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07 Kontingenz als Erleuchtung

In den späten Dezennien unseres Jahrhunderts ereilt das Schicksal absoluter Kontingenz die Kunst der Moderne: das Zufällige allein wird ihr Notwendiges. Ein marktarrivierter Maler macht sich eines Morgens – vielleicht schon zum tausendsten Mal in seinem schier unaufhörlich innovativen Künstlerleben – über eine leere Leinwand her und beschüttet sie mit den geliebten Farbtöpfen in bewährter sekundenschneller Spontanaktion; befindet das Ergebnis mißlungen, verläßt das Haus in gedrückter Stimmung, aber vom Frühstückseinkauf zurückgekehrt, Brot und Milch noch in den Händen haltend, erschaut er in einem erleuchteten Augenblick die getrocknete Farbenlandschaft als abermals vollendetes Meisterwerk.

Ein Komponist, vielleicht nicht ganz unzufälliger Weise berühmten Namens, lädt den Clan seiner Anhänger zu sich in seine respektable Atelierwohnung und eröffnet den ans Ungewöhnliche Gewöhnten ein Fenster nach dem anderen: die einströmenden Geräusche von Straße und Hafen seien Musikwerk des diesmaligen Konzertabends. Ein preisgekrönter Poet zerlegt und zerschneidet das Wörterbuch seiner Muttersprache in entsagungsvoller Arbeit, um für die nächste Lesung das benötigte Arsenal an innovativen Elementen aus sinngereinigten Silben und Wortfetzen parat zu haben. – Ein Filmemacher dreht einen einstündigen Film, in dem es – endlich – keine Bilder gibt. – Ein anderer Maler zeigt mit pressebeglaubigtem Ausstellungserfolg eine Serie Bilder, die nichts zeigen, – „einfach Leinwände, weiße Leinwände ohne Farbe.“[1] Unser Fensterkomponist erhebt am nächsten Abend bei geschlossenen Fenstern die eintretende Stille zum Musikstück neuester, schier unüberbietbarer Originalität: jedes Geräusch, das absichtslos in die gezeitigte Stille fallen werde, befreie uns von allen ästhetischen Erinnerungen und Vorurteilen und befähige uns, den reinen Zu-Fall als absoluten Augenblick, – als Schicksalsgabe eines unbekannten Gottes zu erfahren.

Es sei ein Promille der Weltbevölkerung, das sich mit den Experimenten innovativer Kontingenz beschäftige: gewiß nicht ungeachtet der Tatsache, daß sich die übrige Menschheit – die möglicherweise und nicht nur in zukünftiger Hinsicht vielleicht unbedeutende Gesamtheit – unterdessen zu einer Weltkultur zusammenrollt, die dem genauen Gegenteil von innovativer Kontingenz huldigt.   Den Weltmarkt für Filme, Hits, CDs, Platten, Posters undsofort versorgen die Standards industrieller Massenproduktion. Studios, Herstellungs- und Vertriebsmechanismen gleichen in allen Kontinenten zunehmend wie ein Ei dem anderen. „Oscars“ bilden und entscheiden einen entstehenden Weltgeschmack, Song-Contests und Hitparaden werden trotz nationaler Sprachen- und Kulturenvielfalt im internationalen und medialen Kollektiv durchgeführt. Die Erweckung der Unterhaltungsbedürftigen in aller Welt wird missionarisch vorangetrieben, nicht nur des gewaltigen Umsatzes wegen, obwohl: verlockender ist Mammon gewiß noch nie gewesen. Kaum ist der Stardirigent verstorben, hören wir sein Vermächtnis an die Nachwelt aus dem Munde seines Firmenimperiums: in den Magazinen lagern abrufbereit die Mehrfacheinspielungen aller großen Werke auf Video und CD. Résumé qualitativ: je genormter die weltgleiche Kulturindustrie, umso entnormter der welteinsame Avantgardekünstler.

