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16 Europas Reinfall

  (Februar 2003)

 

I. Europas Irrtum

 

Wie konnte es geschehen, daß Europas Intellektuelle und Europas Kleiner Mann von der Straße neuerdings die USA zum Feind der Menschheit Nummer Eins und zur größten Gefahr für den Weltfrieden erklären? Eine Erklärung und Beschuldigung, die man bisher gewohnt war, als politische Standard-Liturgie der Zweiten Welt, als geheimverschwörungslogisch gestütztes Basisvorurteil der islamischen und vor allem arabischen Staaten hinzunehmen?

Die Erklärung dieser mentalen Veränderung Europas ist ebenso einfach wie bestürzend: eine katastrophale Verkennung des welthistorischen Jahres 1989. Die basale Mißdeutung lautet: weil die USA seit 1989 zur führenden Weltmacht aufgestiegen sind, wären sie nicht nur der gefährlichen Versuchung ausgesetzt, sondern ihr bereits erlegen, zur bösesten Macht aller Weltmächte aufsteigen und abermals als imperiale Kolonialmacht agieren zu müssen, – und diesmal ärger als vor 1914, weil diesmal weltweit und ohne nennenswerten Widerstand, weil diesmal kolossal bewaffnet und global stationiert. Dem Unheil der amerikanischen Gefahr und seiner Entwicklung müsse daher ein Europa entgegentreten, das sich als erklärte Friedensweltmacht zu profilieren habe, indem es erstens dem großen Schurken Einhalt gebietet und indem es zweitens den großen multikulturellen Frieden, der angeblich beinahe schon weltweit reüssiere, durch einen multikulturellen Minimalkonsens zu bewahren sucht.

Weil dieses friedliebende Europa jedoch zugleich die Abschaffung von Armut, Elend und Ungerechtigkeit für die ganze Menschheit, für die Erste, Zweite und Dritte Welt einfordert, muß es sich fragen lassen, wie und warum dies eigentlich geschehen soll. Denn die Forderung nach einer globalen Weltgerechtigkeit wird offensichtlich durch die voreilige Ausrufung eines multikulturellen Weltfriedens torpediert, wenn Armut, Elend und Ungerechtigkeit weiterhin weltweit reüssieren. Daß auch dem denkenden Teil der Europäer dieser Selbstwiderspruch zumeist verborgen bleibt, gründet in der Ausblendung der demokratie-politischen Dimension des gegenwärtigen Menschheitsproblems.

Während sich heute ein neues Europa im Namen von Demokratie und Kapitalismus zu einer erstmals wirklichen Einheit vereinigt, wird aus identitätsbildenden Gründen vergessen, daß diese Vereinigung nur möglich wurde und ist durch die von den USA ermöglichte Überwindung von Faschismus und Kommunismus. Eine fremde Ermöglichung durch einen (halb)fremden Ermöglicher, die ebenso am Selbstbewußtsein der Europäer zehrt wie das Jahr 1989, mit dem endgültig weder für die rechtshegelianische (nationalistische) noch für die linkshegelianische (real-sozialistische), sondern eindeutig für die neuhegelianische (demokratie-kapitalistische) Deutung und Führung der Weltgeschichte entschieden wurde. Drei Wunden, die sowohl am links- wie rechtsdenkenden Europäer nagen, und dies erklärt, weshalb sowohl die rechten wie auch die linken Groß- und Kleindenker Europas bis heute auf dem demokratischen Auge blind sind; – insbesondere, wenn es nun seit 1989 um eine weltgeschichtlich anstehende Globalisierung der Demokratie zu tun ist; obwohl der entstehende europäische Demokrat von heute natürlich nicht mehr so verhängnisvoll demokratieblind sein kann wie sein kontinentaler Vorgänger in den traumatischen Tagen der Weimarer Republik; ein sinistrer Vorvater, der die angeblich geistlose Zivilisationskultur der westlichen Staaten Europas und der USA im Namen einer höheren deutschen Geisteskultur verachtete und zu bekämpfen trachtete.

