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02 Zu den Grundproblemen der Musikästhetik

Die Grundprobleme der Musikästhetik[1] lassen sich im Wesentlichen von zwei Seiten aus betrachten. Wir können einerseits die rein wissenschaftliche, methodische Seite der Musikästhetik untersuchen, zum anderen den Gegenstand der Musikästhetik, also im weitesten Sinne die Musik selbst, einer Betrachtung unterziehen. Dabei wird es immer auf die Klärung zweier Grundfragen ankommen: ob nämlich die angewendete Methode dem Gegenstand entspricht und inwiefern die Eigenschaften des Gegenstandes die eingesetzte Methode bestimmen. Im Folgenden wird versucht, beide Zugangsweisen anzudeuten. Zuvor darf aber nicht verschwiegen werden, daß die Unternehmungen der Musikästhetik in unserer Zeit äußerster Fragwürdigkeit ausgesetzt sind. So schreibt Otto Riemer nach dem Zweiten Weltkrieg in der Zeitschrift „Musica“, daß die Musikästhetik nur mehr ein Achselzucken auszulösen scheint.[2] Wir können das 19. Jahrhundert als das heroische Zeitalter der Musikästhetik bezeichnen, und werden auch die qualitativ hochstehenden musikästhetischen Versuche, Systemansätze und historischen Gesamtüberblicke des späten 18. und des frühen 20. Jahrhunderts nicht übersehen dürfen. Es ist daher nicht ganz richtig, wenn Carl Dahlhaus das Ende der Ästhetik und damit wohl auch der Musikästhetik mit dem Jahre 1900 festsetzt.[3]

Denn die historisch bedeutsamen Systemzusammenfassungen von F.M. Gatz[4] und P. Moos[5], um nur zwei Namen zu nennen, lassen sich nicht als bloß kompilierende Aggregate übergehen. Das Hauptwerk von P. Moos etwa ist noch immer die beste Einführung in die Musikästhetik des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus vielleicht sogar in die Musikästhetik überhaupt. Seine historisch sehr umfassend angelegte Philosophie der Musik weist aus heutiger Sicht allerdings zwei schwerwiegende Mängel auf, einen formellen und einen inhaltlichen. Ersterer besteht im Fehlen eines Sachregisters, was sich natürlich bei einem Buch, das die unterschiedlichen Auffassungen verschiedener Autoren zu stets gleichbleibenden Begriffen darstellt, äußerst negativ bemerkbar machen muß. Der inhaltliche Fehler liegt meiner Ansicht nach darin, daß Moos der Musik nur die Erzeugung idealer Scheingefühle zugesteht[6] , im diametralen Gegensatz zur Musikästhetik von F. Th. Vischer, der das sogenannte reale Fühlen des Alltagsbewußtseins als schlechten, durch Zufälligkeit und Willkür bestimmten Schein erkennt.[7] Dieses reale, vergleichsweise formlose Fühlen und Empfinden müsse erst durch die schönen Werke der wahren Musik zum wahren Fühlen und Empfinden geläutert werden. Man wird sich in diesem Punkt der Ansicht Vischers anschließen müssen, jedenfalls hinsichtlich der großen Musik vor Schönberg. Denn wenn man den Gedanken von Moos konsequent weiterdenkt, wird die Musik zuletzt Ausdruck bloßer Illusionen und Täuschungen und niemals als Organon der Wahrheit (als unbewußtes Philosophieren, wie Schopenhauer sinngemäß sagen würde) aufgefaßt werden können.