Norm und Individualisierung, heutzutage in allen ästhetischen Reichen und insbesondere jenem der Musik den einander fliehenden Grenzen einer explodierenden Galaxie vergleichbar, lebten in der guten Zeit traditionsgebundener Musikgeschichte einträchtig zusammen, bedingten und ermöglichten einander, pflegten das traute Spiel einer scheinbar unausschöpfbaren Harmonisierung ihres Gleichgewichts. Die ästhetische Kontingenz spielt die Rolle des göttlichen Boten zwischen Konvention und Einfall, zwischen allgemeinen Gesetzen und haecceitas, und soufflierte dem autonomen Genius das jeweilige Geheimnis des gewissen Etwas, das über die Konstrukte von Philosophie und Wissenschaft erhaben, gegen die unflätigen Anmutungen entnormten Zufalls aber durch das Kontinuum lebendiger Tradition gesalbt war. Kontingent und unbegreiflich: gerade die größten Werke der Musik.

Der Grund für ihr unvergleichliches Sosein ist ebenso zureichend wie durch keine wissenschaftlich-methodische Absolution in eine nichtkontingenten Grundakt rückführbar. Es ist weder ästhetisch fein noch wissenschaftlich haltbar, nach einem erkennbaren ästhetischen Kausalgrund zu fragen, der es BEETHOVENS Sinfonien erlaubt, zugleich das Leben eines welteinmaligen Soseins und das eines weltallgemeinen Seins-für-Alle zu führen: Verbindlichkeit durch ihr Gegenteil zu erzeugen.   Die Wissenschaft von der Musik hat lange und schwer daran getragen, an den Meisterwerken nicht das Gesetz ihrer individualisierenden Kontingenzüberwindung ausmachen zu können; nicht definieren können, woraus die unauflösliche, gleichsam monadische Stringenz ihrer Gefüge lebe; nicht bestimmen zu können, in welchem Modus seiner Andersheit das Meisterwerk denkbar wäre, ohne seine Identität zu verlieren.[2] Die bis heute unentschiedenen Kämpfe zwischen Inhalts-, Formal- und deren Verbindungsästhetik kreisen seit Beginn der Aufklärung um das eine Ziel: Herrschaft über das innerste Werkgeheimnis zu erlangen. Résumé nostalgique: die schöne Gestalt verweigert sich dem stets fremd bleibenden Erkennen – ohne dieses (wie einen geduldeten Verehrer) je ganz abweisen zu wollen.

Kein Modell, kein Schema, kein Begriff hinterfragt die Entscheidung BEETHOVENS, den materialen und formalen Kontingenzen – in ihrer traditionellen Gebundenheit – einmal jene ureigenen Rundungen zuzufügen, die wir die „Fünfte“ nennen. Aber trotz ihrer unauflösbar freien Spontaneität erfolgte die Entscheidung BEETHOVENS nicht in „splendid isolation“, nicht in einem der Musik- und allgemeinen Geschichte entnommenen Phantasieraum, einem isolierten Diskontinuum, welches die späten, stets avantgarden Nachfahren des bürgerlichen Genies für ihre intentionslosen Kontingenzwerke zu reklamieren versuchen.[3] Nicht allein das biographische Schaffenskontinuum, sondern „darüber hinaus“ das ungebrochene Traditionskontinuum entschied die ästhetische Einzelentscheidung mit. Daß es nach MOZART üblich wurde, gleichsam inmitten des Schaffensaktes mit dem Urteil der Nachwelt als einer letzten Sinninstanz der Werke zu rechnen, ist ein erstes Zeichen von Naivitätsverlust und damit der Zerbrechlichkeit des Traditionskontinuums. Erst der consensus der Nachgeborenen, gewonnen im Erfahrungsdiskurs von Geschmack und Gemeinsinn – das kollektive Widerspiel jenes genialen Harmonisierungsspiels zwischen Norm und Individualisierung – entscheidet über den ästhetischen Rang der künstlerischen Werkentscheidung.

