24 Demokratie zwischen Multikulturalismus und Burkaverbot
I. Zerfall einer Idee?
Ein halbes Jahr vor Beginn der Arabellion (2010) veröffentlichte Caroline Fourest ein Buch mit dem Titel „La dernière utopie“, in dem sie die Gefährdung, mehr noch den Zerfall der „Idee der allgemeinen Menschenrechte“ beklagte.
Eine Idee, die bekanntlich nach dem Zweiten Weltkrieg von den nichtkommunistischen westlichen Nationen der UNO zum politischen Programm erhoben wurde. Zum moralischen Programm einer neuen Weltpolitik, die am Ende alle Weltteile missionieren sollte, um der rechtsstaatlichen Demokratie als Verwirklichung politischer und kultureller Freiheit zu globalem Durchbruch zu verhelfen.
Just diese Idee zerfalle aber, so die Autorin, weil nunmehr, also Mitte 2010, nicht mehr allgemeine Menschenrechte für alle Menschen, sondern zunehmend „Gruppenrechte im Namen von Religion und Kultur“ eingefordert würden.
Möglich, ja wahrscheinlich, daß die Autorin heute (2013) ihr damaliges defätistisches Urteil durch die Ereignisse der folgenden Arabellion, durch deren Entwicklung und deren teilweises Scheitern, durch die blutigen Konfrontationen bis hin zu Bürgerkriegen in der islamischen Welt, bestätigt sieht.
Demnach läge ein Zerfall durch Kollision vor: beim aktiven Aufeinandertreffen von Erster und Zweiter Welt, von menschenrechtlicher Idee und religiöser, vor allem islamischer Idee, würde der Anspruch der westlichen Nationen, im Namen aller Menschen die Idee der allgemeinen Menschenrechte zu missionieren, kollabieren. Es würde geschehen und eintreffen, was alle (westlichen) Kulturalisten, aber auch die Repräsentanten eines fundamentalistischen Islam (und Fundamentalisten anderer Religionen und Kulturen) immer schon prophezeiten: die westliche Lehre vom und über den Menschen sei nur eine unter anderen, und daher wären alle Lehren gleichberechtigte zu respektieren.
Von dieser gleichsam milden, gleichsam „multipolaren“ Gegenposition „im Namen von Religion und Kultur“, ist die aggressiv fundamentalistische Position allerdings genau zu unterscheiden. Sie möchte beispielsweise mit der Herrschaft eines islamischen Gottesstaates die ganze Menschheit beglücken. Auch dies eine „Utopie“, die genaue Gegenutopie zu der von Caroline Fourest genannten „letzten Utopie“, die somit nur die vorletzte, nicht die letzte wäre.
Es lohnt nicht, auf das unter Historikern und Soziologen beliebte Spiel eines Ausrufens von letzten Ideen, letzten Zielen, gar vom Ende der Geschichte einzugehen. Kaum wird ein Letztes ausgerufen, muß es als doch nur Vorletztes widerrufen werden. In diesem Spiel, das auch im Titel „Letzte Utopie“ („La dernière utopie“) wiederkehrt, ist unschwer ein Echo des verblichenen Weltkommunismus zu vernehmen, der sich als erreichte Utopie, als erreichtes, wenn auch noch verbesserbares Ziel der Menschheitsgeschichte interpretierte. Ist das höchste Gut durch und für Menschen erreicht ist, sei auch das letzte Gut und Ziel der Geschichte erreicht.
Ein Irrtum, den die Erste Welt bitter büßen, der aber auch den Weltkommunismus eines Tages als rächend einholen sollte. Insofern zielte das moralische Programm, das die UNO nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Weg brachte, immer auch auf eine nicht zu beseitigende Unterminierung des imperialen Sowjetkommunismus. Und erst nach dessen Implosion (1989/1991) konnte und mußte daher die Zweite, die islamische Welt ins Visier des menschenrechtlichen Programms treten.
Und just in diesem weltgeschichtlichen Augenblick würde die „Idee der allgemeinen Menschenrechte“, die soeben erst den Trug von „kommunistischen Menschenrechten“ hinter sich gelassen hat, zerfallen und kollabieren?
II. Kein Zerfall des Demokratiebazillus
Gemach, gemach, möchte man beschwichtigend einwerfen. Zum einen: der „Idee“ mag heftiger Gegenwind entgegenblasen bei ihrem Versuch, die ganze Welt zu missionieren; aber ein wirklicher Zerfall der Idee würde bedeuten, daß sie auch innerhalb der Ersten Welt zerfiele, wodurch deren Demokratien neuerlich in Tyranneien und Diktaturen, in vordemokratische Herrschaftssysteme umstürzten. Und auch alle internationalen Institutionen der demokratischen Welt, nicht zuletzt die UNO, hätten keine „Utopie“ mehr, für deren Durchsetzung es sich lohnte, Mitglied der UNO zu sein. (Das Rußland Putins, der liberalisierte Staatssozialismus Chinas und ähnlich halbdemokratische oder real diktatorische Systeme brauchten zur Grund-Charta der UNO nicht einmal mehr Lippenbekenntnisse abzuliefern.)
Würde die Idee der Menschenrechte wirklich zerfallen, weil sie sich als untragbare Illusion erwiesen hätte, wäre die Expansion der modernen Demokratie in allen drei Welten der gegenwärtigen Menschheit einzustellen. Die Menschheit würde in eine vormoderne Dissens-Menschheit zurückkehren, zuletzt in abermals verschiedene Kulturen und Kulturkreise, deren Menschen- und Weltbilder einander ausschlössen und nur durch „Toleranz und Dialog“ miteinander kommunizieren könnten.
Der geheimnisvollen Hermetik der euphemistisch sogenannten „Welt-Kulturen“ entspräche ein Kulturaustausch unter Fremden, die einander auf ewig fremd bleiben müßten. Lediglich ein Minimalkonsens über Umgangsformen und Freundlichkeiten und natürlich über Sonntagsreden über die gemeinsame Menschlichkeit und unverzichtbare Größe aller Kulturen wäre gefordert und möglich. Einsichtig, daß dieses Welt-Kulturen-Modell der Vormoderne angehört, das, ob man will oder nicht, gegenwärtig im Orkus der Menschheitsgeschichte entsorgt wird.
Die These, dies geschähe, weil die aktuelle und künftige Menschheit ohne gemeinsame Weltwirtschaft und ohne globalen Welthandel nicht überlebensfähig sei, ist bekannt. Doch gibt diese an sich richtige und nützliche Behauptung keine Antwort auf die Frage, wie das politische Leben und damit auch die kulturelle Freiheit des Menschen in der künftigen und schon angebrochenen ökonomischen Globalwelt zu organisieren sei. Die Vermutung, daß die „Idee der Menschenrechte“ und die auf ihr gegründete rechtsstaatliche Demokratie eine conditio sine qua non auch für das ökonomische Zusammenwirken der Menschheit sein könnte, ist unabweisbar.
Unter vielen Indizien, die diese Unabweislichkeit belegen, seien zwei genannt: auch viele sogenannte moderate, also halb- oder ganz säkularisierte Moslems hoffen auf Durchsetzung und Missionierung von Demokratie und Menschenrechten in ihren Heimatländern, – auch wenn und weil sie zu Millionen in den Westen emigriert sind. Und in Rußland und China ist das fortwährende Gären des Demokratiebazillus eine unausrottbare Gefahr für die beiden letzten aus der Konkursmasse des Sowjetkommunismus entsprungenen Halb-Diktatur-Systeme – Rußland und China, während Kuba und Nordkorea ihrer Entsorgung mit banger Erwartung harren.
Und auch jene westlichen Multikulturalisten, die sich mit der Abstraktheit einer „Idee“ nicht anfreunden möchten, weil ihnen die Vielfalt der Kulturen Anlaß und Legitimation liefert, das Andere als das Andere, das Fremde als das Fremde zu bewahren, könnten ihrem ehrwürdigen Kultur-Rettungs-Hobby nicht nachgehen, würde ihnen der dazu nötige Freiheitsraum nicht durch real existierende Menschenrechte in den Demokratien der Ersten Welt eröffnet.
III. Selbstgefährdungen und Fremdgefahren für Demokratie und Menschenrechte
Das voreilige Statement, „eine Utopie stirbt“, nämlich die „Utopie der Menschenrechte“, verkennt, daß die Menschenrechte weder eine (bloße) Idee noch eine Utopie sind. Insofern wäre das „Sterben der Menschenrechte“ allerdings gravierender als das von Ideen und Utopien, deren die Menschheit schon viele erscheinen und verschwinden gesehen hat. ‚Utopie‘, dem Wortsinn nach das unausführbare Programm eines Idealstaates und einer Idealkultur, in denen Frieden und Honig und jede Art von Gerechtigkeit zur Zufriedenheit aller fließt, ist mit dem, was wir als bloße „Idee“ zu bezeichnen pflegen, identisch und eines Sinnes. Ein Gedankenspiel mithin, erlaubt und nötig, um die Kräfte des Widerstands gegen unerträgliche Realitäten zu erproben, aber doch nur „Idee“ und doch nur Utopie, und oft eine menschenfeindlich ersonnene und konstruierte, wie wir seit Platons Lehre vom idealen Staat wissen.
Die Menschenrechte sind keine Utopie, wie etwa die kommunistische oder die vom Tausendjährigen Reich gewesen; die Menschrechte sind ein Rechte setzender Auftrag an die gesamte Menschheit. Ein Auftrag mit moralisch und politisch formulierten Kernbotschaften, die an eine identische Vernunft der Menschheit ebenso appellieren wie sie diese voraussetzen. Ein Auftrag ohne Alternative, weil jede Alternative als fundamentalistischer Todfeind von Freiheit und Vernunft agieren muß.
Oder ist es eher ein Feind im Inneren Ersten Welt, der ihre menschenrechtliche Grundlage gefährdet und bedroht? Könnten die ungeheuren technologischen Errungenschaften, die nicht zuletzt durch die Kräfte von ‚Freiheit und Gleichheit‘ ermöglicht wurden und werden, Anlaß und Ursache für einen vorerst noch kaum bemerkbaren Zerfall der Ersten Welt, ihrer politischen und ökonomischen Dominanz sein? Auch ihres Reichtums und ihrer sozialen Sicherheiten – besonders ihrer „Sozialstaaten“, die sich Europa als vorbildliche Errungenschaft auf seine Fahnen heftet?