Die als Vorurteil weitverbreitete Annahme, daß die Musikästhetik und die Ästhetik überhaupt erst seit dem Jahre 1750 existieren, ist ebenfalls mit Vorsicht zu genießen. Es ist zwar richtig, daß die musikästhetischen Forschungen von 1750 bis etwa 1930 mit vereinzelten Spätlingen unter dem Terminus ‚Musikästhetik’ zusammengefaßt werden; dennoch läßt sich nicht leugnen, daß die musikästhetischen Grundprobleme bereits vor 1750, spätestens seit Platon, im Rahmen anderer Wissenschaftszweige, im Mittelalter bekanntlich sehr oft in musiktheoretischen Traktaten behandelt wurden; im 20. Jahrhundert, eigentlich schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, werden die Grundthemen zunehmend in den verschiedenen Einzelwissenschaften wie Psychologie, Mathematik, Historik, Physiologie und Soziologie bearbeitet. Trotz der gegenwärtigen Fragwürdigkeit der Musikästhetik wird deren Existenz nichtsdestoweniger auch eindringlich erwünscht. So erhofft sich Albert Wellek von der Musikästhetik gesicherte Maßstäbe und Kriterien, durch die das Elend und die Unsicherheit der Musikkritik beendet werden könnten.[8] Man ist in unserer Zeit natürlich versucht, das Elend der Musikkritik, das sich nicht zuletzt im pseudoästhetischen Wortsnobismus mancher Musikkritiker äußert, auf den herrschenden Pluralismus unserer musikalischen Gegenwart zurückzuführen. Wenn verschiedenste Musiken mit einander ausschließenden Normen nebeneinander existieren, so daß in der einen Musik Gesetze respektiert werden, die in der zweiten Musik unbedingt negiert werden, während nebenan schon die dritte wartet, die die Gesetze der beiden ersten als längst überholte Gewohnheiten bezeichnet, dann sieht sich der Musikkritiker notwendig einer grenzenlosen Verunsicherung gegenüber. Er wird die gleichen Begriffen auf die verschiedensten Dinge anwenden und z.B. einander entgegengesetzte Musiken in gleicher Weise als schön und künstlerisch wertvoll bezeichnen müssen.

Als Ausweg bleibt dann nur mehr die Zuflucht zur radikalen bzw. angepaßten Subjektivität des Urteils oder der konkurrenzbedingte Wortsnobismus. Die Schwierigkeit scheint aber im Wesen der Musik selbst zu liegen und nicht in einer bestimmten Epoche seines Erscheinens. Schon das 19. Jahrhundert, wegen seiner größeren Einheitlichkeit oft gepriesen, konnte sich in der ästhetischen Beurteilung der Musik keineswegs zu großer Übereinstimmung durchringen. Als Beleg eine Stelle aus der „Ästhetik des Häßlichen“ (1853) von Karl Rosenkranz: „Obwohl nämlich diese Kunst [Musik] in ihrer abstrakten Form, im Takt und Rhythmus, auf der Arithmetik beruhet, so ist sie doch in dem, was sie erst zum wahren, seelenvollen Ausdruck der Idee macht, in der Melodie, der größten Unbestimmtheit und Zufälligkeit ausgesetzt und das Urteil, was schön, was nicht schön sei, in ihr oft unendlich schwer. Daher denn die Häßlichkeit vermöge der ätherischen, volatilen, mysteriösen, symbolischen Natur des Tons und vermöge der Unsicherheit der Kritik [Wissenschaft] hier noch mehr Boden, als in der Malerei gewinnt.“[9]

Bereits Rosenkranz muß also einen Mangel an Kriterien feststellen, den er letztlich auf die in aller Musik herrschende subjektive Willkür der schaffenden Genies zurückführt. Die Notwendigkeit dieser subjektiven Willkür führt er wiederum darauf zurück, daß die Musik nur insofern seelenvoller Ausdruck der Idee, d.h. bei Rosenkranz: der göttlichen Vernunft zu sein vermag, als sie sich in den einzelnen Kunstwerken einer individuierenden Kraft bedient, die aus keiner Vernunft abzuleiten ist. In diesem Verhältnis von Notwendigkeit der göttlichen Vernunft einerseits und absoluter Freiheit der Phantasie des einzelnen Genies andererseits liegt ein wesentliches Grundproblem der Musikästhetik, auf das später noch einzugehen ist. Symptomatisch für die von Philosophen betriebene Musikästhetik ist die Behauptung von Rosenkranz, daß die Musik in Takt und Rhythmus auf der Arithmetik gründe. Neben großen Einblicken in das Wesen und in die Geschichte der Musik finden wir nämlich in dieser Art von Musikästhetik immer auch entsprechend große Naivitäten und Vorurteile. Rosenkranz z.B. konnte nicht wissen, daß seine These von der alleinigen arithmetischen Begründung (vielleicht von Solger[10] übernommen) der musikalischen Zeitorganisation im theoretischen Hauptwerk von Moritz Hauptmanns, das ebenfalls 1853 erschienen war, als unhaltbar widerlegt worden war.[11] Die Synthesis in der musikalischen Zeitgestalt, die Einheit musikalischer Zeit, also jener Qualitäten, Quanten und quantitativen Verhältnisse, durch die Zeit überhaupt erst zu musikalischer Zeit wird, geht nach Hauptmanns Einsicht auf tiefere als auf arithmetische Gründe zurück.[12] Und wenn schon damals der Philosoph die gleichzeitige Entwicklung der Musikwissenschaft nicht rezipieren konnte, läßt sich daraus leicht erahnen, wie groß die Kluft zwischen beiden Wissenschaften durch die nachfolgende, gleichsam explodierende Spezialisierung geworden sein muß.

