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27 Nachahmung

„Immer ahmen sie nur die Götter nach, und je wie das Bild ist, das sie sich von ihnen machen, danach tun sie. Reinige die Gottheit, und du reinigst die Menschheit.“

Pharao Amenhotep zu Joseph

(Thomas Mann: Joseph und seine Brüder – Drittes Hauptstück. Die kretische Laube: „Ich glaub‘ nicht dran!“)

 

I. Einleitung

 

Während Nachahmung nach Kant kein Prinzip des moralisch-sittlichen Menschen sein kann,[1] steht Nachahmung, oft Mimesis genannt, in den Künsten seit jeher in hohem Kurs, woran auch die Erfindung neuer technologischer Künste nichts änderte, im Gegenteil: Fotografie und Film scheinen den Begriff einer rigoros nachahmenden Kunst erstmals universal und global zu realisieren.

Andererseits scheinen künstlerische und ästhetische Nachahmung nur im Kontext menschlicher und natürlicher Weltnachahmung möglich zu sein, weshalb eine einleitende Erörterung des Begriffes von ‚Nachahmung überhaupt‘ zweckdienlich erscheint. Ohne Nachahmung scheinen weder menschliche noch nichtmenschliche Welten möglich zu sein. Oder meinen wir damit eher ‚Wiederholung‘ und nicht Nachahmung? Außerdem: wäre immer und überall nur (wiederholend) nachgeahmt worden – wie hätten Evolution und Entwicklung in die Welt(en) gelangen können? Auch der Begriff Nachahmung scheint nur – wie alle Begriffe – ein selbstverständlicher zu sein.

Wir wissen: „native speaker“ sind ohne Nachahmung unmöglich, ebenso jede Sozialisation, jedes Sozialverhalten, jede Art menschlicher Tradition und Traditionsbildung.[2] In Alltag und Nichtalltag menschlicher Kulturen gilt unausweichlich, daß Nachahmung in allen Produktions- und Reproduktionsprozessen unvermeidlich ist. Aber nochmals: Obwohl in aller Geschichte der Menschheit Nachahmung unausweichlich regiert, muß auch das Gegenteil wenigstens mitunter mitregieren, weil sonst Freiheit und Entwicklung und somit Geschichte selbst unmöglich (gewesen) wären.[3] Was ist Nachahmung?

Behaupteten geborene Skeptiker, diese Frage sei unbeantwortbar, weil zwischen Himmel und Erde immer und überall nur eine untrennbare Mischung von Nachahmung und Nichtnachahmung geschähe, bliebe uns – als geborenen Philosophen – nicht erspart, die beiden Elemente der mutmaßlichen Weltmischung dennoch zu sondern und zu erkennen. Wir wissen doch, woran wir denken, wenn wir umgangssprachlich das Wort Nachahmung verwenden. Oder etwa nicht?

Von Nachahmung sprechen wir entweder eigentlich oder uneigentlich. Eigentlich, wenn wir Vorgänge beschreiben, bei denen Menschen bewußt und gezielt[4] etwas Nachahmbares durch geeignete Mittel und Medien – vom Steinhaufen bis zur Wortsprache – nachahmen. Uneigentlich, folglich metaphorisch-übertragend, wenn wir uns anmaßen zu unterstellen, Vorgänge in den natürlichen Welten, aber auch in und unter Werkzeugen und Maschinen, die der Mensch seit Anbeginn erschaffen hat, finde gleichfalls ein bewußtes und zielgerichtetes Nachahmen statt.

Wer diese uneigentliche Rede mit eigentlicher verwechselt und gleichsetzt, setzt Nachahmung mit Wiederholung gleich. Nachahmung ist aber mehr und anderes als Wiederholung – wie schon angedeutet: bewußte und zielgerichtete Wiederholung, die Nichtwiederholung einschließt. Wäre Nachahmung nichts als Wiederholung, hätte unsere Kausalität aus Freiheit an den Kausalitäten der anderen Welten – von Natur und Technik, die sich wiederum in eine große Zahl von Sonderwelten unterscheiden, entweder ein Vorbild oder ein Spiegelbild oder auch ein Nachbild. Ahmen Flugzeuge nicht den Flug der Vögel nach? Ahmen Roboter, sich bewegend und nach Dingen greifend, nicht Menschen nach? Und ahmen Menschen nicht immer schon Affen nach?

Würde die genannte Verwechslung und falsche Gleichsetzung die Realität von Natur und Technik adäquat beschreiben, wäre Nachahmung auch in den Welten der Natur, von der kosmologischen bis zur mikroatomaren, vom ersten Einzeller bis zum säugenden Vielzeller, aber auch unter Maschinen jeder Art in gleicher und gleichberechtigter Weise möglich und vorhanden. Nachahmen wäre kein Akt der Freiheit, sondern ein gleichartiger Akt natürlicher oder technischer Kausalität.

Daß wir Wiederholung in eigentlicher Rede berechtigterweise auf Natur und Technik anwenden, scheint trivial zu sein. Bei klarem (Welt)Verstand sind wir uns sicher, der Erde nicht zusprechen zu dürfen, sie ahme andere Planeten nach, wenn sie um ihre und deren Sonne kreist. Denn die Erde wiederholt nur Wiederholbares; doch ist auch sie keineswegs nur wiederholend. Denn noch der scheinbar starrsten Regelmäßigkeit der Natur(en) ist Irregularität beigemischt, auch wenn sich der Mensch nach Kräften bemüht, für seine Ziele und Zwecke einen Ausgleich zwischen Regularität qua Wiederholung und Irregularität qua Nichtwiederholung zu schaffen. Etwa indem er ein Ideal von Regelmaß voraussetzt und heranschafft, um daran die „unreine“ Vollzugswiederholung der Natur „rein“ zu machen. Es lebt sich geordneter, wenn Tag und Stunde, aber auch Monat und Jahr als mechanische Wiederholung identischer Zeitphasen, somit als einfach zählbare Einheiten funktionieren, auch wenn man weiß, daß keine Art von Natur lediglich mechanisch tickt.

Eine Analogie dieses Phänomens einer Idealvermessung und idealischen Anpassung der trotz allpräsenter Naturgesetze immer auch irregulären Naturkreisläufe und -prozesse wird uns als Idealisierung und idealische Nachahmung im Reich der Künste wiederbegegnen.

Ist demnach schon in der mechanisch-dynamischen Natur unsere Rede von einer nur wiederholenden Materie unsicher, äußern wir uns noch viel weniger sicher über Wiederholungen in der Flora, vollends unsicher über Wiederholungen in der Fauna der Natur. Da Tiere, augenscheinlich höhere, keine Maschinen, sondern mit Bewußtsein versehene Lebewesen sind, könnte deren Instinktsystem doch ein Vorbild oder Spiegelbild oder Nachbild unserer Kausalität aus Freiheit sein. Eine scheinbare Berechtigung zu dieser Annahme gewährt die relative Offenheit der Instinktsysteme höherer Tiere. Diese können nicht nur domestiziert, sie können sogar dressiert werden, und daher auch dazu, menschliches Verhalten nachzuahmen, etwa ein Papagei, „der spricht wie ein Mensch.“

Doch auch hier gilt, daß wir bei klarem (Welt)Verstand den Unterschied von wirklicher und andressierter Nachahmung nicht zu verlieren pflegen. Ein Verlust, der allerdings unter Tierliebhabern und Zoologen, die oft einen hybriden Begriff von Affenliebe praktizieren, mitunter nicht zu vermeiden ist.

