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10 Atonalitaet-Dodekaphonie. Zu Anton Weberns Vollendung oder Ende der traditionellen Musik

I

 

Die Kunstmusik Europas wird im 20. Jahrhundert – etwa ab 1910 – vom Wirbel einer radikalen Krise erfaßt, die ihr Schicksal bis heute bestimmt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Entwicklung der Spätromantik zu einer nie dagewesenen Verfeinerung und Ausdifferenzierung, zu einer Komplexität und Monumentalität der musikalischen Mittel und Formen geführt. Am Beginn unseres Jahrhunderts sahen sich die Komponisten daher einer Tonsprache gegenüber, deren Ausdruckskraft erschöpft und deren weitere Entwicklungsfähigkeit in Frage gestellt war. Die verbrauchte Tonalität konnte weder dem Ausdrucksbedürfnis noch dem Formwillen der neuen Komponistengeneration genügen. War die traditionelle Tonsprache zuvor durch Jahrhunderte vorgeschritten, stets neu von Epoche zu Epoche sich verjüngend, war plötzlich völlig fraglich geworden, wodurch sie neuerlich verjüngt und auf eine weitere, vielleicht höhere Entwicklungsstufe gehoben werden könnte.

Bis heute wird die damalige Situation im Diskurs der Musiker und Musikhistoriker gegensätzlich diskutiert. War es lediglich eine Epochenschwelle wie schon öfter in der Musikgeschichte Europas, oder war es eine tiefergreifende Grenze, auf die die Entwicklung der Musik aufgelaufen war? Bis heute dauern die Versuche an, die musikgeschichtlich einzigartige Situation um 1910 durch Vergleiche mit der musikgeschichtlichen Lage um 1750 oder 1600 oder auch 1430 zu deuten. Demnach wäre die Kunstmusik des 20. Jahrhunderts in Analogie zu jenen vergangener Jahrhunderte, etwa der des 17. oder des späten 18. Jahrhunderts zu begreifen, die Situation um 1910 wäre als weitere Epochenschwelle in der jahrtausendjährigen Erfolgsgeschichte abendländischer Musik zu verstehen. Vergleiche und Analogieschlüsse dieser Art lesen wir beinahe täglich im Musikschrifttum, sie gehören zum Vorurteilsgut vieler Musiker, Veranstalter, Journalisten und Theoretiker. Im einzelnen ist auf diese Frage hier nicht eingehen, nur ein kurzer Hinweis soll die Bedenklichkeit der Vergleiche andeuten: um 1910 steht die neue Komponistengeneration vor den Kolossalgebilden eines Richard Strauss und Gustav Mahler und auch vor den impressionistischen eines Debussy; sie steht vor Monumenten einer Traditionsstufe der Musik, welche die Komponisten selbst vielfach als abschließende und nicht mehr steigerbare empfinden und deuten. Ganz anders daher als noch knapp hundert Jahre zuvor, als nach Beethovens Tod trotz des ungeheuren Schattens seines Werkes unter der damals neuen Komponistengeneration die Übereinkunft herrschte und programmatisch ausgesprochen wurde, die künftigen künstlerischen Möglichkeiten der Musik könnten und müßten im Geist der Beethovenschen Formensprache weiterentwickelt werden.

In Wien, wohl dem Athen der abendländischen Musik, laufen um 1910 die Fäden der Tradition nochmals zusammen, so sehr schon Paris, dann Berlin neue Ansprüche anmelden. Auch die Atonalität, diese spontane und unausweichliche Reaktion der Komponisten auf den bitter erfahrenen Verschleiß der traditionellen Tonsprache, empfängt zunächst im musikalischen Zentrum des alten Europa ihre entscheidenden Impulse. Zwar stehen die ersten Labors der Atonalität nicht mehr in den offiziellen Institutionen der bürgerlichen Musikkultur – Konservatorium, Akademie, Musikverein – , sondern in den Lehrstuben der Kreise um Arnold Schönberg und Josef Matthias Hauer. Doch war es auch unausweichlich, daß sich Autodidakten des Schicksals der Musik in der Stunde ihrer Atonalisierung annahmen, da die traditionellen Institutionen weithin der ausgeschöpften Tonsprache verpflichtet blieben und sich einem sterilen Akademismus und Epigonentum kaum entziehen konnten.[1]