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß Paul Moos, noch kurz vor seinem Tod, in einer Diskussion mit Hans Engel zur Ausbildung eines relativ vollendeten musikästhetischen Gebäudes einen Wissenschaftler forderte, in dem Philosophie und Musikwissenschaft eine wirkliche Einheit eingegangen seien.[13] Bisher sei dies nicht der Fall gewesen, auch bei ihm selbst nicht.[14] In unserer spezialisierten Zeit wird zur Erreichung dieser Einheit nicht mehr ein einzelner Kopf, sondern eine ganze Gruppe von Köpfen, eine sogenannte Arbeitsgemeinschaft gefordert. Dabei ergeben sich neue Probleme, deren Darstellung hier aber zu weit führen würde. Letztlich kommen auch die Arbeitsgemeinschaften nicht um das Problem der sachlichen Vereinigung in den einzelnen Köpfen herum, gleichgültig um welche Arbeitsgemeinschaft es sich im konkreten Fall handelt. Die Vereinigung zweier oder mehrerer Wissenschaften ist erst dann eine wirkliche, wenn sie durch die einzelnen hindurchgeht und nicht mehr sozusagen zwischen den Köpfen, also diesen äußerlich bleibt. Wenn die Musikästhetik in unserer Zeit zugleich gefordert und als fragwürdig betrachtet wird, dann scheinen sich im Zusammenhang damit vier grundsätzliche Verhaltensweisen hinsichtlich der Möglichkeit oder Unnötigkeit der Musikästhetik zu ergeben.

Erstens besteht die Möglichkeit, die Ästhetik überhaupt abzulehnen. Diese Haltung ist sehr stark in der modernen Musik nach 1945 ausgebildet, aber eigentlich nicht so sehr als bewußte Ablehnung, sondern eher als unbewußtes Vergessen der musikästhetischen Grundprobleme.[15] In den entsprechenden Abhandlungen dominieren die rein technischen und soziologischen Fragen beinahe ausschließlich. Diese Trennung der kompositionstechnischen Fragen von den musikästhetischen Begründungsfragen geht auch auf die polemische Haltung Schönbergs in seiner Harmonielehre[16] zurück, obwohl man auch in dieser nur ein Symptom der allgemeinen musikgeschichtlichen Entwicklung seit Beginn des 20. Jahrhunderts sehen kann. Jedenfalls muß man Wellek zustimmen, wenn er sagt, „daß die Verehrer der Absurdität [so nennt er die Komponisten der Avantgarde] der Einfachheit halber die Ästhetik überhaupt ablehnen“, und wenn er kritisch anmerkt, daß dies „nur von einem weitverbreiteten Mangel an philosophischem Sachverstand“ zeugt.[17]

Die zweite Möglichkeit besteht darin, von der unbezweifelbaren Existenz verschiedenartigster Musiksysteme auszugehen und mit P. Bekker den Grundsatz aufzustellen: Weil verschiedene Musiken, also auch viele verschiedene Musikästhetiken.[18] Dagegen ist in rein historischer Hinsicht nichts einzuwenden, und es ist völlig richtig und eigentlich banal, daß jede Epoche, sofern sie eine von der Musik der übrigen Epochen unterschiedene und eigenständige Musik aufweist, auch eine eigene Musikästhetik besitzt, in der eben die spezifischen Grundsätze über das, was als Musik gilt oder nicht, mehr oder weniger deutlich ausgesprochen sind. Versucht man aber, auf der Basis des genannten Grundsatzes ein Gebäude allgemeingültiger musikästhetischer Aussagen zu errichten, so gelangt man sehr bald zu folgender Frage: Mit welchem Recht, mit welcher wirklich fundierten Begründung wird den verschiedenen Musiken überhaupt das Prädikat „Musik“ zugesprochen? Da Gewohnheitsrecht und subjektives Meinen für wissenschaftliche Zwecke nicht ausreichen können, ergibt sich also ein echtes Voraussetzungsproblem an der latenten axiomatischen These, daß die verschiedenen Musiken, so sehr sie auch verschieden sein mögen, doch darin identisch sind, Musik zu sein.