Daß im ökonomischen Unterbau und vor allem in den global vernetzten Finanzmärkten ein permanenter (Selbst-)Zerstörungstrieb lauert, ist durch die einschlägigen immerwährenden Krisen sattsam bekannt. Diese sind zwar auch durch die technologischen Revolutionen, insbesondere durch die Beschleunigung und Globalisierung aller Informationen, mitverursacht; dennoch scheint es eine Luxusklage und -vermutung zu sein, einseitig nur die technologischen, speziell digitalen Revolutionen unter Verdacht zu stellen.
Beispielsweise an einer Nebenfront der stürmischen Entwicklung zu beklagen, daß das vordigitale Urheberrecht durch die digitale Entwicklung obsolet geworden ist; somit das Recht auf Meinungs- und Publikationsfreiheit in einer völlig neuen Kommunikations-Welt neu formuliert und neu verwirklicht werden muß.
Andererseits haben nicht zuletzt die revolutionären Ereignisse der Arabellion gezeigt, welcher soziale und politische Sprengstoff durch digitale Medien gezündet werden kann. Millionen „Followers“ vereinigten sich, um morsch gewordene und moralisch wie politisch diskreditierte Systeme, die den Menschenrechten durch Jahrzehnte und länger ostentativ zuwiderhandelten, zu stürzen. Manche Digital-Selige glaubten bereits, die Zeit einer Ablösung der repräsentativen durch eine direkte Netz-Demokratie sei gekommen und leite auch in der Ersten Welt eine demokratische Götterdämmerung ein. Und dies in einem kritischen Moment der europäischen Entwicklung, da das Vereinigte Europa mit der Suche und Findung einer übernationalstaatlichen Super-Demokratie ringt?
Überschlägt man mögliche Gründe und Ursachen eines realen Zerfalls, nicht der Idee und nicht der Utopie, sondern der Wirklichkeit der modernen rechtsstaatlichen Demokratiekulturen, die sich mittlerweile auch an den “Schwellen“ der Zweiten und Dritten Welt (Türkei, Indien, Brasilien usf.) durchgesetzt haben, ergibt sich folgende Liste. Sie scheint umfassend zu sein, da sie lediglich das Unheil großer Naturkatastrophen vernachlässigt und auch mit innereuropäischen und globalen Kriegen innerhalb der demokratischen Staatenwelt nicht mehr rechnet.
1.)Der globale Versuch weltweit vernetzter Jihadisten, einen globalen Gottesstaates unter Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu errichten, dürfte die Erste Welt noch viele Jahrzehnte zwingen, einen asymmetrischen Krieg („Vierter Weltkrieg“, „The Long War“) siegreich zu bestehen.
2.) Das Mißlingen einer säkularisierenden Integration der moslemischen Immigranten, weil „demokratische Mehrheiten“ durch nicht-säkularisierte moslemische Parteien durchaus möglich werden könnten.
3.) Die Gefahr sozialer Destabilisierung und Anarchisierung bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Szenarien – durch soziale, ökonomische, und finanzpolitische Krisen und Kollapse. (Vergreisung, Arbeitsmangel, Kriminalität, Anarchie der Finanzmärkte usf.)
4.) Das Umstürzen der rechtstaatlichen in eine vormoderne („antike“) Mehrheitsdemokratie, etwa durch repräsentierende (gewählte) Parteien, die einander blockieren und dadurch den Weg zu nicht-demokratischen Gewaltlösungen frei machen. Ein Weg, nach dem nicht nur die Ewige Linke und Ewige Rechte Ausschau halten.
5.) Der Zerfall des Zusammenhaltes der demokratischen Gesellschaften durch Hyperpluralismus und Hyperindividualismus, der die Basis der Demokratie, den politisch teilnehmenden Bürger, verabschieden könnte.
6.) Zerfall der personalen Grundlage der menschenrechtlichen Staats- und Kulturgebilde, weil sich Personen einer auf Spaß und Rausch regredierenden Lebenskultur nicht mehr als demokratiefähige Subjekte bewähren könnten.
IV. Digitale Öffentlichkeiten und nominalistische Philosophien
Neuerdings wird überlegt, freilich eher von Zeloten des Journalismus, die sich als „Retter der Demokratie“ inszenieren, ob Überwachungssysteme, die westliche Geheimdienste eingerichtet haben, um Kriminalität und Jihadisten-Aktivitäten im Internet zu erspähen, die freiheitlichen Grundlagen der rechtstaatlichen Demokratie untergraben. Überwachungssysteme, die sich bekanntlich führender Internet-Firmen bedienen, die offensichtlich den Alarmismus dieser überstürzten Meinung, die sich in Deutschland überdies vom Bazillus eines immer noch populären Anti-Amerikanismus nährt, nicht teilen. Dennoch wird auch in diesem neuen Gelände („Überwachungsstaat“) die moderne Demokratie rechtlich und moralisch nachjustiert werden müssen, was aber ohnehin fortwährend geschieht.
Ist somit auf diesem Feld wenig Sorge nötig, schon weil die Kritiker der Geheimdienst-Aktivitäten keine Alternative aufzeigen, mit welchen die modernen Demokratien ihrer Sicherheitspflicht nachkommen könnten, könnten auf anderen Feldern der modernen Technologien durchaus neue Gefahren entstehen, die vorerst noch im Dunkel liegen. Vernetzte Gefahren durch vernetzte Informationen, etwa durch die Weitergabe von Know-how zur Produktion und Anwendung von Massenvernichtungswaffen.
Auch könnte eine unübersehbare Vielfalt neuer Medien, die bekanntlich neben die alten zu treten pflegen, das für die moderne Demokratie unverzichtbare Medium Öffentlichkeit riskant diversifizieren. Vorläufig noch scheinen Fernsehen und Printmedien die Spitze in der Hierarchie der öffentlichen Medien zu besetzen. Doch unzählige und ständig sich vermehrende digitale Austauschplattformen des Internets könnten schon bald auch neue Formen von Journalismus (die Vierte Staatsgewalt der modernen Demokratie) und öffentlichkeitswirksamer Kommunikation nötig machen.
Wenn „die Arena der Debatte implodiert durch die Explosion der Medien“, wie Caroline Fourest befürchtete, wäre die eine und ganze Öffentlichkeit, wäre der eine und ganze Markplatz der modernen Demokratie-Agora in viele Teil-Öffentlichkeiten und viele zerstreute Marktplätze zerfallen. Ob dies nicht ohnehin schon der Fall sei, fragen skeptische Debattenbeiträge moderner Medienskeptiker.
Da die Grundlagen der modernen rechtsstaatlichen Demokratie nicht religiöse, sondern wesentlich philosophische sind – durch die Moral- und Rechtsphilosophie der Aufklärung entdeckte und verbindlich begründete -, wäre auch ein Widerruf dieser Grundlagen durch neue Philosophien und Wissenschaften denkbar. Eine Option auf Widerruf, die ohnehin die moderne Geschichte und Entwicklung des moral- und rechtsphilosophischen Denkens ständig begleitete und begleitet. Anders hätten Faschismus und Kommunismus nicht geschichtsmächtig werden können.
Jede nominalistische Philosophie konnte und kann für den konkreten Begriff der Idee der Menschenrechte kein Verständnis haben. Denn dieser sei kein konkreter (Vernunft)Begriff, sondern eine Abstraktion, eine Erfindung, eine völlig willkürlich vollzogene Definition. Was aber ein konkreter Begriff sei, dies hat die nominalistische Philosophie immer schon im Sinn einer empiristischen Philosophie und Denkweise definiert, ohne ihren Irrtum zu bemerken. Comte de Maistre, Repräsentant der französischen Gegenaufklärung und Verteidiger des Ancien Régimes (die monarchische Regierungsgewalt sei göttlich legitimiert), kann als prototypisches Beispiel dienen.
Die Annahme universaler Menschenrechte sei lächerlich, weil die Annahme der Existenz eines Menschen überhaupt Irrtum und Illusion sei. Niemals, meinte der konterrevolutionäre Philosoph, sei er einem universellen Menschen begegnet, sondern immer nur Franzosen, Russen, Italienern usf.
Dieser konsequente Anti-Universalismus verhindert nicht, sondern erlaubte und ermöglichte Monsieur le Comte im Gegenzug theologische Universalien wie das Gottesgnadentum der Monarchen und die Unfehlbarkeit der Päpste zu verkünden.
Ist aber eine Philosophie unfähig, an Allgemein-Begriffen deren eigene Besonderung und Vereinzelung, an diesen letzteren daher deren Allgemeines zu begreifen, hat sie sich nicht nur als konterrevolutionäre, sondern zuvor schon als untervernünftige zu erkennen gegeben. Geschichtlich: als vormoderne, der in der heutigen Gegenwart alle religiös-fundamentalistischen Lehren über Mensch und Menschheit korrespondieren. Beispielsweise alle islamischen Lehren, die aus dem Koran und dessen Interpretationen kulturelle Universalien ableiten (etwa die Scharia-Gesetzgebung), um diese entweder in der Zweiten Welt oder gar für die ganze Welt als verbindlichen Rechts- und Moralitätsinhalt festzuschreiben.
Das verräterisch unbestimmte Wort von einer islamischen „Hauptquelle“ für die zu findenden neuen Verfassungen in der sich umstürzenden islamischen Welt löst nicht den Konflikt zwischen Vernunft und Religion, zwischen Erster und Zweiter Welt; es verschiebt die Lösung nur auf ständig umstrittene und umkämpfte Zwischen-Stadien der Säkularisierung.
Erst nach weitgehender Säkularisierung und Abschaffung der Scharia und ihrer koranischen Begründungen wird sie mit den Menschenrechten soweit verträglich sein, daß eine „islamische Demokratie“ nicht länger ein Selbstwiderspruch, nicht länger ein hölzernes Eisen sein wird.
V. Kolonialismus von UNO und multikulturalistische Invarianten
Da die Vereinten Nationen seit ihrer Gründung den Code civil der UNO unterschrieben haben, sollte man meinen, dieses geschriebene Wort sei für alle Nationen mehr wert als das beschriebene Papier. Ausnahmslos alle hätten sich dem Programm der Menschenrechte verpflichtet. Dies traf und trifft bekanntlich weder auf Diktaturen, etwa der kommunistischen Variante, noch auf islamisch geprägte Staaten und deren Verfassungen zu. Behaupteten sich die kommunistischen „Volksdemokratien“ als wirkliche Demokratien, wurde dieser Irrglauben lediglich in der Hemisphäre des Sowjet-Kommunismus geteilt. Und auch islamische Demokratien sind vorerst zumeist nur „islamische Demokratien.“
Sie berufen sich auf besondere religiöse und kulturelle Identitäten und Traditionen, um das Eindringen der oft als „westlich“ diskreditieren Menschenrechte zu verunmöglichen oder zu behindern. Doch dürfte die Arabellion mehr als nur ein Anstoß zum Umsturz dieser Lebenslüge sein. Dies verwundert zunächst, weil die Menschenrechte ausdrücklich fordern, positive und negative Religionsfreiheit in den demokratischen Verfassungen festzuschreiben. Es verwundert zugleich aber auch nicht, weil in den meisten islamischen Ländern ein eigenständiges und religionsfreies politisches Leben nicht existiert, nicht oder nur peripher sich entwickeln konnte.