Dennoch ist der vernünftige Begriff von Nachahmung zweier Ergänzungen bedürftig, um nicht abstrakt zu bleiben.[5] Zwar darf als unbestreitbar angenommen werden, daß nur bewußtes und zielgerichtetes, folglich von Verstand und Vernunft geführtes Nachahmen als wirkliches und nicht bloß scheinendes und täuschendes Nachahmen möglich und wirklich ist. Dennoch kann nicht geleugnet werden, daß innerhalb des unermeßlichen Feldes bewußten und zielgerichteten Handelns und Nachahmens stets und überall auch ein unterbewußtes Handeln und Nachahmen existiert, das gleichwohl nicht als instinktgesteuertes Verhalten funktioniert.

Das unterbewußte Handeln erscheint als vorbewußtes Nachahmen entweder als gesundes, wenn wir (geradezu mechanisch gewordene) Gewohnheiten, hingegen als krankhaftes Nachahmen, wenn wir neurotische Zwangswiederholungen vollziehen. Und diese beiden Grenz-und Extremfälle von bewußter Wiederholung führen unweigerlich zur moralischen Ergänzungsbedürftigkeit aller formalen Begriffe von Nachahmung. Anders könnten wir normale nicht von anormalen Gewohnheiten unterscheiden. Offensichtlich ist freies menschliches Nachahmen nicht als moralisch und politisch neutrales Handeln möglich.

Ein dementer Mensch, der vergessen hat und stets wieder vergißt, wie und wozu Türklinken zu ergreifen sind, muß von nichtdementen Menschen geführt und betreut werden. Ein vernünftiger Mensch ist froh und (un)dankbar, sich nicht bei jeder Türklinke an das frühkindliche Erlernen des Ergreifens von Türklinken erinnern zu müssen. Nur auf der Grundlage eines erworbenen Systems von unzähligen Gewohnheiten kann er als zurechnungsfähiger Mensch handeln und sowohl nachahmen wie nicht nachahmen. Folglich heben die genannten beiden Extremarten von (un)bewußter Nachahmung keineswegs die Normativität des vernünftigen Begriffes von Nachahmung auf.

Im Gegenteil, sie führen unweigerlich in das Unheils-Zentrum des bewußten und zielgerichteten Nachahmens durch Menschen. Wir wissen geradezu vorbewußt – durch selbstverständlich gewordene Einsicht -, daß es weder klug noch gar moralisch und vernünftig wäre, stets nur als Nachahmer anderer Nachahmer zu leben und zu handeln. Und dennoch ist dies oft geschehen, geschieht immer noch und wird weiterhin geschehen.

Denn nicht nur Türklinken und unzählige andere Alltagsfertigkeiten, auch moralisch-politische Maximen und Prinzipien, die sich in der Geschichte der Menschheit immer schon tradiert vorfinden, müssen von Menschen nach deren je aktuellen Prüfungskriterien angenommen oder verworfen werden. In diesen liegt offenbar der Wurm im Unheils-Zentrum von Nachahmung. Wie könnten sonst schändliche und menschenverachtende Prinzipien und Maximen Mitläufer und Nachahmungstäter sondern Zahl finden? Weil in der Geschichte oft dunkel und ungewiß ist, auf welcher Seite das Gute und in die Zukunft Führende liegt, können sogar Millionen in die Falle tappen und sich als Mitläufer verdingen. Der berufene Massenmörder weiß sich zum neuen Guten in der Geschichte erwählt, er fällt mit Millionen in die Falle und ahmt nach, was ihm nachahmenswert erscheint. Wovon bekanntlich Nachahmer und Nachahmungen in Religion, Kunst, Philosophie und Wissenschaft keineswegs ausgenommen sind.

 

II. Wissenschaft oder Kunst oder beides?

 

Seit dem 17. Jahrhundert begleiteten und begleiten Zeichnen und Zeichnung die Himmelsbeobachtungen der Astronomen und Wissenschaftler (Tycho Brahe, Galilei, Kepler, Huygens, Newton u.a.) an erstmalig verfügbaren Fernsichtgeräten.[6]

Was der geübte Beobachter am Fernrohr, also mit eigenen Augen durch die blickerweiternden Linsen der „neuen Augen“ erblickte, zeichnete er auf und ab, um es sich und anderen, somit einer interessierten Mit- und Nachwelt mitzuteilen. Nicht nur ahmte die Zeichnung nach, was sich durch das Gerät erblicken ließ, schon das Erblicken der neuen Wahrnehmungsbilder entfernter Welten war eine zweckgerichtete Nachahmung von Welt. Technologische Geräte richten nahe und ferne Welten nach ihren Grenzen und Methoden zu neuen Bildern von Welt zu. Nur in Fernrohren erscheinen Galaxien (mit wenigen Ausnahmen) als deren Bilder; aber dieses Erscheinen ist eines zugleich nur durch und für unser wahrnehmendes Sehen.

Folglich bleibt das Sehen unserer Augen – auch unter den ungeheuerlichsten Erweiterungen ihrer biologischen und kulturpragmatischen Grenzen – an die transzendental konstituierenden Grenzen des menschlichen Sehsinnes gebunden, etwa an den Ort und die Zentralperspektive des Sehens, an dessen Entfernung von den Objekten und „Beobachtungsorganen“ und überhaupt an die Kraft des Auges, Bilder von nächsten und entferntesten, von größten und kleinsten Objekten entwerfen und aufbauen zu können.[7]

Bilder sind veränderte, durch die welthabende Sinnestätigkeit des Menschen veränderte Abbilder von Welt, ohne daß wir für das „Abbilden“ beweisbare Urbilder der Welt in urbildzeugenden Sinnesorganen voraussetzen können. Offensichtlich sind „Abbild“ und „Abbilden“ problematische Metaphern für Akte, die auch durch das ‚Wort „Nachahmung“ nur andeutungsweise umschrieben werden. „Veränderung durch Abbilden“ bedeutet daher, daß wir zwar Gesamtbilder und Urbilder der (jeder) Realität postulieren müssen, zugleich aber wissen, daß auch jede Groß-Sammlung („Gesamt-Serie“) von Abbildern jedes Dinges immer nur approximativ das Gesamtbild („Urbild“) des Dinges erreicht.[8] „Gesamtbild“ und „Urbild“ sind Metaphern für den (nur denkbaren) Begriff von Ding und Welt.[9] Erscheinung (Bild) von Welt kann uns niemals eine anschaubare Totalität von Welt zeigen.[10] Und das Verändern durch Nachahmung, sei es durch reale oder ideale, bleibt vom willkürlich freien Konstruieren und Dekonstruieren von Welt und Weltbildern – etwa durch moderne Kunst – unterscheidbar.[11]

Ob und wie das Ergreifen, Begehen und Betasten der Welt, etwa das Besteigen des Mount Everest oder das Betreten und Begehen des Mondes ein Akt noch freierer Nachahmung sein könnte, läßt sich an der Tatsache erörtern, daß wir dabei – „unmittelbar vor Ort“ – unzählige Bilder von Objekten abbilden, sei es durch unmittelbare Wahrnehmung, sei es durch „nachahmende“ Wahrnehmungsmaschinen. Die Illusion, ein Gesamtbild erwerben zu können, das die Realität der „besuchten“ Objekte total und im Maßstab 1:1 abbilde, bleibt jedoch als Illusion durchschaubar, obgleich ohne Zweifel dem Medium Film die Palme im Streit der künstlerischen und technologischen Approximativ-Nachahmer gebührt. Ebenso anerkennen wir unwillkürlich das Faktum, daß unser Sehen mehr als unser Hören zwecksetzenden Akten nichtwiederholender Wiederholung, somit dem Vollzug freier Nachahmung zugänglich ist. [12]

Das durch Hand und Auge geführte Abbilden durch wissenschaftsdienliches Nachzeichnen geriet im 19. Jahrhundert in Konflikt und Streit mit der neuen fotografischen Abbildungskunst. An der dokumentierten Heftigkeit der damaligen Kontroverse läßt sich ermessen, wie radikal und bedrohlich oder auch überschwenglich und fanatisierend das Neue der fotografischen Technik zunächst erfahren und interpretiert wurde.

