18 Musikvideo. Thesen zu Film, Kunst und Unterhaltung (Gesamtfassung)
Musikvideo
Thesen zu Film, Kunst und Unterhaltung[1]
I. Einstimmung
Das Musikvideo ist der vollendete säkulare Bilderrausch, in dem Musik als Musik verschwindet, um als verschwundene für die opera pauperum unersetzlich zu werden. Während der comic strip ins Sinnlose rast, pulsieren die Wiederholungsachsen einfältiger Melodik und gehirnwaschender Rhythmik um das Nichts des verschwundenen Wesens von Musik. Dennoch ist es die Musik, die als Ruine des Ohrwurms ein letztes Mal von bergendem Sinn und vortechnischem Leben erzählt und aushalten befiehlt in einer chaotisch zerschnittenen Erfahrungswelt, im Tunnel der automatisierten Dauerüberraschung, im Schwall der sprachetötenden Sekundenbilder, in den mechanisierten Schocks einer wie von Traumes Hand inszenierten Schnittbildfolge. Der atomisierte Bilderreigen, zum Träger technologischer Euphorie synthetisiert, entpuppte sich als absurd hampelnde Pantomime, trüge ihn nicht die Leier des mechanisierten Rhythmus und die Hitarie des Great Song Book. Tonalität und Film, archaischer Mimus und technologischer Orgiasmus verbinden sich, um die Depersonalisierung des modernen Subjektes als Veitstanz zu feiern. Wieder erscheint Dionysos am Weltenrand, um nun auch den technologisch organisierten Rausch zu segnen, aber er erkennt die Seinen nicht wieder; mitten in der segnenden Gebärde vor Entsetzen erstarrend, stürzt er hintab von der Bühne.
Die filmtechnische Verzauberung jedes Bildes in jedes beliebig andere gerät zum technologischen Höllensturz der darin verschwindenden Welt des Märchens. Dies sei nicht für Menschen, bekundeten die Gebrüder Grimm, führte man ihnen die filmische Mutation ihres Erzählgeistes vor Augen und Ohren. Untröstlich über die taumelnde Leere, entsetzt über die unbegrenzte Wiederholbarkeit, vermißten sie wehmütig den chthonischen Geist der Zauberer und Feen, die verborgenen Lebenswege der Wald- und Wiesenzwerge, die unvergeßlich ins Gedächtnis sinkenden Orte und Begebenheiten des ersten kindlichen Fürchtens.
Der neuen Massenkindschaft genügt die Selbstdarstellung des Stars. Doch bedarf der singende Halbgott des Tanzes einer technologisch gesteuerten Bildflutung, – sein Gesang betört nicht mehr als Gesang. Choreographiert vom Zaubergeist des Regiepultes vertanzt er seinen Song als deunkulus des verschwundenen Dionysos. Er gleitet wie der wendigste Roboter durch alle nichtigen Verwandlungen, die ihm das Arsenal der filmtechnischen Raffinesse noch gönnt. Der Listen des Odysseus bedarf er nicht mehr, die Welt der technologischen Szenerie ist weder mythisch spontan noch allegorisch gestellt, sie flimmert jenseits von Vernunft und Phantasie. Der Videoseher kann nicht wünschen, auch einmal dort gewesen zu sein, wo der Halbgott wandelte. In der Flutung des technologischen Ritus sind die Bilder der realen und virtuellen Örter immer schon bis zum Taumel der Ununterscheidbarkeit vertauscht. Der Halbgott tanzt, aber nur auf dem kleinflächigen Bildapparat, er gewährt eine klingende Filmstory auf dem visuellen Minutenamulett des säkularen Alltags.
Ist seine Nummer vorbei, läßt er die Seinen in verworrener Einsamkeit zurück; er aber verschwindet nur, um triumphierend in den Olymp der Stars heimzukehren und von dort wiederkehrend die Seinen erneut zu zwingen, ihn und seine Doppelgänger mittels Kurzgebet neuerlich herbeizurufen; die Tasten an der Fernbedienung sind die Perlen des technologischen Rosenkranzes.
Daß keine Hilfe besser wäre als diese, ahnt der homo cosumens unbewußt bitterlich. Doch was hilft es, zu wissen, daß nichts mehr hilft? Daher kaum noch ein Widerstand gegen die allgegenwärtige Einübung, auch keiner mehr gegen die Mutation der Musik zur Massenkrankheit im house von Techno.
Das Gesamtkunstwerk des homo technologicus gleicht einer Barockoper, die in einer Konservenbüchse Platz findet: Spiegelbild eines Bewußtseins, dem sich die humanistische Idee des ästhetischen Universalmenschen technologisch enthumanisierte. Das Ich wird zum Sinnesreaktor seiner Entsinnlichung, es erlebt nur mehr, was Erleben vortäuscht. Er verunterhaltet sich mit seinem Spiegel an der Videowand: wer ist gewesen, wo Ich war?
Und zur Bildmusikmaschine geworden – „Ich bin ein Videoclip“ – erfährt es die Spots der Texte wie Botschaften einer archaischen Stimme. Noch der kümmerlichste Gehalt erfährt in den Armen der Rhythmusmaschine jene rauschhafte Steigerung, die ihn als Mittel musikalischer Gehirnwäsche tauglich macht. Gesellschaftskritische Rage und ersatzreligiöse Trostversprechen der gesungenen Sprechblasen werden empfangbar wie säkulare Orakelsprüche, die aber zugleich in einem Meer von ihresgleichen verschwinden. Scheinbar zu siamesischen Zwillingen verwachsen, zerbricht im rasenden Filmtanz der Bilder das Erbstück von Jahrtausenden: die einst auratische Schwesternschaft von Sprache und Musik verschwindet wie in einer Letztkündigung von Magie, Mythos und Religion. Das Musikvideo ist der vollendete Bilderrausch, in dem Musik als Musik verschwindet, um als verschwundene für die opera pauperum unersetzlich zu werden.
II. Vorerinnerung
Die Entwicklung neuer technologischer Medien war für die ästhetische Moderne des 20. Jahrhunderts stets ebenso verlockend wie anrüchig. Just in jenem Jahrhundert, da die traditionellen Künste den Verlust ihrer jahrtausendealten Referenzgründe beklagten, tat sich ein ganzes Universum neuer Ausdrucksmittel und Gestaltungsformen auf. Just in dem historischen Augenblick, da Religion und „Natur“ alle Macht über die säkularisierte Moderne und deren Humanitätsideale verloren, eröffnete sich den Künsten das Arsenal von Radio und Film, von Tonträger und Fernsehen, von Video und Computer. Dennoch blieben die Verlockungen des neuen Arsenals anrüchig bis heute. Denn während die Neuheit und Unverbrauchtheit der neuen Mittel und Verfahren einen Weg zu den erhofften und verzweifelt gesuchten neuen Fundamenten erneuerbarer Kunst zu weisen schien – unerschöpfliche Innovation im Angebot inbegriffen – wurde eben diese Hoffnung stets wieder vernichtet durch die ebenso grenzenlose Willfährigkeit der neuen Technologien und Medien gegen die Verführungen des Populären und der Massenunterhaltung.
Von diesem Zwiespalt geben uns die programmatischen Entwürfe der ästhetischen Avantgarde aus ihrer heroischen Phase zwischen den beiden Weltkriegen ein ebenso beredtes wie rührend antiquiertes Zeugnis. Denn die zahllosen Konzepte für utopische Autonomiesymbiosen zwischen traditionellen Kunstformen und neuer Technologie, etwa für eine autonome Radiomusik, für einen eigenständigen Musikfilm, für ein eigenes Filmtheater, für den zu malenden Film, später für die eigenständige Fernsehoper, wovon noch die avantgarde Videokunst unserer Tage ein Ableger zu sein scheint, – alle diese Konzepte gingen von der Überzeugung aus, daß sich unter der Regie des traditionellen Kunstgenius dessen ästhetischer Auftrag auch in den neuen Technologien und Medien fortführen ließe. Als sei nur die Klaviatur der traditionellen Kunstformen durch ein neues und köstlicheres Instrumentarium erweitert worden, und als habe nun die königliche Phantasie des traditionellen Genies nur noch zu lernen, mit den neuen Mitteln zu spielen wie einst mit den alten, um der längst hereingebrochenen Sintflut von Unterhaltung und massenindustrieller Produktion Einhalt zu gebieten.
Sowohl an Adornos und Eislers 1947 veröffentlichten Vorschlägen für eine musikgerechte Verwendung der Musik im Film wie auch an den vergleichbaren Vorschlägen von Kurt Weill aus dem Jahre 1930 läßt sich die Ratlosigkeit der traditionsverbundenen ästhetischen Moderne angesichts der neuen Technologien und Medien mit Händen greifen. Für Adorno/Eisler rangiert die Erfindung, Bild und Klang mit einem einzigen Materialträger produzieren zu können, auf derselben Ebene wie die Erfindung der pneumatischen Bremse.[2] Das Bedürfnis nach Musik im Film erkläre sich demnach aus der Vorgeschichte des Films, aus der eingewöhnten Tradition, neben der musiklosen Literatur- und Schauspielproduktion stets auch mit einer in Musik gesetzten Opern- oder Operettenszenerie vertraut zu sein. Im Film aber sei es bislang nicht gelungen, zwischen der neuen Technik und den künstlerischen Intentionen, zumal jenen der Musik, eine eindeutige Relation herzustellen. Mit anderen Worten: die ästhetischen Forderungen des Films an die Musik schlagen dieser ins Gesicht, weil sie deren Autonomiecharakter als freier Kunst unterlaufen, ohne doch – wie dereinst die Oper – einen Ersatz für die auratische Brüderschaft von Wort, Ton und Bild anbieten zu können. Die gängige Theorie und Praxis, so Adorno/Eisler, gehe daher davon aus, daß Musik im Film nicht als Musik gehört werden dürfe. Unterwerfe sich die Musik jedoch unterm Diktat des Films den optischen Vorgängen, so verkomme sie durch Produktion von Klischees, verelende als billige Stimmungsmache, verende als filmindustrielle Ware.[3]
Da im Film eine Überdeutlichkeit von Bild und Dialog dominiere, sei der ästhetischen Kapitulation der Musik nur dadurch Einhalt zu gebieten, daß ihr gewaltsam eine Stelle im Kontinuum der Filmhandlung zugewiesen werde. Musik habe daher dort die Handlung des Films geradezu zu unterbrechen, wo es Sinn mache, den Zuseher in einen Zuhörer zu verwandeln, um Hinweise erkennbar zu machen, die der Montage durch Schaubilder nicht zugänglich seien. Wo sich etwa die Handlung eines Anti-Nazi-Films, – gemeint ist Fritz Langs „Hangmen Also Die“ von 1942 mit der Filmmusik von Hanns Eisler – in private psychologische Einzelzüge auflöse, müsse die Musik selber überdeutlich, gleichsam überbelichtet werden, sie müsse mit “besonderem Ernst“ einsetzen, um über die individuellen und allgemeinen Widersprüche aufzuklären.[4] – Die Schwäche dieses Konzepts konnte Adorno/Eisler nicht entgangen sein; nicht erst für uns muß fraglich bleiben, ob Musik ihre dienende Funktion im Film dadurch überwinden könne, daß sie mitunter psychologisierende Klangbilder in den Strom der Schaubilder werfen darf.