Die Vorbehalte der kommunistischen Ideologie und ihrer übriggebliebenen Zeloten lauten bekanntlich: das Programm der UNO-Menschenrechte diene der Ersten Welt nur dazu, einen neuen Weg zu einer neuerlichen Kolonisierung der Zweiten und Dritten Welt zu suchen und durchzusetzen. – Eine merkwürdige Verbrüderung: der extrem säkulare (atheistische und agnostische) Zweig europäischen Entwicklung und der extreme Zweig der islamischen Entwicklung, maßgeblich im fundamentalistischen Saudi-Arabien und im schiitischen Gottesstaat Iran beheimatet, sind sich einig, das Übel einer universalistischen Erfindung durch findige westliche Philosophen zurückzuweisen.
Dennoch haben weder die kommunistischen noch die islamischen Staaten die UNO verlassen. Manchmal mit der Begründung, aus Liebe und Eifer für die höhere Wahrheit der kommunistischen oder/und kulturreligiösen Idee verbleibe man in der UNO. Realistisch besehen, weil es in der politisch und ökonomisch vernetzten Globalwelt des 20. Jahrhunderts nur Sonderlingen oder Außenseitern gegönnt oder auferlegt war und ist, den Vereinten Nationen fern zu bleiben – die Schweiz wurde erst 2010 Vollmitglied, der Vatikan bis heute nicht, Taiwan aus bekannten Gründen gleichfalls nicht.
Einen vermittelnden Weg scheint zunächst der Multikulturalismus westlicher Provenienz vorzuschlagen. Er beruht auf Restbeständen der europäischen Kulturkreis-Ideologie, deren Kernaussage lautet: Es gibt in dieser Welt kulturgegebene Invarianten, die als autarke Kulturen der „Anderen und Fremden“ um ihrer Anders- und Fremdheit willen (unser Urlaub in fernen Ländern soll exotisch und abenteuerlich bleiben), zu erhalten und zu fördern seien.
Kurios und skandalös wird diese Invarianten-Ideologie, wenn man arabische Staaten beauftragt, in den Menschenrechts-Gremien der UNO den Vorsitz zu übernehmen. Als glaubten die westlichen Demokratien selbst nicht mehr an das, worumwillen die UNO einst gegründet wurde.
Während die ökonomistische Ideologie der ewigen Linken die rechtsstaatliche Demokratie als Produkt von Kapitalismus und Kapitalisten denunziert, demontiert die multikulturalistische Ideologie die Idee der Demokratie zum Spielball kulturreligiöser Interessen. Mit der kuriosen Konsequenz, daß sich marxistische Ideologen und vermeintlich ideologieneutrale Multikulturalisten als nützliche Idioten partikularer Kulturen und auch des globalen Islamismus andienen. Es sei „Ethnorassismus“, in westlichen Demokratien das Tragen der Burka zu verbieten.
VI. Die Aporien der toleranten Vielfalt
Ein anderer Name für Andersheit und Fremdheit lautet Vielfalt. Wie eintönig wäre eine Welt, in der wir nur mehr in Demokratien leben, überall nur mehr Demokraten begegnen würden. Als ob die westlichen Demokratien nach einem Muster, und die westlichen Nationen Grau in Grau gestrickt wären. Das Gegenteil ist bekanntlich der Fall, und dies zu ignorieren, verweist nochmals auf die obsolet gewordene Denkweise der alten Kulturkreis-Ideologie. Das Demokratie-Paar Freiheit und Gleichheit, einmal durch Vernunft und Recht freigesetzt, garantiert Kinder von unübersehbarer Ungleichheit und daher Vielfalt.
Aber kulturelle Vielfalt als Grundnorm ansetzen – für Demokratie oder gar Demokratien-Verbünde – , somit versuchen, „mit der Kultur“ und nicht mit Kohle und Stahl beispielsweise eine Gemeinschaft europäischer Demokratien, ein Vereinigtes Europa zu begründen, wie dies vielen Künstlern als (leider versäumtes) Ideal bis heute vorschwebt, ist nichts als ein letzter und undurchschauter Ableger der untragbar gewordenen Kulturkreis-Ideologie. Kultur ist kein politisch tragfähiger Begriff, wie nicht zuletzt die Beliebigkeit jeder Diskussion über den Begriff Kulturpolitik beweist.
Vielfalt als Ziel- oder gar Grundnorm ist normlose Norm, die nicht Einheit und Vereinigung, sondern Trennung und das Trennende anstrebt und bewirkt. So unerträglich totale Uniformität, ebenso unlebbar totale Vielfalt. Jene kennt keine Toleranz, diese toleriert die Intoleranz im Namen der Toleranz. Vielfalt, die keinen gemeinsamen Grund und Inhalt hat, trennt und zerfällt Gesellschaften in viele Sub- und Parallelkulturen, die nur noch äußerlich, wenn überhaupt, miteinander verbunden sind.
Der kulturelle Toleranzbegriff war und ist nicht ohne Verdienste, aber er unterläuft das Toleranzniveau der rechtstaatlichen Demokratie. In dieser ist durch Recht und Gesetz festgeschrieben, was dort dem Belieben herrschender Kultureliten, vor allem religiöser, überantwortet wird.
Ist der Fremde und sein Fremdsein ein absoluter Wert sui generis, genießt potentiell jede Art von Unkultur Verehrung und Denkmalschutz, und der Unterschied von Unkultur und Kultur wird zuletzt aufgehoben. Im Namen der Toleranz auch die Intoleranz jedes Fundamentalismus tolerieren, produziert einen Selbstwiderspruch (in Worten und Taten), der das Ungenügen der bloß toleranten Toleranz beweist.
Daher ist Neugierde – auf das Andere und Fremde – kein taugliches Mittel und Verfahren, keine Kategorie und kein Argument, den Universalanspruch der Menschenrechte zu desavouieren, auch wenn dieser „langweilig“ geworden sein mag und von Altbegierde („ewiges Erbe der Aufklärung“) zehren muß.
Das Andere als Anderes, das Fremde als Fremdes, der Lieblingsexote des deutschen Pazifismus, beruht auf und führt zu einer Art von negativem Universalismus: Jeder sei ein Anderer aller anderen und dadurch sein eigener Anderer. Jeder ein Geheimnis, und dies nicht als Träger auserwählter Eigenschaften, sondern durch pure Existenz als Träger von Kultur, egal welcher Kultur. Auch das Abschlachten von Menschen macht als Praxis hochgeachteter „Hochkulturen“ kulturwissenschaftliche Karriere.
VII. Rechtsstaatliche Demokratie versus egalitärer Multikulturalismus
Die Axiome und Ziele der rechtsstaatlichen Demokratie erzeugten eine neue Dialektik zwischen Individuum und Kultur. Im iranischen Gottesstaat beispielsweise muß sich die Freiheit des Individuums (beider Geschlechter, aber in ungleicher Intensität) angesichts der permanenten Bedrohung durch die hegemoniale Ideologiekultur eines Religionswächterstaates radikal privatisieren und katakombisieren.
In der rechtsstaatlichen Demokratie hingegen- können und sollen fünfzig verschiedene Religionen wenigstens formell zusammen-, also konkret nebeneinanderher leben, sofern mehr als ein Minimalkonsens über die Unverletzlichkeit eines Kanons universaler Freiheiten des Individuums anerkannt wird. Dort Einheitskultur durch Propaganda und Indoktrination, hier Vielheitskultur durch Freiheit und Recht ermöglicht und begründet.
Durch die globale Immigration in die Erste Welt wird jedoch zugleich eine kulturelle Kollision von Erster, Zweiter und Dritter Welt inmitten der modernen Demokratie ausgetragen. Eine Kollision, die den Demokratien der Ersten Welt äußerste Anstrengungen abverlangt und jene Dialektik zwischen Individuum und Kollektiv in viele Sonder-Dialektiken aufzuspalten und dadurch hinfällig zu machen droht.
Notwendigerweise ist mit der rechtlich festgeschriebenen Achtung und Respektierung von Minderheiten ein „Kult der Vielfalt“ verbunden, der ins turbulente Zentrum der Dialektik führt. Den sogenannten „Gemeinsamen Werten“ stehen viele Minderheiten-Werte gegenüber, und in den Köpfen der Demokratie-Eliten rauchen die Köpfe über der Frage, wie aus diesem „Gegenüber“ ein friedliches Nebeneinander oder vielleicht sogar ein aktives Miteinander werden könnte.
Während das Konzept des egalitären Multikulturalismus in der Agenda „Aufrechterhaltung der gemeinsamen Werte“ ein Vakuum aufweist, hat die rechtstaatliche Demokratie noch kein Heilmittel gefunden, um demokratie-problematische Minderheiten, die durch Geburten-Progression ihrer Mitglieder sowie durch demokratische Wahlen zu dominierenden Mehrheiten aufsteigen könnten, in jene Schranken zu verweisen, die einen Zerfall und Sturz der Demokratie verhindern sollen. Und sie sucht nach Lösungen in allen Feldern, in denen in der Vielfalt der Religionen die Kollision ihrer öffentlichen und privaten, ihrer kollektiven und individuellen Praxen nicht nur miteinander, sondern vor allem mit jenen gemeinsamen Rechten und Freiheiten kollidieren, ohne die keine moderne Demokratie bestehen kann.
Sollte das Anerkennungsvolumen für die gemeinsamen demokratischen Grundwerte auf ein Minimum absinken, weil etwa Minderheiten, die zu Mehrheiten aufsteigen, die verfassungsrechtlichen Demokratieprinzipien nicht anerkennen und nicht leben könnten, könnte das negative Fanal des libanesischen Bürgerkriegs, der ein politischer und zugleich religiöser war, ein prophetisches gewesen sein. Werden aus islamistischen oder anderen fundamentalistischen Minderheiten mehrheitsfähige Parteien, ist guter Rat teuer und dessen Einholung möglicherweise schon zu spät.