Obwohl der Zeichenstift den Nachahmungs-Kampf gegen die Kamera nicht gewinnen konnte, verschwand doch das manuelle Nachzeichnen keineswegs gänzlich aus der astronomischen Praxis.[13] Anfangs jedoch, als die Bilder der Fotografien noch unscharf waren, schien der neue Kampf zwischen altem und neuem Medium für noch lange Zeit unentschieden zu verbleiben. Nachdem die französischen Physiker Hippolyte Fizeau und Léon Foucault 1845 mit dem Fotografieren von Himmelskörpern, auch der Sonne, begonnen hatten, gelangen dem amerikanischen Astronomen George Phillips Bond mit einer chemisch präparierten Metallplatte erstmals approximative Fernrohr-Bilder des Mondes. Und nach deren bald nachfolgender Verbesserung durch Warren de la Rue und Lewis Morris Rutherfurd, wurden ab 1857 „allgemein bewunderte Mondbilder“ präsentiert.[14]

Doch hielt sich das Bewundern der neuen Bilder innerhalb der Astronomen in engen Grenzen. Denn der Vergleich zwischen dem, was die Astronomen in ihren technischen Okularen und Linsen erblickten, und dem, was ihnen die Fotografien davon präsentierten, fiel enttäuschend aus. Offensichtlich übertrafen die Sehwerkzeuge der Fernrohrlinsen noch bei weitem die Abbildungskraft der Seh- und Bildwerkzeuge Kamera und Lichtplatte.[15]

Noch 1887 gibt Rudolf Spitaler einen auffällig nostalgischen Rückblick auf die traditionelle Mondkartographie. Wobei zunächst die „für unglaublich gehaltene Zeitersparnis“ in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückte.[16]

Während Rudolf Spitaler die Langsamkeit der traditionellen Mondkartographie nicht als Nachteil beurteilte, feierte Camille Flammarion nicht nur den „Zeitvorteil“ des neuen “fotografischen Riesenauges.“ Denn das neue Auge des Menschen „hält alles fest, was es sieht.“ – „Man braucht nur die Netzhaut auszuwechseln.“[17]

Der zweifache Kampf der „Darstellung durch die fotografische Platte“ gegen einerseits die „Zeichnung nach der Gesichtswahrnehmung“ und andererseits gegen das reale Wahrnehmen am Fernrohr durch das menschliche Auge mußte zugunsten der fotografischen Darstellung enden, sobald es gelang, lichtempfindlichere Platten herzustellen. Dennoch liegt eine Verwechslung von eigentlicher und uneigentlicher Nachahmung vor, wenn Camille Flammarion behauptet, daß das neue fotografische Riesenauge dem menschlichen Auge schier grenzenlos überlegen sei und schon von daher auch das zeichnende Abbilden durch Handstifte auf Papier weit hinter sich lasse. Das neue Riesenauge ist kein Auge, und das neue Abbilden ist zwar ein Nachahmen, sogar eines mit unüberbietbaren Genauigkeitswerten, und doch eines, das nicht ohne ein real menschliches Auge und auch nicht ohne begleitendes und interpretierendes Wissen als „Abbildung“ von Welt(en) wahrgenommen werden kann. Ein antiker Ägypter, unvermittelt mit dem sichtbar gewordenen Pferdekopfnebel konfrontiert, würde die ihm neue Himmelserscheinung als vertraute Gottheit deuten.[18] Er würde wiedererkennen, was ihm sein Wissen zu sehen befiehlt.

 

III.  Mythos – Künste, vormoderne/moderne

 

Die Erfindungen von Fotografie und Film stehen am Ende der Neuzeit und am Beginn der Moderne, – jedenfalls in der Geschichte der vormodernen Künste und deren Ästhetiken und Kunstlehren. Wohl schon ins späte 18. Jahrhundert fiel die Epochengrenze in der politischen und ökonomischen Geschichte – in der Politik zur modernen Demokratie führend und durch die „Erfindung“ der Menschenrechte in ein neues Zeitalter vorausweisend.

Aber auch die Geschichte der Wissenschaften, Philosophie noch an führender Spitze, wurde durch große Revolutionen des Denkens und neuer Erforschungsmethoden zur Begründerin und Trägerin von Moderne und moderner Welt. Später sprach man vom modernen Weltbild der Ersten Welt, von der Avantgarde der Menschheit.

Einerseits befinden wir uns daher in der weltgeschichtlich beneidenswerten Lage, einen multiepochalen Rückblick auf die Totale der vormodernen Geschichte der Künste vollziehen zu können, andererseits nicht mehr naiv und von der Vergangenheit unbehelligt in die Zukunft produzieren, reproduzieren und nachahmen zu können. Anhänger einer Moderne, die sich als bruchlose Weiterführung der Vormoderne mißverstehen, beklagen daher das „Museale“ und „Historistische“ der aktuellen Totalität von Moderne (und stets begleitender Postmoderne) und deren nicht mehr zu revidierender Janusköpfigkeit.

Schon Hegel, nicht erst die Postmoderne aktueller Moderne, sah den modernen Künstler als Dramaturgen der inszenierten Nachahmung – nämlich aller Stile und Darstellungsweisen, aller neuen und tradierten Inhalte und Formen, die sich durch die vollendete Geschichte der vormoderne Künste summiert haben. Der alle Stoffe, Formen und Materialien und auch Syntaxen und Stile arrangierende Dramaturg des reflektierten Kunstwerkes der Kunst-Geschichte werde in allen „Einzelkünsten“ – nach dem berüchtigtem „Ende der Kunst“ – erscheinen. Nicht erst mit einer Kunst des Gesamtkunstwerks, deren Illusionsidee, Hegel noch unbekannt, von Richard Wagner bekanntlich mit einer ähnlich naiven Obsession vorgebracht wurde wie von Nietzsche eine wenig bedarfte Lehre vom künftigen Menschen als Übermenschen. Den ästhetischen Illusionen der Opernideologie des 19. Jahrhunderts hat der Film des 20. Jahrhunderts mores gelehrt; den Ideologien von übermenschlichen Herren- und Parteimenschen die politische Geschichte desselben Jahrhunderts.

Nach modernen Begriffen sind Kunst und Künste nicht (mehr) Nachahmer vorgegebener Natur und Naturen, sondern Schöpfer von Kunst und deren „Natur“, dieses Wort nun nicht mehr in seiner vormodernen Bedeutung von vorgegebenen Inhalten und Formen oder gar von Praxen und Herstellungsweisen verstanden, die Künstler einer vorbildenden Natur, welcher auch immer, entnehmen könnten. Kunst als Selbstnachahmung von Kunst steht daher am Ende der vormodernen, am Beginn ihrer modernen Entwicklung. Weshalb auch „Entwicklung“ von Kunst und Künsten dem Paradigmen-Unterschied von vormoderner (teleologischer) Entwicklung und moderner (hyperdifferentieller) Entwicklung folgt.