Wenn nun die Musikästhetik keine Kriterien für dieses Identische, also für ein allgemeines Wesen des Musikhaften anzugeben vermag, muß natürlich der völlige historische Relativismus und der Verlust aller Normen und Kriterien die von Wellek so beklagte Folge sein.[19] Eine der vielen neuen Musikrichtungen nach dem Zweiten Weltkrieg behauptet z.B., daß auch Motorenlärm als Basis von Musik zu betrachten ist; man denke an Werke und Äußerungen von John Cage[20] und Pierre Schaeffer. Dagegen bestand die alte Ästhetik und Musiktheorie des 19. Jahrhunderts darauf, daß nur der Ton, der regelmäßige Klang, wie es dort immer heißt, um eine gewünschte Verbindung zu einer hypothetischen Naturschönheit herzustellen, Basis von Musik sein kann, in keiner Weise aber Geräusch.[21] Die relativistische Musikästhetik kann zu den Grundsätzen der gegensätzlichen Musikrichtungen nur den Standpunkt des Sammelns, nicht den Standpunkt kritischer Beurteilung einnehmen.

Die dritte Möglichkeit folgt zwangsläufig aus der zweiten. Denn wenn in aller Unterschiedenheit auch Identisches, Gleichbleibendes und Konstantes vorhanden ist, dann kann man durch die sogenannte systematische Musikwissenschaft als Konstantenlehre, die von Wellek ausdrücklich als ahistorische Wissenschaft bezeichnet wird, die Musikästhetik und ein allgemeines Wesen von Musik zu begründen versuchen.[22] Die systematische Musikwissenschaft zielt auf das, was allen Musiken und Epochen gemeinsam ist; dieses Gemeinsame oder Konstante wird als das Allgemeine bezeichnet; das Allgemeine wird zugänglich durch abstrahierende Induktion, also dadurch, daß von der Vielfalt der Erscheinungen ausgegangen und das Gemeinsame der Erscheinungen herausabstrahiert wird. Dabei ergeben sich Schwierigkeiten. Zunächst muß wieder vorausgesetzt werden, daß die Unzahl der vorliegenden Notationen, Partituren, Noten usw. auch wirklich Musik ist, zweitens kann die Induktion niemals zum Abschluß kommen, weil die Musik der Zukunft noch nicht Gegenstand der induktiven Systematik sein kann, und drittens ist aus der induktiven Methode selbst kein Kriterium für den Unterschied von wesentlichen und unwesentlichen Gemeinsamkeiten der diversen Musiken zu gewinnen. Denn die Induktion geht von der Vielfalt der Gestalten aus, in deren unmittelbarer Seinsweise Wesentliches und Unwesentliches total vermischt ist. Außerdem muß die Konstantenlehre eine Seinswissenschaft und keine Sollenswissenschaft sein, wodurch ihre Bestimmungen immer in gefährliche Nähe von Naturgesetzen geraten, die gegenüber den Äußerungen genialer Freiheit in der Musikgeschichte nur der Ausdruck höchster theoretischer Hilflosigkeit sein können. Hegel bezeichnet daher mit Recht das Gemeinsame als das leere Allgemeine und unterscheidet davon das bestimmte Allgemeine – die Idee.[23] Wenn in Analogie zur systematischen Musikwissenschaft eine systematische Ethik an Kannibalismus, Sklaverei, Demokratie als Gemeinsames den Begriff der menschlichen Beziehung feststellen würde, so wäre dieser Begriff doch nicht tauglich, die wesentliche Allgemeinheit wirklich ethischen Verhaltens zu fundieren. Ebenso wäre Tonbeziehung überhaupt als Gemeinsames von Dodekaphonie, Dur-Moll-Tonalität und modaler Musik eine völlig unbestimmte Allgemeinheit, die nur verhindert, daß über seinsollende Tonbeziehungen als Voraussetzung zur Bildung eines vernünftigen Tonsystems reflektiert wird.

