04 Replik zu Franz Eibner „die natuerlichen Voraussetzungen der Musik“
Vor einigen Jahren sprach Carl Dahlhaus den Gedanken aus, daß die traditionelle Ästhetik in der Tonalität „die von Natur gegebene oder verbürgte Voraussetzung verständlichen musikalischen Ausdrucks sah.“[1] So sehr dieses Urteil an der historischen Tatsache vorbeigeht, daß zumindest die Musikästhetik Hegels und die „Natur der Harmonik und Metrik“ von Moritz Hauptmann das musikalische Ausdruckssystem der Tonalität nicht aus einer wie auch immer verstandenen Natur, sondern allein aus dem Geiste des göttlichen Logos abzuleiten versuchten, in eben dem Maße würde Carl Dahlhaus angesichts der Ausführungen Franz Eibners in dessen Aufsatz über die natürlichen Voraussetzungen der Musik die These über die genannten Versuche, Musik auf Natur zurückzuführen, sogar noch auf unsere Zeit ausdehnen können.[2] Denn die Erörterungen Eibners sind von dem Grundgedanken getragen, einen Naturgrund der Musik, insbesondere der Dur-Molltonalen ausfindig zu machen. In diesem Naturgrund der Tonalität sollen alle Fragen nach dem Warum, nach dem Grund, daß Tonalität so ist, wie sie ist, zu Antwort und Ruhe kommen.[3] Er liefere uns auch den Beweis für die These, daß die Dur-Moll-Tonalität das vollendete Tonsystem schlechthin sei, gegenüber allen anderen, gewesenen und künftig noch werdenden Systemen.[4]
Eine Replik, besonders wenn sie so begrenzt sein muß wie die hier vorliegende, hat bekanntlich die unangenehme Aufgabe, nur das an den Gedanken des kritisierten Autors herauszuarbeiten und zu problematisieren, was nach Ansicht des kritisierenden Autors einer Kritik bedarf. Bereits die Vorbemerkung bietet die ersten Angriffspunkte.[5] Zunächst ist es nicht so zweifellos, wie Eibner meint, daß der Begriff Musik primär Tonkunst bezeichnet.[6] Soweit ich sehe, gibt es keine Theorie, die begründet nachweist, daß Tonmusik über Klangmusik (Geräuschmusik etc.) zu stellen ist. Zwar ist dies die herrschende ästhetische Wertung in einem großen Teil der bisherigen Musikgeschichte, aber eine gesicherte wissenschaftliche Aussage ist darauf noch nicht begründbar.
Der Ton selbst soll laut Eibner „ein Stück Natur“ sein.[7] Wir möchten fragen: welcher? Welcher Ton soll Stück welcher Natur sein? Der Ton, den der Kuckuck in den Wald schmettert, ist nichts vom Menschen Gemachtes, und das Tier hat über sein Tönen kein Bewußtsein in der Weise des menschlichen Bewußtseins. Der Ton, den wir mittels Autohupe erzeugen, ist vom Menschen Gemachtes, darum noch nicht musikalischer Ton; ein Ton, vereinzelt am Klavier angeschlagen, gibt ebenfalls noch keine Musik. – Musik, genauer Tonmusik, entsteht erst durch Beziehung unterschiedener Töne aufeinander, und die Frage wäre dann, durch welche Beziehungen und durch welche nicht. – Spielen wir nun die Töne einer Klaviersonate, so sind dies füglich andere als die des Vogels und damit keine Stücke der Natur. Dagegen würde Eibner sicherlich einwenden, daß an beiden Arten von Tönen – den musikalisch-künstlerischen und den in der Natur gegebenen – dasselbe Gesetz natürlicher Obertonorganisation auftritt. Elektronisch bearbeitete Töne elektronischer Musik vermöchten den Einwand zunächst entkräften, könnten ihrerseits aber für die gesamte Musik der vor-elektronischen Geschichte (von Adam bis 1954 n. Chr.)[8] kein Gegenargument abgeben.
Da nun nicht zu leugnen ist, daß sich an den vor-elektronischen Tonäußerungen der Musik und an den Tonäußerungen der anorganischen und organischen Natur dasselbe Gesetz in jeweils bestimmter Obertonstruktur wirksam zeigt, muß alles darauf ankommen zu klären, in welcher Weise diese Naturseite des musikalischen Tons sowohl für dessen musikalischen Gestalter als auch für dessen musikalische Gestaltung ein Gesetz oder keines ist. Determiniert die Obertonreihe die musikalische Phantasie in der Art eines Naturgesetzes? – etwa wie die Schwerkraft die freien Gehformen des Menschen immer wieder auf den Erdboden zurückzwingt? Oder sind gewisse Inhalte der Obertonreihe ein seinsollendes Gesetz für die musikalische Tätigkeit als Vorstellen, Singen und Hören? Ist die gesamte Obertonreihe oder wieder nur manche ihrer Teile als das Naturschöne der Musik anzusehen, daß die Musik nachzahmen hätte, sofern sie sich als vollkommene Kunstschönheit verwirklichen will?