Adorno/Eisler wußten, daß die handlungsunterbrechende Funktion von Musik in Musical und Revuefilm längst zum Standardgebrauch zählte. Song, Tanz und Finale erfüllten höchst zufriedenstellend die Aufgaben einer ‚Unterbrechungstechnik durch Musik’. Der künstlerische Film konnte der Musik nur die Unterbrechungstechnik im Dienst einer dramatisierenden Klangpsychologisierung anbieten, – jenen gesunkenen Operngesang für Instrumente, ohne den heute kein Kriminalfilm auskommt. Kein Wort daher in Adorno/Eislers Ansatz zur Frage, wie sich zwei Überdeutlichkeiten, Bild und Dialog hier, autonom ausgesetzte Musik dort, zur gesuchten eindeutigen Relation von neuer Technik und künstlerischer Intention im musikverwendenden Film verbinden sollten.
Zu ähnlicher Problematik und Aporie führen jene Thesen, die Kurt Weill 1930 unter dem Titel „Tonfilm, Opernfilm, Filmoper“ veröffentlichte; schon die Wahl der ungesicherten Termini verrät das nebelhafte Gelände, in dem man sich damals noch bewegte.[5] Auch Weill sucht das Problem einer Vereinbarkeit der unvereinbaren Paradigmen von Film und Musik auf gleicher Höhe und Autonomie dadurch zu lösen, daß er für den künstlerischen Tonfilm eigene und selbständige Ausdruckformen postuliert. Vordringlich sei, eine Verwendung der Musik für andere als bloß äußere Anlässe zu finden. Und die gesuchten inneren Anlässe könnten nur von einem Komponisten gefunden werden, der von Anfang an bei der Produktion des Tonfilms mitarbeite. Die Probleme seien von erheblicher Natur, denn im Film sei es ganz unmöglich, einen singenden und musizierenden Menschen so zu zeigen, wie er auf der Bühne unfilmisch real agiere oder sonst sich in der Realität musizierend präsentiere.[6] Im künstlerischen Tonfilm sei daher aller Gesang, alles Musizieren, alle Musik in eine filmadäquate Bewegung zu transformieren, in sprechende Bildgesten durch die Möglichkeiten von Kamera und Montage aufzulösen. („Eine Vorführung einer ausgezeichneten amerikanischen Tonfilmaufnahme der Tenorarie aus ‚Martha’ erweckte beim Filmpublikum schallende Heiterkeit.“)[7] Weill erinnert an das Lied der Marlene Dietrich im Blauen Engel, das die Kamera filmisch auflöste, indem während des Gesanges zugleich die Wirkung auf das Publikum gezeigt wurde. Die Transformationskraft des Films an der Musik werde daher über kurz oder lang dazu führen, daß im musikalischen Tonfilm der Zukunft alles singt: „nicht nur der Mensch, sondern auch seine Umgebung: die Gegenstände seines Zimmers, das Haus, die Stadt, die Tiere.“[8]
Weill verschmäht daher nicht, wovon Adorno/Eisler gewiß nicht begeistert waren: „entscheidende Anregungen von den Micky-Mouse-Filmen.“[9] Diese enthielten nämlich ein Modell für den nach rein musikalischen Gesetzen rhythmisch fixierten Bewegungsfilm, außerdem neue originale Formen des Filmballetts sowie die Offenbarung einer Welt, in der sich „die Relativität aller Erscheinungen“ zeige.[10] Wie ein Generalmotto zum Musikvideo des späten 20. Jahrhunderts liest sich Weills Satz über diesen gesuchten musikalischen Tonfilm: „In der Bewegung löst sich alles auf, aber im Rhythmus findet sich alles wieder.“[11] Und wie eine Vorwegnahme gängiger Leitvorstellungen in der gegenwärtigen Musikvideoproduktion hört sich Weills Begeisterung für den damaligen Zeichentrickfilm an: „Der lebendige Organismus ist nicht haltbarer als der tote Gegenstand… Ein Skelett spielt mit seinem Unterschenkel auf den Rippen seines Nachbarskeletts Xylophon, eine Lokomotive schleppt sich in mühseliger Gymnastik einen Berg hinauf, und das Gebiß eines Raubtiers wird rasch zum lieblichsten aller Glockenspiele.“[12]
Doch die Begeisterung Weills für das neue Genre erschrickt an dieser Stelle, als höre er die Manen des traditionellen Humanitätsideals. Der Weg, der sich hier anzeige, solle keineswegs zu einer neuen Form phantastischer oder grotesker Kunst führen, – die Prophezeiung des Musikvideos wird in letzter Sekunde wiederrufen und es wiederholt sich der Auftrag des traditionellen Kunstgenius zu bewährter Humanität in neuem Gewande: „Aber die Möglichkeit, durch den Tonfilm zu einer Kunstform zu gelangen, die den Menschen in den Beziehungen zu seiner lebenden und leblosen Umgebung zeigt, ist verlockend genug, um eine Beschäftigung mit den technischen und formalen Problemen des Tonfilms auch für den Musiker lohnend erscheinen zu lassen.“[13] Wie sich zeigen sollte, waren im fiktiven Geist eines musikalischen Tonfilms keineswegs jene Urformen einer zukünftigen Filmoper aufzufinden, die dem Film als Herrn und Meister der ästhetischen und der Unterhaltungsmoderne im 20. Jahrhundert hätten Paroli bieten können.
Schon bald zeigte die konkrete Praxis des höheren Spielfilms, auch im Idealfall einer Zusammenarbeit von genialem Regisseur und hervorragendem Komponist, daß der Musik stets nur eine dienende, wenn auch eine unersetzlich dienende Funktion zukommen konnte. Stets begann Nino Rota, nachdem ihm Frederico Fellini die durch Musik zu illustrierende Szene geschildert hatte, über brauchbare Passagen aus Verdi-Opern zu improvisieren. Und dies solange, bis sich das verneinende Kopfschütteln Fellinis allmählich besänftige und nach zusätzlichen leidenschaftlichen Erläuterungen und Pantomimen zum psychologischen Input der Filmszene endlich aus der Kompostierung Verdischer Musik das Destillat einer vollendet passenden und unverwechselbaren Filmmusik gefunden war.[14]
Der ästhetischen Moderne und auch der filmischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts ist allerdings zugute zu halten, daß sie nicht wissen konnten, daß der frühe Hollywood- und der russische Revolutionsfilm in Praxis und Theorie die universale Grammatik einer säkularen Kunstform formulierten, die später zur alltäglichen Realität werden sollte. Denn in der Zauberschüssel des Fernsehens – demnächst in Internetsymbiose – drang der Film mit allen seinen Gattungen und Arten ins Zentrum der modernen Gesellschaft vor, und er vergaß nicht, die Musik, und zwar sogleich die seine, aus den Händen der unterhaltenden zu empfangen und im Schlepptau mitzuführen. Die technologischen Wunder von Kameraauge und freigesetztem Montagegeist, diese beiden wissenschaftsgezeugten Musen des Films, ausgestattet mit allen Genien unwiderstehlicher Fernmagie, verliehen der neuen Kunstform alle Befugnis und Macht, sowohl Geist und Form wie auch Körper und Knochen der alten Künste samt deren religions- und naturordinierter Sinnlichkeit zu fragmentierten Mitteln für eigene Zwecke verkochen zu können und verbraten zu sollen. Ähnlich wie einst die vormodernen Künste, die Musik etwa im 17. und 18. Jahrhundert, kristallisiert der Film daher im 20. Jahrhundert ein Pantheon von universalen Formen aus.
Nichts davon in den nominalistischen Singularitäten der ästhetischen Moderne, nichts davon in den Pseudogattungen der Unterhaltungsmoderne, sofern diese die traditionelle Sinnlichkeit verarbeiten und verwerten: der Schlager als Absud von Lied, das Musical von Operette, der Hit von Melodie, die Nummer von Werk: ein marktgängiges Angebot öffentlicher Jagdgründe mit fetter Beute für die Riesenarme von Film- und Medienindustrie. Noch die avantgarde Videokunst erscheint im Spätabendprogramm ausgesuchter Fernsehkanäle in der belehrenden Form des Dokumentarfilms für ein minimundes Publikum. Und es fragt sich, ob der Film zuletzt seine totalitäre Meisterschaft auch noch dadurch beweist, daß er im totalen filmischen Cross-Over des Musikvideos die entgegengesetzten Prinzipien von ästhetischer Moderne und Unterhaltungsmoderne ineinander stürzen läßt, um ihre verborgene Identität zu offenbaren. Ist Elvis Presley das alter ego von Marcel Duchamp, Michael Jackson das von John Cage?
III. Das Problem
Bereits Hegel hatte in seiner Ästhetik nachgewiesen, daß die traditionellen Künste durch ihre eigene Entwicklung tabula rasa mit sich selbst machen müßten, nicht nur mit ihren Gehalten und ihren Formen, sondern auch mit ihrem zentralen Subjekt: dem von Naturtalent und Naturgenie. Es ist daher eine bis heute aktuelle Frage, ob der Film jene neue säkulare Kunst oder wie immer sonst zu nennende Darstellungsform ist, die, nach dem Hegelschen Ende der Kunst, am universalsten den Auftrag dessen erfüllt, was Hegel das moderne Ideal moderner Kunst nannte. Eingetroffen ist, daß die abendländisch-christliche Kunst nach Vollzug ihrer Totalsäkularisierung den Humanus in all seinen Höhen und Tiefen als neuen Heiligen radikal irdischer Herkunft und Unerschöpflichkeit auf ihrem Gehaltsteller präsentieren mußte. Ebenso eingetroffen, daß sich die moderne Kunst als Instrument befreiter reflexiver Sinnlichkeit auf jeden nur möglichen Aspekt des neuen Gehaltes in individuellsten Darstellungsweisen kaprizieren muß.
Alles kann und darf daher in ihr vorkommen, an Gehalten wie an Darstellungsweisen, nur eines kann in beiden nicht mehr vorkommen: ein verbindlicher affirmativer Bezug auf Religion und Gottheit, als hätte sich diese für immer in eine sinnlichkeitslose absolute Reflexivität zurückgezogen. Noch der für das 20. Jahrhundert tragende Unterschied von ästhetischer Moderne und Unterhaltungsmoderne – also von frei reflexiver und von säkular rituell gebundener Sinnlichkeit – findet sich im Auftrag des modernen Ideals, da dieses den neuen Künsten gebietet, mit allen Leiden und Freuden des Humanus in subjektivster wie auch in kollektivster Weise zu spielen. Frei gegeben wird auch der Zwang zur Selbstverrätselung der ästhetischen Moderne, die ihre Meisterschaft unter anderem auch dadurch zu beweisen habe, „daß sie nichts in seinem gewohnten Zusammenhang und Geltung läßt, die es für das gewöhnliche Bewußtsein hat.“[15] Diesem wiederum wird Kompensation zugesprochen: sein Zwang, entleerte Sinnlichkeitsformen säkular ritualisieren zu müssen, darf die kleinsten Kleinigkeiten des Lebens durch behagliche Phantasie beleben, was zwar nur epigrammatische Kurzformen zeitigen könne – das Pantheon eines Musikantenstadels – aber mehr sei auch gar nicht ratsam. Plastisch können wir uns Hegel beim Hören heutiger Unterhaltungsmusik vorstellen, wenn er schon am Beginn des 19. Jahrhunderts klagt: „Solch eines allgemeinen, oft – wenn auch mit neuen Nuancen – wiederholten Singsangs wird man bald überdrüssig.“[16]
Da die neue Kunst des Humanus überdies die Erscheinung nur mehr als Erscheinung behandeln und darstellen könne – denn vom sinnlichen Scheinen des Schönen und der Idee verbleibe ihr nach dem Verenden des vormodernen Ideals nur mehr das Scheinen als solches, – werde sie Probleme mit nichtpartiellen, mit universalen Darstellungen des Humanus und seiner modernen prosaischen Welt insgesamt bekommen.[17] Hegel würde wohl staunen über die phantastische Leichtigkeit, mit der unser allgegenwärtiges Filmauge heutzutage auch noch ein Fußball- oder Tennisspiel, ein langweiliges Autorennen, eine grandios verblödete Quizsendung und anderen Quark des modernen Lebens spielend zu einer Handlung gestalten kann, die ein Millionenpublikum fesselt. Und gewiß würde er dem technologisch übermenschlichen Geist von Kameraauge und Montageintellekt zutrauen, der Grundforderung des modernen Ideals nachzukommen, „in der Darstellung aller Geheimnisse des sich in sich vertiefenden Scheinens der äußeren Erscheinungen“ die Meisterschaft zu erlangen.[18]
Allerdings wissen wir auch, daß die Handlungen unserer Spielfilme in der Regel des Quietivs der Musik bedürfen: die Gewalt, die das übermächtige Filmauge unserem vortechnologisch natürlichen antut, indem es ihm beinahe gänzlich die Herrschaft über seine freie Blickführung raubt, soll durch die emotionale Illusionskraft verbindender Klänge besänftigt werden, – vielleicht der entscheidende Grund für Musik als unersetzlichem Gleit- und Begleitmittel in fast allen Gattungen und Genres des Films.