Bis zu diesem Point of no Return müssen zahlreiche fundamentale Fragen geklärt und in Übereinstimmung mit den Grundrechten der modernen Demokratie politisch durchgesetzt werden. Einige Beispiele belegen die Unabweislichkeit dieser Forderung:
Sind Zwangsheirat und Beschneidung von Frauen mit demokratischen Sitten vereinbar? Sind zivilrechtliche Urteile aufgrund der Scharia in modernen Demokratien zuzulassen? Entspricht oder widerspricht die „Freiheit“ für das islamische Kopftuch dem modernen (Freiheits)Recht auf Gleichheit von Mann und Frau?
Sollen Spitäler (und Ausbildung und Praxis der Ärzte) unterschiedliche Behandlungsweisen für Frauen und Männer einführen? An den Schulen unterschiedliche Speisen, im Schwimm- und Turnunterricht getrennte Unterrichtszeiten für Mädchen und Knaben? Sind religiöse oder halbreligiöse Zeichen und Gebäude nicht nur an Schulen, sondern auch an allen öffentlichen Plätzen zu entfernen? Wie kann das islamische Zinsverbot im globalen Finanzverkehr umgangen werden, ohne die Rechte und Freiheiten der Märkte zu unterlaufen?
Fragen, deren Dringlichkeit nicht mehr mit der traditionellen Weisheit: „Andere Länder, andere Sitten“, zu beschwichtigen ist. Denn unter dieser Formel trachtete man bisher einzig danach, sich in fremden Ländern gehorsam unter fremde Sitten zu beugen, um nicht Kopf und Kragen zu riskieren.
Es leuchtet ein, daß unter den globalen Existenzbedingungen moderner Demokratien ein „Weltethos durch Minimalkonsens“ nicht die durch unablässige Immigration entstandenen Probleme einer globalen Vermischung aller Kulturen zu lösen vermag. Mögen die modernen Demokratien vorerst von Staat zu Staat sehr verschiedene Lösungen praktizieren, so gilt doch, daß zwischen Extremen unterschiedlicher Auffassungen von Sitte und Lebensweise keine neutrale, keine vermittelnde Mitte möglich ist, die mit den Grundsätzen der modernen Demokratie konsensfähig wäre.
Zwischen einer und vier Frauen, kann nicht mit zweien eine neue Form toleranter Ehe begründet werden. Und daß zwei oder mehrere Nachbarstaaten mitten im Europa der EU gegensätzliche Gesetze über das Tragen der Burka erlassen, ist ein ungelöstes Problem, nicht die Lösung des Problems. Sollten Chemiker zwischen koscheren und unkoscheren Nahrungsmitteln eine mittlere Sorte herstellen können, wäre dies keine Lösung; und sollten Biotechniker das reine Schwein (ohne Schweinefleisch) züchten können, wäre dies gleichfalls keine Lösung. Denn der wahre Glaube fundamentalisierter Religionen weiß unerschütterlich, welche Lebens- und Verhaltens-Mittel heilig, welche unheilig für immer festgeschrieben stehen.
VIII. Apartheid und andere Irrtümer
Die unausweichlich anzustrebende Einheit vieler (oft extrem verschiedener) Kulturen muß auf rechtstaatlich demokratischen Prinzipien basieren; steht dies fest, darf sich die Vielheit und Vermischbarkeit aller Kulturen (fast) ungehemmt austoben. Dies ist leicht gesagt, jedoch mehr als schwer getan. Denn welche Inhalte divergenter Kulturen unter den Hut demokratischer Rechtsfreiheit gehen und welche nicht – diese Gretchenfrage taucht soeben am Horizont der Weltgeschichte mit ultimativer Dringlichkeit auf. Die gemütlichen Zeiten eines Arrangierens in Juste-Milieus, von Staat zu Staat variabel, von Kontinent zu Kontinent kunterbunt variierend, nähern sich ihrem Ende.
Vorbei auch die politische Strategie des 20. Jahrhunderts, im 21. Jahrhundert nochmals zu Apartheid und Rassentrennung zurückkehren zu können. Deren Losung: „Gleich, aber getrennt“, basierte auf einem vor-rechtsstaatlichen Begriff von Freiheit, der vormoderne Rassen- und Klassenhierarchien festzulegen erlaubte.
Mit dem Ende dieser (aus der Epoche des Kolonialismus stammenden) Strategie verschärft sich aber die Antinomie von Freiheit und Gleichheit auf ihren ultimativen Punkt. Denn die zentrale Frage nach dem öffentlichen und privaten Zusammenleben von Ungleichen („Anderen“ und „Fremden“) kann nun nicht mehr vertagt und verdrängt werden. Höchst ungleiche und zudem zahlreiche Religionen und Kulturen (in Österreich mittlerweile sechzehn staatlich anerkannte Religionsgemeinschaften) stellen den gleichen (rechtsidentischen) Anspruch auf Öffentlichkeit, obwohl die höchst divergenten Inhalte der Antragsteller weder eine dominierende Leitkultur noch eine wirkliche Gemeinschaftskultur und -öffentlichkeit im Sinn haben können.
Aus christlichen, jüdischen und islamischen Feiertagen, um nur diese zu nennen, gemeinsame Feiertage für alle zu machen, gelingt nur als multikulturelle Illusion: Auf Festivals und fröhlichen Multi-Kulti-Veranstaltungen, die uns ein Alibi dafür liefern, nichts dergleichen in Schulen und Betrieben, in vielen Sparten der Freizeitvergnügungen oder gar an nationalstaatlichen Feiertagen versuchen zu können.
Man hat die K.u.K Monarchie Österreich-Ungarn gelobt und lobt sie nostalgisch noch heute: Bosnien wäre ein erfolgreiches Modell eines fruchtbaren Zusammenlebens aller versammelten Religionen Abrahams gewesen. Mag es so gewesen sein, zu einer wirklich nachhaltigen Kultur hat es nicht geführt, weder die alteuropäischen Monarchien noch gar die kommunistischen Diktaturen Europas vermochten, das radikalisierte Problem der Kultur-Vermischung zu lösen. Wäre es im Kommunismus gelöst worden, hätte die orthodoxe und nationalistische Paranoia der Serben nicht in die Katastrophe des jugoslawischen Bürgerkriegs geführt.
Kollidieren Normen und Verhaltensweisen mitten in der Öffentlichkeit und in der Privatheit des Lebens aller Bürger, kollidieren gleichsam verschiedene Menschen gegeneinander.
Daß diese daraus ein Miteinander zu formen vermögen, prekär und ungesichert, waghalsig und gefährdet wie auch immer, eben dazu kann nur die rechtsstaatliche Demokratie das Gerüst einer neuen(säkularen) Leitkultur geben, keine der religiös und kulturell kontaminierten Teilkulturen selbst. Noch unter unverträglichsten „Fremden und Anderen“ wird nun gefordert, nicht nur keine böse Miene zum guten Spiel zu machen, sondern wirklich gutwillige Konsensbereitschaft zu gutem Zusammenleben zu beweisen.
Dieses Experiment ist ein anderes als jenes, das die Römer der Antike scheinbar „glänzend“ bewältigten oder auch die alten Monarchien des alten Europa mit ihren Möglichkeiten einer Stände- und Klassenbildung noch (schein)neutralisieren konnten. Immerhin: der globale Sport mit seinen vielen Sparten, Fußball voran, beweist: gemeinsame Freude, gemeinsames Spiel ist unter divergentesten Kulturen möglich, wenn nur das Mittel (Ball) kein Heiligtum, und die Kulturträger (Fußballer) keine Zeloten ihrer Kultur mehr sind.
IX. Kommunitarismus versus Individualismus I
Daß alle gegenwärtigen Kulturen und Religionen keine unveränderlichen Konstanten sind, trifft forciert auf die Erste Welt und deren Kultur zu und macht die gewünschte friedliche „Vermischung“ der Kulturen manchmal leichter, manchmal schwieriger. Eine Welt, die sich die freie nicht nur nennt, muß kraft ihrer säkularen Vernunft- und Freiheitsgrundlage eine permanente Quelle permanenter Neuentwicklungen sein. Politik und Rechtsstaatlichkeit geben dazu den vielgerühmten „Rahmen“ ab, einen Rahmen von Normen, der seinerseits nicht so feststehend sein kann, wie die oft durch Jahrhunderte statuarischen Grundlagen vormoderner Kulturen.
Auch die neueste Entwicklung Europas zu einer Vereinigung von Nationalstaaten (EU) beweist dies und mehr noch die ungeheuren Schwierigkeiten, die mit der Innovation einer überstaatlichen Superdemokratie verknüpft sind. Aber zeitgleich mit diesen Schwierigkeiten wurde und wird auf der nationalstaatlichen Ebene nicht selten gefragt: Was hält die modernen Staaten und deren Kulturen und Gesellschaften eigentlich (noch) zusammen? Ein Indiz für rasante Entwicklungen in der Ersten Welt, nicht nur auf der technologischen Ebene, und keineswegs ein Reservat der Ersten Welt verbleibend. Globalisierung bedeutet auch dies: permanente und selbstverständlich gewordene Missionierung. Diesem Sog kann sich keine Kultur entziehen, mag sie auch versuchen, sich gegen den Sog zu fundamentalisieren und geschichtlich zu regredieren, also konstant oder – ärger noch – neokonstant zu werden.
Angefangen von der leidigen Hegemon-Frage: wer soll die Erste Welt führen, wenn der aktuelle Hegemon (USA) eines Tages unwillens und unfähig werden sollte, seine Führungsrolle weiterhin auszufüllen, bis hin zu den Fragen nach der prekären Gemeinschaftlichkeit von Gesellschaften und Kulturen, die sich ihres Pluralismus und Individualismus rühmen müssen. Verlassen Staat, Gesellschaft und Kultur die Gefilde vormoderner Geschlossenheit (in mehr oder weniger feudalen Stände- und Stammesstrukturen), um zur modernen Offenheit und Freiheit aufzubrechen, sind sie verpflichtet, die zurückbleibenden Welten auf den Status einzuübender Moderne nachzuholen. Dies sollten Zweite und Dritte Welt nicht mit Neokolonialismus und Imperialismus verwechseln, nachdem der globale Sowjet-Kommunismus das Zeitliche gesegnet hat.