Weil nun nach 1989 weder das linkssozialistische noch das rechtsnationale Europa neue Prinzipien seiner verwirkten Schatztruhe entnehmen und weiterentwickeln kann – denn am Horizont der Geschichte zeigen sich keine Alternativen zu Demokratie und Kapitalismus, zu säkularer Freiheit und gesellschaftlicher Total-Differenzierung – so verbleibt der rechten europäischen Reichshälfte nur mehr die Pflege unerheblicher Nostalgien an Nationalstolz und Monarchieglanz, der linken europäischen Reichshälfte hingegen auf weltgeschichtlicher Ebene neben einer unverbindlichen Rhetorik globaler Friedensappelle nur mehr jener bestechend einfache Gedanke, daß die nun verbliebene größte Weltmacht per se auch die böseste sein müsse, weil immer schon das Mächtigste das Böseste war, – nochmals vor seiner Verabschiedung meldet sich der weltpubertär eingewöhnte linksautoritäre Reflex des linksantiautoritären Verhaltens.

In der Sicht der europäischen Nationalrechten hat weltgeschichtlich eine unmögliche Nation – Amerikaner –   in der Sicht der europäischen Linken ein Raubtierkapitalismus einer Weltmacht gesiegt – Washington und Wallstreet als neues Rom – vor der es die ganze Welt zu behüten und zu bewahren gilt. (Der Weimarer Anti-Demokratie-Reflex in neuer, in europäisierter Auflage.) Die böseste Weltmacht mit der bösesten aller Ökonomien: was haben wir armen Europäer angestellt, womit haben wir das verdient? Endlich könnten wir in ewigem Frieden leben, und schon wieder finden wir keine Ruhe unterm schönen Himmelsdach. Wer kann die friedliebende Menschheit vor dem anrückenden Moloch USA retten? Und wer wagt hier nochmals von einem Versagen Europas auf dem Balkan im letzten Dezennium des 20. Jahrhunderts zu berichten.

 

II. Europas black-out

 

Zur Erinnerung: 1917, 1945, 1989 und vorläufig 2001 markieren die Wendepunkte der Identität von USA; aus einer weltkriegseingebundenen Völkerbund-Macht wird nach 1945 im sogenannten Kalten Krieg eine tapfer beharrende polare Weltmacht, die dem kommunistischen Imperium hilft, friedlich zu implodieren. 1989 erfolgt mit der verfrühten Ausrufung vom Ende der Geschichte auch noch die einer Neuen Weltordnung, weil angeblich die Demokratie bereits „weltweit“ gesiegt habe. Die Zweite Welt ist offensichtlich noch nicht würdig, als erstes und dringliches Problem der Ersten und der ganzen Welt erkannt zu werden, denn noch wiegt man sich in der Wolke des naiven Irrtums, sogleich nach Lösung des vermeintlichen Kernproblems– Israel-Palästina – wären die übrigen Probleme der Region – lauter friedliebende Staaten und Regenten – leicht zu lösen. Und an der eigenen Tankstelle zu zündeln, kann nicht im Interesse der Kunden liegen.

Da nach 1945 mittlerweile zwei Drittel aller Staaten sowohl die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 wie auch die beiden Internationalen Pakte über bürgerliche und politische sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 unterzeichnet haben, liegt die Idee einer Pax humana seither immerhin auf dem Schreibtisch der Menschheit, jedoch keineswegs auch schon in der Realität aller Regionen und Länder auf deren Lebenstisch. (Die beiden islamischen Erklärungen zu den Menschenrechten – 1981 und 1990 – weichen von den internationalen Menschenrechtsnormen vorerst noch erheblich ab.)

Fragen wir die Zweite Welt, warum sie seit dem Zweiten Weltkrieg mit dieser internationalen Mutter aller Projekte kein Kind in ihrer Zentralregion zu zeugen vermochte, hören wir die reflexartig gegebene Antwort: Weil die westlichen Schutzmächte Israels die Ungerechtigkeit der einstigen Kolonialmächte – vornehmlich England und Frankreich – nur fortsetzten, ja auf die Spitze trieben. Daher lohne sich die Zeugung einer arabisch oder islamisch verankerten Pax humana erst, wenn die Erste Welt und vor allem ihr aktueller Hegemon – USA – seine Politik radikal ändere und alle Staaten der chronisch auffälligen Region auf gleicher Ebene mit gleicher Achtung und Anerkennung behandle.
Ebendies ist jedoch für den aktuellen Hegemon der Ersten Welt ganz und gar unmöglich, – aus drei unaufgebbaren Gründen: a) Holocaust und Gulag b) Demokratie, c) jüdische Identität in beiden Staaten. Auf der anderen Seite ist es für die Zweite Welt und ihre arabische Zentralregion gleichfalls unmöglich zu akzeptieren, daß die angeführten drei Unbedingtheits-Gründe für die Erste Welt unaufgebbar sein sollen. Denn die Forderung nach Gleichbehandlung der Zweiten Welt in ihrem aktuellen islamischen Zustand ist für die Zweite Welt ebenso unaufgebbar. Diese Kollision ergibt die entscheidende Frage: Was tun?