Diese Wende in der Begriffsgeschichte von Nachahmung durch Kunst und Künste ging der technologischen Wende voraus und kündigte sich bereits in Mittelalter und Neuzeit in den Gründen und Abgründen der vormodernen „Naturnachahmung“ durch Kunst und Künste an.[19] Ein sich geschichtlich steigerndes ‚Wenden‘ von Begriff und Praxis von Kunstnachahmung (Mimesis), das grundsätzliche Fragen zur Definition aufwirft. Auch die Philosophie der Kunst muß anerkennen, daß die Geschichtlichkeit von Kunst und Künsten unhintergehbar ist. Demnach scheinen auch über ‚Nachahmung durch Kunst‘ lediglich geschichtsphilosophische, keine übergeschichtlichen und metaphysischen Theorien möglich zu sein.

Dem Grundproblem jeder Begriffsgeschichte kann sich auch der Begriff von Nachahmung in den Künsten nicht entziehen. Meint Begriffsgeschichte die Geschichte eines sich in aller Geschichte identisch durchhaltenden Begriffes, oder meint Begriffsgeschichte, daß sich der Begriff Nachahmung durch Kunst und Künste als stets nur nichtidentischer, somit gar nicht als allgemein begreifbarer Begriff seine Geschichte daher nicht gibt, sondern durch die Geschichte (auch der Künste) immerfort als anderer gegeben und konstruiert sowie gemacht wird? Eine These, die spätestens dann ihre Fragwürdigkeit offenbart, wenn die Begriffsgeschichte des Begriffes der Vernunft erörtert werden muß. Eine nur historische Vernunft wäre nur Geschichte. Geschichte wäre das Absolute, Erst- und Letztbegriff unseres Erkennens und Handelns und aller Nachahmung von Welt und Mensch. Wogegen steht, daß Geschichte (Evolution, Entwicklung) niemals durch ihre Wenden und Machenschaften gegründet und begreifbar sein kann, weil nur Kontingentes vorauszusetzen wäre, bis hin zum beliebten Absurditätssatz, Geschichte (jeder Kultursparte) könnte auch ausgeblieben sein.[20]

Nicht nur muß die Frage: Was ist Nachahmung in, durch und für Kunst? in drei Fragen gedrittelt werden: Was ist Nachahmung gewesen? Was ist Nachahmung gegenwärtig? Was wird Nachahmung durch Kunst künftig sein? Auch die Vielzahl der Künste fordert ihren Tribut: Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Dichtung, um die Namen der vormodernen Hauptkünste zu nennen, die nun durch die technologisch modernen von Fotografie und Film und deren digital nachfolgenden Misch- und Spielkünste zu ergänzen ist. Indes zugleich die genannten vormodernen Einzelkünste ihre neue Geschichte als moderne Künste im Sinne der sogenannten „ästhetischen Moderne und Postmoderne“ – als hyperdifferential reflektierende Nachahmungskünste begonnen haben.[21]

Da die vormodernen Künste aus religiösen Inhalten und Praxen hervorgegangen sind – die technologisch modernen aus Wissenschaft und Jahrmarkt – wäre ein gemeinsamer Nenner von Nachahmung für die vormodernen Einzelkünste allein in deren religiöser Praxis zu finden. Etwa in den kultischen Festen der Mythen aller antiken Kulturen, somit in der „Natur der Götter“ und deren Freuden und Wonnen, deren Macht und Gewalten.

Dieser „gemeinsame Nenner“ einer Mimesis für und durch alle Künste würde sich jedoch einer modernen Rückprojektion schuldig machen, wenn er voraussetzte, daß „alle Künste“ schon als eigennamentlich genannte und selbständige am Anfang des Mythos und seiner Entfaltung gestanden hätten. Indes sie doch erst aus dessen Zerfall hervorgehen konnten. (Worauf Platon und Aristoteles teils reagieren, teils aktive Anstöße zu weiterer Beförderung der Autonomisierung geben.)

Innerhalb der Geschichte des noch intakten Mythos organisiert und leitet dieser die tradierte Zuteilung kultischer Aufgaben an repräsentative „Kunstformen“; – Chor, rezitierende Schauspieler, Dichtung und Musik, aber auch Tempel und Skulpturen nebst „Gymnastik und Sport“ und andere sind fester ritueller Teil der kultischen Funktion des mythischen Gesamtkultes – (post)modern gesprochen­: des „mythischen Gesamtkunstwerkes.“[22]

Nach der Antike und deren florierenden Kunstreligionen dürfte – nach dem Judentum – wohl der Islam die rigoroseste Trennung von Kunst und Religion vollzogen haben. Innerhalb des Christentums war bekanntlich der reformatorische Protestantismus zu gewissen Zeiten kunstfeindlicher als der stets kunstfreudige Katholizismus. An diese Vorgeschichte der säkularen Geschichte der Künste, ihrer neuzeitlichen Autonomisierung bis hin zur modernen Autarkie aller Künste zu erinnern, kann nützlich sein, um nicht zu vergessen, innerhalb welcher epochalen Entwicklungs-Dimensionen die „aristotelische Mimesis“ als tragende Erbschaft einer scheinbar „ewig“ reproduzierbaren Antike oder einer „ewig“ reproduzierbaren – als Vorbild aller Künste nachahmbaren – „Natur“ traktiert und – bis heute – tradiert wurde.

 

IV. Kunstbegriffe – Kunstgeschichte

 

Die Wort- und Bedeutungsgeschichte von Nachahmung (Mimesis) bei Platon und Aristoteles soll hier nicht wiederholt werden; sie wurde und wird in vielfältigen Varianten dargestellt und interpretiert. Trotz einer kaum übersehbaren Vielfalt an begrifflichen Zuschreibungen ist festzustellen, daß schon die antike philosophische Ästhetik und Kunsttheorie die überhaupt möglichen Bedeutungen von Kunst und deren Nachahmungsarten auf prinzipieller Begriffsebene erfaßte. Es sind – in nuce – alle überhaupt möglichen.

Kunst noch nicht als Kunst, sondern noch als Religion. – 2. Kunst als säkulares Herstellen: jede Art von Können, nicht nur das durch Kunsthandwerk im engeren Sinn, zeitigt eine von unendlichen Arten von Kunst.[23] – 3. Kunst als a) selbstzweckhaftes (schönes und erhebendes) Darstellen und Ausdrücken; also Kunst im späteren und noch heutigen Sinn als höchster Erfüllungssinn von „Nachahmung durch Kunst“; deren Arten, die sogenannten „Einzelkünste“ (Hegel), gehen aus dem zerfallenden Mythos der antiken Kunstreligion(en) hervor; und am erfüllten Ende ihrer Erfolgsgeschichte die Moderne der modernen, nicht-mehr-schönen (vortechnologischen) Künste: 3. b) – kritische und realistische Kunst als Leiden an der Welt und im Revers dazu: moderne Unterhaltungskunst bis zur äußersten Betäubung. – 4. Kunst als Nachahmung im engsten Sinne – als quasi-wiederholende Imitation – findet sich zwar auch unter 1. und 2., wird jedoch speziell als Sub-Art unter 3. a) zum historisch auffälligen Problem: Wozu selbstzweckhafte Kunst als Darstellung eines (möglichst genauen) Imitierens des Darzustellenden? Wem dienen Zeuxis Trauben, wen bezaubert Parrhasios täuschend ähnlich gemalter Vorhang? [24]

Die später sich autonomisierenden Kunstarten der vormodernen Epochen – Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Dichtung – sind zunächst innerhalb des Mythos dessen praktische Organe, stets auf dem Sprung zur Selbständigkeit, weil schon innerhalb des Mythos als je eigenes Können, aber noch in religiöser Absicht und Beauftragung, unterschieden. Jedes System der Künste im höchsten Wortsinn, auch das hier genannte, setzt den Zerfall des Mythos (aller vormonotheistischen Religionen) und deren Übergang in die freien Künste der vormodernen Epochen voraus.