Nun, was hält sie zusammen? Recht und Geld, Rechtsnormen und Märkte, lautet(e) die Antwort, und da die letztgenannten, besonders als Finanzmärkte ihre Fragilität permanent beweisen, bliebe also doch nur das Recht, in nationaler und internationaler Dimension, sei es institutionell, sei es informell, das für zureichenden Zusammenhalt sorgte. Indes Religionen und Kulturen der Ersten Welt als „Kitt“, der das Ganze zusammenhalten könnte, notwendigerweise zurücktreten müssen: Es sind zu viele und zu divergente, sie leisten Fragmentierung und Ausdifferenzierung und mit diesen jene oft radikale Individualisierung, die vermutlich auch der Angelpunkt ist, an dem sich dann „total individualisierte“ Intellektuelle und Literaten zu fragen beginnen: Was hält uns noch zusammen, sofern es ein Uns und ein Wir noch geben sollte?
Offensichtlich geht innerhalb der Ersten Welt mit dem Recht auf Freiheit und ihren unzähligen Sonderfreiheiten ein Recht auf Differenz einher und mit diesem auch eine Verpflichtung. Jedes neue Patent, jede neue Firmengründung, aber auch jeder Autor und Unternehmer, sei es in Wissenschaft oder Kunst, neuerdings auch in Religion und Lebenskunst und Lebensweisheit, setzt Produkte und Praxen in die Welt, die diese zuvor noch nicht erblickt hat. Der freie Markt ist ein Markt Freier, und wenn genügend Verbraucher und Konsumenten vorhanden, ist des Erfindens und Produzierens, Vertreibens und Anpreisens kein Ende.
In der Sicht vormoderner Kulturen: eine verrückte Innovationswelt permanenter Revolutionen, die ihre Kinder fressen oder deformieren: entmenschlichen und aller Religion entfremden wird. In der Sicht der modernen Kultur: eine Entwicklung ohne Alternative, da jede Variante einer Rückkehr in vormoderne Unfreiheitswelten unmöglich wurde.
Daß die Erste Welt berufen wurde, ein Experiment der Menschheit durchzuführen, ist auch an der unvermeidlichen Kollision von Individuum und Gesellschaft, von Individualismus und Kommunitarismus ersichtlich. Eine Kollision, die in vormodernen Gesellschaften durch fixierte Stände und Zünfte, Großfamilien und Stämme mehr oder weniger moderiert und moderat gehalten wurde. Ob das Gründen von Familien daher in der modernen Gesellschaft leichter oder schwieriger wurde, läßt sich dennoch nicht einfach und irrtumsresistent feststellen, weil zu viele, letztlich alle Parameter der menschlichen Existenz wechseln, wenn vormoderne in modernen Kulturen und Gesellschaften verschwinden. Eine Gesellschaft von (nur mehr) Singles, die sich in den Großstädten des Westens andeutet, wäre vermutlich nicht überlebensfähig.
Mag dies sein und werden oder auch nicht, die Frage nach der Gemeinschaft von Freien, die ihre Gemeinschaftsarten aus Freiheit und immer weniger durch tradierte Bindungsweisen wählen sollen und müssen, treibt die Erste Welt vielleicht schon seit Hobbes fingiertem Krieg aller (Einzelnen) gegen alle (anderen Einzelnen) um. Die vormoderne Frage nach dem Machtmonopol im Staat: Wer darf und soll welche Art von Gemeinschaft aufgrund welcher Freiheitsprinzipien organisieren, muß in moderner Reformulierung das Recht auf Differenz (inmitten und gegen das Recht auf Einheit, von Staat und Gesellschaft repräsentiert) diskutieren.
X. Kommunitarismus versus Individualismus II
Nicht zufällig wurde die Diskussion über das Verhältnis von Kommunitarismus versus Individualismus zuerst in den USA geführt, einer Kultur und Gesellschaft, die auch auf diesen Feldern Pionierarbeit leistete und leistet, dabei das Liebkind der Europäer bis heute radikal vernachlässigend: Vater und Mutter Sozialstaat.
Das Recht auf Differenz scheint sich auf der Ebene des modernen Individualismus als radikale Anerkennung radikaler Andersheit formulieren zu können: Ich bin anders als alle anderen Iche, – jeder seine Ich-AG – und das Recht, diese Andersheit und Fremdheit als Faktum oder zu erreichende Faktizität (Selbstvollendung durch totale Selbstverwirklichung) zu behaupten, sei gleichfalls allen Anderen zu gewähren. Fragt sich, welcher Staat und welche Gesellschaft aufgrund welcher politischen Parteinahme dieses Recht auf Rechtlosigkeit durch totalitäre Ich-Rechte in Kraft setzen könnte. Das Recht auf Differenz läßt sich endlos, aber nicht an ein reales Ende differenzieren. Nicht zufällig, daß eine „Philosophie der Differenz“ als moderne Philosophie möglich wurde.
Kurz: Ein formales Spiel mit formalen Begriffen, das einem Schachspiel ohne Schachfiguren gleicht und die Leere und Formalität des radikal vereinzelten Einzelnen, von dem schon Max Stirner berichtete, verkündet. Kein Inhalt wird auch nur angedeutet, dennoch soll alles und nichts aus des Ichs Eigenheit und Andersheit erfließen. Diese Ich-Ideologie wird erst dann als Wirklichkeit (an)greifbar, wenn uns von edlen wilden Aussteigern berichtet wird, die sich in realen Wäldern und auf Almen, in Höhlen und Kanalsystemen entweder als Totalasketen oder als Erfinder und Vollstrecker eines radikal eigenen Lebens präsentieren. Sei es, um die verlorene Menschheit der Moderne zu radikaler Umkehr zu motivieren, sei es, um dem besiegelten Untergang der Menschheit mit mutigem Pionierbeispiel voranzugehen. Die atheistischen Kulte der Verzweiflung in moderner Kunst und Unterhaltung („Wave-Gotik“) opfern sich aus einer Freiheit, die um ihr Ende weiß.
Dennoch ist in der rechtstaatlichen Demokratie das Individuum Ziel und Zweck der sozialen und rechtlichen Agenda; aber nicht das asoziale Individuum, das sich gegen die Gemeinschaft von Gesellschaft, Staat und Familie stellt, sondern ein sozialisierbares und sozialisiertes Ich, das in den gesellschaftlichen Gemeinschaften, wenn möglich, seine eigene Erfüllung und Aufgabe, Verantwortung und Pflicht findet.
Das nominalistische Dogma radikalisierter Moderne (jedem seine ureigene – „authentische“ – Freiheit), ist längst in realexistente Postmoderne gekippt: Alles ist möglich, alles ist wahr und unwahr zugleich. Das Recht auf Differenz schlägt stets wieder in das Recht auf Indifferenz um: Anfangs soll alles Ungleiche als Ungleiches toleriert werden; am Ende ist alles Ungleiche gleich und gleich-gültig.
Diese Perspektive und mehr noch diese Entwicklung der Ersten Welt muß die Zweite und Dritte Welt erschrecken. Die Resultate der Entwicklung scheinen zu beweisen, daß die modernen Revolutionen ihre Kinder verzehren und den Massen-Eremiten der modernen Großstädte zeitigen, der nicht mehr oder nur mehr künstlich zu kommunizieren vermag. Am Ende erlauben digitale Medien, die postmoderne Fragmentierung als neue Sozialität zu erleben und zu glauben.
Nichtsdestotrotz: Auch dieses „technologische Wunder“ der Ersten Welt hat die beiden anderen Welten durch selbstverständlich gewordene Missionierung sofort erreicht und durchdrungen. Ohne „social-media“ der neuen Digital-Welt wäre die Arabellion wohl kaum als reale Erhebung und Revolution angestoßen worden.
Wobei dieser Umschlag von technologischer Kommunikation in reale Revolutionsaktivitäten beweist, daß die Binnenprobleme der Ersten Welt, etwa das Verhältnis von Kommunitarismus und Individualismus unter den Bedingungen fortgeschrittener Moderne, in den beiden anderen Welten gleichsam andere Sinnfarben annehmen müssen. Dort stellt sich (vorerst) nicht die Frage unseres Hier: Wie können Gesellschaft und Kultur vorm Zerfall in Pluralität und Individualismen bewahrt werden? – Sondern: Wie können Religionen und Kulturen, die zu vormodernem Fundamentalismus nicht nur neigen, durch Integration in westliche Freiheitsprinzipien und -welten verwandelt und entsorgt werden? Wie können Menschenrechte und rechtsstaatliche Demokratie auch in diesen Welten als neue Identität, als neue Bestimmung des Menschen und ihrer Staaten anerkannt und angenommen werden?
XI. Politischer und religiöser Kommunitarismus
Ein sozialisiertes und sozialisierbares Recht auf Differenz meint: man will wie seinesgleichen sein und bleiben, also gerade nicht indifferent (gleich-gültig) werden, sondern einer Partei, einer oder mehreren Vereinen, einer oder zwei, drei Kulturen, einer Religion oder keiner, einem Staat oder zweien und demnächst zugleich auch übernationalen Staatenverbünden angehören. Die Zugehörigkeiten zu diesen Identitäten scheinen durchgängig partikulare sein zu müssen.
Dennoch gilt, daß unter allen (unzähligen) Zugehörigkeiten und Identitäten allein der Staat (solange die Genese möglicher Staatenverbünde nicht abgeschlossen wurde) das Recht und die Macht des menschenrechtlichen Universalismus verwaltet. Der Staat bezüglich des Diesseitigen, die Religion oder Nicht-Religion (Atheismus und Agnostizismus) bezüglich des Jenseitigen – könnte man ironisch anfügen.
Doch ist einsichtig, daß Menschen, die sich zu erklärten Nicht-Religionen bekennen, mit transzendenten Orientierungen ihrer Existenz mehr als nur Probleme haben müssen. Etwas für sie Nicht-Existentes, das für andere (die Religiösen)gleichwohl existiert, ist stets ein ultimatives Schisma unter Menschen. Daß in der modernen Demokratie gleichwohl weder ein antireligiöser Religionskrieg, noch auch ein verordneter Atheismus Optionen sind, beweist ihre Überlegenheit über den seit kurzem verschollenen Weltkommunismus. Dieser wollte durch nichtreligiöse Doktrinen Menschen und Staaten begründen, die meinten, es sei menschheitlich gesollte Pflicht, einen universalen Atheismus als letzte Befreiungs-Nicht-Religion von aller Religion mit allen, auch menschenrechtswidrigen Mitteln durchzusetzen.
Die Erste Welt beschritt bekanntlich drei große historische Wege zur politischen Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten. Ein immer wieder aufbrechender Prioritäten-Streit (wem die Palme der Erfindung und erfolgreichen Durchsetzung gebühre) muß in den Folianten der Historiker allerdings als unlösbar verbucht werden. Die demokratischen Vorausentwicklungen im neuzeitlichen und sogar mittelalterlichen England sowie im späterem British Empire lassen sich nur gewaltsam mit den Anfängen in den USA und der Revolution in Frankreich vergleichen. Die Eigenheiten der drei Wege folgten nicht zuletzt aus sehr unterschiedlichen Positionen zur positiven und negativen Religionsfreiheit: Eine Staatskirche in England, freie Konfessionen- und Sektenentwicklung in den USA, eine laizistische Republik in Frankreich.