Außerdem werde die neue Kunst Schwierigkeiten mit der Zeit bekommen, oder besser: mit der verlorenen Ewigkeit in der Zeit, denn die Triumphe der Moderne über die Vergänglichkeit der Erscheinungen seien nur dadurch zu erkaufen, daß man den ästhetischen Porträts oder Verfremdungen der Realität den Schein stets aktueller Gegenwärtigkeit verpasse. Betrogen und hintergangen werde ein Absolutes, das noch konkrete Macht über das Zufällige und Flüchtige haben könnte. Kunstwahrheit könne nur mehr beanspruchen, was stets lebendige geschichtliche Gegenwärtigkeit suggeriere; kein Wunder, der neue Humanus ist radikal geschichtlich, er geht, ja er fliegt mit der Zeit, und seine Kunst wird daher den Verlust jeder sakralen und vorsäkularen Geistes-Sinnlichkeit durch stets neue Aktualität zu kompensieren trachten. Das Scheinen ohne absoluten Geist darf sein, aber es wird gerächt durch seine Prostitution an die Zeit, – an eine rasend stillstehende Gegenwart. Auch für die besten Filme gilt, daß sie nicht so wiederholungsfähig sind wie die großen Werke der traditionellen Kunst, für deren Muster- und Vollendungsexemplare bekanntlich beinahe das Umgekehrte gilt: je verflossener, umso ewiger, – eben kraft ihres substantiellen, die Geschichte überwindenden Ideengehaltes. Im Jahr 2001 sah Stanley Kubricks „Odyssee 2001“ schon älter aus, als Mozarts Jupitersinfonie sich jemals anhören wird.
Daß der Film dennoch beanspruchen kann, in der Darstellung des Humanus die Feldherrnhöhe über der ästhetischen und der unterhaltenden Moderne einzunehmen, kann am zentralen Grundsatz des Normalfilms einsichtig gemacht werden. Dieser will bekanntlich vom narrativen Prinzip nicht lassen, trotz aller aberwitzigen Abstraktionsmöglichkeiten von Kameraauge und Montageintellekt.[19] Belá Balász, der große ungarische Filmtheoretiker, kreuzte noch 1938 in einer scharfen Auseinandersetzung die Klingen mit dem Avantgarde-Film, der über den Expressionismus, nach Balász Meinung, auch in das neue Medium vorgedrungen war. Balász folgte den Theoriespuren des großen russischen Films, dessen Selbstüberzeugung von der zentralen geschichtlichen Rolle des neuen Mediums unverkennbar aus Wsewolod Pudowkins um 1940 veröffentlichten Thesen zur Montage spricht, wonach der Film „im kulturellen Leben der Menschheit nicht eine kleinere, sondern eine bedeutend größere Rolle zu spielen habe als jede andere von den existierenden Künsten, sei das die Malerei, die Musik, die Literatur oder das Theater.“[20]
Belá Balász Vorwurf gegen den abstrakten Expressionismus im Film lautet, daß die Avantgarde eine Verselbständigung des Ausdrucks von jedem vorgegebenen Realitätssubstrat predige und praktiziere. Im Normalfilm werde das Lächeln eines Menschen samt dessen Gesicht gezeigt, das allerdings das Lächeln begrenze, im l’art pour l’art Film jedoch kann das Lächeln breiter sein als der zugehörige Kopf, und dieser könne auch wegfallen, denn, so die avantgarde Position: „das Gefühl kenne keine Grenzen des Körpers und könne durch den natürlichen Ausdruck nicht ganz ausgedrückt werden;“ außerdem habe die Kunst nicht die äußere, „sondern nur die innere Wirklichkeit zu spiegeln.“[21] Damit aber, so Belá Balász, würde sich der Film nicht nur aus der Mitte des Menschheitspublikums verabschieden, denn alle verbindlichen Maßstäbe für einen verbindlichen Nachvollzug der Expressionen und deren Beurteilung wären vernichtet; auch hätte sich ausgerechnet der Film als die fortgeschrittenste Kunst, die alle bisher geschaffenen in sich fasse, in die älteste und unbeholfenste Zeichensprache zurückverwandelt, sie wäre nicht mehr Kunst,“ sondern Bilderrätsel, deren Zweck das Erraten irgendwelcher Gedanken ist.“[22] – Offensichtlich bewegt sich der künstlerische und sonstige Normalfilm auf seiner Feldherrnhöhe auf einem schmalen Grat zwischen ästhetischer Moderne und Unterhaltungsmoderne, denn im Gegenzug wird er sich für sein Credo an eine verbindliche Darstellbarkeit der säkularen Realität den Vorwurf der ästhetischen Moderne einhandeln, das neue Medium spießbürgerlich zu zensurieren und gegen die Korrumpierbarkeit durch die falsche Popularität der Massenunterhaltung allzu sorglos zu sein. Die wackeren Reste der Filmavantgarde bestreiten dem künstlerischen Spielfilm bis heute das Vorrecht, den Humanus in größtmöglicher Totalität darzustellen.[23]
Deuten wir den Hegelschen Ansatz zu Ende, so ergibt sich zwangsläufig, daß sich das Auseinanderbrechen der einen Humanitätskunst in eine ästhetische Moderne und eine Unterhaltungsmoderne der Verdammnis jenes reflexiv gewordenen Absoluten schuldet, das sich aus jeder rituell gebundenen Sinnlichkeit zurückzieht, – beginnend mit der Neuzeit, verstärkt mit der Moderne, unumkehrbar mit deren scheinbar romantischem Beginn seit dem Tod von Hegel, Beethoven und Goethe um 1830. Und für den Film in allen seine Formen wären sowohl für deren gesellschaftliche Bedeutung wie deren neue ästhetische Funktionen erst noch die zutreffenden Namen und Deutungen zu finden.
Als zentrales Kommunikations- und Informationsmedium der modernen Gesellschaft ist er gleichfalls in den Welten von Politik, Gesellschaft und Ökonomie unersetzlich geworden. Handelt es sich aber bei der ästhetischen Moderne und der Unterhaltungsmoderne um die beiden Säkularisierungsstränge der traditionellen Kunstsubstanz und folglich um absolute Entzugserscheinungen an absolutem Gehalt und an absoluter Form, so erhebt sich zwangsläufig die Frage nach einer möglichen inneren Identität beider. Und die Frage, ob Elvis Presley das alter ego von Marcel Duchamp, Michael Jackson das von John Cage ist, könnte vielleicht durch den Versuch einer Entzifferung der klingenden Hieroglyphen des Musikvideos beantwortet werden, eine Untersuchung, die sich folglich an den Grundprinzipien der Unterhaltungs- und ästhetischen Moderne orientieren wird müssen.
IV. Die Kapitulation
Zur Entrüstung von Peter Weibel behauptete das Time-Magazin 1983 in seiner Coverstory über Musikvideos, „Sing a song of seeing“, das Musikvideo habe weder Vorläufer noch Vorbereiter gehabt; demnach wäre es aus dem Himmel der Technologie gefallen und zugleich aus den Bedürfnisabgründen der Unterhaltungskontinente entsprungen.[24] Eine skandalöse These, so Weibel, denn das Musikvideo verdanke sich zumindest drei Quellen: dem Zeichentrickfilm, dem Musikrevuefilm, und zuerst und zuletzt dem Avantgardefilm und der ästhetischen Moderne, angefangen von den Pionieren der ersten Stunde bis hin zu den letzten von Fluxus und Pop-Art. Doch nimmt der Skandal damit kein Ende, denn er findet sich für Weibel im Musikvideo selbst, in dessen unfaßbarer Widersprüchlichkeit, zugleich banalstes und raffiniertestes Ästhetikum zu sein. In Weibels Kapitulation vor diesem Widerspruch kehrt die Ratlosigkeit der ästhetischen Moderne angesichts der neuen Technologien und Medien wieder, um in einer offen widersprüchlichen Beurteilung zu kulminieren.
Einerseits wird dem Musikvideo alles Schlechte nachgesagt, denn es sei ein verabscheuungswürdiger Simulant, der nur mehr einen „Anschein von Musik und Bild“ produziere.[25] Weibel teilt die verbreitete Kritik an der technologisch avancierten Unterhaltungsmoderne, wonach deren Produkte die totale Simulation einer selbstbezüglich gewordenen Medienerlebniswelt schamlos zur Schau stellten. In ihrem rasenden Whirlpool würden alle Ikonen der Kultur zu Kulturmüll verramscht, und nachdem alles je Gewesene zum Sekundenklischee mutiert sei, feiere der Klischeekosmos der Videowelt in der Häckselmaschine des 1-2-3-Sekundenschnittes auch noch seine eigene Vernichtung. – Andererseits wird das Musikvideo auf das Podest gehoben, denn in ihm kulminiere die Entwicklung aller Versuche, eine audiovisuelle Sprache des neuen Mediums zu finden. „In den besten Musikvideos“, so Weibel, sei „mehr Videokunst zu sehen, mehr Freiheit, Experiment und Fortschritt im visuellen Design als in den meisten Kunstvideos der Kunstszene.“[26] Das Musikvideo sei vielleicht „die erste wirklich überzeugende Form von Fernsehkunst“, und da es überall präsent sei, wäre das Ziel erreicht, „daß Kunst in allen sozialen Situationen erfahrbar und zugänglich sei, nicht nur isoliert in Galerien und Museen.“[27] Womit nun auch noch ein anderer alter Traum der Avantgarde – wieder einmal – in Erfüllung gegangen wäre: Kunst und Leben friedlich vereint.
Die Schwierigkeit, das Musikvideo ästhetisch, kulturgeschichtlich und gesellschaftlich zu begreifen, hat drei Gründe: einmal explodiert in ihm die technologische Entwicklung des bewegten Bildes als ästhetische: das Zusammenspiel der digitalistisierten Film- und Videotechnik mit der gleichfalls industriell verfügbaren Computeranimation löst die Utopien der Avantgarde ein, aber anders als diese dachte. Zum anderen ist das Musikvideo das erste ästhetische Produkt, das der Markt für Unterhaltungsgüter in seiner Marketingabteilung geboren hat; es ist der geglückte Versuch, die anfangs fernsehuntaugliche Pop-Musik fernsehfilmtauglich zu machen, selbstverständlich unter ökonomischem Zweck und Zwang: es gilt die enormen Produktionskosten durch den Verkauf der Alben und Singles wieder einzuspielen. Es ist ein Produkt der Werbung, aber zugleich auch ein eigenes Produkt, Werbung und wofür geworben wird, ist ununterscheidbar.