Die Geschichte offeriert zwei Wege: (1) Die Erste Welt hat die Zweite Welt zu überzeugen, daß die vor allem im arabischen Raum bezeugte Unfähigkeit, die für einen künftigen Weltfrieden erforderliche Stabilität zu erreichen, eindeutig zu Lasten der Zweiten Welt geht, obwohl diese Belastung durch den Druck der Ersten Welt ausgelöst wurde. Weil aber dieser Druck der Ersten Welt durch den Druck der Geschichte auf die Erste Welt selbst gerechtfertigt und unhintergehbar ist, muß die Erste Welt ihre Prinzipien auch in der Zweiten Welt, zugleich jedoch als deren künftig eigene, setzen und durchsetzen. Wie kann B von A überzeugt werden, einer von A werden zu müssen, weil auch A schon längst auf dem Wege ist, einer von C werden zu müssen? Daß es folglich nicht um eine Pax americana, sondern um eine globale Pax humana geht?

Im aktuellen Kollisionsfall scheint es ganz und gar unmöglich, diese Überzeugungsarbeit jemals leisten zu können, weil die als beleidigend empfundenen Eingriffe der Ersten in die Zweite Welt – praktiziert seit der kolonialen Neuordnung der arabischen Konkursmasse des osmanischen Reiches – unzählige gewesen sind und immer noch sind, und folglich auf diesem Weg einer fremden Befreiung durch Fremde nicht soll weiterverfahren werden. Um nur eines von vielen Beispielen zu nennen: die Erfindung und Inthronisation eines Königreiches Jordanien, um zwischen Arabern und Juden einen Pufferstaat einzuschieben. Also war hier nicht ein einziger, der Gutes tat, außer dem einzigen „guten Europäer“: Lawrence von Arabien…

Das Argument der arabischen Zweiten Welt, das ungezeugte Kind gehe zu Lasten der Ersten Welt, wäre nur stichhältig, wenn die arabische Welt aus sich heraus wirklich fähig gewesen wäre, im abgelaufenen halben Jahrhundert neue oder alte Prinzipien so zu setzen und durchzusetzen, daß eine reale Pax arabia in der gesamten Region hätte das Licht der Welt erblicken können. In der Geschichte wird die Geschichtsmächtigkeit von weltpolitischen Prinzipien nur durch deren Institutionalisierbarkeit bewiesen, – nicht durch menschen- oder diktatorenfreundliche Rhetorik und nicht durch übermenschlichen Willen zur Macht.

Zur Erinnerung: eine Pax arabia wurde unterm sozialistischen Panarabismus Nassers, unterm nationalistischen Panarabismus Gadaffis, Saddams und anderer versucht, – zentrale Beispiele, die beweisen, daß für die Zweite Welt nach 1945 nur der Griff in die Schatztruhe der abgelaufenen alteuropäischen Prinzipien (Kommunismus, Nationalismus) verblieb. Die Stunde dieser Griffe und Versuche ist abgelaufen.

Folglich scheint aber die Geschichte noch einen (2) zweiten Weg als exakten Gegenweg des ersten Weges zu offerieren: Da die Rückgriffe auf die Schatztruhe der Ersten Welt mißglückten und mißglücken mußten, könnten oder müßten nunmehr die Rückgriffe in die Schatztruhe des Islam die erhoffte Lösung aller ungelösten Probleme erbringen. Diese neualte Schatztruhe könnte ganz andere Prinzipien bergen, alte als zugleich neue, fundamentale als zugleich fundamental erneuerbare Prinzipien, die imstande wären, die islamischen und arabischen Regionen nicht nur zu stabilisieren, sondern zugleich als globale Weltmächte aufzurichten, um sie der entstehenden Vereinigten Menschheit als multikulturell gleichberechtigte Partner einzugliedern. Neben den Weltmächten der USA, EU, ASEAN, MERCOSUR, GUS, OAU usf. könnte beispielsweise die islamisch globalisierte Macht der Staaten des Golf-Kooperationsrates eine ganz andere USA – United States of Arabia – in die künftige Welt setzen, um endlich Rache für das von den Schurken der Ersten Welt zugefügte Unrecht zu üben. Ein erneuerter Islam als neue Waffe der Zweiten Welt, um der Ersten und den USA die Stelle des Welthegemons zu bestreiten, – nach Abdankung des Kommunismus kein unschlauer Gedanke, – und Allah ist groß.