Als vierte und letzte Möglichkeit bleibt noch die deduktive Musikästhetik eines vielleicht möglichen übergeschichtlichen Wesens und Begriffs der Musik. Die Musikgeschichte scheint uns freilich etwas anderes zu lehren. Die gewaltigen Veränderungen in der Geschichte des musikalischen Abendlandes z.B. verweisen eher auf ein rastloses Wesen im Inneren der Musik, nur damit beschäftigt, unaufhörlich die stets neu gezeugten Kinder zu fressen. Schon Hanslick beklagt den unendlichen Verschleiß an musikalischen Formen, und Dahlhaus sieht in der zeitlosen Ästhetik überhaupt nur mehr ein Phantom.[24] Ein übergeschichtliches Wesen von Musik muß allerdings nicht so geschichtslos sein, wie Dahlhaus meint. Es könnte sein, daß die gesamte Musikgeschichte nur der Offenbarungsprozeß des zeitlosen Wesens von Musik ist, es könnte aber auch sein, daß dieses zeitlose Wesen, sofern es überhaupt als Motor der Musikgeschichte tätig ist, in einer Epoche seine höchste Zeit hat und in dieser dann in relativer Vollendung oder besser gesagt als vollendete Annäherung ans absolute Wesen erscheint. Die musikgeschichtliche Bewegung wäre die Selbstbewegung der absoluten Idee von Musik, und die Aufgabe einer wirklich geschichtlichen Darstellung wäre es, in den verschiedenen geschichtlichen Erscheinungen die Art der Einheit festzustellen, in der sich die Idee mit sich selbst jeweils befindet. Die epochemachenden Veränderungen wären nicht als etwas Zufälliges, Vereinzeltes, Willkürliches oder nur psychologisch Motiviertes, sondern als Bewegung zu erkennen, die durch die immanenten Bestimmungen der Idee bedingt ist.[25]

Von solcher Musikästhetik sind wir heute ferner denn je, und die Kritik an der Musikästhetik richtet sich in erster Linie gegen die deduktiv vorgehende. Daran hat die Emanzipation des schaffenden musikalischen Genies in der Epoche des niedergehenden Bürgertums wesentlichen Anteil. Die seit dem späten 18. Jahrhundert beginnende und heute allgemein herrschende Selbsteinschätzung des schaffenden Genies, der zufolge allein das Genie bestimmt, was als Musik anzusehen ist und was nicht, findet ihre theoretische Artikulation in der bekannten Formel Kants: „Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt.“[26] Das Genie ist hinsichtlich der bestimmten Schönheit des einzelnen Werkes keiner Regel und Vorschrift unterworfen, es ist begnadete Natur und dient als solche der schönen Kunst. Kant hat nicht bestritten, daß auch das Genie einer Schule die Regeln des Handwerks verdankt. Insofern daher in den technischen Regeln immer schon die ästhetischen Grundsätze des betreffenden Tonsystems enthalten sind (Dissonanzauflösung, metrische Einheitssetzung usw.), gibt nach Kant das Genie nur dem Werk die im übrigen begrifflich unerkennbare Regel des Schönen, nicht aber dem vorausgesetzten allgemeinen Tonsystem.

Das einzelne Genie des 20. Jahrhunderts versteht sich im Gegensatz dazu auch als Erzeuger neuer Tonsysteme. Nach alter Anschauung kann das jeweilige Tonsystem nie nur die Tat eines einzelnen Genies sein. Noch der späte Goethe wollte das Genie an Forderungen der Natur binden, um der romantischen Subjektivität und Emanzipation naturgegebene Grenzen zu setzen, und nicht zufällig berufen sich jene Theoretiker, die an Hand der Obertonreihe versuchen, die Dur-Moll-Tonalität als natürliches Tonsystem im Sinne natürlicher Gegebenheit oder Analogie zu begründen, in der einen oder anderen Weise auf Grundsätze und Maximen des großen Dichters. Der schlagende Gegenbeweis im vorliegenden Problem ist übrigens die Tatsache, daß sich Schönberg bei der Begrünung der emanzipierten Dissonanz ebenfalls auf die Obertonreihe berufen kann.[27]In diesem Zusammenhang wäre auch die Behauptung von Dahlhaus zu erwähnen, die gesamte traditionelle Ästhetik habe in der Tonalität die von Natur gegebene oder verbürgte Voraussetzung verständlichen musikalischen Ausdrucks gesehen.[28]

Diese These geht hinsichtlich der Systeme Hauptmanns und Hegels entschieden zu weit. Die Gleichberechtigung von Konsonanz und Dissonanz z.B., letztlich die Neutralisierung und Vernichtung beider, ist nach Ansicht der beiden letztgenannten Theoretiker ein logischer Fehler und keine Raffinesse der Natur.[29]