Dennoch war ihre erste Autonomisierung nur eine erste und relativ kurze, da der Neubeginn von Kultur und Kunst durch das Christentum zunächst entweder die Künste der Heiden ausschloß oder in anverwandelter Form in Dienst nehmen mußte.

Doch folgte dieser Rücknahme der Autonomie durch die frühe Kirche und deren weltliche Herrscher-Pendants in Hof und Adel bald eine Neubeauftragung, die von Anfang an das Telos einer zweiten und endgültigen Befreiung der Künste enthielt.[25]

Eine zweite und endgültige Befreiung, die über die bekannten abendländischen Epochenschritte der Künste zu deren vollendeter Autokratie führen sollte. Sie erfüllte sich im letzten Schritt der vormodernen Künste zur Moderne seit dem 19. Jahrhundert – zunächst noch unabhängig von der technologischen Wende durch neue technologische Künste.[26] Freiere Kunst und Künste als die der Moderne sind weder denkbar noch möglich. Wer eine „Zweite Moderne“ erfindet, müßte bereit sein können, noch viele weitere „Modernen“ der Künste für möglich zu halten.

Eine Moderne und deren Globalisierung genügt, und allenfalls wird man später, wenn noch nötig, nach Dezennien taxonomieren, um für die Historie „zeitlos“ moderner Kunst wenigstens terminöse Orientierungen zu gewinnen. Die restbeständlichen nationalen Zuschreibungen – jeder Nation ihre Moderne – haben ihre Markenkraft beinahe schon gänzlich eingebüßt. Der befreiten Selbstdifferenzierung aller autarken Künste autonomer Provenienz – Kunst ist Kunst und alles andere ist alles andere[27] – steht nichts mehr im Wege.

Was die Künste als moderne an „zeitloser“ Historie gewinnen, verlieren sie allerdings an verbindlicher Teleologie. Die Fortschrittsverbindlichkeit der vormodernen Künste war noch an den volonté générale der vormodernen Eliten gebunden, von diesen beauftragt und erhalten.[28] Die nunmehr erlangte und nicht mehr rücknehmbare Autarkie ermöglicht der zu ihrer „ewigen“ (vulgo „zeitlosen“) Moderne befreiten Kunst auch das Kunststück einer autarken Selbstdeutung: Stets wieder werde sie sich aus eigengezeugter Postmoderne als erneuerte nächste Moderne reproduzieren. Wie oft dieses Spiel einer zeitlosen „Renaissance“ gespielt werden kann, ist nicht prognostizierbar, weil auch dieses Spiel von der Volatilität der Märkte (aller Künste) abhängig ist. Vermutlich erst spät wird die Moderne der autarken Künste und deren Leitideologie der „Ästhetischen Moderne“ entdecken, als wessen Geistes Kind sie dabei verfuhr. Dann nämlich, wenn sie begreifen wird, worin sich ihre „Entwicklung“ von jener der vormodernen Entwicklung unterschied.

Von der allgemeinen Blindheit unserer Kultur gegen diesen Unterschied nährt sich auch der verbreitete Irrtum, die Moderne der Künste sei entweder eine kontinuierliche Weiterentwicklung und Steigerung oder gar der Ziel- und Höhepunkt der vormodernen Künste.[29] „Klassische Moderne“ ist lediglich ein Epochenbegriff, der die heroischen Abwendungen der ersten modernen Künstler vom Weg der Vormoderne umschreibt. (Die moderne Selbstdeutung leistet sich den Luxus einer „Anfangsklassik“, in ihrer Lesart: einen „modernen Mythos.“) Mit klassischer Vollendung und ‚Klassik‘ im eminenten Wortsinn hat die „moderne Klassik“ nichts zu tun; auf den Märkten fungiert sie als Markenname. Historiker und Kuratoren, Wissenschaftler und Philosophen aller Künste leben längst im modernen Paradigma, ahmen aber immer noch das vormoderne Paradigma nach.[30]

Ein Grund der verfälschenden Rückprojektion dürfte auch die umstrittene Anfangsfrage von Kunst und Künsten sein. Es muß das moderne Paradigma verstören, daß am geschichtlichen Anfang von Kunst und Künsten nicht diese, sondern Religion und Religionen gestanden haben sollen. Folgen wir der Museumslyrik unserer Tage, haben wir an Picasso einen modernen und zugleich zeitlos archaischen Maler; und die Höhlenmaler von Altamira hätten schon als „erste Picassos“ produziert. Wer den historischen Übergang von Mythos zu Kunst, von Religion zu Künsten verkennt, erntet zeitlos zeitlose Künste. [31]

 

V. Natur und Antike, Nominalismus und Moderne

 

Schon in der frühen Neuzeit, in der Bildenden Kunst bereits in den ersten Anfängen der „Renaissance“ in Italien, erfolgt die zweite, die christliche Entlassung der Künste zu ihrer endgültigen Freiheit und Selbständigkeit. Damit zugleich die entscheidende Wende in der Geschichte der Nachahmung durch Künste, die nun selbstzweckhafte Werke schaffen sollen.

Religiöse Inhalte werden teils verweltlicht – die Heilsgeschichte wird durch Figuren der jeweiligen Gegenwart repräsentiert -, teils werden weltliche Inhalte ohne religiösen Bezug – nicht ohne Kampf und Tabubruch – zur Darstellung freigegeben.

Im Kern des neuen Nachahmungsprinzips finden wir zwei Prinzipien, die oft bis zur Indifferenz identifiziert werden: 1. „Natur“ als Deckname für die Entwicklung gesuchter Schönheitsideale in Stil, Gattungen und kanonisierbaren Grundtypen und 2. „Antike Schönheit“ als normatives Vorbild für die Entwicklung aller vormodernen Einzelkünste, mit Ausnahme der Musik, die sich noch aus ihrer Gestalt als genuin christliche Kunst emanzipieren mußte.[32] Universale Schönheitsvernunft wäre ein erkennender Name für das Kompositum beider Decknamen. Vernünftige Künste mit verbindlicher Rationalität sollten auch einmal die Bühne der Weltgeschichte betreten. Vollkommen kohärente und wahrhaftige Schönheitsideale wurden nicht nur gefunden, sie wurden – unter königlich-höfisch-fürstlichen, konfessionellen und vormodern nationalen Wettbewerbsszenarien – vollständig ausgeschöpft.

Ihr historisch gewordener Bestand an Syntaxen und Stilen, Handwerken und Formen wird noch an den heutigen Kunstuniversitäten gelehrt.