Und zum dritten fressen im Musikvideo die Geister der Unterhaltung jene der ästhetischen Moderne, beide rasen im Whirlpool des technologischen Bildersturzes ineinander. Konsterniert wurde oft festgestellt, daß sich gegen die hyperbeschleunigten Totalmetamorphosen des Musikvideos die Gebilde und Aktionen der Surrealisten und Dadaisten wie großväterliche Kinderspiele ausnehmen. Und die verblüffte Avantgarde erklärt sich nun das Phänomen, daß ein Millionenpublikum dergleichen goutiert, mit der Popularität der mitgeführten Musik. Weibels euphorische These, Avantgardefilm und ästhetische Moderne seien Vater und Mutter des Musikvideos, verkennt die eigenständige Entwicklung von Technologie und Unterhaltungsmoderne.
Im Musikvideo, der vollständig elektronisch bearbeitbaren Bühnenshow, bleibt das bewegte Filmbild Regent, und obwohl es die universalen Erzählformen des Normalfilms bricht und fragmentiert, bricht dies nicht die Dominanz des Films, sie verewigt sich nun auch noch im innersten tonalen Kern der Unterhaltungsmusik. Dies trifft deren inneren Bildinhalt, aus dem sich einst die große Musik geschichtlich entfaltete, mit tödlicher Kraft: die Tonalität überlebt ihren eigenen Tod, indem sie sich an die abstraktesten Bildreflexionen des technologischen Schaubildes ausliefert. Kein Song, der nicht hyperredundant bebilderbar wäre, keiner, der nicht durch beliebig andere Videos – vom Minidrama bis zur handlungsfreien Bilderkaskade – mumifiziert werden könnte, keiner, der nicht sowohl in der Flutung überdeutlicher Bilder wie auch ihrer inflationären Hyperbeschleunigung die letzten Reste des tonalen Eros strangulierte, um zuletzt als fiktiver Generalbaß des surrealen Bildersturzes der Evolution künftiger Musikroboter überantwortet zu werden. Hinfällig die letzten Reste einer inneren Übereinstimmung von Musik und Bild, und indem sich die affektive Leiche der Musik fähig erweist, noch die zerstreutesten Bilderfolgen scheinhaft zusammenzuhalten, wird sie, den ausgeleierten Tonalitätsreim zu Ende singend, eins mit dem Geist von Kameraauge und Montageschnitt.
Da sich im Musikvideo die technologischen Synthesen der Bild- und Tonerzeugung unter dem Regelwerk der digitalen Totalverfügbarkeit vollziehen, wird eine Freiheit im Material des Films gewonnen, gegen die alle gesuchten Freiheitsvorstellungen der ästhetischen Moderne als Illusion auch für den aktuellen Zeitgeist erkennbar werden. Daher verabschieden sich heute alle utopischen Erwartungen von Farblichtmusiken, von Synchronien und Synästhetiken, die dem Film wie eine neue und eigene Art von Tonalität innewohnen sollten, als wäre dieser nur eine andere Art von Naturmaterial, das aus dem der traditionellen Künste hervorgegangen wäre. Und der angebliche Menschheitswunsch nach einer visualisierten Musik oder einer musikalisierten Malerei, den der andere Film verwirklichen sollte, indem er die mimetische Praxis der alten Künste in einer neuen fortgeführt hätte, darf die Maske der Alchemie abnehmen. Der Film hat über seine Elemente nicht die mimetische Autonomie der traditionellen Künste, er ist nicht als Zweite Natur durch mimetische Einheitsvollzüge von Form und Material, von Sinnlichkeit und Geist möglich, er besitzt eine niegewesene Reflexionsautonomie: – auch der genialste Regisseur ist nicht als traditionelles Natur- und Originalgenie möglich, er arbeitet im System der Filmelemente nicht wie Beethoven in dem der Tonalität, und ohnehin nicht mehr als Einzelkämpfer, sondern als Teil großer Teams und Firmen.
Auf eine innere Tonalität im Wesen des Films, auf eine nichtkontingente, eine mimetisch vollziehbare Einheit von technischer Apparatur und wissenschaftlich verwandelter Natur, zielten alle Vorstellungen der heroischen Avantgarde, die das neue Terrain diesbezüglich systematisch durchforstete. Das Bauhaus, indem es den Film nur als bewegtes Licht, der Oszillograph, indem er mit dem Lichtstrahl als Filmpinsel, mit der Klangspur wie mit einem neuen Instrument spielen wollte. Nur mehr historisch interessant daher die optophonetischen Spektakel der Dreißigerjahre, die synästhetischen und synchronischen Versuche Schlemmers und Lissitzkys, und bezeichnend noch Eisensteins metrisch komponiert gefilmte Schlachtszenen, die den Glauben des Regisseurs belegen, es müsse der Zeithorizontale einer diskursiven Bilderfolge eine innere Zeitvertikale von Klängen, also ein ritueller Filmrhythmus beiwohnen.[28] Nicht nur ökonomische Gründe sind daher namhaft zu machen, wenn sich viele und oft die besten Avantgarde- und Trickfilmer schon bald von der Filmindustrie absorbieren ließen. Auch Nam June Paik, der nach Weibel mit seinen Collagen und Aktionen von einer ästhetischen Befreiung des neuen Materials zur nächsten geeilt wäre, sei zuletzt, zu Weibels Betrübnis, von der Unterhaltungsmoderne umarmt worden.
In den Vereinigten Staaten von Amerika, dem Land der fortgeschrittensten technologisch-medialen Zivilisation, reagierten die traditionellen Künste früh und radikal auf den ungeheuren Druck, dem sie in einer für sie neuen Welt ausgesetzt sind. Schon in den Fünfzigerjahren entläßt sich die Malerei mit dem action painting aus der jahrtausendealten Verpflichtung zur Abbildung von realen und surrealen Welten. Nicht ein Bild, sondern ein Ereignis, und zwar zunächst die malerische Aktion selbst, wird nun dargestellt, womit nach Harold Rosenberg jegliche Trennung zwischen Kunst und Leben aufgehoben sei, getreu der Maxime von Allan Karpow, dem Erfinder des Happenings. In der Musik schlägt John Cage dem Geräusch und jeglicher kontingenten Aktion mehr als eine Gasse in das Innerste der Musik, – in seinen Werken erst würden die Töne zu sich selbst befreit, und die Kunst verliere jeglichen Charakter von Flucht aus dem Leben, sie werde eine Einführung in das Leben selbst. Das Grundprinzip dieser Wende: alles kann Kunst werden, ‚Alles ist Kunst’, aber nur für den, der es als Kunst erkennt, führte zum Umsturz aller Abstraktions-, Expressions- und Schockideale, die die europäische Avantgarde vorangetrieben hatte. Mit der völligen Identität von Kunst und Banalobjekt, die Warhols Brillo-Box 1964 vollzog, sei nun, nach Arthur C. Dantos Deutung, das philosophische Wesen der neuen Kunst endgültig enthüllt worden, deren Geschichte als selbsttragende Tradition daher zu Ende.[29] Und tatsächlich ist die Brillo-Box des Andy Warhol nur mehr dem philosophischen Blick als Kunstwerk enthüllbar. Marcel Duchamps prophetische Pissoirmuschel hatte mit dem Sturz aus der Abstraktion in den Konkretismus den Zwang der traditionellen Künste vorweggenommen, den säkularen Alltag als ästhetischen Schock inszenieren zu müssen.
Verwundern könnte aber zunächst, daß John Cages Klavierstück 4’33’’, in dem kein Klavierton erklingt, von avantgarden Deutern des Musikvideos als dessen Vorläufer, als erstes und zugleich letztes Aktiv-Musikvideo interpretiert wurde.[30] Indem das Publikum seine selbsterzeugten Geräusche aus der stillstehenden Monade von 4’33’’ entgegennehme, erfahre es sich noch als Kollektiv, versammelt um den erzählenden Geist wirklichen Erlebens, indes die Simulationen des Industriefabrikats Musikvideo nur noch an den Masseneremiten gerichtet seien.
Doch würde sich John Cage die Deutung gewiß verbitten, als Vorläufer von Michael Jackson gehandelt zu werden, und Michael Jackson ist möglicherweise noch nicht einmal der Name John Cage begegnet. Dennoch ist die These vom alter ego beider aufrechtzuerhalten, die Frage nach einem Vorläufer- und Vorbereitertum zielte nämlich in die falsche Richtung. Denn es ist unschwer zu erkennen, daß der Grundsatz ‚Alles ist Kunst’, dem die ästhetische Moderne unter dem Druck der technologisch-medialen Zivilisation folgen muß, vom Grundsatz der Unterhaltungsmoderne: ‚Alles ist Unterhaltung’ ununterscheidbar wird, wenn es dieser einmal gelungen ist, durch die technologische Perfektion des Filmauges die monströsen Geburten von Dauerabwechslung und Dauerüberraschung in die Welt zu setzen.[31] Eben dies leistet das Musikvideo vollendet, wenn auch um einen ähnlich verhängnisvollen Preis wie das artifizielle Kontrafaktum der ästhetischen Moderne. Dieses lebt nur mehr von den Deutungsgnaden des philosophischen Blickes und Ohres, jenes – das Objekt der musikalischen Unterhaltungsbegierde – nur mehr von den Exzessen des sich berauschen wollenden Filmauges in uns.
Im Musikvideo stürzen daher wie von selbst die beiden Welten von Unterhaltungs- und ästhetischer Moderne ineinander, – die Attraktion grenzenloser Abwechslung von hier und der Fluxus von abstrakter Expression, Verstörung, surrealem Schock und konkretistischer Symbolisierung von dort. Die innere Identität von Totalsimulation und Totalkonkretismus (wovor bekanntlich die ästhetische Postmoderne ihre Flucht in das Recycling ehrwürdiger Verfahren der Vergangenheit angetreten hat) entäußert sich auch in den ästhetischen Monumentalspektakeln der Gegenwart. Ist nämlich die technologische Simulation die Schrumpfform des ästhetischen Scheinens der traditionellen Künste, so der ästhetische Konkretismus – als irritierende Identität von säkularem Banalobjekt und Kunst – der Schrumpfgehalt des einst geistigen Gehaltes einer universal repräsentierenden Werkgestalt für höhere Gesellschaftseliten. Die Spektakel beider sind austauschbar und sie vollziehen den Austausch ihrer Leere auch vor aller Augen und Ohren. Christos Verhüllung des Reichstages wird als Freizeitzeremonie eines volksphilosophischen Gaudiums vollziehbar, im Angaffen der atomisierten Unwiederholbarkeit rumort noch ein letztes Mal die unerhörte Begebenheit der mythischen, Polyphems geblendetes Massenauge erblickt Christo als enteilenden Michelangelo. Und Bruckners Sinfonien werden als Klangwolken hyperakustisch angefacht, um für ein abwechslungsbegieriges Publikum als Riesenfeuerwerk verbrannt zu werden.
V. Die Verweigerung
Die Heroen der beiden modernen ästhetischen Reiche, das ruinierte Naturgenie und der zum Megastar der Medienindustrie ruinierte Star des Volkes, geben sich als Zwillinge zu erkennen, die sich im 20. Jahrhundert nur aus den Augen verloren hatten. Und sie werden die unversöhnlichen bleiben, die sie bisher waren, trotz aller Begegnungen, trotz aller unumgänglichen Crossover-Versuche, die in einer neuen mimetischen Sinnlichkeit und Kunst an die schöpferische Naivität der vormodernen Tradition anzuknüpfen vermeinen.