Zwischen diesen beiden Hauptwegen finden wir im gegenwärtigen Interregnum alle Zwischenwege, die unsere alltägliche Realität von Weltgeschichte so vielfältig und scheinbar unübersichtlich gestalten, – vom Amerikaner und Europäer, der zum Islam konvertiert, bis zum Moslem, der in Europa einen EU-Islam zu leben versucht; vom europäischen Grünling, der vor jedem Krieg vorher wissen möchte, ob er auch gut ausgehen wird, bis zum islamischen Terror-Netz, das entschlossen und global zum großen Befreiungsschlag oder zum letzten Gefecht ausrückt.

Die weltpolitische Provinzialisierung Europas – schon seit 1945 – zeigt sich beschämend an seinen Sisyphos-Versuchen, in den Zentralregionen der Zweiten Welt stets neue Friedenspläne, stets neue provisorische Friedensaktivitäten, stets wieder halbherzig geführte Befriedungsprogramme ins Leben zu rufen und anzufangen, um sie zumeist auf halbem Wege wieder aufzugeben, weil wieder einmal ein Krieg die ganze Region lahmgelegt hat, weil wieder einmal ein Land ein anderes überfallen hat, weil wieder einmal eine Herrscherclique von deren Nachfolgerclique weggeputscht wurde. – Und ebenso natürlich wie verständig weiß der europäische Grünschnabel, was und wer letztlich und erstlich hinter dieser Misere steckt: der große Schurke mit seiner unerschöpflichen Gier nach allem, was ihm noch nicht gehört.

 

III.       Europas Spiel

 

Um sich zu erklären, was weltpolitisch heute wirklich und eigentlich geschieht, hat sich Europa ein Gesellschaftsspiel ausgedacht, das sich jederzeit und überall spielen läßt, und da es von Erwachsenen gespielt wird, ist es natürlich kein Spiel, sondern die ernsthafte Realität der heutigen weltpolitischen Wirklichkeit von Europa. Dieses Wirklichkeitsspiel wird zumindest von fünf Teilnehmern in drei Runden zu fünf Durchgängen – fünf Teilnehmer in drei Runden zu fünf Durchgängen – gespielt und verwirklicht, und als Beobachter an diesem Wirklichkeitsspiel teilzunehmen, bedeutet selbstverständlich, mitgespielt und mitverwirklicht zu werden.

Die erste Runde beginnt, indem der erste Teilnehmer seine Karte auf den Tisch legt: „Öl“ steht bedeutungsschwer auf ihr geschrieben, denn es ist das „Öl“, worum es wirklich und eigentlich geht, und zwar eigentlich immer schon und bis auf weiteres immer nur. In einer lückenlosen Beweisführung wird mit leidenschaftlich anschaulicher Rhetorik unwiderlegbar vorgeführt, daß die Superindustrie einer Supermacht ohne das Öl der Zweiten Welt nicht existenzfähig ist. Und wer das nicht begreift, dessen Verstand ist nicht mehr zu retten. Wie dankbar sind wir für diese Erleuchtung; denn endlich wissen wir nun nicht nur, worum es wirklich und eigentlich geht, sondern auch darum, daß der große Schurke insgeheim zu bemitleiden ist, denn eine Nation, die ständig nach dem Geruch von Öl rund um die Erde herum ausschnüffeln muß, verdient nicht, als führende Kulturnation der heutigen und künftigen Menschheit anerkannt zu werden.