Seiner Natur vertrauen, heißt bei Schönberg nichts anderes, als daß das Komponieren ausschließlich dem inneren Zwang des Komponisten gehorcht und allein dessen Gewissen verpflichtet ist. Das Gewissen aber, sagt Schönberg mit Kant gegen Hegel, kann nicht irren und die individuelle Phantasie des einzelnen Genies ist damit zur obersten ästhetischen Instanz der Musik erhoben. Das musikalische Genie hat über sich keine musikalischen Gesetze mehr zu fürchten, es ist absolut, gleichsam bodenlos frei geworden[30] und bestimmt allein, einsam bei sich, was die Menschheit als Musik zu betrachten hat. Bei dieser seltsamen Selbstüberschätzung spielt aber die Menschheit bekanntlich nicht jene Rolle, die ihm das Genie zugeteilt hat. Die musikalische Welt hat die Ansprüche des prophetischen Genies noch immer nicht anerkannt, es bevorzugt größtenteils nach wie vor tonale U- und E-Musik.

Die Schönbergsche Trennung der musikalischen Handwerkslehre von jeder wissenschaftlich fundierten ästhetischen Begründungsfrage führt, wie Dahlhaus zeigt[31] und schon Hegel[32] in seiner Theorie vom Ende der Kunst prophezeit hat, in die Entfremdung von Musik und Publikum. Auf der einen Seite steht der perfekte Technokrat, der vollkommene Handwerker, der sein Vorbeikomponieren an der Musik bei einiger bewahrter Sensibilität sehr leicht am Befremden des Publikums erfahren könnte. Auf der anderen Seite steht die Masse des Publikums, dessen Befremden über die Neue Musik seit Schönberg Dahlhaus als anmaßend bezeichnet.[33] Anmaßend, weil das Publikum ohne wissendes theoretisches Bewußtsein eine Sache verurteile, von der es nichts verstehe. Er unterschiebt also dem ästhetischen Verhalten des Publikums eine fast wissenschaftliche Komponente und kommt daher auch zu der Ansicht, daß die Kluft zwischen esoterischer Musik und Weltpublikum durch erklärende, erläuternde, technisch einführende Wissenschaft zu schließen sei. Dagegen wäre nur folgendes kritisch anzumerken. Wenn einmal die Wissenschaft als erklärende Magd in den Dienst einer Musik genommen werden muß, dann gibt die betreffende Musik nur offenkundig zu, daß sie durch sich selbst, durch ihre eigenen Werke und deren wiederholte unmittelbare Rezeption nicht mehr zu überzeugen vermag.

Ob der letzte Grund für die Entfremdung von moderner Musik und Publikum in der Verstocktheit des Publikums oder in der Verkehrtheit eines kleinen Teiles der musikalischen Weltproduktion liegt, diese Frage ist für jede ernst zu nehmende Musikästhetik der Gegenwart eine Hauptfrage, gleichsam der Probierstein ihrer Fähigkeiten.

Erschienen in: Österreichische Musikzeitschrift 1975, Heft 8; S. 393-400.

[1] Textfassung eines Vortrages im Rahmen der monatlichen Zusammenkünfte der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft am 5. Juni 1975 an der Universität Wien.

[2] Otto Riemer: Musikästhetik – nicht gefragt? Zur Zentenar-Erinnerung an Hanslicks Buch „Vom Musikalisch-Schönen“ (1854). In: Musica 8 (1954), S. 175. – „Während z.B. Barock, Aufführungspraxis, moderne und elektronische Musik, ja selbst Mittelalter und Hausmusik heute als notwendige Diskussionsgebiete gelten, um deren Vertiefung, Abgrenzung oder Zukunftsmöglichkeiten wir täglich ringen, scheint die Musikästhetik, besonders in ihre schulmäßigen Systematisierung, heute weithin nur ein Achselzucken auszulösen.“

[3] Carl Dahlhaus: Musikästhetik. Köln 1967, S. 9.

[4] Felix M. Gatz: Musik-Ästhetik in ihren Hauptrichtungen. Ein Quellenbuch der deutschen Musik-Ästhetik von Kant und der Frühromantik bis zur Gegenwart mit Einführung und Erläuterungen. Stuttgart 1929.

[5] Paul Moos: Die Philosophie der Musik von Kant bis Eduard von Hartmann. Ein Jahrhundert deutscher Geistesarbeit. 2. erg. Auflage, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1922.