Denn beide Heroen opfern auf ihre je extreme Weise die letzten säkularen Reste der mythisch-religiösen Substanz jener unerhörten Begebenheit zwischen dem Absoluten und der Menschheit, jener großen ritualisierbaren Handlung und Erzählung, die in der Musik an der finalen Ritualität Beethovens ihre absolute Vollendung fand. Die musikalische Versorgung des modernen Humanus, sofern sie von neuer Produktion zehrt, ist seitdem zweigeteilt, weil die Definition von Kunst in der Moderne grundsätzlich zweigeteilt sein muß. Das Schisma im Reich des Ästhetischen lautet: Unterhaltung sei Wesen, Sinn und Zweck von neu zu schaffender Musik und Kunst, – oder im unvereinbaren Gegenteil: sinnliche Erkenntnis sei der oberste und innerste Richtpunkt neuer Musik und Kunst. Und zu behaupten, dieser Riß gehe mitten durch die Gesellschaft, wäre noch idyllisch verharmlosend, weil unterstellt würde, die Anteile sogenannter Neuer Musik am produzierenden Musikgeschehen beliefen sich auf die eine Hälfte am Ganzen der Produktion.
Der unendliche säkulare Zwischenraum zwischen den genannten Extremen, die aber nun gleichfalls unvergessbar in der Welt vorhanden sind – John Cage und Michael Jackson – die unendlichen Möglichkeiten, gegenwärtige und vergangene Praxen zu vermischen, werden natürlich stets wieder die Hüter der positiven Mitte und einer vermeintlich ungebrochenen Tradition auf den Plan rufen: der postmoderne Komponist wird sich mit allen traditionellen Universalitätsansprüchen zurückmelden, und der Jazz wird sich als verkannte Kunstmusik der Gegenwart beklagen und als große Kunstmusik des 21. Jahrhunderts prophezeien. Gegen die Formen- und Materialmöglichkeiten von Rihm und Petrucciani erscheinen Mozart und Beethoven als einfältige Vorläufer. Aber ist das Schisma einmal in der Welt, ist eine ungebrochene Rückkehr zur Primärgeschichte unmöglich; und der negativen Theophanie, die das Schisma tradiert, ist nur noch partikular durch Erinnerung an die positive der Primärgeschichte – durch die sekundäre Wiederaufführungsgeschichte traditioneller Musik seit 1800 zu entgehen.
Nach Beethoven – der noch sein Nach im sogenannten Spätwerk erkennt – schart sich alle Musik um ihren zweigeteilten Leib: der ernsten Schar wird Komponieren ein Kampf auf Leben und Tod, der unernsten eines der einträglichsten Geschäfte der modernen Welt. Die finale Ritualität der auskomponierten Tonalität teilt sich in ihre zwei Hälften: einerseits in jene prosaische Klangfinalität, die hoffte, in atonalem, dodekaphonem und seriellem Gelände eine diskursive Prosa in Klängen ausfindig zu machen. Diese Suche führte mangels Funden spätestens um 1970 zu jener völlig freigesetzten Klangmusik, die mittlerweile beim Prozeduralwerk des Strukturgenerators hält. Dieser ist gegönnt, den innersten Auftrag der ästhetischen Moderne als solchen ins Visier zu bekommen: unseren prärationalen und sprachlosen Bewußtseinsstrom durch ebensolche Klangströme und -sprünge auszudrücken.
Eine diskursive Prosa in Klängen konnte nicht gefunden werden, weil Musik in ungereimten – nichttonalen – Klängen nicht urteilsanalog sprechen kann. Jenseits der latenten oder manifesten Vermittlungsinstanz Kadenz kann sie nur sprachlos sprechen, eben jene freigesetzte Klangsprache, die sich auf keinerlei universale Syntax und Semantik mehr berufen kann und soll. Das Klingen als solches korreliert also dem Scheinen als solchen: das Innere entäußert sich, aber kontingent, weil sich der freigesetzte Klang nicht – wie Wort und Begriff – als Zeicheneinheit zu einem Bezeichneten verhalten kann. Die ehrwürdige Kadenz beispielsweise des Vierstimmigen Satzes, bis heute im Zentrum aller Musikpädagogik, enthielt und enthält das vollendete Analogat der Musik zum Subjekt-Prädikat-Satz der Wortsprache. Die große Musik sprach in Reimen und Strophen, und den vorwärtsdrängenden Beethovens gehorchte, weil erfüllt, sogar die Zeit, – in jenem bacchantischen Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist, weil sich in ihm Dionysos und Apollo die Hand reichen, um die magischen und rationalen Geister der Musik endgültig zu versöhnen.[32]
Andererseits geht auf Beethoven auch die weltgeschichtliche Geburt einer Musik zurück, die als bloß unterhaltende Existenzberechtigung gewinnt, nachdem eine Rückkehr zur Musik als Divertissement ausgeschlossen war. Wie die Finalität, verselbständigt sich auch die Ritualität, sie ruiniert den freien Satz zum Klischeesatz, und indem sie den Finalitätsanteil mehr und mehr reduziert, tendiert der Minutensong, der ohne den Spot des Textes kaum zur Welt gekommen wäre, alsbald zur Nullmelodie. Gänzlich verschwindet der Finalitätsanteil zuletzt im Trance-Ritual des Techno-Kultes, in der Monoton-Leier des Rap-Rezitativs und ähnlichen Gestalten, die am anderen Ende der Moderne, am Säkularisierungsaltar der Unterhaltungsmoderne, den letzten Röchelworten der sterbenden Musik eine technomagische Mumifizierung bereiten. Die oftgenannten „Mozart und Beethoven heute“ gingen daher weder in die Disco, noch komponierten sie freigesetzte Klangmusik oder postmoderne Omnipotenz-Parvenus, sie täten, was sie seit 1791 und 1827 tun: verstorben sein und von ihrer unsterblichen Hinterlassenschaft in uns weiterleben.
Zwischen den beiden ästhetischen Extremheroen des 20. Jahrhunderts herrscht somit eine absolute negative Identität, ein sich verweigerndes Absolutes. In deren Mitte regiert das unerzählbare Nichts, nicht eine neue unerhörte Begebenheit, die als Monade neuer universaler Werke auszuerzählen wäre. Daher keine universalen Formen mehr, in die dereinst noch die kontingentesten Gehalte des Lebens als Verklärungen transzendiert werden konnten. Unsere Abschiede formuliert kein Beethoven mehr um, und die Umformulierungen Mick Jaggers folgen nur dem Jargon von jedermann, jene von Rihm aber erreichen kaum einen Bruchteil von jedermann. Weder Atonalität noch Pantonalität war jene pneumatische Chromatik zu entlocken, die einen „funktionellen Kontrapunkt“ und eine „komplementäre Harmonik“ als Höherentwicklung traditioneller Kontrapunktik und Harmonik sollte generieren, noch war dem prärationalen Chaos der freigesetzten Klänge und Geräusche ein eigenes Regelwerk mit universalen Syntaxen und Semantiken zu entlocken beziehungsweise einzubilden. Das Nichts der Mitte ist so real gegenwärtig wie die Ozeane der Unterhaltungsimperien und die Erkenntnisinseln der ästhetischen Moderne. Und der von Adorno erwogene Auftrag eines deus absconditus zu bildlosen Bildern, die von seiner abwesenden Anwesenheit zu gestalten wären, wird entweder von beiden oder von keinem der beiden getrennten Teile erfüllt, gewiß jedoch nicht von einer Musik, die um der verlorenen Humanität willen, so inhuman wie nur möglich werden sollte.
Für unsere Reflexion wird an der negativen Identität von ästhetischer Moderne und Unterhaltungsmoderne allerdings die Gewißheit faßbar, daß das an ihm selbst positive Absolute noch da ist, – eben in seiner Verweigerung, den getrennten Leib nochmals zu vereinen. Und wir folgern wahrscheinlich richtig, daß die entstandene Leere mit etwas Neuem erfüllt werden wird, ohne daß wir über dessen Gestalt mehr als Vermutungen äußern könnten, wie etwa die bekannten, daß die globalisierte Moderne eine ethische oder politische oder wissenschaftliche oder mystische sein werde, – oder eine Vereinigung von alledem.
Noch weniger dürften wir am Beginn des 21. Jahrhunderts Einsicht darüber gewinnen können, ob und wie sich der künftigen Moderne die Alte Musik, das Panorama der Primärgeschichte von Gregorianik bis Gustav Mahler und Richard Strauß integrieren wird – (vielleicht in einer Art historischen Kunstreligion mit neuem Kult und Verständnis, das der technologischen Reproduzierbarkeit, die ungehindert im Inneren der Werke und der Musik insgesamt wütet, Einhalt geböte, – die Historische Aufführungspraxis ist nur ein Placebo, nicht das Heilmittel gegen die Zersetzung der Werke) – desgleichen das Chaos-Panorama der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts als Einlösung des späten Beethoven: als unverzichtbare Klage und Reflexion auf Primärgeschichte und Ende von Musik, die als große einmal möglich gewesen; und ob schlußendlich eine durch Jahrhunderte fortgesetzte Unterhaltungsmusik am Ende nicht dereinst verschwinden werde: am Überdruß des Übermaßes und der Einsicht einer erhellten Menschheit.
Wie auch immer jene künftige Moderne aussehen mag, eines ist diesbezüglich nicht zu übersehen: in einem reflexiv gewordenen Absoluten können wir uns als endliche, sterbliche Wesen nicht lieben und versöhnen. Davon können wir auch im Reich der Musik bereits ein garstig Lied singen: wir billigen jedem – auch im engsten Kreis – in demokratischer Toleranz völlige Freiheit in seinem musikalischen Tun und Lassen zu; aber diese Toleranz wird durch die trennende Erfahrung konterkariert, daß für den einen Musik ist, was für den anderen keine ist. Der gesprächslosen Toleranz ist ein Todesurteil beigefügt: was dem einen das Höchste, ist dem anderen ein Nichts.
