschieden hinfällig wird, produziert die hilflose Hilfskategorie einer „evolutionären Erweiterung“ am Übergang vom intelligentesten Tier zum ersten Menschen nichts als das Sophisma einer Selbstbeschwörung. Es wird schon so gewesen sein, wie wir uns den Übergang denken, weil wir das Evolutionäre nicht anders als evolutionär denken können.

Wäre zwischen dem Geist des höchsten Tieres und dem Geist des ersten Menschen kein qualitativer Unterschied, wäre allerdings zwischen Kultur und Natur weder Unterschied noch Gegensatz, und Mensch und Kultur könnten durch zufallsnotwendige Kausalität erklärt, der Geist als Epiphänomen der natürlichen Evolution derangiert werden. Dem Bakterium könnte der Anspruch auf demokratisch gleichberechtigte Intelligenz nicht bestritten werden – jede Art ist in ihrer Art perfekt intelligent.

 

XXVII. Evolution und Gehirn

 

Was für Descartes die Zirbeldrüse, ist für die Evolutionstheorie das Gehirn. Aber Descartes hätte niemals behauptet, Geist und Freiheit und Vernunft seien ein Epiphänomen der Zirbeldrüse; die fundamentale Evolutionstheorie hingegen muß behaupten, der menschliche Geist – einen anderen kennt sie nicht – existiere als Epiphänomen des Gehirns. Ist nämlich im Organismus der höheren Tiere deren Gehirn der lenkende und alle Bewegungen verursachende Zentralapparat (in ungeklärter Konkurrenz zum genetischen Apparat und dessen Evolution), und ist der höchste Affenprimat das höchste Tier in der evolutionären Entwicklung, dann ist dessen Gehirn auch die evolutionäre Ursache nicht nur der Genesis des menschlichen Geistes gewesen, sondern zugleich die eigentliche Substanz des menschlichen Geistes verblieben.

Der Geist des Menschen mag beweglicher sein als jener der Tiere, aber diese Erweiterung muß sich einer organischen Erweiterung – erweiterte Vernetzung und Komplexität – des Gehirns des Menschen verdankt haben und immer noch verdanken. Und wird diese auch noch auf genetische Steuerung zurückgeführt, ist der Geist vermeintlich in doppelter Weise naturalistisch begründet und erklärt. In evolutionstheoretischer Perspektive, hat er keine Chance mehr, dieser doppelten Umarmung, diesem Schwitzkasten bewiesener Tatsachen zu entkommen.

Erfahrungsgemäß finden sich jedoch im Menschen sehr menschliche und sogar allzumenschliche Regungen, Entschlüsse und Meinungen – böse und irrende, verfehlende und scheiternde Gedanken und Handlungen. Das Gehirn, letzte und erste Instanz des evolutionären Menschen, scheint dafür verantwortlich zu sein. Aber ein Organ für irgendeine seiner behaupteten Wirkungen verantwortlich zu machen, ist ein nur irrender Gedanke, der zwar für das mythische Bewußtsein der Menschheit oft unumgänglich war, der doch jedoch für das wissenschaftliche Bewußtsein der modern gewordenen Menschheit ein Selbstwiderspruch sein muß.

Da die Natur, gleichgültig ob als anorganische oder organische, nicht aus Freiheit wollen und handeln kann, kann auch ein Gehirnmensch nicht verantwortlich sein für das, wozu ihn sein Gehirn bestimmt und für das, was es mit ihm ausführt. Entweder ist man daher gezwungen, das Böse und die Dummheit im Menschen als Fiktion zu erklären, für eine kulturelle Zuschreibung, die durch die Evolutionstheorie, Abteilung Gehirnforschung, zu verabschieden ist, oder man ist gezwungen, das Böse und Dumme im Menschen als Faktum anzuerkennen und daher gewissen Regionen des und gewissen Bewegungen im Gehirn zuzuschreiben. Denn unmittelbar, als greifbare und evidente Tatsache sind besagte Regungen offensichtlich nicht am Gehirn und dessen Regionen und Bewegungen festzustellen.