Ihre Erschöpfung im späten 19. Jahrhundert, ihr Übergang als „klassizistische Klassik“ in die Produktion und Reproduktion von Kitsch-Künsten überraschte sogar die damaligen Kenner der schönen Künste und ihrer Geschichte.[33] Was so unübertreffbar natürlich und schön erschien, an Werken, deren Arsenale ganze Paläste und Museen, deren Repertoire Konzert- und Opernhäuser füllte, – warum sollten die zwar historisch gewordenen Normen der klassizistischen Kunstlehre nicht fähig sein, die Produktion künftiger Kunst „für immer“ zu leiten? Wie beispielsweise die repräsentative Ästhetik des 19. Jahrhunderts von Friedrich Theodor Vischer unterstellte – in später und letztmöglicher Analogie zu Aristoteles Vorbildglauben an klassische als Musterwerke für die künftigen Folgewerke der hellenistischen Theaterproduktion.[34]

Obwohl sich die (erhaltene) Mimesistheorie des Aristoteles auf die Tragödie beschränkte und das Naturschöne kein Thema der antiken Ästhetik war, blieb seine Lehre doch normsetzend für die vormoderne tragödische Dichtung und deren Theorie, – über Lessing hinaus bis ins 19. Jahrhundert. Aber auch die neuen Lehren einer Nachahmung der natura naturata oder natura naturans durch freie Künste konnten an Aristoteles anknüpfen:[35] An dessen Axiom, Nachahmung sei eine angeborene Fähigkeit des Menschen.[36] Die Entelechien (vulgo natürliche Schönheit) in, durch und für alle (noch vormodern) freien Einzelkünste zu finden, diese Suche und Arbeit machte fortan einen unverzichtbaren Schwerpunkt abendländischer Kultur aus. Noch für Jahrhunderte getragen von den herrschenden Eliten der vormodernen Gesellschaft und den Leidenschaften authentischer Originalgenies, deren Originalität, anders als die moderne, verbindlich kanonisierbare Erfolge zeitigte.[37]

Es bedürfe gewisser eingeschränkter Mittel, um den Mythos (Erzählung) des – moralisch integren – Helden durch gewisse, eingeschränkte Formen dramatisch darzustellen. Werde diese primäre Entelechie erfüllt, könne sich auch die zweite und endgültige, Freude nämlich und Erhebung der teilnehmenden Arena zu bewirken, erfüllen. Dabei stellt Aristoteles (nur mehr) menschliche Helden unter das Normparadigma eines Handelns, das sich als vollendet menschliches unter tragischen Prämissen – blinde Tat, späte Erkenntnis – erfüllt. Ein Paradigma und Leitbild für dramatische Theaterkunst, nicht für die anderen freien Künste der frühen Neuzeit.

Diese mußten ihre Entelechien daher in ihren zugeordneten antiken Vorgängerkünsten – über die Grenzen der Religionen hinweg – suchen. Vasari und andere haben diese Scheinsuche, denn die damals modernen Künstler wußten schon, worauf sie hinaus wollten und mußten, erschöpfend beschrieben.[38] Raffael, Aufseher über die römischen Antiken, Michelangelo, dessen Skulpturen die antiken an Vollkommenheit übertreffen, Alberti und Palladio, die sich an Vitruv orientieren, und noch da Vinci und Dürer nehmen Maß bei dessen homo bene figuratus.[39]

Und die Musik? Diese mußte ihr Gegenstück zur Zentralperspektive, eine vollkommene Harmonie zusammenklingender Töne, wirklich eigenständig und aus eigenen Mitteln suchen. Hier halfen keine antiken Vor- und Musterwerke, und dies nicht nur, weil Dokumente und Quellen fehlten. Es fehlte die Terz, um auch die mittelalterlichen Tonsätze, die über sakrosankte Theorien nochmals an antike Tonsysteme anknüpften, hinter sich zu lassen. Und es fehlte, davon unabtrennbar, die tonale Kadenz, um der neuen (und unüberbietbar vollendeten) Mehrstimmigkeit eine „rationale“ Grundlage zu verschaffen. Diese war mehr als „rational“, sie war die unüberbietbare Vernunftgrundlage einer Syntax unter Tönen, die als universale Tonsprache bis ins 19. Jahrhundert bedeutende vormoderne Musik zu erschaffen ermöglichte. [40] Dufay wurde fündig und ihr erster Meister – um 1435.[41]

 

Leo Dorner, Februar 2015

 

 

[1] Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten. Tugendlehre. Die ethische Didaktik §52. „…denn Nachahmung ist dem noch ungebildeten Menschen die erste Willensbestimmung zu Annehmung von Maximen, die er sich in der Folge macht.“

[2] Plutarch: „Es ist ein wahres Sprichwort, daß, wenn du mit einem Lahmen lebst, du selbst hinken wirst.“ – Plutarch’s Werke. Zwanzigstes Bändchen. Moralische Schriften. Übersetzt von Johann Christian Felix Bähr. Stuttgart/Wien o.J. – S. 16.– Kant: „Da nun Lernen nichts als Nachahmen ist“ – sei das Genie der Künste „dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen.“ – Kritik der Urteilskraft, § 47.

[3] Wohl der Grund des historischen Faktums, daß der Satz: „Ich ahme nach, also bin ich“, nicht zu philosophischen Ehren kam.

[4] Nur der Mensch ist ein Zwecke setzendes, in einem Tierkörper existierendes Vernunftwesen. – Kant, Metaphysik der Sitten. Tugendlehre. VIII. Exposition der Tugendpflichten als weiter Pflichten. 1. Eigene Vollkommenheit als Zweck, der zugleich Pflicht ist.

[5] Formal-transzendental ist auch das unumgängliche Kriterium, das für alles menschliche Bewußtsein gilt: Es kann nicht jenseits der Differenz und Einheit von Subjektivität und Objektivität handeln und nachahmen. Das beabsichtigte und zielgerichtete Nachahmen ist nur als trinitäre Einheit von Nachzuahmendem (Objekt), Nachgeahmten (Produkt der Nachahmung) und Akt der Nachahmung (Vollzug der Produktion von Nachahmung) möglich und wirklich.

[6] Analog dazu begann die Geschichte der Mikroskope und ihrer Zeichnungsdokumente an der Wende zum 17. Jahrhundert.

[7] Nicht Fernrohr oder Kamera sehen, nicht das Hörgerät und der CD-Player hören, nicht das Mikrofon spricht und singt. Teleskope sind (im optischen Bereich) erweiternde Augengläser nicht für sehende Teleskope, sondern für Menschenaugen. Das wahrnehmbare Bild der Sonne, sei es durch unmittelbare oder durch (Geräte)vermittelte Wahrnehmung erblickt, ist weder „dort, wo die Sonne real existiert“, noch auf unserer Netzhaut. Der wirkliche Ort des Bildes ist kein materieller Weltort. Könnten wir in die Okulare und Linsen unserer Kameras und Teleskope „hineingehen“, würden wir keine Bilder vorfinden. (Leibniz‘ Mühlengleichnis in erweiterter Anwendung.) Und „Spiegelneuronen“ in unserem Gehirn, die angeblich Bilder abbilden oder gar „sichtbar“ machen, gehören zum Märchenrepertoire von nur noch fachspezifiziert denkenden Gehirnforschern.

Dennoch gilt: So wenig Gaukler- oder Handwerker-Stelzen selbst gehen, sosehr vermag der Mensch mit Stelzen größere Schritte zu tun. Und so wenig sich im Linsenkristall des teleskopischen Riesenauges ein Riesenblick befindet, so verfügen wir doch dank des „Riesenwerkzeuges“ über einen wirklichen „Riesenblick“, der unseren Blick mit größeren als Siebenmeilenstiefeln in den Weltraum hinausführt. Und mittlerweile dank „Riesenflugzeugen“ alias Raumschiffen bekanntlich nicht mehr nur unser Sehen und Schauen.