VI. Das Rätsel
Im 20. Jahrhundert erfaßt die Säkularisierung die ästhetischen Extremheroen radikal, sowohl die Substanz ihrer unerhörten Begebenheit wie den Herzschlag ihrer Person. Beide – Geschichte und Heroe, story und Figur – sind untrennbar, stets war der Held Funktion seiner Geschichte, und diese der Erfolgsausdruck seiner Potenz, eine Vermittlung zwischen Gottheit und Menschheit vollbracht zu haben. Im Reich der Unterhaltungsmoderne wird nun spätestens im Musikvideo jener Grenzpunkt of no return erreicht, an dem die säkularen Reste der mythischen Potenz in die des Megastars und der Megagruppe kollabieren, da die erotischen Accessoires ihrer unmittelbaren Erscheinung tendenziell zur alleinigen Substanz der Heroen werden. Jede ansehnliche Erscheinung des Humanus ist daher vom industriell ausdifferenzierten Betrieb zum Megastar aufblasbar, jeder von uns ließe sich dazu in die Breite und Höhe schlagen, und so bleibt der Megastar, obwohl oder weil Epiphanie des Humanus, einer von uns, einer wie du und ich, trotz des schwindelerregenden Abstandes zwischen der VIP- und der Normal-Person.[33]
Alles, was der Megastar kann, alle Rollen, alle Verkleidungen und Entkleidungen, alle stories, die er für die Seinen durchlebt, dienen dieser nominalistischen Substanz, deren Wellen sogleich die Herzen der Fans durchzittern. Der Star wird zum Diener seiner selbst, denn um seine Selbstdarstellung kreist am Ende jede Darstellung, – der Heroe wird sein eigener Gott. Als Star ist er sich selbst der Nächste, für seine Fans eine Nächstheit, die an Fernstenliebe tödlich erkrankt. Seine Selbstliebe ist vermittelt durch die Liebe jener, denen sie genommen wird, weil sie jenen einen zu absoluter Selbstliebe hinauf- oder vielmehr hinunterlieben. Zwischen beiden vermittelt nur mehr die Illusion, der Geist der unerhörten Begebenheit sei noch da.[34] Die Liebe der Massen zu den Stars erweckt daher wieder, wenn auch in säkularer Verwandlung, die religiös rituelle: die Zuversicht, daß Elvis lebt, daß Roy Black lebt, daß am Ende womöglich alle Heiligen des Evergreens leben, ist keine gespielte, sondern die reale des Glaubens von säkularisierten Gemeindemitgliedern.[35]
Dem entspricht am anderen Extrem der ästhetischen Moderne die Verwandlung des Genies in den Guru der freigesetzten Kontingenz. Ähnlich wie wir auch den Humanus als sterbenden noch als lebenden achten, ja als gewissermaßen zuhöchst lebenden, weil wir kaum jemandem ehrfurchtserfüllter begegnen als dem vom vorerst absoluten Ende Umfangenen, ebenso achten wir am Genie, das sein Leben und seine kollektive Tradition als Guru beendet, noch die kontingentesten Einfälle, Vorfälle und Äußerungen als Epiphanien. An der Grenzlinie Tod – dem Ton Gottes nach einem Wort Feuerbachs – wird noch das Hinfälligste und Willkürlichste mit scheinbar unendlicher Bedeutung erfüllt, als scheinbar unerhörteste Begebenheit erfahrbar. Erst der letzte Genius darf und muß daher gänzlich seiner kontingenten Einzelnheit vertrauen: was uns versagt ist, ist diesem großen Einzelnen erlaubt, worauf wir nie gekommen wären, offenbart er uns mit der Miene des Weisen und Propheten. Mag er uns auch mitteilen, alle Menschen seien Künstler, so bleibt er doch unwiederholbar dieser sich sagende sagenhafte Einzelne: John Cage, um den unser Interesse kreist, unser Erstaunen und Bewundern, wie er es wagen und Anerkennung gewinnen konnte, wie er inmitten einer säkularisierten Welt der Kreativität des Schamanen eine archaische Gasse schlagen konnte. Und verzauberter noch als den Paradoxaktionen seiner freigesetzten Kontingenzphantasie lauschen wir seinen paradoxen Selbst- und Welterklärungen, und je irrational paradoxer diese erscheinen, umso besser, umso wohltuender und befreiender. Die Kunst sei zu Ende und deren paradiesische Zukunft habe soeben begonnen, verkündet uns ein einziger kühner Satz; aber wie er dies als dieser Einzelne sagt, dies ist schon die Epiphanie, es ist unvergleichlich, denn es war noch nicht da, und es mußte auch einmal dagewesen sein.
Die Konsequenzen sind radikal: Die ästhetische Freiheit des nominalistischen Genies findet an der ästhetischen Freiheit eines anderen Genies keine Grenze mehr, was doch einst das Kriterium verbindlichen Fortschrittes von Kunst und Kunstwerken war. Der Geist gemeinsamer Verantwortung ist unmöglich geworden, weil keine universale Substanz mehr vorhanden, die gemeinsam fortgeführt werden könnte. Zurück bleiben die Ruinen der Substanz: die Musik überhaupt, die Kreativität überhaupt, die Freiheit überhaupt. Der große Einzelne wird als seine eigene Insel in das Meer der anarchischen Kreativität geworfen, keine Gesellschaft, kein Kollektiv trägt ihn mehr, einzig noch der Markt ist am Ende sein Zuhause, und dieser ist kein tragendes Kollektiv, keine latent oder manifest beauftragende Gesellschaftselite, sondern eine ökonomische Weltordnung, welche die Produktion von Gütern und Reichtümern, gleichgültig welche, erhält und vorantreibt.
Die negative Theophanie bestätigt sich als jener negative Universalismus, dem nun alle ausgesetzt sind, denn alle sind nun gleich arm und gleich reich. Gleich arm: alle schöpfen aus demselben kontingent gewordenen Material, dem keine neuen universalen Gattungsformen mehr zu entlocken sind, keine, die nochmals als ästhetischer Sozialkörper zur Kultstätte der modernen Gesellschaft werden könnten, keine, die sich nochmals als Sinnziel neuer Musikvereine universalisieren ließen. Aber alle sind auch gleich reich: denn das Meer der unendlichen Möglichkeiten des neuen Materials ist um den Faktor bisheriger Geschichte erweitert und der zukünftigen Materialdifferenzierung ist keine Grenze gesetzt. Und weil im kontingenten Material die Maße aller Selbstbeschränkungen subjektiv werden müssen, stürzen die Gehalte in die Nähe des Privatissimums.
Noch nie waren Komponisten reicher an Formen und Materialien als heute, aber dies auf Kosten des universalisierbaren Gehaltes, der einst noch einer war, der unmittelbar kollektivierbar von Herzen zu Herzen sprach. Der moderne Komponist, auch der postmoderne, zieht bei jedem Werk gleichsam Unendlich aus Unendlich, und dies kann auch gar nicht anders sein: das kontingente Material ist nur die musikalische Vergegenständlichung seiner völlig freigesetzten Subjektivität. Und die Dialektik von arm und reich äußert sich im Komponisten als jene bekannte Schaukel von Depression und Euphorie, der auch der erfolgreichste Komponist Neuer Musik nicht entgehen kann, wenn es ihm nicht gelungen ist, sich durch John Cage auch noch vom Loslassen des Loslassens im Kontingenten zu befreien.
Entspricht in der radikalisierten Moderne die Unterhaltungsattraktion eines Menschen der Kontingenzattraktion eines anderen Menschen, so wird diese innere Identität immer wieder auch empirisch hervortreten. Beispielsweise wenn John Cage – in einem Dokumentarfilm festgehalten – berichtet, viele Leute kämen zu seinen Aktionen, weil er nun einmal berühmt sei; auch hätten sie Spaß an seinen Aktionen; aber dann fragten sie ihn oft, warum er nicht schöne Musik dazu mache. Unser technologischer Unterhaltungs-Humanus hatte noch zuvor an seinem Autoradio die neuesten Charts gehört, und so erwartete er, bei Cage nur vom Regen in die Traufe zu fallen, ohne sie dann als solche zu erkennen.
Als Schamane, wenn auch als technologisch traumatisierter, gebärdet sich im Musikvideo gleichfalls der Heroe der Unterhaltungsmoderne. Die Gesten der archaischen Trance-Techniken kehren gleichsam bildverwirrt wieder, wenn sich durchhaltender Song, Beat und Tanz in den entfesselten Bilderkorridoren als resthumane Mitte behaupten. In seiner technologischen Schwundgestalt erscheint der Heroe nochmals als Lenker großer Handlungen, als Offenbarer unerhörter Begebenheiten, als Bändiger des Schicksals, als Beschwörer der allseits drohenden Leere und Nichtigkeit. Und zu dieser inneren Unersetzlichkeit der Musik im Musikvideo stößt die äußere seiner Werbefunktion, es soll den Verkauf der Alben und Singles anfachen, um im Ring der Charts den Kampf um Ruhm und Reichtum zu bestehen. Die Seinen des Schamanen aber sind geborgen, solange nur sein Song ertönt, seine Sprechblasen rezitieren, sein Tanz durch die zerstückte Bilderwelt gleitet, solange seine Anwesenheit einen Sinn noch der fragmentiertesten Geschichte verbürgt.
Verborgen ähnlich reagieren wir auf die kontingente Aktion der vollkommen zu sich befreiten Kunst. Wenn uns John Cage empfiehlt, die Geräusche an einer New Yorker Straßenkreuzung als schöne Klänge entgegenzunehmen, als Epiphanie eines neuen Seins, so fragen wir insgeheim sogleich, was mag auf dem Rad dieses Kreises, auf dem Weg dieser Odyssee noch möglich sein? Was wird dem Meister noch einfallen, womit wird er uns noch überraschen? Und wir verwandeln uns in einen kontingenten Geschichtenfragmentierer, der sich auf die Spitze der Freiheitsstatue verfügt, um sich die Verhüllung riesiger Gebäude, die Versenkung von X, die Erbauung von Y auszudenken. Oder wir reihen uns in die Nachfolge der Nachfolger von Cage ein und erklären unseren Gang durchs Wohnzimmer, unseren halben Alltag oder auch einen ganzen, durchgehalten zwischen den vier Wänden Pascals, zum Kunstereignis, das es wert sei, auf und durch Video verewigt zu werden. Das große Los, einem creator ex nihil gleichzuwerden, sei demnächst zu ziehen.
Zu wissen, daß und wie der Unterhaltungsschamane die Begebenheiten und Formen der großen Geschichten und Heroen zu Versatzstücken vertanzt und versingt, hätte heute weder Aufklärungs- noch historischen Erklärungswert. Zu weit schon ist die unerbittlich sich vollstreckende Tradition fortgeschritten, die den einen Teil von Beethovens Leib verzehrt. Noch die Urstory, um die sich die meisten Musikvideos drehen, boy meets girl, dem Odysseus eine Substory wert, dem Neuen Testament keine, verlieren gänzlich ihr erotisches Gesicht, da der ewige plot von Liebeserklärung und Liebesumarmung im comic strip des Bildgewitters kollabieren muß. In der Annäherungsorgie austauschbarer Bilder lieben sich Dinge wie Menschen und Menschen wie Dinge. Wird jede Sekunde zur unerhörten Begebenheit, dann am Ende alle zur unerhörbaren und unvollziehbaren. Ist jeder Augenblick mit jedem kopulierbar, so könnte auf alles auch nichts folgen: man muß nicht dabeigewesen sein.
Dem obersten Grundsatz der ästhetischen Moderne: Alles ist Kunst, entsprechen ihre obersten Formsätze: Alles muß von allem trennbar sein, um nach Belieben wieder verbindbar zu sein. Dies enthält das Versprechen einer Strategie zur Einübung in das Leben, aber des Lebens zugleich als Spiel und Katastrophe. Da beide Weisen, das Sinnkontinuum erfüllten Lebens zu reflektieren, umzugestalten und aufzuheben, gleichermaßen aus den obersten Grundsätzen der ästhetischen Moderne folgen, stehen wir hier wieder vor dem innersten jener negativen Identität von Unterhaltungsmoderne und ästhetischer Moderne, nun aber im Herzstück der ästhetischen Moderne selbst. Auch die ästhetische Moderne möchte im Innersten ein völlig neues, ein weltanderes, und sei es ein hybrid diskontinuierliches Sinnkontinuum erzeugen, um das kontingent vorhandene unseres Lebens als eine beliebige Art unter diese Gattung eines neuen Ewigen Lebens zu subsumieren und dadurch zu versöhnen. Dem widerspricht aber, abgesehen von Natur und Vernunft, schon die absolute Kontingenz: der Tod, der folglich keine beliebige Grenze sein kann, mit der sich kontingent spielen ließe. Für den Tod besitzt die Kunst des Humanus im Grunde nur negative oder unterhaltende Worte.
In der Monade des nominalistischen Singulariums und seines Subjekts, gleichermaßen in 4’33’’ und im daimonion des Megastars, haust somit die absolute Stille leerer Zeit, in der die einst nichtkontingent erfüllte verschwindet. Kein Gottesauge leiht ihr das Licht, kein Urklang den Moment von Erleuchtung. Die fragmentierte unerhörte Begebenheit als Epiphanie zu züchten, dient nur zur Bildung jener verhüllenden Schleier, die über den Leib des sterbenden Genies geworfen werden. Und in der Beschwörung des Gegenteils: Beginn einer neuen nichtnominalistischen großen Tradition oder Fortsetzung der alten: Schönberg als Beethoven, Cage als Bach, Christo als Michelangelo des 20. Jahrhunderts, kehren nur die Mühen wieder, die James Joyce widerfuhren, als er seinen modernen Ulysses mittels innerem Monolog durch die Tage einer prosaischen Welt und die Kapitel eines modernen Romans nötigte. Am Ende suchte er in Finnegans Wake den Leib der Sprache selbst zu sezieren, denn irgendwo zwischen den Menschen müsse doch die Stimme der künftigen Gottheit wohnen.
