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01 Kompositionslehre und Genie

Seit dem späteren 18. Jahrhundert begegnet die Kompositionslehre einem kompositorischen Genie, dessen höchster Zweck darin besteht, unvergleichliche Kunstwerke zu erschaffen. Genie bedeutet fortan das Ingenium und die Gnade, einzigartige und allgemein anerkannte musikalische Individualität und Einmaligkeit erwecken und vollenden zu können. Die Musik durchläuft damit die entscheidende Stunde der Selbstverwirklichung ihrer Idee, und die Kompositionslehre tritt in ein geschichtlich sich bewegendes Verhältnis zum Genie ein, worin sich das Wesen beider erfüllt. Im historischen Anfang des Originalgenies ist dessen Ende als Erzeuger höchster Kunstmusik bereits enthalten und in der Logik dieses Erlöschens entfaltet sich die Ohnmacht der praktischen Musiktheorie – wichtigste Abteilung: Kompositionslehre – als normativer Instanz. Die vorliegende Abhandlung versucht, das Ganze dieses Verhältnisses darzustellen.

Die sogenannte praktische Musiktheorie versteht sich seit eh und je als Anleitung zur Praxis. Die Praxis umfaßt die verschiedenen Arten des musikalischen Komponierens, Interpretierens und Hörens. Hören und Interpretieren müssen einen musikalischen Gegenstand voraussetzen, das Komponieren aber ist der erzeugende Akt der Komposition selbst. Die praktische Musiktheorie wird daher als Kompositionslehre unser Interesse auf sich ziehen, weil in dieser doch noch eine Voraussetzung des Komponierens enthalten zu sein scheint: das Erlernen des Komponierens. Auf die Frage: was ist eine Kompositionslehre?, kann man sich in üblich übler Weise mit der Nominaldefinition: Anleitung zur musikalischen Komposition zufriedengeben. Der Begriff der Sache wird sich uns nur dadurch nähern können, daß die mannigfaltigen Beziehungen, die der fragliche Gegenstand eingeht, zugleich als Beziehungen des Gegenstandes auf sich selbst erfaßt werden, womit uns dann, durch den Wegfall des nichtseienden Unterschiedes von Ding an sich und Erscheinung des Dinges, auch das Wesen der Sache zugänglich sein möchte.

Die mündlich und schriftlich erscheinende Kompositionslehre beabsichtigt, „wie der Name sagt“, das Komponieren oder dessen notwendige Voraussetzungen zu lehren. Der Lehrvorgang enthält einige wesentliche Verhältnisse, die zu betrachten sind. In nichtpluralistischer Zeit verhält sich die Kompositionslehre zunächst affirmativ zum herrschenden Tonsystem und zur geschichtsmächtigen Musiksprache. Die Gesetze und Regeln des Tonsystems gelten als Normen, denen unbedingt Folge zu leisten ist. Nur der fleißigste Gehorsam macht das kompositorische Können wirklich. Daß Kunst auch von Können kommt, ist der absolute Legitimationsgrund der Existenz jeder Kompositionslehre. Die kompositorische Handwerkslehre verhält sich in unmittlerer Weise zum Tonsystem, indem sie dessen Normen ebenso unmittelbar anerkennt, wie dies in ihrer Form die musikalische Praxis tut. Die Vorschriften der Musikgesetze sind als historische Gewordenheit zugleich unmittelbare

Gegebenheit. Sie müssen innerhalb des Lehrvorgangs als nicht weiter zu befragende Axiome hingenommen werden. Dem entspricht das äußerlich deskriptive Verhalten zum Tonsystem. Es ist entweder willkürlich systematisch oder überhaupt rhapsodisch, d.h. fragmentarisch bzw. in unvermittelter, beliebiger Folge der Teile. Die Kompositionslehre verfährt ohne wissenschaftlichen Beweis. Sie will, gleich wie das Komponieren selbst, keine wissenschaftliche Tätigkeit sein. Gleiches soll durch Gleiches entstehen. Es wird somit ohne begrifflich begründende Erkenntnis – künstlerisch – gelehrt, in welchen Weisen die gegebenen Regeln des gegebenen Materials erfüllt werden sollen. Warum dieses Sollen? Nur aus einer Ursache: weil auf der Basis dieser genormten Regeln und Grundformen bereits ein Kreis herrlichster Kunstwerke erblühen konnte. Es wird gesagt: Unser   Tonsystem hat diese Gesetze, Regeln usw., die als Bedingung für die Erschaffung idealischer Werke unbedingt befolgt werden müssen.