Diese Fragen scheinen sich für Eibner in einer einzigen zu konzentrieren: aus welchen natürlichen Voraussetzungen lassen sich die verschiedenen Erscheinungen wie Intervall, Dreiklang, Diatonie, Tonalität usf. ableiten? Mit der Beantwortung dieser Frage möchte er zugleich die rein musikalischen Voraussetzungen der musikalischen Dinge erhellen, was bei der unbewiesenen Gleichsetzung von musikalischer und natürlicher Voraussetzung, die Eibner umstandslos vollziehen zu können glaubt, eben nur dadurch möglich ist, daß jene musikalischen Gebilde vorerst „in ihrem Verhältnis zum Bereich der reinen Natur betrachtet werden müssen.[9] Unter reiner Natur versteht Eibner in erster Linie die innere Organisation der Obertonreihe, in zweiter, mehr unbestimmter Ausdrucksweise die Menschennatur, eigentlich die innere Organisation des Gehörsinns, aber nicht die physiologische, sondern die psychologische Struktur. Psychische Akte jedoch als natürliche zu bezeichnen, führt – sofern der Ausdruck ‚natürlich’ nicht im Sinne von ‚wesentlich’ oder von ‚selbstverständlich’ gebraucht wird – in die nun auf subjektiver Seite erfolgende und hier ebenso unbegründete Ineinssetzung von natürlichen und musikalischen Voraussetzungen der Musik.
Ein Grund der Begriffsverwirrung dürfte darin liegen, daß sich Eibner keine definitorische Rechenschaft über den Wortausdruck ‚Voraussetzung’ gegeben haben kann. ‚Voraussetzung’ ist eines jener seltenen deutschen Wörter, die per se wissenschaftlich klingen und zugleich im Bewußtsein unserer Zeit in begrifflicher Hinsicht so vage bestimmt sind, daß sich ergebende Denk- und Sachfehler im trüben Scheinverständnis leicht verstecken lassen. Wie den gesamten Ausführungen Eibners zu entnehmen ist, versteht er unter Voraussetzung jenes etwas, das etwas anderes als sich selbst ermöglicht und somit diesem anderen als Ursache, wenn auch nicht als alleinige, so doch als notwendige zugrunde liegt.
Im Speziellen läßt sich die Grundproblematik an der Eibnerschen Ableitung des großen Dreiklanges darstellen. Die Harmonie des Dreiklanges ist dem Menschen von Natur gegeben, d.h. von der Obertonreihe, – genauer: von der Obertonharmonie.[10] Zwar herrscht keine platte Identität zwischen dem wirklichen Dreiklang und dem Zusammenklang der Obertöne 2 bis 6, aber eine Analogie ist doch da, aus der sich ergibt, „daß die harmonische Dimension für uns Menschen schon im Obertonspektrum grundgelegt ist“, dieses letztere also die Voraussetzung der musikalischen Harmonie darstellt.[11]
Die Gedankenreihe Eibners läßt sich im Grundriß wie folgt problematisieren: Der wirkliche Dreiklang als Einheit von Oktav, Quint und Terz ist die musikalische Urharmonie; – warum? Weil er mit der natürlichen Obertonharmonie analogiehaft übereinstimmt. Die Harmonie der sogenannten zunächst liegenden Teiltöne ist die Einheit der Obertöne 2 bis 6; – warum? Eibner muß darauf die Antwort schuldig bleiben und kann nur sagen: weil es so ist. Er macht also eine Voraussetzung und läßt diese als solche stehen. Denn mit welcher Begründung kann Eibner behaupten, daß im Obertonspektrum die Oktave durch die Quinte und ebenso die Quinte durch die Terz harmonisch geteilt wird?[12] Woher nimmt er das Recht, den einfachen Intervallen das Prädikat ‚harmonisch’ zu erteilen? Von der Natur dürfte er darüber schwerlich Auskunft erhalten haben. Die Obertonreihe erklärt sich nicht, wovon auch Eibner weiß, wenn er „daran erinnert, daß ein solcher Versuch, die Obertonreihe zu verstehen, ein rein menschlicher Erkenntnisvorgang ist.“[13]