An der unter Musikhistorikern gelegentlich noch gehandelten Frage – oft nur um zu fragen, weshalb eigentlich schon die Frage fraglich sei – wer der größte Komponist des 20. Jahrhunderts gewesen sein könnte, erweist sich die Aktualität der Nominalisierung. Nach Durchgang der Aktien von Schönberg und Strawinsky wird oft Bartok der Ehrenplatz zugewiesen, weil er auf undogmatischste und ungebrochenste Weise eine nichtkontingente Synthese in Werkgestalten gefunden habe. Dem wird dann regelmäßig von radikaleren Strängen der ästhetischen Moderne widersprochen; Heinz-Klaus Metzger beispielsweise neigt dazu, Anton von Webern zum größten Komponisten zu erheben, die serielle Musik hätte ihm nur eine falsche Nachfolge bereitet, die wahre stünde bis heute noch aus. Aber alle diese Vorschläge sind meist gründlich vergessen, wenn sich die Theorie vor dem Phänomen John Cage verbeugt, weil er letztlich am konsequentesten die Konsequenzen aus dem geschichtlichen Prozeß zur tabula rasa gezogen hätte. Indem er die Kontingenz eines absolutlosen Lebens zum Leben der Kunst erhoben habe, habe er allein der absoluten Relativität ins Auge gesehen und mit dem Ohr nachgelauscht.
Dieser Einsicht kann sich auch die Reflexion nicht verschließen: zwischen den Extremen der radikalisierten Kontingenz der ästhetischen Moderne einerseits und dem geistlosen Ritus der Unterhaltungsmoderne andererseits liegt die aufgezeigte Leerstelle und Verlassenschaft des Allerheiligsten. Aber die Wahrheit dieser Einsicht wird Philosophie nicht höher achten als die daraus abzuleitende, daß angesichts einer Leere und Desillusion im Innersten, die Notwendigkeit von Illusionsidealen und Euphoriepraxen für das Überlebens- und Überbrückungsprogramm in einer Epoche des radikalen Überganges keines Beweises bedarf.
Alles, was zwischen den genannten Extremen liegt – das bunte Reich der Gegenwart, das Scheinen der Erscheinungen, die Pracht der Illusionen, die Fülle einer pluralistischen Spätkultur – wird daher gut daran tun, die traditionellen Künste, die Musik insbesondere, als Mythos einer unmittelbaren Humanitätssprache zu bemühen. Und dies noch heute – am Beginn des 21. Jahrhunderts – am besten dadurch, daß man die Accessoires des Genies des 18. und 19. Jahrhunderts wenigstens rhetorisch wiederaufbereitet. Komponieren als für die Menschheit unersetzlichen Kreationsakt, musikalische Klänge als unmittelbare Seelensprache, Schönheit als jederzeit abrufbare Scheinvokabel, Musizieren als Verbesserung und Veredelung der Menschheit müssen die unersetzlichen Maximen einer Musikkultur bleiben, die noch an sich glaubt. Aber der moderne und postmoderne Komponist, deren Deuter und Musiker, werden damit leben müssen, ihren Selbstdarstellungen tagtäglich, bis in die gleichlautenden Worte hinein, in den Imperien der Unterhaltungsmusik, des Jazz ohnehin, wiederzubegegnen.
Im Grunde wissen wir längst, daß das Experiment, eine Menschheitsverbesserung durch eine Kunst herbeizuführen, an deren säkulare Autonomisierung sich die sakrale Gottheit geopfert haben könnte, gescheitert ist. Nach dem 20. Jahrhundert bedarf es dafür keines weiteren Beweises mehr. Auch lieben sich die Musiker bis heute weder als Menschen mehr als andere Menschen, noch gar als Musiker unbedingt einander. Die Unersetzlichkeit der Musik als Selbstausdruck des Humanus muß seitdem ohne Moralitäts- und Erlösungsanspruch behauptet werden.[36]
Und auch dieses Rätsel führt zurück zum Rätsel Beethoven: Wir wissen nicht (abgesehen von externen Angaben, die aber – auch für Beethoven selbst – nur die Oberfläche der Erscheinungen betreffen könnten), was der Sonaten- und Sinfonieheroe in Beethovens Werken erblickt, ob lediglich die totale Selbsterkenntnis der Musik durch das Auskomponieren tonaler Entelechien (im sogenannten Spätwerk deren geschichtliche Endlichkeit als Grenze absoluter Musik wie auch deren postchristlicher Ohnmacht über den Tod), die begrifflose Erkenntnis der bürgerlichen Gesellschaft, die Verklärung des absoluten Nominalismus der Neuzeit, oder noch etwas anderes dazu, etwas über das Wesen und die Zukunft des Humanus. Kaum dürften wir es mit der Wiederkehr des antiken Heroen im Bürgergewande zu tun haben. Wozu könnte uns auch ein neuer Odysseus dienen, ein musikalischer Prometheus, der die Bande von Haydns Schöpfung zerreißen mußte, um als ästhetischer Führer die Verbrüderung der Bürger durch Musik zu inaugurieren? Handelt es sich aber um einen transformierten Christus, einen verratenen oder einen verabschiedeten, so enthielte dies auch eine Selbsterkenntnis der Religion, aber welche und für wen?[37] Werke als Götterstatuen, aber ohne Götter: eine göttliche Komödie? Aber welche und zu welchem Preis welchen Lohns?
Erschien an Beethovens Musik die Transzendenz aller Musik, so entweder zu absolutem Erinnern oder absolutem Verschwinden. Wie Bach alle Komponisten vor ihm enthält, so Beethoven alle nach ihm bis zur atonalen Wende, sein Spätwerk ist noch heute moderner als die späteste Romantik und wahrer, weil es sich nicht vortäuscht, es werde jenseits der Tonalität nochmals ein musikalisches Entkommen aus der Kontingenz erscheinen, wenn er sich auch täuschte, es sei im Geist befreiter Musik die Messe nochmals als solemne Tradition möglich. Die erhabene Agora, die uns seine Musik schenkt, blieb die erste und letzte, und schon seine Zeitgenossen versammelten sich eher in der von Rossini, weil zur weltgeschichtlichen Stunde die Göttin der Musikmeere mit der Zwillingsgeburt von musikalischer Unterhaltung und Reflexion schwanger ging. Ist Beethoven/Schillers Ode an die Menschenfreundschaft, unterdessen zur Europahymne aufgestiegen, mehr als ein musikalischer Zuckerguß für die politisch-ökonomische und technologisch-zivilisatorische Vereinigung Europas?
Wenn aber auch jenes Menschheitsexperiment gescheitert ist, so ist doch unleugbar, daß jener Heroe, der in der Musik Beethovens absolut Ich sagen kann, vorerst eine persona grata des Weltgeistes ist, denn sonst hätte sich an seiner Musik nicht das Schicksal der Musik entschieden. Die Teilung des Leibes in zwei und die des Geistes in einen erinnernden an die Alte und einen illusionär erwartenden an eine Neue Musik, die aus neuer Einfachheit und Universalität eine neue Tradition kollektivierbarer Werke ausdifferenzieren sollte, ist irreversibel.
Die Altheroen der Menschheit, die Begründungsheroen der Religionen und Kunstepochen, fungierten in ihrer unerhörten Begebenheit als sakrale Vermittler. Odysseus, Zoroaster, Osiris, Buddha, Äneas, Christus, säkularisiert selbst noch Goethes Faust, Hegels Ontotheologie, Beethovens absolutes Musik-Subjekt führten dem suchenden Kollektiv eine Gottheit zu, die immer schon allgegenwärtig zusehenden Auges und zuhörenden Ohres die Handlungen und Gedanken der Heroen und ihrer Kollektive lenkte, deren Listen und Offenbarungen ermöglichte.[38] Die säkularen Global-Augen und -Ohren des Films, des Internets und des Marktes können dafür selbst dann kein Ersatz sein, wenn der technologisch-medialen Zivilisation eine glückliche Evolution dank rationaler Selbstorganisation beschieden wäre. Denn im Blickfeld dieser Globalaugen kommt der Ort unserer höchsten und letzten Wahrheits- und Liebesvergewisserung nicht vor, an den Medialorten wird der Humanus stets der Versuchung ausgesetzt sein, lediglich die verkaufbaren Images seines Scheins, seine eitlen Schemen und hinfälligen Schatten zu präsentieren.
Davon legt der Bilder- und Musiksturz des Musikvideos ein ebenso bestürzendes und beschämendes Zeugnis ab wie der Zwang des Gurus der Kontingenz, sich in einen seiner selbst unbewussten Scharlatan verwandeln zu müssen. Säkularisierte der Geist der Unterhaltungsmoderne die ästhetische Andacht, die ihrerseits die religiös-rituelle säkularisiert hatte, zur konsumatorischen Andacht des Unterhaltungsspektakels, so verwandelte der zu universaler Kontingenz radikalisierte Geist der ästhetischen Moderne die ästhetische Andacht zu einer Reflexionsandacht an die Aktionsbühne kontingent gefrorenen Lebens, auf der alles oder auch nichts geschehen kann. Im Bilder- und Musiksturz des Musikvideos fallen beide ineinander, – in die gänzlich verschwindende Andacht an die Sekundenheiligtümer einer ebenso austausch- wie verzichtbaren Allgegenwärtigkeit.
Erschienen in: „Querstand II. Beiträge zu Kunst und Kultur.“ – Hrsg. von der Anton Bruckner Privatuniversität. Regensburg 2006. S. 115-142.
Mit freundlicher Genehmigung der ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg
http://www.nmz-shop.de
[1] Textfassung eines Vortrages, – 1988 am Institut für Wertungsforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz gehalten. – Kapitel V. und VI erschienen in: Kolleritsch, Otto (Hrsg): Abschied in die Gegenwart. Teleologie und Zuständlichkeit in der Musik. Studien zur Wertungsforschung Band 35, Graz 1988.
[2] Adorno, Theodor W. und Eisler, Hanns: Vorurteile und schlechte Gewohnheiten. In: Theorie des Kinos, hrsg. v. Karsten Witte, Frankfurt 1982, S. 193.
[3] Ebenda, S. 195.
[4] Ebenda, S. 194.
[5] Weill, Kurt: Tonfilm, Opernfilm, Filmoper. In: Theorie des Kinos, hrsg v. Karsten Witte, Frankfurt 1982, S. 187 ff.
[6] Ebenda, S. 189.
[7] Ebenda, S. 189.
[8] Ebenda, S. 190.
[9] Ebenda., S. 190.
[10] Ebenda, S. 190.
[11] Ebenda, S. 190.
[12] Ebenda, S. 190.
[13] Ebenda, S. 190.
[14] Sergio Leones Spiel mir das Lied von Tod gelingt es, den auf ein Sirenenmotiv konzentrierten Filmsong Ennio Morricones mit der unbezwinglichen Heroenvisage von Charles Bronson zusammenwachsen zu lassen. In unserer Erinnerung versinkt dagegen alles andere: die unzähligen Leichen, die unsanft in ein sanftes Filmjenseits befördert wurden, die phantasielose Odyssee der Handlung und selbst die starken Reize Claudia Cardinales verblassen zur Staffage. Für die Triumphe der Frauenwelt über die Männerwelt muß in anderen Genres des Männerfilms gesorgt werden. Kafkas These an Homer bleibt aktuell: die Sirenen, vor denen sich Odysseus an den Ohren schützte, hätten sich ganz ohne Pflege des Gesanges eine Substory verschaffen wollen.