Zuzeiten BEETHOVENS war es – auch für ihn selbst – keineswegs ausgemacht, daß die Differenz seiner Werke zu jenen des verehrten Vorbildes CHERUBINI bereits um 1850 gleichsam unendlich sein werde. Der Kontingenzverfügung des consensus wurde seitdem nicht widersprochen: BEETHOVENS Entscheidungen sind geglückt, SALIERIS selten, CHERUBINIS kaum, Namenlos’ gar nicht: das Epigonale ist der reine Extrakt nichtüberwundener Kontingenz. Die abgerundete Kontingenz der freien Kunstwerke wurde in der gleichzeitigen Philosophie in unschuldiger Analogie zum Schönen und Erhabenen der Natur gesehen: das Genie als Günstling der Natur, sein Werk die Frucht eines quasi-natürlichen Schaffensaktes. Die Kontingenzen der Natur wurden von derselben Philosophie zumeist entweder als Verstöße gegen die „Natur der Vernunft“ – der unnötige Übermut spielerischer Artenvielfalt z.B. – verlächerlicht bzw. verteufelt; – oder als unvorhersehbare Eingriffe – Katastrophen – in den Taumel der Aufklärung von einer völlig durch Vernunft beherrschten Welt empfunden.

Gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts – gleichzeitig mit dem beginnenden Zerbrechen des Traditionskontinuums in der Musik – wurden die natürlichen Kontingenzen endgültig an das Herz der sich entwickelnden Naturwissenschaften gelegt: das Universum entpuppte sich als braver Untertan einer evolutionär-gesetzmäßigen Biographie, und jedes Erdbeben verlor den Nimbus, vielleicht die Willensäußerung einer freien Schicksalsmacht zu sein. Erdbeben sind fortan das Produkt eines einsehbaren Geschehens, Wirkungen konkreter Ursachen, die in allen Parametern durch Wissenschaft bestimmbar, durch schreib- und lesekundige Maschinen meßbar und in Computersimulationen vorhersehbar sind. Natürliche Kontingenz und Naturwissenschaft verhalten sich wie natürliches Leben und Instinkt zu deren restloser Erklärung: die Epigonalität einer mit sich identisch werdenden Welt wandert am Abgrund ihrer Sinnlosigkeit dahin. KLEISTISCHES Résumé: auf dem computergestützten Marionettentheater neuzeitlicher Naturwissenschaft scheint die unendliche Reflexion des homo faber mit dem reflexionslosen Tun der Natur eins zu werden: offenbar um den Preis ihrer Zerstörbarkeit ist die Natur wissenschaftlich simulierbar geworden.

Aber wie sehr ihr Kontingentes durch Wissenschaft und Technik auch bestimmt und beherrscht wird, wie sehr es mit verzehrbarer Energie, mit zerstörungsfähiger Materie, mit sinnloser Notwendigkeit in eins gesetzt wird, – eines ist dem natürlich Kontingenten – im Gegensatz zu jenem der Kunst unmöglich: die vollstreckende Hinneigung zu eigener Unmöglichkeit. Universaler Rahmen und universale Konstante der natürlichen Kontingenz bleiben bestehen (auch wenn sie zur Reliquie des verlassenen Ortes verkäme), weil die existierende universelle Natur nicht unter dem Satz der absoluten Kontingenz steht: zugleich sein und nicht sein zu können. Die atomar zerstörte Erde kreiste im Licht der Sonne weiter: als schweigende Anklage gegen den Simulierer von einst und den Zerstörer von „heute.“