In den genannten Lehrstuben und Labors wurde nach 1910 der Versuch unternommen, Atonalität in der Gestalt von Zwölftonmusik – Dodekaphonie – als verbindliche Sprache neuer Musik zu denken, als neuen Tonsatz zu begründen, als Komponierhandwerk lehrbar zu machen und als neuen Stil in das Repertoire von Konzertsaal und Musikerziehung einzuführen. Daß dies bis zum heutigen Tag für sie und die Neue Musik insgesamt nicht in dem Maße geglückt ist, wie es sich die Komponisten und ihre Nachfolger, ihre Helfer und Helfershelfer erhofften und erhoffen, ist eine musikhistorische Tatsache, die ähnlich gegensätzlich diskutiert wird wie die Situation um 1910. Für die einen ist es ein Skandal, denn die Neue und Neueste Musik sollte wenigstens so öffentlich anerkannt und begehrt sein, wie es angeblich die moderne Malerei ist, für die anderen hingegen ist es ein Geschenk, weil sie dadurch der für sie unangenehmen Neuen Musik auf angenehme Weise ausweichen können; für die meisten freilich, für die Mehrheit der heute an Musik Interessierten, ist es kaum mehr als ein unbekanntes Problem für Musikspezialisten.

Auffällig an der angeblich skandalösen musikhistorischen Tatsache ist nun, daß die Zwölftonmusik, mit der sozusagen alles anfing, und zwar enthusiastisch und utopisch, gleichfalls bis heute der einzige Versuch blieb, Atonalität als neue verbindliche Sprache von Kunstmusik zu begründen, die zugleich als eine Verjüngung der tonalen Sprache und damit als Weiterführung der Tradition bestehen sollte können. Schönberg und auch Hauer waren überzeugt, eine neue Tonsprache gefunden zu haben, die an innerer Stimmigkeit und äußerer Entwicklungsfähigkeit der alten tonalen Tonsprache in nichts nachstehe. Im Gegenteil, sie glaubten sich durch das Gesetz der musikgeschichtlichen Entwicklung eingesetzt und auserwählt, die Tradition auf höherer Ebene weiterführen zu können. Und dennoch erklärte Pierre Boulez bereits kurz nach Schönbergs wirklichem Tod: „Schönberg est mort“, da mit der Bastardsprache der Dodekaphonie die wirklich Neue Musik des Jahrhunderts nicht zu verwirklichen sei.[2] Boulez Parole der seriellen Generation um 1950 ist somit eine nochmalige Steigerung jener Unvergleichlichkeit zwischen 1910 und 1830, zwischen dem Beginn der Atonalität und der Situation nach Beethovens Tod: um 1950 wurde sogleich und endgültig tabula rasa gemacht, jedenfalls an der Front der musikalischen Avantgarde, von Erneuerung oder Weiterführung der tonalen Sprache wurde jetzt kaum mehr gesprochen. Wie ist dies zu deuten, wie zu erklären? Musiker und Musikhistoriker diskutieren und rätseln darüber bis heute, und zwar mehr ratlos und kaum mehr als beliebig; ein entscheidender Grund, weshalb eine Auseinandersetzung mit der Dodekaphonie bis zum heutigen Tag unersetzbar ist, will man den musikgeschichtlichen Prozeß der Kunstmusik im 20. Jahrhundert begreifen.