[6] Moos, S.17, 78 ff., 141 f., 157 f., 242 ff., 272 und vor allem 554 ff., wo ersichtlich wird, wie sehr Moos in dieser Frage von seinem Lehrer Eduard von Hartmann abhängig war.

[7] Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen. 2. Auflage, Bd. 1-6, hrsg. v. Robert Vischer, München 1922-1923. Vgl. Band 5, Kunstlehre – Die Musik, § 758, S. 42 ff. und § 767, S. 79 ff.

[8] Albert Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik. Grundriß der systematischen Musikwissenschaft. Frankfurt am Main 1963, S. 200 f.

[9] Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg 1853. Unveränderter reprografischer Nachdruck mit einem Vorwort von Wolfhart Henckmann. Darmstadt 1973, S. 50.

[10] Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Vorlesungen über Ästhetik. Hrsg. von Karl Wilhelm Ludwig Heyse, Leipzig 1829. Unveränderter reprografischer Nachdruck. Darmstadt 1973, S. 342: „Der Rhythmus ist an sich bloß Quantität, d. i. Zeiteintheilung ohne Stoff. Die Wiederkehr der Einheit in der quantitativen Zeitreihe, die gleiche Eintheilung, ist der Tact.“

[11] Moritz Hauptmann: Die Natur der Harmonik und Metrik. Zur Theorie der Musik. Leipzig 1853.

[12] Hautpmann, S. 223 ff. und insbesondere § 27, S. 238: „ Aus dem bisher Gesagten ergibt sich wohl von selbst, daß eine metrische Gliederung nicht in der Theilung eines vorausgesetzten Ganzen besteht, ebensowenig darf man sich das Ganze als eine Zusammensetzung von Einheit zu einer Mehrheit vorstellen: die metrische Formation ist allezeit nur das Product, das aus der Evolution einer als Anfang gesetzten ersten Zeit entstanden, und alle mannigfaltige Bildung kann hier zunächst nur aus der einfachen Entgegensetzung des als Einfachen gesetzten, d. i. aus dessen Verdoppelung, hervorgehen.“

[13] Vgl. die Diskussion zwischen Hans Engel und Paul Moos. In: Die Musikforschung 3 (1950), S. 204 und 4 (1951), S. 205.

[14] Paul Mies: Paul Moos zum Gedächtnis – Aus seinen Briefen. „Musicae scientiae collectanea.“ Festschrift Karl Gustav Fellerer zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. v. Heinrich Hüschen, Körn 1973, S. 386. – „Der Mann, der Ihre und meine Begabung in sich vereint, der ebenso Musikwissenschaftler wie Philosoph ist, dieser geniale Mann muß wohl noch geboren werden.“ (Brief vom 24. 9. 1928 an Paul Mies.)

[15] Vgl. z.B.: Die Reihe. Informationen über serielle Musik. 8 Hefte, Wien 1955-1962, sowie: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Mainz seit 19589. – Jene Beiträge, die mit erforderlichem Problembewußtsein auf die ästhetischen Voraussetzungen der Kompositions- und Spieltechniken eingehen, lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen.

[16] Arnold Schönberg, Harmonielehre. 3. vermehrte und verbesserte Auflage, Wien 1922, S. 7.

[17] Wellek, S. 195.

[18] Paul Bekker: Was ist Phänomenologie der Musik? (1925), in: Organische und mechanische Musik. Berlin und Leipzig 1928, S. 25, insb. S. 38 ff. – Vgl. dazu auch: Nils-Eric Ringbom: Über die Deutbarkeit der Tonkunst. Helsinki 1955. S. 99.

[19] Wellek, S. 200 f.

[20] Vgl. z.B.: John Cage, Vortrag über nichts. In: Silence (Vortrag über nichts, Vortrag über etwas, 45’ für einen Sprecher). Hrsg. v. Helmut Heißenbüttel, Übersetzung von Ernst Jandl, Neuwied und Berlin 1969, S. 5, insb. S. 13 f.