Der Ausdruck ‚unser’ verweist auf ein musikalisches Wir, auf einen musikalischen Gemeinsinn, den die Handwerkslehre voraussetzen muß. Dieses Wir ist eine historische Gewordenheit, die zunächst ebenfalls nur als unmittelbare Gegebenheit aufgefaßt wird. Zeigt sich dem historisch geweckten Bewußtsein der Kompositionslehre ein anderes Wir mit anderen Gesetzen in vergangenen Epochen, dann muß entweder ein Teil der Vergangenheit oder die Gegenwart, also die letzte Vergangenheit, als höchste Wahrheit und erstrebendes Ziel gesetzt werden. Ein Drittes gibt es für die normative Lehre nicht. Bei Anerkennung mehrerer Ideale würden entgegengesetzte Normen jedes Sollen und damit Normativität vernichten. Das ‚Haben’ von Gesetzen provoziert als unmittelbare Behauptung ebenfalls die Frage des Grundes. Warum haben wir diese Arten der Dissonanzauflösung, diese Verwendungen des Quartsextakkordes auszuführen? Um respektlos fragenden Zöglingen nicht wortlos ausgeliefert zu sein, wird sich die Kompositionslehre beizeiten von der Musikgeschichtsschreibung beraten lassen. Die Antwort wird dann klar ausfallen: „Seht die Dokumente, diese Erscheinung ging aus jener, jene aus der unmittelbar vorausliegenden usw. hervor. Was wir an Grundgesetzen haben, ist ein Geschenk der Geschichte, die mit eiserner Notwendigkeit vorgeht und jeden von uns mit rechter Hand führt.“ Die Antwort ist ebenso klar wie naiv, und der inzwischen zornige Zögling wird über dieses Herzeigen der historischen Faktizität spotten. Denn er erkennt sofort, daß ihm die wirkliche Begründung vorenthalten wurde. Die Aufeinanderfolge der historischen Tatsachen in ihrer Tatsächlichkeit soll die Gegenwart erklären und rechtfertigen. Die Geschichte soll das Absolute sein, ohne Möglichkeit von Irrtum und Irrweg, von Rückgang und zu Ende-Gehen.

Wenn die Gegenwart überdies pluralistisch bestimmt ist, offenbart sich von selbst der nur schwach verborgene Relativismus dieser Geschichtsauffassung. Die in pluralistischer Zeit einander völlig

ausschließenden und absolut widersprechenden Gesetze verschiedener Musiken vermögen sich alle geschichtlich zu legitimieren, indem jedes auf eine stattliche Ahnenreiche – zum Zeugnis eigener Genese – verweisen kann. Spricht die Kompositionslehre – in pluralistischer Zeit – von unserem Tonsystem, das diese und jene Gesetze habe, denen zu gehorchen wäre, dann erfolgt nur das Postulieren von Voraussetzungen eines neuen, noch nicht gemeinen Gemeinsinnes. Der früher nur im Verhältnis zur Vergangenheit aufgetretene Gegensatz verschiedener Gemeinsinne fällt hier in die Gegenwart selbst. Im Chaos der einander bekämpfenden oder ignorierenden Richtungen – die Ignoranz gilt als besonders feine Art des Kampfes – scheint allein eine begreifende und begründende Wissenschaft, die von A. B. Marx geforderte Musikwissenschaft, um leidenschaftslosen Schiedsrichter berufen, die Voraussetzungen der entgegengesetzten Kompositionslehren sachlich zu überprüfen.