Dieser These stimmte erst kürzlich der Mailänder Philosoph Enrico Fubini in seiner soeben erschienenen „Geschichte der Musikästhetik“ nachdrücklich zu. Nach einer aufschlußreichen Konfrontation der Standpunkte von René Leibowitz und Ernest Ansermet, der eine ein überzeugter Zwölftonkomponist und -theoretiker, der andere ein ebenso entschiedener Verfechter der Tonalität und Verdammer von Atonalität und Zwölftonmusik, – beide aber, man höre und staune, von Husserls Phänomenologie herkommend – gelangt Fubini zu dem Schluß: „Der Streit um die Zwölftonmusik, den die zeitgenössischen Musiker und Philosophen miteinander führen, ist also nicht eigentlich ein Streit von Spezialisten auf rein technisch-musikalischer Ebene.“[3] – Da in diesem Streit – nach Fubini – eine unüberschaubare Fülle von ästhetischen, philosophischen, musiktheoretischen und musikpraktischen Fragen enthalten ist, sei die Auseinandersetzung mit der Zwölftonmusik geradezu Pflicht für jeden, der sich mit der Musik des 20. Jahrhunderts beschäftige. Fubini: „Man kann sogar so weit gehen zu sagen, die Zwölftontechnik sei etwas wie ein Prüfstein für jede musikästhetische Theorie.“[4] Nach Fubini scheiterten die meisten Versuche, die Entwicklung der Musik in diesem Jahrhundert stimmig und umfassend zu deuten eben daran, daß sie schon für die Anfänge der Neuen Musik keine verbindliche Erklärung fanden. Ob Fubini selbst eine solche Erklärung und Deutung gefunden hat, dies soll hier nicht geprüft werden. Zustimmen läßt sich jedenfalls seiner zusammenfassenden Beschreibung der Deutungsversuche am Ende des Kapitels „Ästhetik und Zwölftontechnik“: „Und in der Tat ist da kein Musikkritiker oder -wissenschaftler, der nicht seine – sei es mystische, sei es pythagoreische, rationalistische, soziologische – Meinung zur Zwölftontechnik geäußert hätte, indem er sie entweder verdammte oder als Zauberformel verherrlichte, die sozusagen von sich aus Meisterwerke zu erschaffen vermag.“[5]

Beinahe unwillkürlich denken wir heute bei dem Ausdruck „Zauberformel“ im Zusammenhang mit Zwölftonmusik an Thomas Manns Musikerroman „Dr. Faustus“. Schließlich war es die Zauberformel der Zwölftontechnik, die Adrian Leverkühn vom Teufel ausgehändigt bekam, und die ihm das Erschaffen unvergleichlicher Meisterwerke mit den Mitteln der Atonalität versprach. Und dies in einer Zeit, die ein solches Schaffen grausam zu behindern, ja zu verunmöglichen schien. Worüber sich Adrian Leverkühn in der letzten Rede an seine Freunde freimütig ausspricht: „Es ist die Zeit, wo auf fromme, nüchterne Weis, mit rechten Dingen, kein Werk mehr zu tun ist und die Kunst unmöglich worden ist ohne Teufelshilf und höllisch Feuer unter dem Kessel…Ja und ja, liebe Gesellen, daß die Kunst stockt und zu schwer worden ist und sich selbsten verhöhnt, daß alles zu schwer worden ist und Gottes armer Mensch nicht mehr aus und ein weiß in seiner Not, das ist wohl Schuld der Zeit.“[6]

Im berühmt-berüchtigten Teufelsgespräch des Romans hören wir freilich, daß es sich weniger um eine anonyme Schuld der Zeit, sondern um die konkret faßbare Schuld der Komponisten selbst handelt, genauer: um eine Schuld der Werke und ihrer Geschichte, die als Ausdruck einer Befreiungsgeschichte der Musik für ihren jahrhundertewährenden Fortschritt einen hohen Preis zu bezahlen hatte. Zur Erklärung der neuen Kompositionsmethode läßt Thomas Mann seinen Helden sagen: „Aber die Freiheit ist ja ein anderes Wort für Subjektivität, und eines Tages hält die es nicht mehr mit sich aus, irgendwann verzweifelt sie an der Möglichkeit, von sich aus schöpferisch zu sein und sucht Schutz und Sicherheit beim Objektiven.“[7]