Zufrieden und behaglich lehnen wir uns zurück, denn wir Glückliche wissen nun, worum es eigentlich und wirklich geht. Doch unser auserwähltes Glück ist von kurzer Dauer, denn schon hebt der zweite Teilnehmer seine Karte und teilt uns mit, etwas noch Eigentlicheres und Wirklicheres stehe hinter dem aktuellen Geschehen der Wirklichkeit: die Welt der „Waffen“. Es sei kinderleicht und sonnenklar nachzuweisen, daß der waffenindustrielle Komplex auch diesmal wieder einen Krieg benötige, um erstens seine Produktion gewinnbringend in Schwung zu halten und zweitens den heißen Wunsch der Generäle und Soldaten, die neuesten Waffen sieg- und erkenntnisbringend auszuprobieren, nicht allzulange frustrierend abzukühlen. Irgendwann und irgendwo muß stets wieder einmal Krieg sein, damit die hohen und kleinen Herren der Waffenliebe ihr Waffenspiel spielen können, – und eben jetzt ist es wieder einmal soweit. Dank restlos überzeugender Waffen-Argumente sind wir abermals restlos überzeugt und sonnen uns in unserem Glück, endlich zu wissen, worum es eigentlich und wirklich geht.

Aber auch dieses unser neues Glück währt nur kurz, denn schon beginnt die dritte Séance-Runde, und der dritte Kartenbesitzer legt seine Karte mit noch bedeutsamerer Miene auf den Tisch. Erstaunt und verwirrt lesen wir ein merkwürdig banales Wort: „Amerikanische Innenpolitik“. Dieser Schwenk von den soeben mit virtuoser Genauigkeit und erlauchter Geheimnisstimme vorgeführten Gründen – die Welt des Öls und der Waffen – zu dem nun vorgeführten neuen letzten Grund erscheint uns zunächst wie ein komödiantischer Schwank, der uns mit den ewigen Machenschaften von Verwechslung und Intrige auf der ewigen Theaterbühne hinters Licht möchte. Aber schon nach wenigen Argumenten sehen wir klar und klarer: es ist das große Land überm großen Teich, in dessen Innenpolitik der weltpolitische Hund begraben liegt. Eine Innenpolitik, die so krank wie keine sonst auf der weiten Welt daniederliegt und daher ständig darauf sinnen muß, von sich selbst und ihren todgefährlichen Seuchen und Verwüstungen, ihren Verwirrtheiten und Sklerosen abzulenken. Kaum ist eine neue Regierung an der Macht, schon sucht sie nach einem neuen Außenfeind, um die bellenden und beißenden Innenfeinde von sich abzuhalten; oder sie schiebt vor, die offenen Rechnungen der Vorregierungen mit den vorigen Außenfeinden – mit den stets wechselnden Sparring-Partnern rund um die Welt – partout jetzt und partout dort, begleichen zu müssen.

Eine Weil-Daher-Logik von bestechender Stimmigkeit fällt über uns her, und schon bald erfahren wir uns abermals als restlos Überzeugte: weil drüben drohende Wahlen, drunten Krieg; weil drüben neue oder keine Steuern, drunten Krieg; weil drüben ein zu vertuschender Skandal, drunten Krieg; weil drüben ein neuer Feind dringend benötigt, drunten soeben gefunden. Das nächste Duell des regierenden Sohns des nur halbsiegreich pensionierten Vaters ist daher diesmal zwischen Euphrat und Tigris anberaumt worden, – für Zwölf Uhr Mittag nach Ablauf des Ultimatums eines allerdings ziemlich machtlosen UN-Sheriffs im wildöstlichen UN-Dorf: denn gleichgültig ob dieser vorerst noch kümmerliche Welt-Sheriff resolutionieren wird oder nicht, das spannende Duell muß und wird über die Bühne gehen, der innenpolitisch bestellte und außenpolitisch inszenierte Film muß vorgeführt werden.

Die Schwere seiner Pflicht, uns abermals restlos Aufgeklärte abermals trennen und verabschieden zu müssen von unserem befreienden Glück, in einem alles durchschauenden Wissen baden zu können, steht dem vierten Kartenbesitzer düster ins Gesicht geschrieben. Er bedauert geradezu, uns mitteilen zu müssen, daß etwas noch viel Ärgeres und Böseres, etwas noch von viel Eigentlicheres und Wirklicheres hinter der aktuellen weltpolitischen Wirklichkeit steht. Wir müssten uns unausweichlich mit der abgrundtief schaurigen Einsicht vertraut machen, daß der Hegemon überm großen Teich in seinem prächtigen Kapitals- und Kapitols-Palast längst beschlossen habe, ein globales Imperium zu begründen. Sätze, die von geradezu übergeschichtlicher Wahrheitsliebe triefen, treffen und durchbohren nun unser altneueuropäisches Herz. – Kostproben gefällig? „Es ist eine Tatsache, daß seit dem Römischen Reich kein Land kulturell, ökonomisch, technologisch und militärisch so dominierend gewesen ist wie die USA heute.“ Oder noch köstlicher: „Die Arroganz der Weltmacht gibt Antwort auf jede Frage“. Oder noch köstlicher: „Schamlos stellt sich die Weltmacht dar und gemeingefährlich in ihrer Hybris. Der gegenwärtige Präsident der USA gibt dieser Gemeingefährlichkeit Ausdruck.“