Dagegen scheint der automatisch absolut gesetzten Kunst die Möglichkeit zu eigener Unmöglichkeit geradezu als belebend-tödliches Definitum eingehaucht. Das Definitum beflügelt schon von ferne die Kunst des 19. und unerbittlich die des 20. Jahrhunderts, die nicht mehr tragbare Last ästhetischer Welt(Kontingenz)überwindung – nach kurzen Verzweiflungsexkursen in revolutionärem Realismus und archaischem Expressionismus – abzuwerfen: Kunst konnte autonomisch nur als Lehnwort der Natur existieren. Zu Ende scheint das harmonisierende Spiel eines ohnehin stets bedrohten Hin- und Herschwebens und –scheinens zwischen determinierender Norm und ebenso gefürchteter wie herbeigesehnter – alles aufhebender – absoluter Kontingenz: Unmöglichkeit. Der ästhetischen Wunderlampe großer Kunst entsteigt am Ende der Geist des Scheins, entblößt von aller

Natur, und zeigt sich erleuchtend dem Geist der naturlos gewordenen Kunst als dessen innerstes eigenstes Wesen: als reiner leerer Schein, als leeres Wort leerer Kontingenz: als Kitsch und Narretei. Zuletzt scheint Kunst als reiner Schein und gestaltet das Lossein ihres Auftrags: das Erscheinen ihres Verschwindens, – zu lange hat die arme (Welt)Seel’ – schon: schön – gelitten.

Trennen sich aber Kunst und Natur endgültig voneinander, können wir darangehen, Geschichte neu – und uralt – zu definieren: als die größte Unbekannte, die gewesen sein wird, als Vor-Gang und Vor-Ort einer alles entscheidenden Kontingenz, deren Vorauswirken in Kunst(geschichte) und in Natur(geschichte) unsere vordringliche Erkenntnis-Aufgabe wird; nicht zuletzt, um das noch gegenwärtig Gewesene der Kunst vor dem Verschlingen durch maschinellen Kitsch und grenzenlose Narretei zu bewahren.

Gegen Ende seines Lebens, berichtet John CAGE über seinen angebeteten Lehrer Arnold SCHÖNBERG, habe dieser das Komponieren von musikalischen Kunstwerken unter einem dunkel und erdrückend näher rückenden Horizont vollendeter Ausweglosigkeit und objektiver Unmöglichkeit erfahren.[4] In ein und demselben Kompositionsakt alle Regeln durch spontane Freiheit brechen und zugleich für jedes Werk eine neue Regel durch spontane Freiheit finden zu müssen, habe das Schiff der Kunstmusik zwischen Skylla und Charybdis von Originalität und Norm zerschellen lassen. Vor vollbesetztem Hörsaal habe sich SCHÖNBERG offen geäußert: „Das Lernziel dieses Seminars besteht darin, Ihnen das Schreiben von Musik unmöglich zu machen.“[5] Dagegen habe sich der noch unbekannte Student innerlich aufgelehnt und in spontanem Entschluß die entscheidende Kraft für sein Weiterkomponieren gegründet; – freimütig eingedenk des Urteils SCHÖNBERGS, wonach dieser in Amerika keinen kompositorisch begabten Schüler je unterrichtet habe, – aber, wie er einmal lächelnd zugestanden hätte, einen „…interessanten. Natürlich ist er kein Komponist, aber er ist ein Erfinder – der Genialität.“[6] Noch einmal erinnern wir uns: SCHUBERT und vielleicht noch andere huldigen kurze Zeit dem Mißverständnis, BEETHOVEN habe in seinen Werken nicht nur eine unnachahmbare Individualisierung der herrschenden Kunstsprache, sondern die Weite einer neuen geschaffen: die produktive Natur eines Ideals. Aber schon bald erheben sich die bitteren Klagen BRAHMS’ gegen den übermächtigen Schatten BEETHOVENS, der es kaum noch zulasse, Sinfonien zu komponieren; erheben sich CHOPINS Wutausbrüche gegen das leere Kontinuum BERLIOZ’; und der bis heute konsenslos unentschiedene Streit über das berauschende Chroma von WAGNERS unendlicher Melodie. Und mit Erstaunen und Erschrecken lesen wir bei Doktor Faustus,[7] daß es einer nur vom Teufel zu erkaufenden Negationsmacht und Erfindungskraft bedürfe, um im 20. Jahrhundert noch einmal die vollends kontingent gewordene Tonsprache verbindlich zu originalen Meisterwerken abzurunden.   Haben wir richtig gelesen? Haben wir wesentlich erinnert, – nicht unwesentlich, einseitig, abseitig…? Ist es nicht unleugbare Tatsache, daß bis auf den heutigen Tag eine Unzahl von Komponisten Leben und Sterben dem Schaffen musikalischer Werke in jeder Besetzung, jeder Formgattung, jeder Stilrichtung opfern und auch nach wie vor Sonaten, Sinfonien, ja sogar Opern schreiben? Was ist mit diesen? Sind es Unwissende, unkundig des nottuenden Teufelspaktes und durch Unberührtheit Gerettete? – Oder sind es die eigentlich und tiefer Wissenden, und dadurch dem Teufelsgespräch und -handel überhoben, fähig und mächtig, den die Geschichte der Musik vor sich hertreibenden diabolus in musica zu überlisten?