2010 befürchtete Caroline Fourest, das republikanische Modell des französischen Laizismus sei bedroht. Intellektuelle und Politiker suchten nach angelsächsischen Wegen, die Laizität Frankreichs für einen neu zu integrierenden Multikulturalismus zu „öffnen“: Das französische Modell gilt als „intolerant, rassistisch, veraltet und abgetan.“ Nicolas Sarkozys Buch „Der Staat und die Religionen“ (2008) schlug eine „offene und positive Laizität“ vor, alle Religionen Frankreichs sollten eine neu zu definierende öffentliche Verantwortung übernehmen, um Religionsvielfalt und Toleranz gegen unter den Religionen zu gewährleisten.
XII. Die Antinomien des französischen Laizismus
Die beiden Varianten des französischen Laizismus stehen also neu zur Diskussion, – verständlich angesichts des brisanten Faktums, daß die größte muslimische Gemeinschaft in Europa auf fünf Millionen Moslems angewachsen ist.
Die liberale Variante hält an der strikten institutionellen Trennung von Religion und Staat fest, die nicht-liberale untersagt darüber hinaus die Ausübung religiöser Handlungen außerhalb privater Räume. Demnach wäre, das Wort von der laizistischen Öffentlichkeit bei seinem strengen Trennungssinn genommen, ein christlicher Gottesdienst, der in Kirchen stattfindet, illegitim, ähnlich wie das Beten auf Frankreichs Straßen untersagt ist, wovon vor allem Muslime betroffen sind, die zuvor mangels Moscheen und Gebetsräumen ihre Gebetsteppiche auf den Gehsteigen französischer Städte ausrollten. Für religionspolitischen Zündstoff sorgt auch die Laizität an den öffentlichen Schulen des Landes, die verbietet, Lehrer oder Schüler nach ihrer Religion zu befragen. Seit 2004 ist es ausdrücklich untersagt, in Schulen auffällige religiöse Zeichen zu tragen, etwa Schleier, Kippa, Kreuze, Turbane (Sikhs) oder auch christliche Ordensgewänder.
Eine Rigorosität, die durch ein breites Spektrum an privaten Schulen gemildert und konterkariert wird. Offensichtlich ist es nicht leicht, Laizität in Zeiten sich vermischender Kulturen und wieder erstarkender Religionen verfassungskonform durchzuführen, und noch weniger leicht, einen Begriff von Öffentlichkeit durchzusetzen, der am Eingangstor öffentlicher Schulen beginnt und auf der Straße bezüglich Kleidung, nicht aber bezüglich Gebeten und Gebetsteppichen endet.
Der laizistische Staat möchte Wasser und Feuer mischen, um einerseits seine neutrale Indifferenz gegen alle Religionen – in der Öffentlichkeit sei Religionsausübung nicht erlaubt – mit einer positiven Anerkennung für die Differenz aller Religionen andererseits – deren Ausübung sei im Privaten erlaubt – , zu verbinden. Nun sind aber Gebäude, Kleidungsstücke, Sitten des Verhaltens auf Straßen und sogar Hausschilder, die den Weg zu Gebets- und anderen religiösen Räumen anzeigen und nicht zuletzt Verträge zwischen Staat und Religionen zumindest beides zugleich: „privat“ und öffentlich.
Zwischen einer republikanischen Totalöffentlichkeit, die den laizistischen Staat als radikale Republik von Atheisten und Agnostiker erscheinen lassen möchte, und der radikalen Privatheit, in die alle Religionen verbannt sein sollen, muß daher der mittlere und vermittelnde Begriff von Teilöffentlichkeiten vulgo „Ghetto“ und „Parallelgesellschaft“ einrücken.
Sind aber alle „Teilöffentlichkeiten“ auch Öffentlichkeit(en), wird eingestanden, daß sich das Religiöse eben nicht in unsichtbare Katakomben und verborgene Höhlen des Privaten einschließen läßt. Mit der Kuriosität, daß sich die laizistische Republik genötigt sieht, das Überschreiten der Grenzen der diversen Teilöffentlichkeiten zu kontrollieren. Nach der illiberal intoleranten Variante der laizistischen Öffentlichkeitslogik habe sich jeder Bürger der Republik an allen Orten säkularer Geselligkeit, Arbeit und Feste von seiner republikanischen Seite zu zeigen. Was er darüber hinaus an den Orten seiner Teilöffentlichkeiten anziehe und treibe, gehe den republikanischen Staat nichts an. Nur in seinen Privatschulen und Privatgotteshäusern usf. dürfte er demnach religiöse Kleidung tragen und religiöses Verhalten unter seinesgleichen üben. Überall sonst nicht.
Dem widerspricht die liberale Variante des laizistischen Öffentlichkeitsbegriffes: Ein religiöser Mensch mit „auffälligen religiösen Zeichen“ an Kopf und Körper, darf sich nicht in der Schule, in der er lernt oder unterrichtet, präsentieren, jedoch nach Verlassen der Schule in Ornat und Tracht, Kopftuch, Schleier und Kippa erscheinen, um beim Wiedereintritt in die Schule allen religiösen Anschein neuerlich abzulegen.
Es ist klar, daß unter diesem Widerspruch, dem sich viele ähnliche anfügen ließen, nur mit Ausnahmen und Sonderregelungen ein friedliches Miteinander der diversen Parallelgesellschaften und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung möglich ist. Kein Kopftuch in Parlament und Schule, viele Kopftücher auf den Champs-Élysées. Mit anderen Worten: die liberale Fassung der säkularen Laizität hat sich angesichts der multikulturellen Tatsachen Frankreichs weithin durchgesetzt, stößt nun aber an ihre Grenzen.
Zudem ist kaum umstritten, daß der laizistische Öffentlichkeitsbegriff in der digitalen Welt von Internet-News, Portalen und Domains, Twitter und facebook hinfällig wurde. Die Aktivitäten des und im Internet können zwar für privat erklärt werden, doch ist das Gegenteil zugleich Realität: Das Zugleich von Privat und Öffentlich kulminiert. – Und diese Mixtur ist eine ganze andere als jene, die schon im 19. Jahrhundert unvermeidbar war als noch an einer verbindlich sein sollenden französischen Laizität in Politik und Gesetzgebung (besonders nach der Dreyfus-Affäre) heftig und reformintensiv gearbeitet wurde: eine Jahrhundertbaustelle der Revolution.
Manchem republikanischem Eiferer wird schon früh schmerzhaft aufgefallen sein, daß er im Land der weithin sichtbaren Pracht-Kathedralen der französischen Gotik eigentlich nach dem Radikalprinzip verfahren müßte: Nur abgerissene Kirchen sind gute Kirchen. Bis heute positioniert sich die kommunistische Seite der französischen Linken bisweilen leidenschaftlich gegen das liberale Verständnis von Laizität. Daß der Citoyen und Bourgeois auch noch als Kirchgänger und Anhänger des Syllabus errorum von 1864 sollte existenzfähig sein, ohne die Republik zu zerreißen, das war allerdings ein starkes Stück, das sich die Geschichte mit den in die Demokratie aufgebrochenen Franzosen erlaubte.
XIII. Der gordische Knoten Burkaverbot I
Doch ist es in unseren Tagen der Islam, der die moderne Demokratie der Ersten Welt zu einem neuen Offenbarungseid zwingt und das Dilemma der liberalen Auffassung von Laizität kulminieren und explodieren läßt. Und dies durch ein relativ kleines Kleidungsstück des Menschen, aber an bedeutsamer Stelle seines Körpers, und nicht zufällig des weiblichen, getragen: vor dessen (verhülltem) Gesicht. Wie andere Länder Europas zuvor, verbot auch Frankreich im April 2011 das öffentliche Tragen der islamischen Burka.
Ein Gesetz, daß zu einer gesamteuropäischen Diskussion führte, die mittlerweile wieder ad acta gelegt scheint, doch gilt auch und besonders in diesem Fall: aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Denn, um es kurz und unverblümt zu sagen: einige Nationen Europas sind für, andere Nationen gegen ein Burkaverbot, und angeblich sogar deren Verfassungen – nicht die üblichen öffentlichen Meinungsmacher der medialen Bühnen.
In vorauseilendem multikulturellen Gehorsam hat sich der Deutsche Bundestag durch ein juridisches Gutachten bestätigen lassen, daß ein Burka-Verbot in Deutschland verfassungswidrig wäre. Deutschland als Land der Vorkämpfer für eine zu gewährende „Burka-Freiheit“ – das erstaunt und doch auch wieder nicht, bedenkt man die vertrauten multikulturellen Kapriolen des deutschen Weltpazifismus, an dem neuerdings die ganze Welt soll genesen.
Nach Ansicht der multikulturellen Burka-Freiheits-Vorkämpfer werden durch ein Burka-Verbot die „grundlegenden Menschenrechte“ der Betroffenen – durchwegs muslimische Frauen – „mit Füßen getreten.“ (www.Burkaverbot.de – Der christliche Blog zur Kopftuch- und Burkadebatte) Die Logik dieses Denkens dürfte unfähig sein, das Sophisma eines unter Musliminnen beliebten Argumentes zu durschauen: „Wenn eine Frau die Freiheit hat, ihren Körper zu zeigen, warum soll sie nicht auch die Freiheit haben, ihn zu bedecken?“
Ist erst einmal das „grundlegende Menschenrecht“ auf Burka gesichert, steht einer Sicherung vieler anderer Rechte fremder Kulturen und Religionen nichts mehr im Wege. (Vielehe, Zwangsheirat, Ehrenmord, Steinigung, Beschneidung usf.) Auffällig, daß es oft Rechte sind, die die Menschenrechte der Frau in menschenverachtender Weise verletzen. Eine Verletzung, die aber in der Sicht westlicher Multikulturalisten und sogar westlicher Feministinnen als Gegenteil, als unverletzbares Recht auf Freiheit, umgedeutet wird.