Der Teufel garantiert dann bekanntlich die neue Objektivität, indem er dem ratlosen Komponisten die Zwölftontechnik als jene sinnschaffende Methode übergibt, die den Komponisten wieder ermächtigen soll, in der allgemeinen Verzweiflung standzuhalten und gegen sie anzukomponieren. Die Verzweiflung scheint entweder aus der überzogenen Freiheit des Subjektes, des Komponisten, oder aus den kunstfeindlichen Mächten der Zeit zu kommen. Ein Gegensatz, der unschwer als Scheingegensatz zu erkennen ist; die Schuld des Subjekts und die Schuld der schwach gewordenen Tonsprache, des sogenannten Materials, sind im Grunde eine und dieselbe Schuld. Die Entleerung der traditionellen Tonsprache, die Aushöhlung aller ihrer Mittel und Formen geht auf das Konto der Komponisten, diese allein haben, wenn auch im Auftrag von Gesellschaft und Geschichte, das Material von Epoche zu Epoche weiterbewegt, gebraucht und verwendet, spezifiziert und individualisiert, verbraucht und verschlissen. Wenn daher der Teufel ausführt, beinahe wörtlich aus Adornos „Philosophie der neuen Musik“ zitierend: „Die historische Bewegung des musikalischen Materials hat sich gegen das geschlossene Werk gekehrt, es schrumpft in der Zeit, es verschmäht die Ausdehnung in der Zeit, die der Raum des musikalischen Werkes ist, und läßt ihn leer stehen“,[8] dann zeigt uns Adrian Leverkühns scheinbar leichtsinnige Antwort das unauflösbare Problem seiner Situation: „Man könnte das Spiel potenzieren, indem man mit Formen spielte, aus denen, wie man weiß, das Leben geschwunden ist.“[9]

Natürlich fragen wir uns heute, aus der klug machenden Distanz beinahe eines Jahrhunderts: wozu eigentlich mit toten Formen den Schein eines Spiels von lebendigen, von objektiven Kunstformen veranstalten, warum nicht sogleich gänzlich neue suchen? Wozu einem Popanz von musikalischer Objektivität nachjagen, der musikgeschichtlich nicht mehr zu haben war? Wozu am Ende auch noch die Schuld auf sich laden, mittels dämonischen Spiels den Schein von musikalischem Leben und Objektivität sich und anderen vorzutäuschen? In Thomas Manns Deutung, die dem musikphilosophischen Konzept Adornos folgte, war es letztlich der Teufel im Musiker, im europäischen Komponisten neuzeitlicher Herkunft, der sich mittels eines dämonischen Organisierens von Tönen und Klängen das Beliebige seines neuen Spiels verbirgt. Diese These mußte Schönberg zum Äußersten reizen, hatte er doch für seine Erfindung und Methode einen ungeheuren Kredit bei der Zukunft der Musik aufgenommen: diese werde dereinst seine Musik als Weiterführung der großen Tradition eines Bach und Beethoven bestätigen. Nicht gebrochen und nicht illusionär sollte seine dodekaphone Sprache sein, sondern eine Objektivität, die zwangsläufig aus einem Gesetz musikgeschichtlicher Entwicklung zu folgern sei; und da ihm dieses Konzept gleichfalls von Adorno nahegelegt oder philosophisch bestätigt wurde, ist es natürlich nicht zufällig, daß der Diabolus in Musica im sogenannten Teufelsgespräch die Konturen eines Frankfurter Philosophen erkennen läßt.