[15] Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Ästhetik. Hotho Ausgabe (1842), Berlin und Weimar 1965, S. 569.
[16] Ebenda, S.583.
[17] Ebenda, S.576ff. – Zum Humanus als dem neuen Heiligen der Künste vgl. S.581.
[18] Ebenda, S.573.
[19] Balász, Belá: Zur Kunstphilosophie des Films. In: Theorie des Kinos, hrsg v. Karsten Witte, Frankfurt 1982, S. 149.
[20] Pudowkin, Wselewolod: Über die Montage. In: Theorie des Kinos, hrsg v. Karsten Witte, Frankfurt 1982, S. 119.
[21] Balász, Belá: Zur Kunstphilosophie des Films. In: Theorie des Kinos, hrsg v. Karsten Witte, Frankfurt 1982, S. 167.
[22] Ebenda, S. 169.
[23] Einmal wollte der abstrakte Film das neue Medium selbst als ästhetische Wirklichkeit absolut setzen und nicht mehr nach dem Verhältnis zur Realität fragen; zum anderen wollte er durch die Entgrenzung von Malerei und Musik eine Neugestaltung der ästhetischen Wirklichkeit als Spiegel der Realität – freilich welcher? – erreichen. Zu dieser Aporie vgl.: de la Motte-Haber, Helga: Die Erfindung der Wirklichkeit. Vom abstrakten Film zum Video-Clip. In: Musik und Bildung, 18, S. 796.
[24] Weibel, Peter: Von der visuellen Musik zum Musikvideo. In: Clip, Klapp, Bum. Von der visuellen Musik zum Musikvideo, hrsg. v. Veruschka Bódy und Peter Weibel, Köln 1987, S.123.
[25] Weibel, Peter: Was ist ein Videoclip? In: Clip, Klapp, Bum. Von der visuellen Musik zum Musikvideo, hrsg. v. Veruschka Bódy und Peter Weibel, Köln 1987, S.274.
[26] Ebenda, S. 274.
[27] Weibel, Peter: Von der visuellen Musik zum Musikvideo. In: Ebenda, S.162.
[28] Während Peter Weibel eine beinahe geradlinige Entwicklung vom Avantgardefilm zum Musikvideo beschwört, bestreitet eben dies H. Gehr (The Gift of Sound & Vision. In: Sound & Vision – Musikvideo und Filmkunst. Ausstellungsretrospektive, hrsg. v. Deutschen Filmmuseum, Frankfurt 1993/94, S. 15) mit schlagenden Argumenten, etwa zum angeblichen Einfluß von Oskar Fischinger auf die aktuellen Videoclips. – Von avantgarden Vaterschaftssorgen gänzlich frei, weil das Musikvideo umfassend in seinem sozialen und ökonomischen Kontext im heutigen Alltag der Jugendlichen betrachtend, ist die 1997 erschienene Arbeit von Thorsten Quandt, Musikvideos im Alltag Jugendlicher. Umfeldanalyse und qualitative Rezeptionsstudie. Wiesbaden 1997. – Die ewige Frage, ob aus ökonomischen Strukturen und sozialen Rezeptionsweisen, in die eingebettet ein neues ästhetisches Phänomen zur Welt kommt, auch schon Kategorien zur ästhetischen Bewertung des merkwürdig schönen Kindes abzuleiten sind – nachdem die historischen der Avantgarde versagen müssen – stellt sich also auch diesmal wieder.
[29] Danto, Arthur. C.: Kunst nach dem Ende der Kunst. München 1996. (Übersetzung aus dem Englischen von Christiane Spelsberg)
[30] Daniels, Dieter: Die Einfalt der Vielfalt. Ein fiktives Selbstgespräch. In: Clip, Klapp, Bum. Von der visuellen Musik zum Musikvideo, hrsg. v. Veruschka Bódy und Peter Weibel, Köln 1987, S.175: „John Cages Stück 4’33’’ nimmt einen Großteil der Problematik des Musikclips vorweg.“
[31] Die Groteske stürzt verschwindend in die Totalgroteske, in der es nichts mehr zum Lachen und nichts mehr zum Staunen gibt, was doch einst das Motiv des säkularen Gemütes war, den Ort der Unterhaltung aufzusuchen. In der Explosion des Witzes gebiert sich ein weiteres Ungeheuer zynischer Vernunft. Auch hat die jahrtausendealte Frage – Zeuxis Helena und Weintrauben – nach dem täuschenden oder nichttäuschenden Schein aufgehört, sinnvoll gestellt werden zu können. Die Weintrauben des Films sind gläsern und aus Kunststoff und dennoch real; höher läßt sich die säkular ästhetische Verzauberung der modernen Welt nicht treiben.
[32] Vgl. Dorner, Leo: Zum Paradigmenwechsel der Musik im 20. Jahrhundert. Linz 1997/2006, siehe unter TRAKTATE.
[33] Helga de la Mottes Satz: (Die Erfindung der Wirklichkeit. Vom abstrakten Film zum Video-Clip. In: Musik und Bildung, 18, S. 798) „Je größer die technische Perfektion des Mediums wurde, um so mehr konnten Stars ohne Ansehen der Person fabriziert werden“, könnte umgekehrt paraphrasiert werden: gerade nur mehr das „Ansehen“ der (ansehnlichen) Person genügt, um den Star zu machen. Was sich bestätigt am Phänomen der boy-groups und girl-groups; vgl die Recherchen und Interviews in: Quandt, Thorsten: Musikvideos im Alltag Jugendlicher. Umfeldanalyse und qualitative Rezeptionsstudie. Wiesbaden 1997, S. 187 ff.
[34] Im Grunde ist im Musikvideo auch der Star nicht mehr – als humaner Könner – da, weil er seine Bildakrobatik zuletzt gänzlich der Kamera verdankt. „Sie tanzt mindestens so gut wie Fred Astaire.“ (Helga de la Motte, ebenda, S. 798.)
[35] Trotz seines Verschwindens bleibt der Star und seine Gruppen-Konkurrenz im Unterhaltungsolymp die alles übergreifende Identifikationsfigur, das ‚Metanarrativ’ der Videoclips, vgl. A. Goodwin: Dancing in the distraction factory: Music television and popular culture. Minneapolis 1992. – Dieser hohle Grund verführt systemimmanente Deuter des Musikvideos stets wieder zum Versuch, eine von den Manipulationen der Marktmacher freie Grammatik von jugendlicher Subkultur gegen eine angeblich unfreie und unterdrückende von erwachsener Hochkultur zu konstruieren, als ob in der Zauberschüssel des Fernsehens nicht längst alles Hohe und Niedere friedlich vereint zusammenwohnte und einander besuchte. – ‚Metanarrativ’ lautet fan-empirisch übersetzt: „…das Drumherum, wie die das so erzählen, was da so passiert ist mit den einzelnen Gruppen und so was.“ (Thorsten Quandt, ebenda, S. 187.) In der Chartsorientierung der Jugendlichen – was wird diese Woche mehr geliebt, was wird mehr gekauft, wessen Lieblingsgruppe liegt vorne – gönnt sich der musische Agon der Antike eine lustvolle säkulare Renaissance, wohl auch eine weltgeschichtliche Abschiedsvorstellung.
Die fiktiven Vorbilder der Unterhaltungsmusik könnten den Jugendlichen in der realen modernen Welt keinerlei Orientierungshilfen geben, wenden mitunter Politiker, Psychologen, Pädagogen, Priester, Soziologen usf. ein, ohne daß sie angesichts der Musikbegräbnisse letzter Klasse von clubbings, street-parties und love-parades mehr als Ratlosigkeit offenbarten. Offensichtlich reagiert das ästhetische Schisma mit seiner Unersetzlichkeit von Unterhaltung inmitten der modernen Gesellschaft auf den Druck einer rational ausdifferenzierten Zivilisation. Daher ist wohl Besorgnis angesichts zahlloser Defizite und Verdrossenheiten unter Jugendlichen anzumelden, nicht aber der geringste intellektuelle Dünkel. Gerade Intellektuelle, Künstler, Musiker haben ihre Nesthäkchen in der Unterhaltungssphäre, und in den Medien laufen unentwegt einige tausend unersetzlicher stories mit finaler Ritualität, an denen teilzunehmen noch immer die Gewißheit spendet, ein stets informiertes Rädchen im Mythos Welt zu sein, sei unersetzlich fürs eigene Leben. – Nach dem Besuch einer Ausstellung mit abstrakten Bildern, berichtet Arnold Gehlen, (Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Frankfurt 1986, S.223) fühle man sich in ein Grenzenloses hinein entlastet. Hinein ging man als problembeladener Mensch der Gegenwart, hinaus, so könnte man ergänzen, mit dem Bewußtsein, mit dem im gleichen Augenblick eine Schwalbe vom Fenstersims am ersten Stockwerk abhebt. Aber unterschlagen wird in diesem Argument, daß die Abstraktion als Verfahrensmoment der ästhetischen Moderne für deren Auftrag unersetzlich wird, wenn es einmal gilt, das Kontingente kontingent zu bannen, schon um die Leiden des Humanus zu reflektieren. Und an diesen war das Angebot des 20. Jahrhunderts überreich.
[36] Im freigesetzten Klang äußert sich das Innere, wenn auch kontingent, so doch spontan; und an dieser Äußerung hat ein rationales Gesellschaftssubjekt ein umso höheres Interesse – wenn auch marginal – je nichtrationaler diese sich manifestiert, weil es sich darin in seinen prärationalen und sprachlosen Schichten, beispielsweise im Spiegel eines widerholungslosen und unwiederholbaren Klangkontinuums, erfahren kann. – Andererseits enthält der absolut gebundene Klang das Geheimnis einer nichtkontingenten Spontaneität. Beethovens Musik spricht durch eine der Musik eigene Negativität, durch ein Selbst der Musik. „In Beethoven kann ein Bürger ohne Scham wie ein König reden.“ (vgl. Th.W. Adorno: Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte. Hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt 1993, Fragment 68, S. 54 und Fragment 80, S. 59.) Absoluter Nominalist konnte auch in der Musik nur einer sein. – Am gebundenen Klang der Unterhaltungsmusik hat das rationale Gesellschaftssubjekt ein wesentlich soziales – daher nichtmarginales – Interesse, es täuscht sich ein ästhetisches lediglich vor, denn es hält etwas für Kunst, das eine war.
[37] „Seine Musik ist das innerweltliche Gebet der Bürgerklasse, die rhetorische Musik die Säkularisierung der christlich-liturgischen.“ (Th.W. Adorno, ebenda, Fragment 328, S. 235)
[38] In der religiösen Moderne (der christlichen Welt) liegt die negative Mitte bereits zwischen ihrer Offenbarungssubstanz und allen ihren Konfessionen. Scylla und Charybdis für die religiöse Zukunft scheinen daher zu lauten: Einmal ist keine höhere Vermittlung als die der Menschwerdung denkbar, daher keine höhere Religion über das Christentum hinaus möglich; andererseits scheint der säkulare Entzug und Rückzug aus der rituell-kultischen Vermittlung der religiösen Substanz unaufhaltsam. Die Totalprivatisierung der Religion seit dem 19. Jahrhundert trifft diese verheerender als das ästhetische Schisma die Künste im 20. Jahrhundert. – Eine kollektivierbare reflektierte Ritualität ist nirgends in Sicht, weil entweder unmöglich oder noch jenseits unseres Horizontes, – der Missa solemnis zerbrach das christliche Herz. Und für das Reflexionspotential des religiösen Privatissimum besitzt die moderne Gesellschaft kaum eine Herberge für ein öffentliches Scheinen. – Die neue Allgegenwart geht daher – nach einer Bemerkung Heideggers – möglicherweise schon im Verborgenen vorüber.