[8] Der Versuch des Kubismus, die Approximation in einem Bilde zu geben, zerbricht den Sinn von Nachahmung und Erscheinung.

[9] Kopiert ein Kopist ein originales Bild, fungiert dieses als „Urbild“ für das abbildende Kopierbild. Aber Kopieren setzt im Fall traditioneller Malerei höchste Kunstfertigkeit, höchstes Stil- und Nachahmungskönnen voraus.

[10] Dennoch und deswegen erscheint uns „Dürers Hase“ als wie ein Urbild des Hasen schlechthin. Im Reich der Erscheinung machenden Blicke gibt es tiefere und weniger tiefe, wesentliche und unwesentliche. Und vor allem: schöne Stile von Kunst, die einen idealischen Kristallblick auf die Erscheinungen der Welt ermöglichen.

[11] Dorner, Leo : Traktat über vormoderne und moderne Kunst. Würzburg 2010.

[12] Eine nur gehörte (Radio)Galaxie erweckt sogleich den Wunsch, auch ihr Bild als Bestätigung ihrer Existenz verfügbar zu machen. Obgleich wir wissen, daß Galaxien, von denen wir Bilder aus Welt-Zeiten erblicken, deren Lichtbotschaft vor Abermillionen Jahren abgesandt wurde, nur einen Vergangenheitsbeweis der erblickten (Bild)Galaxien enthalten können. Dies gilt unabhängig davon, ob wir Einsteins Gleichsetzung von Zeit und Uhrzeit teilen oder nicht.

[13] Auch professionellen Galaxienbeobachtern wird empfohlen, das im Fernauge erblickte Bild fernster Himmelskörper, insbesondere von Galaxien, nachzuzeichnen, um es dadurch gleichsam ins Bildgedächtnis des Beobachters einzuzeichnen. Als hinge unser (immer auch sprachbedingter) Schau-Besitz an Welt und Welten letztlich doch an dem, was wir mit Füßen betreten und mit Händen ergriffen oder nachgebildet haben. – Oldenburg, Stefan: “Deep-Sky-Objekte visuell. Teil 5 – Die Beobachtungsnacht III: Die Dokumentation“, in: „Sterne und Weltraum“ (2015/1), 74-80.

[14] Oeser, Erhard, Die Suche nach der zweiten Erde. Illusion und Wirklichkeit der Weltraumforschung, Darmstadt 2009, 72.

[15] „So hübsch auch derlei Mondfotografien dem Laien erscheinen mögen, so wenig kann sich der Astronom damit zufrieden stellen, wenn sie ein detailliertes Bild vom jetzigen Aussehen der Mondoberfläche für vergleichende Studien in ferner Zukunft abgeben sollen, da sie in der Schärfe und Wiedergabe der Einzelheiten hinter der Wahrnehmung durch das Auge weit zurückstehen.“ (Oeser, a.a.O.,72,) – Nach: Pohle, Josef, Die Sternenwelten und ihre Bewohner, 1887, 112. – Vgl. auch: Spitaler, Rudolf, Arbeiten und Fortschritte in der Astrophotographie im Jahre 1896. In: Jahrb. d. Photogr. 11 (1897), 130—134.

[16] „Während sich der lichtempfindlichen Platte in ein paar Sekunden das Bild des Mondes aufdrückt, brauchte der berühmte Mondtopograf Mädler fast sieben Jahre (1830-1836), um seine große Mondkarte herzustellen. Ja, Julius Schmidt in Athen gelang es sogar erst nach mehr als 30-jähriger, mühevoller Arbeit (1840-1847), seine Gesichtswahrnehmung am Monde in seiner schönen Karte der Nachwelt zu überliefern.“ Spitaler 1887, S 149.

[17] „Dieses Auge hat ungefähr einen Meter im Durchmesser und 15 cm Tiefe. Sein Kristallin ist aus einer riesigen Glaslinse gebildet, und seine Netzhaut aus einer sehr empfindlichen chemischen Platte. – Ein Riesenauge, das in vier Beziehungen bedeutsame Vorzüge vor dem unsrigen besitzt: es sieht schneller, weiter, länger, und hat überdies die kostbare Fähigkeit, alles was es sieht, zu fixieren, zu drucken, zu bewahren.“… Oeser, a.a.O., 73.

Camille Flammarions offensichtlich völlig unmetaphorischer bzw. unbewußt metaphorischer Gebrauch von „Auge“, „Netzhaut“ „sehen“ und „bewahren“ beweist die Naivität seines naturwissenschaftlichen Denkens. Sein Wortgebrauch ist unmetaphorisch gemeint und gewollt, doch in der Realität zu unfreiwilliger Metaphorik führend. Akte des menschlichen Bewußtseins und seiner organisch bedingten Sinnesorgane werden wie Aktionen von Maschinen, und Maschinen werden nicht als Medien (Mittel) und Werkzeuge, sondern wie Lebewesen und neue Geisteswesen, ausgestattet mit „Riesenaugen“, gedeutet. Die transzendentale Differenz läßt sich nicht ungestraft hintergehen. Das Hintergängnis verwandelt Menschen in Maschinen, Maschinen und Gerätschaft in (Über)Menschen.

[18] Als Beleg für die Welthorizontgrenze des mythischen Bewußtseins kann auch Pharao‘s Freude über Josephs Hinweis dienen, es sei ein Unterschied zwischen „am Himmel“ und „im Himmel“, ein Unterschied, den er, Pharao, zwar geahnt hätte, nicht aber zu denken fähig gewesen war. (Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder, Allzu selig.) – Noch der ptolemäische Himmel ahnte nicht oder kaum, das sich jenseits seiner Grenzen ein noch ganz anderer Himmel zeigen könnte.

[19] Werden Begriffe zu Anführungszeichenbegriffen, ist eine Gestalt ihrer Geschichte alt und grau geworden, während die neue Gestalt noch keinen neuen Namen gefunden hat.

[20] Gegen diese geschichtsphilosophische Systemthese bleibt Schopenhauers Gegenthese abstrakt: Philosophie sei Nachahmung der Welt durch Begriffe. Zwar durch allgemeine und insofern abstrakte Begriffe, dafür aber durch solche, die „stets bereitliegen.“ (Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung, Band I, § 52.) Dieses „stete Bereitliegen“ wollte Hegel bekanntlich für den Logos der Vernunft reservieren, woraus sich die bekannten Probleme des Hegelschen Gottes- und Weltbegriffes, wie deren Relation nun „bleibend“ zu deuten sei, ergaben. Siehe dazu etwa: Hösle, Vittorio: Hegels System, Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Hamburg 1988. Schopenhauers Philosophie einer stehenden Welt und Geschichte verweist nicht zufällig auf seinen platonischen Kunstbegriff, in der Musik sogar mit neophythagoreischer Begründung.