 

II

 

Im 20. Jahrhundert griffen im Wesentlichen nur zwei philosophische Richtungen in die Diskussion um die Fragen und Zielsetzungen der Musik, und insbesondere der Neuen Musik ein. Einmal die soeben genannte Adornos, die als ‚Negative Dialektik‘ mit ihren Vorgängerphilosophien, also mit der Dialektik Hegels und deren Vorgängerinnen bis zu Platon zurück kaum mehr als den Namen gemeinsam hat; und zum andern die ebenfalls schon genannte Phänomenologie Edmund Husserls. Andere philosophische Richtungen oder Philosophen, die sich mit Phänomen und Wesen der Musik auseinandersetzten, fanden dagegen kaum eine breitere Resonanz im Bewußtsein von Komponisten, Musikern, Musikliebhabern. Zu nennen wären, etwa in folgender Reihung, die Namen Bloch, Sartre, Picht, Heidegger und Popper.

Im Gegensatz zur Negativen Dialektik Adornos, die sich als radikalisierte Geschichtsphilosophie verstand – Geschichte als letzter Referenzgrund philosophischer Aussagen auch über Musik – versprach die Phänomenologie Edmund Husserls mehr als nur Gesetze musikgeschichtlicher Entwicklungen. Zwar hat sich Husserl selbst, meines Wissens, niemals zu Fragen der Atonalität und der Neuen Musik geäußert – musikalische Phänomene dienten ihm vornehmlich als Beispiellieferanten für seine Theorie des inneren Zeitbewußtseins – aber seine Methode der sogenannten ‚eidetischen Reduktion‘ – Rückführung aller Bewußtseins Phänomene auf mehr oder weniger übergeschichtliche Wesenheiten, und seine Lehre von den intentionalen Bewußtseinsakten, die allen Phänomenen unserer Erfahrung vorauslägen und daher gleichfalls unseren Erfahrungen von geschichtlichen Gegenständen, – all dies wirkte anziehend nicht zuletzt auf einige Nachfolger und Schüler Schönbergs, die nach einer umfassenderen als bloß musikgeschichtlichen Fundierung der Zwölftonmusik suchten. Immerhin hatte ja Schönberg prophezeit, die Zwölftonmusik und namentlich das System der Reihe und ihrer Transformationen werde sich als Grundlage eines neuen Tonsystems erweisen, das als Pantonalität lehr- und musizierbar sein und daher den Streit über die Frage: Atonalität, ja oder nein, hinfällig machen werde.

Nun war es aber justament Adorno gewesen, der in seiner Habilitationsschrift die Phänomenologie Husserls radikal kritisiert und sowohl erkenntnistheoretisch wie ohnehin geschichtsphilosophisch zurückgewiesen hatte. Umgekehrt widersprachen die Grundsätze der Phänomenologie Husserls diametral den Grundsätzen der Negativen Dialektik Adornos, – woraus folgte, daß mittels entgegengesetzter Philosophien versucht wurde, das Problem Atonalität zu lösen und der Zwölftonmusik jene theoretische Begründung zu verschaffen, die sie über jeden Zweifel erhaben machen sollte. Ohne Zweifel ein bezeichnender Umstand für die widersprüchliche und komplexe Situation der Neuen Musik und ihr Verhältnis zu den modernen philosophischen Richtungen in diesem Jahrhundert. Und um die Situation vollends chaotisch zu machen, war es gleichfalls Husserls Phänomenologie gewesen, die Ernest Ansermet das philosophische Rüstzeug für seine bekannte Grundlegung der Tonalität und tonalen Musik lieferte, ungefähr zur gleichen Zeit als im dodekaphonen Lager die Begründungsversuche der Schönberg-Nachfolger anliefen. Und Ansermets Grundlegung der „Musik im menschlichen Bewußtsein“ führte bekanntlich zu einer vernichtenden Verurteilung von Atonalität und Zwölfton- sowie serieller Musik.[10]