Wie auch immer, es scheinen Unhörige, Freie zu sein, wissend oder unwissend Gewappnete gegen die Verlockungen und Verheißungen des Janusköpfigen, der seinen Jüngern kraft einer metaphysisch-himmlischen Macht unstörbarer Selbstübereinstimmung im Erfinden und Schaffen unvergleichlicher Meisterwerke das beglückendste Alles-in-Allem-Sein zusagt: endlich nicht mehr angewiesen auf den zweifelhaften consensus der Nachgeborenen, endlich befreit von Jagd und Kampf um Liebe und Anerkennung der Mitgeborenen, endlich erlöst von den Beleidigungen des davonlaufenden Publikums und der zu einmaliger Aufführung gönnerhaft sich herablassenden Virtuosen: endlich aufgehoben in „die Schauer der Selbstverehrung“, worin „er sich wie ein begnadetes Mundstück, wie ein göttliches Untier erscheint“,[8] und statt Suche nach Einfall und Arbeit am Ausfalten des Einfalls „eine wahrhaft beglückende, entrückende, zweifellose und gläubige Inspiration, eine Inspiration, bei der es keine Wahl, kein Bessern und Basteln gibt, bei der alles als seliges Diktat empfangen wird“,[9] und ein „Tränenstrom des Glücks ihm aus den Augen bricht.“[10] Résumé diabolique: Nur mit dem Teufel im Bunde könne es in der Kunst noch mit rechten Dingen zu- und weitergehen, nur des Teufelsgesprächs und –handels Gewürdigte könnten im – freilich erschlichenen und vorgetäuschten – Vermächtnis großer Kunst verbleiben.

Woher diese Stimme? Woher der unerbittliche Einspruch gegen jegliches Ansinnen einer natürlichen Kunst im Angesicht ihrer geschichtlichen Vollendung und Aporie? Woher der unwiderrufliche Entscheid gegen die Unschuld spontaner Erfindung, gegen Ehre und Produktion des unbesorgt kreativen Menschengeistes? Sind wir nicht freie Erben der Aufklärung? Wurden im Namen von Vernunft und Natur nicht sowohl eine unaufhörlich schöpferische Kunst als auch eine nicht mehr endende Kette traditionstragender Genies postuliert? Ein gleichsam natürlich wachsender Fortschritt von Kultur und Kunst, ein sich endlos füllendes, unendliches Pantheon von Werken, deren Vernunft für Verständlichkeit und deren Natur für Originalität ganz wie von selbst garantieren würden?