Erstmals beginnen wir zu begreifen, weshalb man uns seit Jahrzehnten mit McDonald’s und Coca-Cola den Bauch vollgestopft und mittels CNN, MTV und Hollywood den Geist ausgehöhlt hat. Ein freies und frei vereinigtes Europa? Nein, das wird nichts mit uns, ein Schicksal als Vasallen und Sattrappen steht uns bevor, der Ami haut uns als appetitliche Ländereien in die Pfanne seiner Begehrlichkeiten. Vielleicht schon bald wird er Mecklenburg-Vorpommern und Kärnten, Berlin-Brandenburg und den Kanton Uri mit seinen Gouverneuren und Divisionen besetzen und befrieden. Was für eine trostlose Zukunft. Die denkbar tiefste Erwartungsdepression unseres politischen Lebens überflutet uns; aber vielleicht ebendaher meldet sich mitten in ihr die tröstende und rettende Stimme: haben wir altehrwürdige und friedensliebende Völker nicht sogar Hitler und Stalin überlebt, wer immer dieses Wir auch sein mag? Werden wir folglich mit unseren neureichen Vettern aus der großen Fremde, wenn sie sich bei uns daheim als einfältige Welteroberer aufspielen, nicht gleichfalls fertig werden? Umsomehr und leichter, da unsere einfältigen Vettern eigentlich und wirklich doch nur einem unwiderstehlichen Besitzdrang zum globalen Opfer gefallen sind? Sie werden schon nicht wie die Kannibalen hausen…

Ärgeres und Eigentlicheres, Wirklicheres und Dahinterstehenderes kann uns nun aber nicht mehr blühen, und dennoch schwanken wir zwischen Erleichterung und Ungewißheit hin und her, denn der fünfte Kartenbesitzer verharrt unbeweglich und in sich versunken am Tisch, – was mag er führen im Schild seiner Karte? Womit könnte er uns jetzt noch belehren und bekehren? Ist er vielleicht nur ein Beobachter wie wir selbst am großen Tisch der Wissenden und Mitwissenden, der Mitdenker und Mitläufer; wird er sogleich das Ergebnis seiner Beobachtungen preisgeben? Viermal hat man uns nun bereits erfolgreich séanciert, eigentlich und wirklich kann uns gar nichts mehr passieren; wir sind bereit, überallhin mitzudenken und mitzuschauen, überallhin mitzugehen und mitzuhängen.

Wie eine intellektuelle Bombe platzt seine Offenbarung über den Tisch: sie ist schwer zu verstehen und birgt offensichtlich ein tiefes Geheimnis. Denn ein anderes Etwas stehe noch dahinter, das aber zugleich kein anderes Etwas mehr sei. Das sagt er, ohne zu erröten und ohne sich unter den Teppichboden zu verdünnen; er sagt klipp und klar: eigentlich und wirklich sei nur „alles zusammen“ der eigentliche und letzte Grund dessen, was wirklich und eigentlich geschieht. Jetzt aber steht uns der Mund offen, denn jetzt wissen wir entweder wirklich alles oder wirklich wieder nichts. Unzählige Fragen drängen stürmisch aus unserem viermal séancierten Unbewußten nach oben und fragen wirr durcheinander: wie und warum: „nur alles zusammen?“ Welches Warum und welches Wozu steht hinter diesem „Alles-Zusammen“ das nun unser letztes Dahinterstehendes sein soll, hinter dem daher kein weiteres Warum und Wozu mehr dahinterstehen soll können? Wie soll das gehen, wie soll das geschehen, wer oder was spannt unsere hübschen vier Pferdchen, auf denen wir soeben noch dachten und planten, allwissend durch die gefährliche Wildnis der Gegenwart reiten zu können, zu einem einig geführten Gespann zusammen?