Indem also nur auf die Tatsache verwiesen wird, daß auch in der Natur die Verhältnisse von Oktav, Quint und Terz, wenn auch in flüchtigster Form, existieren, so ist damit keineswegs die Harmoniefähigkeit des Zusammenklangs dieser Teiltonintervalle bewiesen. Es ist daher bereits in prädikativer und logischer Beziehung sehr die Frage, ob die Obertonharmonie tatsächlich als Grund und Voraussetzung des Dreiklangs der Musik gesetzt werden darf. Wenn Eibner nur die Teiltöne 2 bis 6 zur Obertonharmonie zählt, dann ist dies eine Weisheit, die er nicht aus der Natur, sondern allein aus der Musik, genauer aus der Theorie, dem Erkennen der Musik gewonnen hat; die Inhalte dieser Weisheit, z.B. der Ausschluß der Septim aus der Urharmonie, werden dann in die Natur projiziert und die Projektion wird zugleich als solche vergessen. Hinsichtlich einer geschichtlichen Entstehung und Ableitung des musikalischen Dreiklangs aus dem Obertonspektrum bleibt es ebenfalls sehr fraglich, ob der bekannte Schenkersche Begriff der Abbreviation die entstehenden Probleme zu lösen vermag. Die These, daß sich die Musik durch bewußte Mimesis (denn völlig unbewußte wäre keine) der zunächst liegenden Obertöne die wirklich harmonischen Grundintervalle Oktav, Quint und Terz erarbeitet und dabei die Natur gleichsam zur Herausgabe ihrer Eingeweide gezwungen habe, ist problematisch.[14]
Im innerlichen und reellen Musizieren kann nur das musikalisch nachgeahmt werden, was in sich klar unterschieden ist und in faßlicher Einheit seiner Unterschiede vor das Bewußtsein tritt. Wer vermöchte sich aber zu der Behauptung versteigen, daß in der Musikgeschichte zunächst mit Teiltönen bewußt und dann später erst mit Tönen bewußt musiziert wurde? Der Übergang von Oktav-Quint-Quart-Satz zum Oktav-Quint-TerzSatz ist nicht durch Hineinhören in die Obertonstruktur entstanden; so wenig wie der Grund für die Emanzipation der Dissonanz in der Erhörung der sogenannten entfernteren Obertonverhältnisse liegt, wie noch Schönberg glaubte, der nicht nur in diesem Punkt schwerwiegend irrte.[15] Aber auch die Irrtümer Schenkers helfen uns heute nicht mehr weiter, am allerwenigsten in der Musikerziehung. Daß sich der atonale Standpunkt ebenfalls aus der Obertonreihe zu legitimieren glaubte, müßte jedem Apologeten der Schenkerschen Lehre ein alarmierendes Signal sein, deren theoretische Voraussetzungen zu überprüfen.
Erschienen in: Musikerziehung 1975/76, Heft 1; S. 24-26.
[1] Carl Dahlhaus, Musikästhetik. Köln 1967, S. 7 f.
[2] Franz Eibner, Die natürlichen Voraussetzungen der Musik. In: Musikerziehung 1974/75, Hefte 2, 3, 4 und 5.
[3] Franz Eibner, op. cit., Heft 2, S. 56 ff., Heft 4, S. 153, Heft 5, S. 200.
[4] Ebenda, Heft 4, S. 153, Heft 5. S. 200.
[5] Ebenda, Heft 2, S. 56.
[6] Ebenda. – Vgl. neuerdings: Jens Rohwer, Von Tonmusik zu Klangmusik. Skizze einer musikästhetischen Konzeption für die Beurteilung der Musik des 20. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Musiktheorie 1972, Heft 2, S. 28-40.
[7] Ebenda, Heft 2, S. 56.
[8] Herbert Eimert, Die sieben Stücke. In: „Die Reihe“, Heft 1. Elektronische Musik. Hrsg.v. H. Eimert unter Mitarbeit von K. Stockhausen, S. 8.
[9] Franz Eibner, op. cit., Heft 2, S. 57.
[10] Ebenda, Heft 2, S. 59 ff.
[11] Ebenda, Heft2, S. 59.
[12] Ebenda, Heft 4, S. 151, Heft 5, S. 196.
[13] Ebenda, Heft 5, S. 196.
[14] Ebenda, Heft 2, S. 57, Heft 3, S. 106, Heft 4, S. 153, Heft 5, S. 200.
[15] Arnold Schönberg, Harmonielehre. 3. vermehrte und verbesserte Auflage, Wien 1922, S. 17 ff., S. 20 ff., S. 54 und 384 ff. (mit einer Polemik gegen Schenker). – Vgl. dazu: Leo Dorner, Studien zu den „formalen“ Grundlagen des tonalen Systems im 19. Jahrhundert. Diss. Wien 1974 [Tutzing 1977], S. 62 ff. und S. 220 f.