Welche negative Macht wagt es, Josef Matthias HAUERS kosmischpythagoreischen Optimismus zu widersprechen, in seinen dodekaphonen Kosmos sei ein unendliches Spiel- und Werkleben nicht nur möglich, sondern als notwendige Synthese aller vorangegangenen die vorerst genügende Apotheose der Musikgeschichte selbst zu hören? Wer wagt es, Arnold SCHÖNBERG zu widersprechen, wenn dieser in den forschen Zwanzigerjahren mit verheißungsvoller Selbstgewissheit verkündet, daß der Deutschen Musik durch seine soeben gefundene Kompositionsmethode mit „Zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ die Vorherrschaft für die nächsten hundert Jahre gesichert sei? Wer seinen gläubigen Schülern, die vertrauensvoll dem Weg der neuen Wahrheit folgten und nach 1945 Kinderstücke in der artifiziellen Reflexionsprosa ihres Meistes schrieben, als sei nun wirklich eine neue Sprache musikalischer Authentizität, Unmittelbarkeit und unableitbarer, spontaner Natürlichkeit entdeckt worden?

Wer den Eklektikern unserer Tage, die in der Musik von PEROTIN bis MAHLER den gefüllten Krater einer musikalischen Ursuppe vor sich sehen, aus dem sich jeder Komponist nach eigenem Gutdünken und Belieben zu bedienen habe, um dem fiktiven Hörer des gesamten Abendlandes das neu-einfache Gericht eines ureigenen Personalstils anzubieten? Wer den meditativen Anbetern vermeintlicher Urelemente, die das Klingen des Klingens zur Droge stillstehender Zeit beschwören? Wer wagt es, unseren musikpolitischen und –pädagogischen Leitbildern zu widersprechen, denen zufolge jede neue Art zeitgenössischen Komponierens in demokratiegleich-gleichgültiger Weise zu fördern und auszubilden sei? – Denn „letztlich“ hinge es allein an der Produktionskraft des Einzelnen: das alle Kontingenzen der Musikgeschichte überwindende Genie eines BACH, eines MOZART, eines BEETHOVEN auch in unseren Tagen in neuer Gestalt zu erweisen. Oder welche Institution wagt es, den Promotern und Managern der Moderne zu widersprechen, wenn sie die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstorbenen und zu Namen gelangten Komponisten als „Klassiker der Moderne“, als MOZARTS und BEETHOVENS unseres Jahrhunderts klassifizieren, vermarkten, verfestivaln undsofort?

Weder Widerspruch noch Einspruch, noch überhaupt irgendein Spruch darf vonseiten der sogenannten Unterhaltungsmusik und ihrer Industrie erwarte werden, da gerade ein Verweis auf E. PRESLEY, BEATLES, M. JACKSON undsofort die überwiegende Gesamtheit der Musikwelt zur verschwindenden Minderheit in das Verhältnis eines Dialoges und kulturellen Gegenübers setzen würde.

Wer daher wirklich Einspruch gegen die Idee eines unendlichen Fortschritts der Künste erhebt, den wird offenbar der Teufel holen, damit sein Einspruch nicht störe das Résumé naive: Die Überwindung und Abrundung der musikalischen Kontingenz zu originalen Werken sei in jedem Moment der Geschichte durch eine zeitenthobene ‚naturgleiche’ Spontaneität möglich. Das individuelle Genie erschließe als Pantokrator unendlicher Personalstile ein unendliches Reservoir stets neuer haecceitas und drehe damit jeglichem Zwang historischer Notwendigkeit die lange Nase. – Unverkennbar die Verwandtschaft mit dem neognostischen NewAge der Gegenwart: das „Karma“ der Werkidee reinkarniert sich, wo und sooft der schöpferische Mensch die subjektiven Voraussetzungen leistet.

Vergleichen wir dieses mit dem vorigen Résumé, so sehen wir: die beiden Kulturkinder der Aufklärung: totaler, fortschrittsgeleiteter Historismus und totale Spontaneität individueller Vernunftnatur stehen am Ende unversöhnbar und wie fremde Kinder nebeneinander, verbunden nur in der gemeinsamen Anklage gegen ihre Eltern – Vernunft und Natur -, die ihnen ein ewiges Leben versprochen hatten. Und gerade in unseren Tagen ist offenbar auch der Versuch des Diamat gescheitert, durch Institutionalisierung eines Ewigen Biedermeier die Kunstmusik auf dem Nichtentwicklungsstatus der populären und unterhaltenden einzufrieren: STALINS musikmächtige Politikmesser pfiffen SCHOSTAKOWITSCH und PROKOFIEFF an die Leine einer klassizistischen Ästhetik zurück: die „avancierteste“ Klasse der Menschheit wußte mit den „avanciertesten“ Künstlern derselben Menschheit kein gemeinsames Leben anzufangen.