Kehren wir in die vorpluralistische Zeit zurück, so sehen wir, daß sich dort die Kompositionslehre zum Kunstwerk ebenso unmittelbar und affirmativ verhält wie vorhin zum Tonsystem dieses Kunstwerks. Die der Gegenwart gegebenen und anerkannten Werke sind für die Handwerkslehre das verwirklichte Ideal, das Ziel jedes musikalischen Strebens. Es sind Geschöpfe des Genies, deren beider Verehrung und Bewunderung durch die praktische Musiktheorie keine Grenzen haben kann. Im Verhältnis der Bewunderung wird das Genie zum Meister und das geniale Werk zu Beispiel erreichten Zieles. Die Kompositionslehre stellt sich in den Dienst dieser Vollendung und will nichts sein als Ansporn zu unbeirrtem Schaffen. Der komponierende Zögling soll nicht nur die Gesetze und Regeln des Tonsystems befolgen, er soll auch die Meisterwerke zum Muster für seine eigene Arbeit nehmen. Um den Dienst vollkommener zu machen, geht die Kompositionslehre mit der Absicht des Erkennens an das Kunstwerk heran. Sie gibt dabei ihre Unmittelbarkeit, die nur im Grund des herrschenden Gemeinsinnes vermittelt ist, nicht auf. Die musikalische Analyse der Kompositionslehre steht unter dem praktischen Zweck, die Anleitung zum Erschaffen neuer Meisterwerke musterhaft zu gestalten. Das Muster wird in seine Teile zerlegt, deren Zusammensetzung an Hand der in den Meisterwerken gegebenen Vereinung der Teile zum Ganzen apagogisch erläutert. Die Analyse enthält sich der wissenschaftlichen Fundierung ihrer Kategorien. Anspruch und unmittelbarer Eindruck des Meisterhaften bleiben jenseits wissenschaftlicher Überprüfung.

Die Kompositionslehre verehrt das anerkannte Kunstwerk nicht nur deshalb als Meisterwerk, weil dieses ihre tonsystematischen Gesetze befolgt – eine tautologische Behauptung, wenn das Tonsystem aus den Werken abstrahiert wurde – sondern vor allem, weil es eine originale Individualität darstellt. Der unsagbare individuelle Unterschied an den Meisterwerken ist daher ebenfalls als Sollen für den Zögling gesetzt, und

dieser läuft in seinem ganzen Sollen auf den Widerspruch auf, das Meisterwerk ebensosehr erreichen als negieren zu müssen. Das Meistwerk ist Ideal und zugleich keines, es gilt nur als das zu Überwindende. Das neue Kunstwerk soll vernünftig und neu, den Gesetzen entsprechend und unverwechselbar individuell sein. Wie immer die Handwerkslehre im allgemeinen den Ursprung des Individuellen an der meisterlichen Individualität denkt – als untervernünftiges Phänomen der Willkür des Einzelnen in seiner Einzelheit oder als übervernünftiges Phänomen der Gnade Gottes, die auch aus dem vernünftigsten Begriff von Musik nicht abzuleiten ist – sie steht vor der Trennung ihrer ursprünglichen Einheit mit dem Genie.

Die Führer der Kompositionslehre verhalten sich zum neuen Werk zunächst abwartend, Anerkennung eher verwehrend als gebend. Denn niemand weiß, ob das neue Werk ein Meisterwerk ist; einige behaupten dies, andere nicht. So soll die Geschichte das Urteil sprechen. Wer ist die Geschichte? Die Generationen des Publikums, der Interpreten und der Schaffenden. Und diese sollen nicht irren können? Wie oft hat die Geschichte ihre Urteile umschreiben oder widerrufen müssen! Der Trennungspunkt ist erreicht. Denn entweder geht nun der Kompositionslehrer, das Subjekt der Kompositionslehre, auf seinen ästhetischen Geschmack und sein ästhetisches Urteil zurück und entscheidet auf Grund seines Wohlgefallens bzw. seines Mißfallens an den neuen Werken über deren Meisterhaftigkeit, oder er nimmt das herrschende Tonsystem und dessen bereits als mustergültig anerkannte Werke als allein gültige Voraussetzung und Basis seinsollenden Wohlgefallens – als Bedingung richtigen ästhetischen Geschmacks – womit das Neue nur als Adoration des Alten, somit als Altes anerkannt wird. Beide Wege treten mit Notwendigkeit auf, den ersten könnte man Pluralismus, den letzteren Akademismus nennen.