Diese Zuschreibung erfolgt jedoch – unter Befolgung einschlägig bekannter Versuchsregeln mit Hirnverletzten oder mit Gehirnen, die an spezielle Beobachtungsapparate angeschlossen wurden -, wiederum von Gehirnmenschen, weshalb auch für dieses Zuschreiben wiederum spezielle Gehirnregionen und Gehirnbewegungen als Ursache entdeckt werden müßten. Und der eigentümliche, menschlich-allzumenschliche Stolz des Gehirnmenschen, nur als Gehirnbesitzer – von seinem ihn lenkenden Besitz geführt -, Zuschreibungen am Gehirn durchführen zu können, müßte gleichfalls noch in gewissen Regionen und Bewegungen des Gehirns aufzufinden sein.

Ist aber für jede Zuschreibung, die der Gehirnforscher vornimmt, stets wieder eine bestimmte Zuschreibungsregion im Gehirn verantwortlich, dann steht hinter jedem zuschreibenden Gehirnforscher ein weiterer Gehirnforscher – entweder derselbe, der zugeschrieben hat, oder ein anderer, der künftig weiterzuschreiben wird. Und wären alle Regionen und Bewegungen im Gehirn gefunden und zugeschrieben, die für alle Regungen des Geistes, für alle Vorstellungen und Bewußtseinsakte verantwortlich sind, wäre für diese Fähigkeit und Kompetenz wiederum nach einer Region zu fahnden, der zugeschrieben werden muß.

Hinter jedem scheinbar letztzuschreibenden Gehirnforscher steht ein weiterer letzter, somit stets ein nur vorletzter, und keiner kann die Voraussetzung, die er als möglich unterstellt hat, einholen: Am Gehirn ließen sich in dessen Regionen und Bewegungen – jeder nur denklichen chemischen und physischen Art – die aktiv verursachenden Ursachen für Bewußtsein und Geist, für Vorstellen und Empfinden sowie menschliche und allzumenschliche Verhaltensweisen nachweisen.

Also steht es prekär um die These der Evolutionstheorie, das Gehirn des Menschen als Meisterstück der Evolution auszulegen, weil dieses die Erkenntnis der Evolution durch Diktat ermöglicht hätte. Endet die Suche nach dem Tier im Menschen im Gehirn des Menschen, muß die Suche nach dem Grund von Evolution und Evolutionstheorie wieder von vorne beginnen.

 

 

[1] Hubert Markl: Durch den menschlichen Geist sieht die Natur sich selbst an © Merkur, Nr. 733, Juni 2010 – (www.online-merkur.de)

[2] H.Markl, ebenda; (www.online-merkur.de)

In diesem Sinne sind auch Kapitalismus und Kommunismus „Grundtatsachen“, die sich aus unzähligen Teiltatsachen zusammensetzen.  Der Satz: alles was ist, ist Tatsache, die Welt sei der Inbegriff aller Tatsachen, ist eine tabuisierende Tautologie, welche die definierende und hierarchisierende Arbeit des Begriffes unterminieren möchte.

[3] Die Kategorie „Gelenkte Anarchie“ würde lediglich die Aporie der Kategorie „Zufallsnotwendigkeit“ reproduzieren.

[4] H.Markl, ebenda; (www.online-merkur.de)

[5] H.Markl, ebenda; (www.online-merkur.de)

[6] H.Markl, ebenda; (www.online-merkur.de)

[7] H.Markl, ebenda; (www.online-merkur.de)

[8] H.Markl, ebenda; (www.online-merkur.de

[9] H.Markl, ebenda; (www.online-merkur.de)

[10] H.Markl, ebenda; (www.online-merkur.de)

[11] H.Markl, ebenda; (www.online-merkur.de

[12] H.Markl, ebenda; (www.online-merkur.de)

[13] H.Markl, ebenda; (www.online-merkur.de)

[14] H.Markl, ebenda; (www.online-merkur.de)

[15] H.Markl, ebenda; (www.online-merkur.de)