Die avancierteste Musik hatte unterdessen nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Nachfolge von WEBERNS Prämissen aus dessen konsequentem ZuEnde-Horchen der SCHÖNBERGSCHEN Reihentechnik, durch totale serielle Operation in allen Parametern die absolut deterministische Werkgestalt erreicht. Getreu der Einsicht Kritischer Theorie, wonach auf die Stimme des avanciertesten Materials zu hören, einziger Ausweg im Ausweglosen sei. Zwischen der Entfesselung des Banalen als sich nicht wissender Kontingenz und der rasenden Schrumpfung des Originalen als derselben, aber sich wissenden Kontingenz, habe die Kunst nur noch auf sich selbst, auf das je letzte Herzpochen ihres autonomen Materials zu hören, um daraus – von allen anderen gesetzgebenden Instanzen verlassen – ein Werkgesetz zu erhören, dem sie schaffend gehorchen könne.

Unausweichlich wird der autonome Mensch einziger Inhalt avanciertester Kunstmusik. Von jedem Anderssein, jeder Transzendenz, jedem Weltbezug gereinigt, zerstrahlt das reine Kunstwerk als vollendete Weltnegation: als Zerrbild christlich-eschatologischer, da der autonome Mensch keinen ihn transzendierenden und begründenden Humanus, Kosmos oder Logos kennt, der seinen atomistischen Pseudomonaden einen Sinn- und Versöhnungsgehalt verleihen könnte. Daß es ohne Geheimnis, ist das Geheimnis des l’art pour l’art: nicht aus Übermut oder Weltverachtung, sondern aus Not und Überlebensverzweiflung.

Einst war die Gegenweltlichkeit der Kunst auf die Welt des Bürgertums als dessen kultisches Arkanum bezogen: die Kunst erheiterte das ernste Leben. – Jetzt ist das Werk der Kunst unendlich ernster als das haltlos heitere Leben der Welt: strengste Notwendigkeit hat den gordischen Knoten der Kontingenzüberwindung zerhauen, während sich die Welt durch allgegenwärtige Banalität erheitert. Daß der gordische Knoten tatsächlich zerhauen und nicht gelöst, beseitigt und nicht neu geknüpft worden war, erwies der autonome Mensch am eigenen Leib: der Sturz serieller Musik in ihr identisches aleatorisches Gegenteil erfolgte wie naturgesetzliche Wirkung auf Ursache.

Das serielle Werkerlebnis gleicht einer Handlung, deren Wollen und Ausführen durch unumstößlich determinierende Vorsätze (Naturgesetzen pseudoanalog) bestimmt, vorweggenommen und dadurch enteignet wurde. Über die geringste Veränderung im seriellen Werk kann aus der parametrischen Vorordnung Rechenschaft gegeben werden: der einst unbegreifliche Akt spontaner Kontingenzüberwindung ist in einen begreifbaren Akt absoluter Nichtkontingenz rückführbar. Das zerhauene Kunstwerk gestaltet sich als vorausbestimmte Katastrophe. Das seriell organisierte Diskontinuum atomisierter Augenblicke (einst: das Traditionskontinuum im Harmonisierungsspiel mit inspiriertem Einfall und dessen Verarbeitung)vollstreckt den Todestrieb der autonomen Kunstmusik, die auf dem Wege von BEETHOVEN über WAGNER zu WEBERN den musikalischen Augenblick vollkommen subsumptionslos – frei von allen Konventionen – als reine Expression, als reale, nicht bloß ästhetisch scheinenden Versöhnung schaffen wollte: als musikalische Menschwerdung eines noch unbekannten Gottes. Das atomon eidos der Musik wird planvoll zertrümmert, um dem Gott der Neuen Musik – und damit eines Neuen Menschen – aus den berstenden Eischalen zerstörter Tradition und Natur zu Geburt und Stimme zu verhelfen.