Eine Verblendung westlicher Mentalität, die offensichtlich das Problemfeld Freiheit und Vernunft – Primärthema der Aufklärung des 18. Jahrhunderts – ausblendet, um nicht intolerant denken und entscheiden zu müssen. Warum soll die muslimische Frau nicht auch im Westen so leben wollen und dürfen, wie sie immer schon leben wollte und durfte? Und läßt sich somit der Begriff der Freiheit des Menschen (als Menschen, nicht als Angehöriger oder Abkömmling von Kulturen und Religionen), der den Menschenrechten zugrundeliegt, nicht in einem strikt entgegengesetzten Sinn deuten?
Und ist dies nicht der schlagende Beweis für die kulturelle Abhängigkeit der angeblichen Universalität universaler Menschenrechte? Beweist nicht die „freie“ und beliebige Anwendbarkeit, die willkürliche Instrumentalisierbarkeit der Menschenrechte deren Relativität und Partikularität, somit vielleicht auch deren insgeheime Agenda: Kolonisierung der ganzen Welt, aller Kulturen, aller Religionen im Auftrag einer „Zivilreligion“, die sich unberechtigt zum Lehrmeister der ganzen Menschheit aufspielt? Warum soll die Burka weniger frei sein als der Bikini?
An der Wehrlosigkeit des Multikulturalisten gegen die luzide Sophistik der islamistischen „Argumentation“ – nicht zufällig wurde das Schlagwort „Islamophobie“ öffentlichkeitstauglich – wird ersichtlich, daß der moderne Multikulturalismus lediglich auf dem Mist, nicht auf dem Saatfeld der modernen Aufklärung und ihrer rechtsstaatlichen Grundlagen gewachsen ist. Er mißversteht den aktuellen Prozeß der kulturellen Globalisierung der Menschheit als Projekt einer gleichberechtigten Vermischung aller Kulturen und Religionen und (Fausts Mephistopheles souffliert:) je fremd- und andersartiger, umso besser. Denn umso kühner und größer der utopische und friedliebende Aufklärungsgeist der multikulturalistischen Ideologie.
XIV. Der gordische Knoten Burkaverbot II
Nach Anzeige einer französischen Muslimin, die wegen öffentlichen Tragens der Burka mit einer Geldbuße bestraft wurde, muß sich nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der (europäischen) Rechtmäßigkeit des Gesetzes befassen. Dessen Große Kammer wird damit de jure, noch nicht de facto, auch die Burkaverbote in Belgien, Spanien und anderen Ländern der EU zur Diskussion stellen.
Erstaunlich wäre, würde sich der europäische Dissens in dieser Frage nicht auch im Gremium der Großen Kammer des Gerichtshofes wiederholen. Die hohe Versammlung ehrwürdiger Richter und Rechtsgelehrter wird also abstimmen müssen – in einer Frage, die nicht durch Abstimmung zu lösen ist: Ob es wahrhaft rechtens ist, in einer rechtsstaatlichen Demokratie mit vermummten Gesicht öffentlich zu wandeln und zu kommunizieren.
Angesichts dieser Dissens-Lage scheint es aussichtslos zu sein, daran zu erinnern, daß das Recht auf Freiheit nicht ohne moralische Pflichten, die zugleich soziale sein müssen, realisierbar ist. Die Pflicht, offen und frei zu kommunizieren, ist Voraussetzung der Gewährung eines Rechtes, das sozialisierbare Freiheit einklagbar macht. Widrigenfalls könnte jeder Bürger seine Art von Kommunikation rechtsverbindlich machen, sei es einzeln, sei es im Kollektiv.
Sich beispielsweise „schlagen“ zu müssen, nach Sitte gewisser Burschenschaften, kann nur innerhalb einer Parallelgesellschaft Ehre und Pflicht sein, Vereinigungen somit, die ihre Parcours und Kämpfe nicht öffentlich vollziehen dürfen. Indes sich der Wettbewerb des Fechtsports, – wie alle anderen Sportarten auch – in allen Demokratien großer öffentlicher und auch politikfreier Beliebtheit erfreuen darf, und auch mit allen einschlägigen Vermummungen, um Fechter und Fechterinnen, Eishockey- Football-Spieler, nicht vor drohenden Blicken, sondern vor Verletzungen zu schützen.
Wer unterstellt, ein freies Gesicht, ein menschliches Frei-Gesicht mit einem Burka(Nicht)Gesicht vergleichen oder gar beide als gleichberechtigte Äußerungen menschlicher Freiheit akzeptieren zu können, hat den totalitären (freiheitsvernichtenden) Sinn von Burka noch nicht erkannt und verstanden.
Und über das Fehlurteil, Burka und Freigesicht als gleichwertige Äußerungen der Freiheit und (moralischen) Vernunft des Menschen zu achten, freut sich zuerst der Islamist, der den westlichen Verteidiger der Burkafreiheit als nützlichen Idioten ins Arsenal der Appeaser aller Ungläubigen und Kreuzritter des Westens aufnehmen kann. Dabei seinerseits keineswegs von der Gleichheit aller Kulturen und Religionen, sondern wie selbstverständlich von der Überlegenheit seiner Religion und Kultur fanatisch überzeugt.
Ist es aber Frauen nicht moralisch geboten und sogar religiöse Pflicht, in gewissen islamischen Regionen die Burka zu tragen? Existieren nicht Regionen, die das Gewissen dieser Frauen – durch eine als göttlich verbriefte Pflicht – anhalten, sich den Blicken der öffentlichen Männerwelt zu entziehen? – Gewiß und ohne Zweifel; aber sind deshalb alle Pflichten aller Kulturen von gleicher moralischen und sittlichen Güte und Qualität?
Wer dies unterstellt, hat, wie schon erwähnt, den Sinn von Globalisierung und Verschmelzung der Kulturen, noch nicht verstanden. Er leugnet überdies, daß die Geschichte der Menschheit ein Ort und Weg des moralischen Fortschrittes sein soll und sein muß. Widrigenfalls „Fortschritt“ zur instrumentell-technischen Kategorie verkommt, die lediglich höhere geschichtliche Entwicklungsstandards der menschlichen Geschicklichkeiten (Kant) zu erkennen erlaubt.
Mit einem Plädoyer für ein Burkaverbot wird keineswegs geleugnet, daß für und in den Betroffenen eine schmerzhafte Pflichtenkollision vorliegen kann, schon weil die Dominanz des Mannes in der islamischen Moralkultur vorerst ungebrochen ist. (Die islamische Burka-Frau läßt ihr Gewissen nach dem Gewissen ihres Mannes entscheiden.)
Aber die Pflichtenkollision, der sich der Multikulturalist vermeintlich ausgesetzt sieht, nämlich zugleich den westlichen und den islamischen und anderen nichtwestlichen „Werten“ obliegen zu müssen, existiert nur in seinem verblendeten Denken. Er beurteilt die unvermeidliche Kollision der einander fremden „Werte“ als unnötige, als nur künstlich, durch westliche Intoleranz erzeugte Kollision. Er verweigert sich der Einsicht, daß unvermeidliche Kollision angesagt ist, wenn geschichtlich zurückgebliebene („steinzeitliche“) Pflichten mit modernen (rechtsstaatlichen)Pflichten „verschmelzen“ sollen.
Eine Verschmelzung, die eben nicht fordern kann, durch ein multikulturell-tolerantes Entgegenkommen das moderne Pflichtensystem mit vormodernen zu teilen und dadurch über den Haufen zu werfen. An die Stelle des modernen Rechtsstaates die Multiplität vieler und sehr verschiedener (multikultureller) „Rechtsstaaten“ in einem einzigen Staat (westlicher Demokratien) oder in einer einzigen Staatenverbindung (EU) von Demokratien verwirklichen zu wollen, ist selbstwidersprüchlich und daher ein unlösbares Problem: Aporie.
XV. Der gordische Knoten Burkaverbot III
Der moralische Kern des Gordischen Knotens Burka und Burkaverbot ist daher nur mit Alexanders Methode zu lösen. Ein Knoten, der zugleich auf den größeren und schwerwiegenderen verweist: Gewährung oder Verhinderung der Scharia als „demokratisches Grundrecht“ inmitten der rechtstaatlichen Demokratie. Diese ist vielfach (noch) unentschieden, welchen konkreten Gebrauch sie von ihrer Religionsfreiheit machen darf und machen soll, wenn eine Religion und Kultur erscheint, die just diese Religionsfreiheit zu ihren Gunsten, nicht aber zu rechtstaatlichen Gunsten auslegt und durchsetzt.
Ein Gegenargument wäre: die Burkafreiheit gewähren – nach dem Prinzip „steter Tropfen höhlt den Stein“ – aber mit der hinterlistigen Absicht, „steinzeitliche Sitten“ würden sich in der Lauge westlicher Freiheitswelt(en) über kurz oder lang ohnehin wie von selbst auflösen. Zu dieser Unehrlichkeit kann sich der wahre Multikulturalist gewiß nicht aufraffen, ist er doch ein überzeugter Täter seiner egalitären Überzeugung. Alle Ungleichen seien als Gleiche zu achten, weil das Recht auf Ungleichheit höher sei als das Menschenrecht auf eine Freiheit, die durch vernunftgezeugte Gesetze getragen und begrenzt wird.
Der innerste Kern des Gordischen Burka-Knotens gibt seine Zusammensetzung zu erkennen: Er ist vor- und untervernünftig zusammengesetzt, aber um dies anerkennen zu können, müßte der rigorose Islamist bereits keiner, ein anderer, ein vom westlichen Denken affizierter Moslem geworden sein. Daß dies längst sogar für die überwiegende Mehrheit der Moslems zutreffen mag, oft sogar in deren eigener Hemisphäre in der Zweiten Welt, ist aber kein Argument gegen das Faktum, daß Minderheiten, kraft ihres Fanatismus und ihrer falschen Wegrichtung, auch große Massen sogenannter Moderater verführen und hinter sich herziehen können.
Im Mai 2010 schickte sich Belgien an, als erstes Land der Ersten Welt ein Gesetz zu beschließen, das Menschen bestrafen sollte, die ihr Gesicht in der Öffentlichkeit verdecken und dadurch unerkennbar machen. Trägerinnen von Burka und Niqab, zwei islamische Frauengewänder, teilweise mit, teilweise ohne Augenschlitz, konnten demnach mit bis zu sieben Tagen Gefängnis bestraft werden. Die Diskussion um das sogenannte „Burkaverbot“, das auch andere öffentliche Vermummungen unter Strafe stellte, wurde intensiv und, wie einer rechtstaatlichen Demokratie würdig, ohne Verbot und Tabu geführt.