An dieser Stelle muß die zweite Runde des Wirklichkeitsspiels eröffnet werden: denn der geheimnisvolle Meister des „Alles-Zusammen“ verweigert beharrlich und aus gutem Grund eine voreilige, gar genaue Antwort auf die Frage nach dem genauen Wie und Warum des „Alles-Zusammen“; und indem er uns an die Welt des aufgeschriebenen oder sonstwie festgehaltenen Wissens über die Gründe aller Gründe verweist, hat er uns zugleich nur an uns selbst, an unser eigenes Fragen und Forschen, unser eigenes Studieren und Verstehen der Quellen aller Quellen verwiesen. Daher werden nun alle Stufen des Spiels nochmals durchgespielt, jetzt aber unter der kollektiven Zwangsverpflichtung einer umfassenden Informations- und Bildungsbildung: Wer über Öl, Waffen, kranke Innenpolitik und imperiale Machtpolitik wirklich Bescheid wissen wolle, der müsse „unbedingt“ folgende Bücher lesen, „unbedingt“ folgende Filme sehen und „unbedingt“ folgende Berichte hören. In ihnen stehe, in ihnen werde gezeigt, was den Eingeweihten einweihe, was den Wissenden wissend mache, und daher wissen wir nun jedenfalls so viel, daß das Gerede von einer europäischen Bildungskatastrophe verfrüht war, vermutlich bereits das Werk eingeschleuster CIA-Agenten. Vorsicht ist geboten an jeder Ecke, sie sei gebildet oder nicht, sie glaube an den mittelalterlichen Autoritätsbeweis durch Buchlektüre oder nicht.

(Der Wunsch, die Sehnsucht, das dumpfe Ahnen, es könnte und müßte –nicht ein „eigentlicher“ und „wirklicher“ – , sondern ein absolut gegründeter, ein wirklich ‚unbedingter’ Zweck- und Sinngrund in der aktuellen weltpolitischen Wirklichkeit vorhanden und tätig sein – sie könne doch nicht verrückt und Verrückten überantwortet sein – ein Zweckgrund, der nicht mit den stets nur bedingten und bedingenden Gründen der Mittel verwechselt werden darf – Öl, Waffen, Innenpolitik, Machtpolitik – weil diese stets nur den unbedingten Zweckgrund auszuführen haben, – dieser Wunsch, diese Sehnsucht, dieses dumpfe Ahnen ist in den Gemütern wohl noch da, – es taucht wie träumend und unbemerkt in dem Appell, etwas „unbedingt“ lesen und sehen zu müssen aus seinem verwirrten Denken auf, – aber das Denken der rechten und linken Groß- und Kleindenker Europas, das die aktuelle Wirklichkeit in der Relation ihrer Zwecke und Mittel ohne deren Verwechslung bestimmt denken sollte, liegt sklerotisch danieder. – Letzte Gründe gefällig? A) die Welt der Mittel differenziert sich unendlich, um sich endlos mit sich selbst zu multiplizieren; jedes Mittel kann für alle anderen und für das Ganze, für das „alles zusammen“, als letzter Zweck behauptet werden. B) Die provinzialisierende Entfernung Europas von der durch die aktuelle Weltgeschichte führenden Weltmacht erzeugt ein Vorurteils-System von theoretischen und praktischen Minderwertigkeiten und Eifersüchten. Aber noch ist Europa nicht eine neue Zweite Welt.)

Fehlt noch die dritte Runde; war die erste die einführende Bekehrungs-Runde, die zweite die hintergründige Allwissens-Runde, so erfolgt in der dritten Runde die eigentliche Krönung des ganzen Wirklichkeitsspiels: die durchdringende Personalisierung und Prominentisierung aller Sachen und Institutionen, aller Mittel und Zwecke, – die emotional personalisierende und zeit- wie ortskabbalistische Vernetzung aller wirklichen und eigentlichen Drahtzieher der Geschichte.

Erst jetzt und hier hören und sehen wir die vielen „wahren Geschichten“ hinter der öffentlich vorgespielten, jetzt und hier erst trifft der Schwiegersohn des imperialen Ministers X am geheimen Ort y zur geheimen Zeit z den Schwiegersohn Y des despotischen Ölministers Z, um den geheimen, alles entscheidenden und daher alles erklärenden Deal A&O zwischen den Drahtziehern der Mächte drahtzuziehen. Auf der Ebene des „Alles-Zusammen“, aber auch auf jeder einzelnen Mittels-Ebene für sich allein, lassen sich nun alle eigentlichen und wahren Geschichten erzählen und vernetzen, und der selbstverführte Aufklärungsjournalismus unserer modernen Herodote, gejagt von der Leidenschaft nach dem Taumel der erlösenden Mitteilung für das erlösungsbedürftige Kollektiv, klärt uns geheimverschworen auf: überall ist Konspiration, überall ist Watergate. (Mag sein, aber es erklärt nichts und hilft nicht handeln.)