Diese Hoffnung der zu absoluten Deterministen geschrumpften Komponisten währte nur kurze Zeit. Nach kaum zwei Jahrzehnten schlüpfte der diabolus in musica in die Haut der zu absoluten Indeterministen mutierenden Komponisten und verkündete durch die aleatorischen Produkte alias Erlebnisse alle seriell determinierte Musik als absolut kontingent, beliebig, vertauschbar, zerstörbar, vergessbar, – kurz: als erkenn- und hörbare Raupe des nun ausgeschlüpften Schmetterlings.

Die Frage nach dem „avanciertesten Material“ hatte sich erledigt, Musik als Kunst, an der Grenze ihres Wesens angelangt, vollführt ihre letzten beiden Trapezakte: die serielle Musik ist Gesetz ohne Spontaneität, die aleatorische: Spontaneität ohne Gesetz. – Das Subjekt der Musik wird in beiden Fällen reine substanz- und materielose Willkür: das Zufällige allein wird Norm seines Tuns. In der seriellen Musik katapultiert es sich in die äußersten Ozonschichten der Werkhülle: das Komponieren wird vor den eigentlichen Kompositionsakt – das innere und äußere Hören, Spielen Improvisieren undsofort – verlegt. – In der aleatorischen Musik aber stürzt sich das Subjekt reflexionslos in sein Objekt hinein und verschwindet – spielend, improvisierend, hörend – im kontinuumslosen Augenblick des rauschhaft verstrahlenden toten Werkes.

SCHÖNBERGS Seminar ist geschlossen: das Lernziel wurde erreicht. Die Kunstmusik hat die generelle Erkenntnis und Tat des Auseinanderbrechens ihrer Substanz geleistet und die Gestaltung ihres Begräbnisses eröffnet: Stille wird zur einzig möglichen Apotheose vergangener Musik.

Erschienen in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie. Mai 1990. S.82-87.

[1] Kostelanetz, Richard: John Cage im Gespräch. Zu Musik, Kunst und geistigen Fragen unserer Zeit. Köln 1989. S. 137.

[2] Vgl. das Lebenswerk Heinrich Schenkers (1867-1935). Mit Goethes Morphologie wird die Idee eines unendlich mimesierbaren Urbildes der Meisterwerke von Bach bis ca. 1850 gewonnen. Dieses soll die geschichtlich überaus dünn gewordene Luft für die Produktion von neuen Meisterwerken durch Rückleitung der kompositorischen Geniesubstanz in naturkonstante Bahnen retten. Ein kanonisierter tonaler „Ursatz“ soll Gesetz und Quelle einer bewußten Fortsetzung des früher unbewußten Traditionskontinuums werden. Wissenschaftliche Reflexion und Begründung soll die verschwindende Naturbasis der Kunst neu beleben. Im gutgemeinten Dienst am bürgerlichen Genie scheitert die Wissenschaft der idealen Form an der Aporie einer sich nicht verändernden, sich nicht verzehrenden Geschichte.

[3] Kostelanetz: S. 35. – John Cage auf die Frage, welches sein größtes Vermächtnis an die kommenden Generationen sei: „Gezeigt zu haben, daß nichtintentionale Kunstwerke realisiert werden können.“ – In der Geschichte der Künste wird auch die Selbstenthauptung des substantiellen Genies im Zeichen genialen Schöpfertums vollzogen.

[4] Kostelanetz: A.a.O. S. 14.

[5] Ebda. S. 14.

[6] Ebda. S. 15.

[7] Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn. Erzählt von einem Freunde. Lizenzausgabe für Donauland. Wien o. J. S. 316358.

[8] Ebda. S. 330.

[9] Ebda. S. 340

[10] Ebda.