Amnesty International erklärte, das beabsichtigte Gesetz verstoße gegen die Menschenrechte, hauptsächlich gegen das Recht auf Religions- und Meinungsfreiheit. Und Human Rights Watch ergänzte, das Burkaverbot verletze die Freiheit der Frau, eine Kleidung ihrer Wahl wählen zu dürfen, und ob die Wahl aus freien Stücken oder unter Zwang erfolgt sei, wäre individuell zu prüfen.
An diese Argumentation und zuvor schon an die Praxis islamischer Frauen, die nun als „westliche muslimische Frauen sorglos eine Burka tragen“, stellte die Anthropologin und Arabistin Badra Djait, ehemalige Beraterin des flämischen Ministers für Integration, deren Eltern aus Algerien nach Belgien einwanderten, folgende Fragen. („Plädoyer für ein Burkaverbot in Belgien.“ – http://hpd.de/node/9478)
Erstens habe sie kein Verständnis für diese Frauen, die einerseits wissen, daß die Burka „ein international bekanntes Symbol aus Afghanistan“ ist, aber andererseits behaupten, die Burka habe mit der „Unterlegenheit und Unterdrückung“ der islamischen Frau nichts zu tun.
Zweitens frage sie sich, ob Amnesty International denn nicht wisse, daß „religiöse Fanatiker – besonders vor dem 11. September – politisches Asyl im Westen bekamen und ihren Kampf für einen religiösen Staat in ihrem Herkunftsland, unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit und des Rechts auf freie Meinungsäußerung fortsetzten?“ Sie habe den Eindruck, Amnesty International beschäftige sich lediglich mit einem „rein theoretischen ideologischen Kampf.“
Drittens frage sie sich, wie Human Rights Watch die „Wahlfreiheit der Frauen“ durch „individuelles Vorgehen“ zu schützen gedenkt. Soll die Regierung jede Niqab- oder Burka-Trägerin einer individuellen Befragung unterziehen? Mit welcher Erwartung auf welche Ja- und Nein-Antworten?
Kurz: in den Augen der Arabistin verdankt sich die Absurdität, das Tragen der Ganzkörperverhüllung als Beleg erfolgreich ausgeübter Menschenrechte, vornehmlich von Religions-, Meinungs- und Wahlfreiheit, anzunehmen und anzuerkennen, einem blindem Fleck im Auge der westlichen Menschenrechts-Organisationen. Also steht Auge gegen Auge, Argument gegen Argument, Begründung gegen Begründung.
Kann hier ein Zweifel sein darüber, welcher der beiden Kontrahenten die Realität sieht, richtig argumentiert, wahrhaft begründet? Was mag der Grund sein für die Blindheit des blinden Auges, für das Falsche der falschen Argumentation, für das Unwahre der unwahren Begründung?
XVI. Menschenrechte: unterbestimmt, überbestimmt, tatsächlich bestimmt
Offensichtlich sind Menschenrechte unterbestimmt, wenn sie als Freiheit zu meinen, zu tun und zu wählen, ‚was der freie Wille des freien Einzelmenschen will‘ bestimmt werden. Denn in dieser Bestimmung sind sie nach den Sitten und Gesetzen jeder Kultur und Religion nach deren „kommunitaristischen“ (kulturell-kollektiven) Prinzipien und Gesetzen interpretierbar, mögen diese noch so sehr die Freiheit des Menschen knebeln, das Gewissen vergewaltigen sowie Gemeinschaft und Gesellschaft kollektiver Heuchelei unterwerfen.
Wer die Menschenrechte als freie Meinungs- und Wahlfreiheit unterbestimmt, muß dem modernen FKK-Menschen denselben Freiheitswert wie dem muslimischen Burka-Menschen zubilligen. Und dies trifft unter der Prämissen dieser Logik tatsächlich zu: nicht weil „Les extremes se touchent“, sondern weil es gar keine Extreme geben kann, wenn Freiheit als Jenseits-von-Gut-und-Böse-Freiheit bestimmt wurde. Der FKK-Mensch sehnt sich nach einer (anderen, fremden) Freiheit, weil man ihn dazu manipuliert hat, die Unfreiheit des Klamottentragens für unerträglich zu halten. Die Burkafreie sehnt sich unter halb- oder ganz nackten Frauen, welche die libertäre westliche Kultur glaubt gewähren zu müssen, nach der Geborgenheit der Kultur ihrer Stammesmänner und -patriarchen, nach einem verbergenden Zelt samt Schlitz und Ausguck. – Moralität und Sittlichkeit lassen sich nur scheinbar betrügen; ihr Anteil an wirklicher Freiheit und begründeter Vernunft sollte uns nicht unbekannt sein.
Sollten sich daher westliche Menschenrechts-Organisationen beispielsweise für ein Verbot der Auspeitschung in islamischen Ländern einsetzen, könnten sie dies nur dann widerspruchsfrei unternehmen, wenn sie zuvor schon das reale Leben menschlicher Freiheit unter den Bedingungen der jeweils aktuell realisierten Dialektik von (in westlichen Begriffen formuliert) „Individualismus und Kommunitarismus“ anerkannt und erkannt hätten: Als vormoderne Rechtslage, die mit der ethischen Lage der Menschenrechte unvereinbar ist, auch dann, wenn ein Bestrafter die freie Meinung wählt, er verdiene, was ihm sein Bestrafer antun müsse.
XVII. Epilog: „Äpfel und Birnen“
Aus welchen „freien Stücken“ wählt die Burka- und Niqab-Trägerin das Kleidungsstück ihrer freien Wahl? Diese Frage, nicht durch „Befragen“ der Trägerinnen, sondern durch Reflexion auf die Gründe und Ursachen der „freien Wahl“ zu beantworten, müßte unmittelbar (den blinden Fleck) heilen und erleuchten. Denn erst in der Ersten Welt angekommen, kann diese Frage zu einer sinnvollen Freiheits- und Wahlfrage werden – weil erst hier den besagten Trägerinnen unterstellt werden kann, sie würden im Geist westlicher Freiheit, womöglich als „Märtyrerinnen“ der Menschenrechte, agieren.
Daß sich jene, die sich für eine Zulassung der öffentlichen Ganzkörperverschleierung unter Berufung auf die Freiheit der Menschenrechte einsetzen, von ihrem Fehlargument gleichsam über den Tisch ziehen lassen und in die Falle einer falsche Prämisse und Voraussetzung gehen, wird auch an den Sekundärargumenten ersichtlich, die häufig und scheinbar unwiderlegbar vorgebracht werden.
Ein Burkaverbot lohne sich nicht, weil die Zahl der Trägerinnen verschwindend sei, sie soll in Frankreich aktuell bei 2000 liegen. Demnach hätten Gesetze, einmal erlassen und entsprechende Sitten und Praxen auslösend, keine Vorbildwirkung? Gilt demnach die multikulturelle Gutmenschen-Annahme, daß die Zahl der Burkaträgerinnen sinken würde, wenn es kein Burkaverbot gibt? Dieser Ansicht dürften sich wohl nur naive Gemüter anschließen, in Unkenntnis oder Verdrängung der islamischen Binnenrealität, nicht nur jener zwischen Mann und Frau, sondern vor allem jener globalen Bewegung, die zur Fundamentalisierung des Islams geführt hat.
„Kein Humanist“ wendete Caroline Fourest daher zu Recht ein, dürfe das beabsichtige Burkaverbot durch „den Vorwand relativieren, daß es nur einige Tausend solcher Fälle in Frankreich gibt.“ Denn eine Gesetzeslage, die bei 2000 Fällen noch überschaubar, wenn auch „kompliziert“ sei, könnte bei 20.000 Fällen „unhaltbar“ werden. Ähnlich wie die moderne Sklaverei, trotz nur einiger Tausend Fälle in Europa, bekämpft werden müsse, müsse auch eine archaisch-vormoderne Ganzkörperverschleierung, die aus anderen Kulturen importiert wurde, in der Öffentlichkeit Europas verhindert werden.
Ein zweites Sekundärargument lautet: das öffentliche Tragen von Burka und Niqab werde in der Kultur des Islams nur von einer Minderheit praktiziert. Schon dadurch sei bewiesen, daß es „den Islam“ erstens gar nicht gibt, und die reiche und bunte Vielfalt islamischer Richtungen und Kulturen beweise zweitens, daß der Islam längst schon multikulturelle Vielfalt gewähre und daher auch fähig sei, in den Club des globalen Welt-Multikulturalismus aufgenommen zu werden.
Das Vielfalts-Argument wird besonders gern von deutschen Multikulturalisten vorgebracht. Auch angesichts der unterschiedlichen Kulturlage der Moslems in England und Frankreich dürfe man nicht „Äpfel und Birnen“ vergleichen. (Quelle: „Äpfel und Birnen“ vom 4.Juni 2013 auf: www.Burkaverbot.de – Der christliche Blog zur Kopftuch- und Burkadebatte)
Zwar habe der amerikanische Soziologe David Jacobson („Die Stellung der Frau ist der Lackmustest für jede Gesellschaft“) in einer vergleichenden Untersuchung festgestellt, daß die tolerante Haltung Großbritanniens in der Burka-Frage ungünstige Auswirkungen auf Ausbildung und Berufslaufbahn der islamischen Frauen habe. Die „strenge Haltung“ Frankreichs hingegen führe dazu, daß sich die Migranten rascher an ihr Gastland anpaßten, „was vor allem für Frauen ein ungeheurer Vorteil“ sei.
Nichtsdestotrotz müsse man doch sehen, erklärt der deutsche Blogger des „christlichen Blogs zur Kopftuch- und Burkadebatte“, daß die „Lebenswelten britischer und französischer Muslimas“ unterschiedlich sind, weil die Verschleierungssitten in diesen Gastländern differieren. Außerdem kämen die Muslima aus Ländern, die „zwar die Religion gemeinsam haben,“ aber „sonst nur wenige Gemeinsamkeiten aufweisen.“ Wer daher Frankreich mit Großbritanniens Musliminnen vergleiche, „der vergleicht Äpfel mit Birnen“. Ironisch ließe sich anmerken: dennoch haben Äpfel und Birnen ein gemeinsames Kulturzentrum namens Obst.
In solchen Argumenten, die alles Vergleichen von Unterschieden unter Tabu stellen wollen, um die heilige Vielfalt anzubeten, ist die biedere Naivität des westlichen Multikulturalismus mit Händen zu greifen. Sie gleicht einer Obsession, einer Leidenschaft, einer rasenden Überzeugung – das Defizit eines Vorurteils wird durch emotionale Motivationskraft ersetzt. Ein Vorurteil, das mit den in der islamischen Welt überaus beliebten und überaus beredt vorgebrachten kasuistischen Ablenkungsargumenten aufs Beste harmoniert.
November 2013