Es war René Leibowitz, Komponist und Theoretiker und einer der überzeugtesten Repräsentanten in der orthodoxen Schönberg-Nachfolge, der mit Husserls Phänomenologie nachzuweisen versuchte, daß mit Schönbergs Lehre von den „zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ die Musik im 20. Jahrhundert das Amerika einer neuen musikalischen Sprache entdeckt habe.[11] Durch die phänomenologische Reduktion lasse sich zeigen, so René Leibowitz, daß der neue Tempel einer neuen Kunstmusik auf drei Grundpfeilern basiere. Erstens sei die Existenz eines ursprünglich dodekaphonen Klanguniversums in unserem Bewußtsein anzunehmen, da der chromatischen Tonleiter ein eigener intentionaler Ordnungsakt von zwölf atonalen Tönen innewohne. Zweitens werde im dodekaphonen Kompositionsakt der musikalische Schöpfungsakt revolutioniert und neu definiert, da der Komponist nicht mehr vorgegebenen Ordnungsschemata folge, sondern sich von Werk zu Werk eine je eigene Vorordnung des Materials verschaffe, denn die sogenannte Grundreihe sei ein „mit jedem kompositorischen Akt neugeschaffenes Existentielles, das sich sein Wesen und seine Gesetze selbst schafft.“[12] Der erste Grundsatz behauptete die Struktur eines neuen Materials, eine neue tonhöhenlogische Wesensnatur der Musik jenseits der tonalen. Der zweite Grundsatz formulierte die neue Freiheit einer neuen musikalischen Phantasie. Ein dritter Grundsatz mußte folglich Natur und Freiheit, ersten und zweiten Grundsatz in einer Synthese zu verbinden trachten. Dieser dritte Grundsatz lautete: die Zwölftontechnik „sei die immer vollständigere Bewußtheit über die Möglichkeiten der chromatischen Tonleiter.“[13] Aus der chromatischen Tonleiter, wohlgemerkt: der vollständig atonalisierten, ließen sich also eine neue Harmonik, ein neuer Kontrapunkt und eine Logik neuer musikalischer Großformen entwickeln. Ähnlich hatte Adorno von einer komplementären Harmonik, einem funktionellen Kontrapunkt und von der Dodekaphonie als einzig zeitgemäßer Rationalität musikalischen Schaffens im 20. Jahrhundert gesprochen und geschrieben, zumindest in jenen Phasen seines Musikdenkens, die noch nicht den Widersprüchen der Zwölftontechnik nachgingen.[14]

Die Einwände gegen die genannten Grundsätze wurden früh formuliert, Fubini stellt sie gerafft nochmals zusammen. Das Material der chromatischen Tonleiter sei weit davon entfernt, „eidetisch im Sinn eines vor aller Systematik bestehenden Wesens zu sein“.[15] Sie sei geschichtlichen Wesens, Teil und Resultat der abendländischen Musikgeschichte, und, so können wir hinzufügen, als atonale kaum mehr als das Aggregat einer Reihe von Tönen. Gegen den zweiten Grundsatz wurde von Hanns Eisler, ohnehin von Ansermet und Hindemith, aber dann auch von den Komponisten der seriellen Entwicklung im Gefolge von Boulez der Einwand erhoben, es sei illusionär zu glauben, jede Reihe sei ein spezifisches Ganzes, „das den Melodien und Harmonien eine besondere Physiognomie verleiht.“[16] Vollends Illusion war es, sich die vollständige Bewußtheit über die chromatischen Möglichkeiten als ein wieder systematisches Verfügen durch eine neue systematische Harmonik und Polyphonie vorzustellen, was nicht zuletzt die verschiedenen Zwölftonlehrbücher bewiesen, etwa jene von Leibowitz, Krenek, Eimert und Jelinek, die nichts dergleichen enthalten konnten, so sehr sie sich abmühten, das Gegenteil zu beschwören.