[21] Vgl. aber Gustav Engel: Ästhetik der Tonkunst. Berlin 1884, S. 12. – Er faßt Geräusch als konstitutives Moment von Musik bereits dort ins Auge, wo letztere nicht künstlerisch schön, also nicht Tonkunst, sondern nur sinnlich angenehm sein will. Wenn das Tonsystem, sagt Engel, mit der bestimmten Tonhöhe begonnen hat, „muß auch der Fortgang in ähnlicher Weise stattfinden, indem nur dadurch das Wohlklingende sich mit dem vernünftig und begriffmäßig Gestalteten vereinigen läßt.“ – Aber: „Das Verlangen nach rein sinnlichem Wohlklang, das auch auf andere Weise befriedigt werden kann, ist davon unabhängig.“ – Vgl. auch Leo Dorner: Studien zu den „formalen“ Grundlagen des tonalen Systems im 19. Jahrhundert. Diss. Wien 1974, [Druck: 1977, Tutzing: Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft, hg. v. Othmar Wessely.] S. 13 und 170 ff. (Ton oder Klang? Exkurs zur Moderne); zu diesem Hauptproblem vgl. neuerdings Jens Rohwer: von Tonmusik zu Klangmusik. Skizze einer musikalischen Konzeption für die Beurteilung der Musik des 20. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Musiktheorie 3 (1972), 2. Heft, S. 28.

[22] Wellek, S. 1 ff.

[23] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik II (1816) Suhrkamp-TheorieWerkausgabe (6), Frankfurt a. M. 1969, S. 330 ff. (Das universelle Urteil), sowie: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik mit den mündlichen Zusätzen. Suhrkamp-Theorie-Werkausgabe (8), Frankfurt a. M. 1970, § 163, S. 131 f.

[24] Dahlhaus, S. 81

[25] Zum ähnlich liegenden Verhältnis von Idee und Geschichte innerhalb christlicher Religion und Theologie vgl. Ferdinand Christian Baur: Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte. 3. Auflage, Leipzig 1867. Unveränderter reprografischer Nachdruck, Darmstadt 1974, insb. § 6, S. 19 ff.

[26] Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Reclam-Ausgabe, Stuttgart 1966, § 46, S. 235. Vgl. dazu Dahlhaus, S. 58 f.

[27] Schönberg, S. 17 ff., 20 ff., 54, 68 f. und 385 f.

[28] Dahlhaus, S. 8.

[29] G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Ästhetik. Nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos (1842) von Friedrich Bassenge herausgegeben. 2. Aufl., Berlin und Weimar 1965, Bd. 2, S. 297 f. und Hauptmann, S. 3 f.

[30] Rolf Ahlers: Endlichkeit und absoluter Geist in Hegels Philosophie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 29 (1975), Heft 1, S. 67 f. – „Das Absolute ist somit der ‚Grund’, in dem die Endlichkeit gut begründet ist, in dem sie ihre Rationalität, ihren Sinn hat, aus dem sie einerseits hervortritt als Erscheinung des Absoluten – welches Erscheinen aber nicht evolutionistisch oder kausal zu verstehen ist! – und in dem sie andererseits aber auch ihre Freiheit hat. Es ist ja gerade dieses Setzen der Freiheit in der Endlichkeit (welches auch als Begrenzung zu verstehen ist), welches die wahrhafte Freiheit ausmacht. Wenn die Freiheit des Menschen ihre Endlichkeit verliert, wenn sie absolut gesetzt wird, dann ist es mit ihr am Ende insofern, als sie das Kriterium ihrer Legitimität aus sich selbst holen muß, welches aber unmöglich ist. Es ist unmöglich, weil die Endlichkeit oder auch die endliche Vernunft die Wahrheit oder den Sinn ihres Seins nicht in sich selbst haben kann. Solange die Vernunft auf absoluter Independenz beharrt, konzediert Hegel ihr lediglich die Funktion des Verstandes, Verstand aber kann nicht die gewünschte Versöhnung, die lebendig machende Brücke zwischen gewußtem Objekt und wissendem Subjekt herstellen. Aus dem Grunde kann auch der rein negierende Verstand nicht eigentlich frei genannt werden, und dies gerade w e i l er sich absolut setzt. Jede Voraussetzung seiner eigenen Legitimität lehnt er strikt ab, er will eben absolut voraussetzungslos sein. Hegel streitet ihm aber auch aus diesem Grunde wahre Erkenntnis ab. Er ist nicht frei, solange er voraussetzungslos und autonom sein will. Da er selbst grundlos ist, ist er letztlich unfähig zu begründen.“

[31] Dahlhaus, S. 7.

[32] Hegel, Ästhetik, Bd. 1, S. 21 ff., 110 f., 579 ff. und Bd. 2, S. 316 und S. 321-323.

[33] Dahlhaus, S. 7.