Nach Durchgang aller drei Runden kann das Spiel wieder von vorne beginnen; aber schon ein einmaliger Durchgang verschafft uns einmalig glasklare Durchsicht: denn erstens wissen wir nun, worum es wirklich und eigentlich geht (wir sind vollkommen orientiert); zweitens können wir alles „wissenschaftlich“ oder „dokumentarisch’“ belegen und beweisen (wir sind vollkommen gebildet, wir sind Herr der Sache); drittens können wir uns alles ausmalen, denn es hat sich uns innerlich alles vorgestellt und sogar für die Sinne selbst in der platonischen Höhle des Films (wir waren als Augen- und Ohrenzeugen vollkommen dabei); und daher folgt viertens der Höhepunkt und die Belohnung: wir können alles erzählen und daher alle anderen bekehren zur großen Einkehr an den Stammtisch aller wirklich Eigentlich-Wissenden dieser Welt (wir sind die wahren Apostel der wahren Sache, die ewigen Propheten einer ganz anderen Geschichte). Nichts schafft innigere Freude am und im Leben des Erwachsenen, als anderen Erwachsenen wie Kindern zu zeigen, wo und wie das eigentliche und wirkliche Leben (mit uns) spielt.

Aber nach so viel heißer Dusche folgt stets wieder die kalte des Lebens: denn die große Geschichte jenseits des Stammtisches aller Stammtische geht unbekümmert um ihr stammtischbraves Durchschautsein ihren unwiderstehlichen Gang; sie geht ihn mit höchster und größter Gelassenheit; von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, von Meldung zu Meldung; weder beendigen sich die Aufmärsche und Anflüge der Soldaten und Waffen, weder die Vorbereitungen und Anschläge der Terroristen, weder die Verhandlungen und Nichtverhandlungen, weder die Untersuchungen noch deren Verhinderungen, weder die „Antiimperialistischen Demonstrationen gegen den Krieg“, weder die Pressekonferenzen und Geheimtreffen, weder die Abkommen noch die Nichtabkommen, weder die diplomatischen und alle anderen Bemühungen und Nichtbemühungen. Alle Diener der Geschichte, vom höchsten bis zu niedrigsten tun ihren gehorsamen Dienst an der alltäglich ebenso alltäglich wie nichtalltäglich fortschreitenden, und Medien und Presse hecheln pflichtschuldigst hinter der großen Dame hinterher.

Soeben erfahren wir, daß sie uns wieder einmal eine geheimnisvolle Überraschung beschert hat: Saddam Hussein hat seine biologischen, chemischen und atomaren Waffen verschluckt, um sich selbst und den Weltfrieden zu retten. (Da freun wir uns aber). Die Europäische Friedensweltmacht muß nun endlich eigentlich und wirklich werden: der Friedliebende zu Bagdad ist einzuladen zur triumphalen Friedensdemonstration, selbstverständlich nach Berlin, und ein unverzagtes größeres Zehntausenderpack von Globalisierungsgegnern und Friedensmarschierern wird ihn mit Freuden begleiten und eventig bejubeln. Der große Friedensmarsch wird durch das Brandenburger Tor führen, von Westen nach Osten und von Osten nach Westen, um auch dem letzten Großschurken und imperialen Kriegshetzer dieser Welt das Maul und alle Waffenmündungen zu stopfen und ein für allemal zu beweisen, daß die Ziffer 1989 den Anbruch des großen Weltfriedens an der Uhr der Weltgeschichte anzeigte.

Was für ein Tag: Saddam Hussein als neue Speerspitze einer neuen globalen Friedensbewegung unterm Brandenburger Tor, am Arm zu seiner Rechten: Joschka Fischer; am Arm zu seiner Linken: Noam Chomsky; und Günter Grass darf die lange Friedensschleppe des neuen Friedensfürsten nachführen.

„Darum seid nicht unverständig, sondern begreift…“