Gehen wir den ersten Weg, so sehen wir die grenzenlose Bewunderung zum Prinzip erhoben. Die allgemeinen Gesetze des Tonsystems sind zwar nach wie vor als Normen gesetzt, deren Befolgung jedoch mit einer Ausnahme. Wenn durch die Nichtbefolgung zunächst gewisser Teilgesetze ein Meisterwerk entsteht, so soll und muß das Genie dem Ungehorsam gehorchen. Das alte Tonsystem war eine Voraussetzung alter Meisterwerke, ein neues Tonsystem wird letztlich Voraussetzung neuer Meistwerke sein müssen. Da das Neue auch wieder alt wird, ergibt sich ein endloser Progreß, in dem die Inhalte der Kompositionslehre ständig nachhinken. Die alten Gesetze werden revidiert, ständig umgeschrieben und schließlich vergessen oder aus der aktuellen Kompositionslehre abgeschoben und an verschiedenen Orten als vergangene und längst überholte Sache aufgebahrt. Die Reproduktion wird diese Gesetze zum Schein respektieren, die historische Wissenschaft wird sie tatsächlich sezieren, der Akademismus wird sie anbeten.

Da das Genie – in seinem Gefolge die Kompositionslehre – jedes Neue als Altes und damit als zu Überwindendes auffassen muß, ergibt sich für diesen Prozeß unendlicher Progressivität der Grundsatz: Nichts bleibt dasselbe, Nichts kommt zu sich. Jedes musikalisch Seiende, jedes Gesetz, jedes Tonsystem, jeder Tonsatz und jedes Meistwerk bleiben in der Sicht der genialen Negation nicht sie selber. Somit bleibt einzig und allein Nichts sich gleich und das bedeutet, daß dem Überwinden kein Sein, keine Substanz, keine leitende Idee von Musik zugrunde liegt. Warum und wozu aber dann diese ganze rastlose Bewegung einer Negativität, die nur in Nichts zu sich zurückkehrt und in der somit auch keine Grenze angebbar ist, mit deren Überwindung die Musik selbst überwunden sein würde? Das Genie ist nur durch die gezeigte geniale Negation Genie. Ein nicht mehr zu überschreitendes musikalisches Sein, die realisierte Idealität, etwa am Ende der Geschichte erreicht, widerspräche dem Wesen des Genies und würde dieses vernichten.

An dem ersten Weg, auf dem wir uns noch immer befinden, lassen sich eine prospektive, eben beschriebene, und eine retrospektive Art unterscheiden. Letztere sammelt die vergangenen Systeme und Werke und stellt sie alle als Lehrgegenstände hin, unbekümmert um Widersprüche, die sich zwischen den verschiedenen Musiken ergeben. Der Pluralismus heutiger Musikhochschulen lehrt z.B. vielerorts zuerst strengen und freien Tonalitätssatz, dann freie Tonalität, schließlich Dodekaphonie, Serialität, Aleatorik usw. Der Zögling soll sich nicht dieser oder jener Sprache ausschließlich verschreiben. Nach Beschreiten aller Wege wäre der eigene, individuelle zu finden. In unserer Zeit ist es daher einerseits leicht als Genie zu scheinen, denn eine noch nie dagewesene Mixtur verschiedener Grundsysteme und ein darauf errichtetes Werk ist problemloser zu machen als ein unverwechselbares Werk auf Grund einer einzigen Musiksprache; andererseits aber ist es unendlich schwer Genie zu sein, weil die herrschende Pluralität den historisch gesetzten und zu setzenden Unterschied von meisterlicher Alt- und Neuheit aufhebt und damit die geniale Negation, durch die allein für einen Anerkennung setzen wollenden Gemeinsinn Neues eindeutig in Altes und ebenso Altes in Neues übergeht, zerstört wird.