[21] Die moderne Kunstkultur kann sich nicht mehr vormodern-teleologisch, sondern nur mehr demokratisch und via Märkte über die grenzenlose Ausdifferenzierung ihrer Spezialkulte „entwickeln.“ Selbstdifferenzierung als Selbstnachahmung und umgekehrt; schon für Georg Simmel ein untrügliches Zeichen einer „Tragödie der Kultur.“ Simmel, Georg, Der Begriff und die Tragödie der Kultur(1911/12), Die Krisis der Kultur(1916), Der Konflikt der modernen Kultur (1918)

[22] Betrachtet man die gesamte Geschichte der Künste in kultischer Perspektive, fällt die moderne Selbst-Verkultung der Künste ins Auge. „Biennalen“, Festspiele und Festivals (jeder Kunst) sind der Künste eigener Kult geworden. Unvermeidbar, daß Künstler als menschgewordene Götter, Kunstwerke als kommunizierbares Himmelsbrot der vollständig befreiten Künste erscheinen. Als wäre eine Rückkehr der (zur) antiken Kunstreligion möglich. Die moderne Olympiade versucht(e) seit 1896 sogar die mythische Einheit von Körper- und Geisteskultur wiederherzustellen, indes doch alle Massensport- und Massenunterhaltungsevents der modernen Kultur nur eine Fernerinnerung, nur eine moderne Abstraktion der antiken Olympiade nachahmen können, allerdings eine Abstraktion von hybrider Dimension: Ein Popkonzert für Abertausende übertrifft das Fassungsvermögen des antiken Odeons um den Faktor ‚erschreckende Größe.‘

[23] „Täglich kommen neue hinzu“ – ist mehr als ein Bonmot.

[24] Eine pädagogische Analogie zur imitierenden Kunst findet sich bei Kant: „Da nun Lernen nichts als Nachahmen ist…“ Kritik der Urteilskraft, § 47. – Kant hat hier offensichtlich Lernen als Auswendiglernen im Sinn. Dagegen wird das eigentlich erlernende Lernen, das nicht ohne Verstehen möglich ist, mehr als nur wiederholendes Nachahmen („Einpauken“) sein müssen. – Analog dazu muß auch die imitierende Malerei eine bereits hochqualifizierte Kunst-Synthese von Zeichnung und Farbgebung entwickelt haben, um originäre Zeuxis-Weintrauben als ästhetischen Selbstzweck verwirklichen zu können.

[25] Hierher gehört die Trennung von Ost- und Westkirche in der Agenda Kunst und Künste. Malerei und Musik etwa verharren unterem religiösen Ideal: Ikone und einstimmiger oder protomehrstimmiger Gesang genügen dem orthodoxen Ritus.

[26] Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Ästhetik, Die Auflösung der romantischen Kunstform sowie sein berüchtigtes, meistens mißverstandenes „Ende der Kunst.“ Kaum ein halbes Jahrhundert davor hatte noch Johann Joachim Winckelmann seine „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ (1755) veröffentlicht.

[27] Ein vermehrt zu vernehmender Spruch unter Künstlern, Kuratoren, Kunden und Mäzenen.

[28] Auf diesen Gemeinsamkeitsgeist geht auch Kants „übersinnliches Substrat“ zurück, ohne das die subjektive Allgemeinheit des Geschmacksurteils über Schönheit – der Natur und der Künste – weder mitgeteilt noch anderen angesonnen werden kann.

[29] Arnold Schönberg verstand sich als Mozart oder Tschaikowsky der Moderne; er verstand nicht, warum außer seinen Freunden und Schülern niemand verstehen wollte.

[30] Sie arbeiten der Selbstläufigkeit funktionierender Märkte zu, besonders jener, die bis hin zur totalen Fetischisierung von Kunstwerken deren einstigen „Gebrauchswert“ durch jeweils höchste Marktwerte vernichten. (Picassos und Giacomettis Werke konkurrieren mit Napoleons Haarlocke.)

[31] In der (nunmehr „klassischen“) deutschen Philosophie wurde „Mythos“ zumeist noch unter „Naturreligion“ rubriziert. Auch die mythischen Religionen der Antike hatten ihre vorangegangenen Naturreligionen. Der Hügel über Olympia, auf dem vorolympischen Göttern Menschenopfer dargebracht wurden, ist noch heute zu besichtigen.

[32] Musik begab sich auf die Suche nach einer „natürlichen Sprache der Gefühle“, später sogar als wortlose Instrumentalmusik, die bei Platon noch den Tieren und Tierstimmennachahmern vorbehalten war.

[33] Kitsch ist universaler und globaler – letzter – Manierismus der vollendeten vormodernen Künste-Geschichte. Deren originäre Epochen kannten noch stil- und epochenspezifische Manierismen, die jeweilige „Nachklassik“ erfüllter Epochen-Klassik, womit die jeweilige (Kunst)Epoche abgeschlossen und die nächste erzwungen wurde.

[34] Vischer, Friedrich Theodor: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 5Bde, 1846-1857. – Heyfelder, Erich, Klassizismus und Naturalismus bei Friedrich Theodor Vischer, Berlin 1901. – Schneider, Norbert, Theorien moderner Kunst. Vom Klassizismus bis zur Concept Art, Wien 2014.

[35] Bloch, Ernst, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt, 1972. – Recki, Birgit, Mimesis: Nachahmung der Natur. In: Kunstforum, 1991 H. 114.

[36] Ob geistige Fähigkeiten wie Organe und Gliedmaßen „angeboren“ sein können, diese Frage an Aristoteles sollten wir nicht unterdrücken. Widrigenfalls teilen wir das moderne Vorurteil, Aristoteles habe schon „anthropologisch“ gedacht. „Angeboren“ und „anthropologisch“ sind nichtssagende Not- und Verlegenheitsbegriffe.

[37] Die moderne „Kanonisierung“ geschieht über die Mechanismen der Kunstmärkte und deren Eliten. Diese orientieren sich an den Systemkriterien Namen-Marke (vulgo „Promi“) versus Namenlos, somit an „Durchbruch“ oder (noch) nicht. Ästhetische Voraussetzung dafür: moderne Künstler können und müssen Kunstschönheit je für sich – in Eigenregie – definieren. Eine nominalistische Auflösung von Schönheit und Ästhetik; nur diese vermag die modernen Märkte und deren Prozeduren zu grundieren. „Unverwechselbarer Personalstil“ ist ein Problemname, kein normverbindlicher Erfolgsname.

[38] Aufschlußreich wie Vasari („Le Vite delle più eccellenti pittori, scultori, ed architettori“ (1550/1568) die Einheit von Zeichnung und Farbgebung als Kriterium höchster Bildschönheit, der die Zentralperspektive selbstverständlich geworden war, an den Werken seiner Epoche demonstriert. Tizian wird Raffael nachgereiht.

[39] Zum Palladianismus, der sich noch heute besonders im angelsächsischen Raum einer anscheinend immerwährenden Existenz erfreut, ließen sich in allen Künsten parallele klassizistische Klassiken nachweisen. Man spricht dann oft von Neo-Ismen, und naturgemäß zu Recht. Kurz war die spätromantische Existenz der Neo-Gotik, schon in der Morgendämmerung der Moderne angesiedelt: Ein erstaunliches Beispiel der Janusköpfigkeit unserer modernen Kultur. Sie ist zugleich Spätkultur und Anfangskultur.

[40] Eberlein, Roland, Die Entstehung der tonalen Klangsyntax, Frankfurt/Main 1994. – Die tonale Syntax mutiert im 20. Jahrhundert in allen Gattungen der Unterhaltungsmusik in mechanisierte Schrumpfsätze, die sich manchmal, etwa im Jazz, mit entelechialen Weiterentwicklungen der vormodernen Tonsätze – strenger und freier Tonsatz – verwechseln. Ein Mißverständnis und Mißgeschick, das auch Arnold Schönberg und seiner Schule mit atonalen und dodekaphonen Konzepten unterlief.