Als zweiter Weg hat sich vorhin der Akademismus ergeben. Dieser sieht auf das Ende des Pluralismus und möchte der grenzenlosen Vernichtung alles Substantiellen eine Grenze setzen. Während sich dem vollentwickeltem Genie sowie dem Pluralismus überhaupt kein seiendes musikalisches Wesen zeigt, besitzt der Akademismus eine sehr handfeste musikalische Substantialität. Durch Absolutsetzung seiner Abstraktionen von Meisterwerk, mithin durch das jeweils klassische Tonsystem und Meisterwerk sowie der Negation jeder Relativierung dieser Klassizität durch das Genie, gewinnt der Akademismus eine bleibende Substantialität und damit zugleich den Verlust der Naivität der praktischen Musiktheorie überhaupt.

Das geschichtliche Werden spaltet sich für den Akademismus in die gute alte Zeit und in den Schrecken der Gegenwart. Das Alte und gegenwärtig Anerkannte wird bewundert, das Neue verachtet und das neue Genie wird grenzenlos bekämpft. Dadurch soll verhindert werden, daß grundsätzlich andere Systeme und Werkweisen in die gegenwärtige und künftige Welt gesetzt werden.

Denn das Grundwesen der Musik sei an diesen bewunderten Gestalten in höchster Weise erschienen. Solange dies nur als Überzeugung behauptet wird, bleibt der Akademismus praktische Musiktheorie. Wenn das wissenschaftliche Begründen und Beweisen seiner Überzeugung beginnt, wird er eigentliche, d.h. theoretische Musiktheorie. Die nun mehr oder weniger wissenschaftliche Hinwendung zur Erkenntnis von Tonsystem und Werk ist also der Versuch, das trügerische Moment an der Negativität des Genies zu durchbrechen und die Grundlosigkeit sowohl der praktischen Musiktheorie wie der genialen Willkür des Nureinzelnen zu überwinden. Und es ist nicht zu leugnen, daß auf akademistischem Boden die hervorragendsten theoretischen Systeme (z.B.: Natur der Harmonik und Metrik von M. Hauptmann) gelungen sind und auch die tiefsten formalen Analysen (z.B. jene von H. Schenker) in apologetischer Absicht geschrieben wurden.

Für den praktischen Akademismus ist das Alte und Anerkannte der irrationale Riegel, der jeder Neuerung ausschließend vorgeschoben wird. Der theoretische Akademismus sucht ein rationales, überhistorisches Fundament des scheinbar Irrationalen und damit den Beweis, daß das Moment von Notwendigkeit und Gesetz in der genialen Freiheit von dieser nur in jenen klassischen Gesetzen zu finden ist. Aus der vertieften Analyse der Klassizität gegebener Werke wird ein formales und durchbestimmtes Kriterium des Genialen und Meisterlichen gewonnen. Es sei die zeitliche Ausfaltung eines Grundklanges, der das ganze Werk ideell und reell zusammenhält, oder die bloße motivisch-thematische Einheit auf der Basis gereihter Tonhöhenverschiedenheit oder etwas anderes. Der kunstgewerblichen Produktion von Meisterwerken stellt sich kein Hindernis mehr in den Weg. Das Meisterwerk der jeweiligen Klassik ist in seiner formalen Gestaltung erkannt, und was sich nicht an diese hält, muß Dekadenz sein. Reger ist in den Augen Schenkers dekadent, für Jelinek ist es Boulez, für den frühen Boulez ist es der radikale Cage. Wer sich aber den formalen Gesetzen nachahmend unterwerfen will, bekommt keine abstrakten ästhetischen Gesetze vorgesetzt wie: das Werk soll Einheit, kontrastreiche Unterscheidung und Abwechslung, scheinbar absichtslose Notwendigkeit, gelenkter Zufall u. dgl. sein. Sondern die bestimmtesten formalen Gesetze und Gestalten empfangen die zunächst unbestimmte Phantasie des Zöglings, um diesen ohne Umwege zur Erschließung gewünschter Meisterwerke anzuleiten. Also ist Genie machbar, lehrbar und lernbar?

Das Meisterwerk ist und soll wieder eine individuierte Einheit seiner Unterschiede sein. Der theoretische Akademismus in praktischer Absicht muß aber das Meistwerk als seziertes Muster in der Gestalt von Teillehren (z.B. Harmonielehre, Kontrapunkt, Instrumentationslehre usw.) dem Zögling vorsetzen, da sich das analytische, trennende Moment des nun in theoretischer Absicht analysierten Gegenstandes nicht mehr hinter der unmittelbaren Einheit des seienden Meistwerkes verbergen läßt. Um also das Meisterliche und dessen Erschaffung zu lehren, müßte die konkrete Vereinigung der Teilmomente in einer alles umfassenden Melodielehre gezeigt werden. Die Ausführung einer derartigen Lehre würde die sanktionierten Möglichkeiten von Verbindungsweisen der Teile und damit bereits verbindliche Vorschriften für das Erfinden des konkreten einzelnen Werkes enthalten. Individuation wäre lehrbar. Ein lehrbares principium individuationis aber wäre keines mehr. Denn es wäre als lehrbares für jedermann lehrbar, und der Begriff des Genies würde mit dem der Phantasie überhaupt identisch werden.

Der Akademismus streckt damit seine Waffen vor dem neuen Genie. Die individuelle Synthesis – konstitutives Moment des Meisterlichen – ist weder am klassischen Meisterwerk erkennbar noch für das neue lehrbar. Die individuelle Synthesis nennt Hauptmann das Poetische. Hegel die freie Seele und Schenker den ganzen Inhalt der Musik. Indem sich der Akademismus an seinen formalen Schablonen und Regeln des fehlenden Geistes und Inhaltes bewußt wird, ist somit die Negativität des Genies wieder anerkannt und die Rückkehr zur Bewunderung und Verehrung der meisterhaften Negation erreicht.

Die praktische Musiktheorie weiß sich nun als Mittel für die Tätigkeit des Genies und hat den Zweck ihres Tuns außer sich. Sie erreicht im Verhältnis zu den sich verändernden Gesichtern des Meisterwerks die praktische Freiheit liebevoller Reproduktion und die praktisch-theoretische Freiheit anerkennenden Wohlgefallens bzw. ablehnenden Mißfallens, nicht aber die theoretische Freiheit begründeter Erkenntnis. Die Kompositionslehre hat die Grenze ihres Begriffs und damit die ihrer Möglichkeiten erreicht und erkennt sich an der Alles erzeugenden und verschlingenden Allmacht des Genies als die immer schon verschlungene Ohnmacht. Es ergibt sich daher, daß die willkürliche Phantasie des einzelnen nominalistisch interpretierten und sich selbst ebenso interpretierenden Genies für die praktische Musiktheorie der letzte Grund und die höchste Autorität jedes Tonsystems und jeder Werkgestalt sein muß, wie immer diese auch beschaffen sein mögen. Aus dieser Herrschaft der sich selbst vernichtenden Negativität des Genies bietet sich der praktischen Musiktheorie ein letzter Ausweg. Auf diesem scheint die Kompositionslehre die Voraussetzungen und Fähigkeiten erhalten zu können, um das in seinen Werken und Systembildungen explodierende Genie in rechte Grenzen zu verweisen.

In der gegebenen Situation besinnt sich die praktische Musiktheorie auf ästhetische Grundsätze, die auch das Genie anzuerkennen habe. Dabei ergibt sich folgende Aporie, die der praktischen Musiktheorie und beinahe sämtlichen Arten der theoretischen Musiktheorie (Naturwissenschaft, Mathematik, Psychologie und Soziologie) eine unauflösbare Frage bleiben muß. Mit welchem absolut stichhaltigen Beweis werden die gegebenen Gesetze des Tonsystems und des Musikwerkes unter die allgemeinen Gesetze der Ästhetik subsumiert?

Auf der Seite der allgemeinen ästhetischen Gesetze sehen wir z.B. Schönheit, Verständlichkeit, Faßlichkeit, Ganzheit, Organizität usw. vom musikalischen Kunstwerk und seinen tonsystematischen Parametern gefordert. Auf der Seite der spezifisch musikalischen Sphäre sehen wir ein bestimmtes Tonsystem mit bestimmten Tonskalen, Harmonie- und Rhythmusgesetzen und deren Individualisierung im einzelnen Werk. Die besondere Sphäre – die jeweilige Klassik – soll nun durch Verweis auf die allgemeine ästhetische Sphäre dem vernichtenden Zugriff des Genies entzogen werden. Dies läuft auf den Beweis hinaus, daß z.B. dieses Tonsystem den ästhetischen Grundforderungen entspricht, jenes aber nicht. Den Beweis an Hand des gegebenen Meisterwerks führen wollen, würde in dem schon gezeigten apagogischen Zirkel enden; das anerkannte Meisterwerk bedürfte selbst erst des Beweises seiner ästhetischen Stimmigkeit. Bloße Analogie zwischen Besonderem und Allgemeinem kann ebenfalls nicht ausreichen. Das Besondere wäre nicht das Besondere des Allgemeinen, sondern als Analogie des Allgemeinen ein Reflexionsprodukt des denkenden Betrachters. Die Negativität des Genies könnte also nur durch den Nachweis der absoluten Identität des Allgemeinen mit dem Besonderen abgewiesen werden. Ein derartiger Nachweis könnte wiederum nur deduktiv, d.h. vom Allgemeinen herabsteigend, begonnen werden, wozu aber die praktische Musiktheorie und jene genannten theoretischen Musiktheorien nicht in der Lage sind, weil sie als induktive Wissenschaften jene allgemeinen Begriffe und Gesetze (Schönheit usw.) immer schon voraussetzen müssen und somit den allgemeinen Legitimationsgrund der besonderen Sphäre, das Allgemeine worunter das Besondere ident subsumiert werden soll, weder durch sich selbst haben noch begrifflich bestimmen können.

Das Genie bleibt daher Sieger über die praktische Musiktheorie auch hier und wird die Zusprechung des Inhaltes der allgemeinen ästhetischen Gesetze, sofern diese der Genialität noch nicht geopfert wurden, für alle seine musikalischen Produkte beantragen. Und zwar wieder nur mit der einen Rechtfertigung und Begründung, daß es selbst, als historischer Führer des musikalischen Weltgeistes, durch geniale Negativität nur das Richtige schaffen könne. Verständlichkeit und Faßlichkeit also für die tonale, die dodekaphone, die serielle Skala; Schönheit und Organizität für die tonalen, die seriellen und die aleatorischen Rhythmen.

Das Genie triumphiert, die Musiktheorie kapituliert. Die praktische Musiktheorie muß endgültig die unendliche Progressivität des Genies als höchste Wahrheit und letzten Grund in den Dingen der Musik anerkennen. Wie oben gezeigt wurde, ist dieser vermeintlich letzte Grund die absolut freie Negativität genialer Phantasie, die sich von jedem anundfürsichseienden Inhalt musikalischer Substanz emanzipiert und nicht vergißt, die Raserei der Willkür praktisch und theoretisch auszukosten. In seinen letzten Zügen wird das Genie Stille und Lärm zu Musik erklären und Gesetzlosigkeit als einziges ästhetisches Gesetz anerkennen. Die Musik der wirklich anerkannten Gegenwart wird sich aber inzwischen längst des individuierenden Genies entledigt haben und den Hit an die Stelle des Meistwerkes sowie den Sound an die Stelle des Tonsystems setzen.

Erschienen in: Zeitschrift für Musiktheorie; 1975, Heft 2; S. 64-70.