Daher war auch die musikgeschichtliche Abkehr vom Konzept der dodekaphonen Materialbeherrschung schmerzhaft radikal, – jedenfalls für Schönberg und seine orthodoxen Anhänger. Während Leibowitz, Jelinek und Krenek ihre Lehrbücher schrieben, schrieb Boulez bereits sein „Schönberg est mort“. Abgesehen von den inneren Widersprüchen der Dodekaphonie, die Boulez als musikalische Bastardsprache bezeichnete, war es für die junge Komponistengeneration nach 1945 nicht mehr einsichtig zu machen, wozu die neue musikalische Freiheit eines neuen Schaffensvorganges sich wieder an ein chromatisches Tonsystem und einen Tonsatz überhaupt binden sollte. Freilich blieb auch noch Boulez Haltung diesbezüglich ambivalent; zumindest anfangs schien die totale Serialisierung, die Verallgemeinerung des Reihenprinzips auf alle Parameter nochmals eine neue Syntax und Idiomatik zu versprechen, die gegen den Anspruch von Schönbergs Zwölftonmusik ausgespielt werden konnte.

Daß die Reihe nicht eidetisch, nicht Ganzheit, folglich kein intentionaler Ordnungsakt unseres Bewußtseins sei, also nicht Tonalitätsersatz oder -steigerung, hatte auch Ansermet in seinen „Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein“ gezeigt. Das Konzept der Konsonanz sei durch keine Emanzipation der Dissonanz zu überwinden, da es sich weder bei dieser noch bei jener um eine Gewöhnung an oder eine Heranziehung von nahen oder entfernteren Obertöne handle.[17] Tonalität sei weder natürlich, etwa akustisch, noch auch geschichtlich allein, sondern durch den Rückgang – Reduktion – auf ein musikalisches Bewußtsein an sich zu begründen und so auch wirklich in uns -eidetisch- begründet. Daher war für Ansermet Musik jenseits der Tonalität sinnvoll nicht möglich, der Tod der Tonalität kam ihm einem Tod Gottes in der Musik gleich. Strawinsky wird ihm zum einzig rettenden Ausweg aus der Krise, trotz einer kritischen Beurteilung von Strawinskys Grundhaltung, die Ansermet als „Musik über Musik“ machen beschreibt.

Für uns Heutige ist Ansermets These, daß Musik jenseits der Tonalität sinnvoll nicht möglich sei, ebenso kurios wie aufschlußreich. Sie bringt uns zu Bewußtsein, wie weit wir uns bereits vom alten Paradigma der Musik und Kompositionsgeschichte entfernt haben, vom Paradigma der Alten Musik, endend mit Gustav Mahler und Richard Strauss, dem die Neue des 20. Jahrhunderts zunächst durch Atonalität, dann durch Dodekaphonie und schließlich auch noch durch serielle Musik eine Fortsetzung zu verschaffen gedachte. Längst haben wir das erreicht, was wir vorläufig als Klangmusik bezeichnen und noch einigermaßen orientierungslos zwischen Performance und Strukturgenerator ansiedeln.

Ansermets These wird auch verständlich aus seiner Auffassung des Paradigmenwechsels der Musik im 20. Jahrhundert. Dieser manifestiere sich im radikalen Verlust der Evidenz all dessen, was Musik eigentlich sei. Adorno hat dafür bekanntlich die elegante Formel gefunden: selbstverständlich sei nur mehr, daß nichts mehr selbstverständlich sei in den Dingen der Kunst und Musik.[18]

Der Paradigmenwechsel nimmt bei Ansermet eine dreifache Gestalt an: einmal wird im Reich der Komposition der Komponist zum Theoretisierer seines eigenen Tuns, die alte Einheit von Handwerk und genialer Praxis zerbricht in zwei Hälften: die geistige Konzeption hier und die durchführende Bastelei dort; im Reich des Hörens von Musik fällt der Hörer aus dem alten geschlossenen Traditionshorizont in einen offenen Horizont hinaus; alle nur irgendwann gewesenen und alle nur irgendwie möglichen Traditionen stürmen auf ihn ein; im Reich der musikalischen Interpretation schließlich weiß man nicht mehr, wie man spielen soll, „die Interpreten fragen, ob sie spielen sollen, was geschrieben steht.“[19] Im 20. Jahrhundert versucht schließlich die Historische Aufführungspraxis Antworten auf diese Frage zu finden, Antworten, die mit dem offenen Horizont des Hörens konvergieren. Vielen Hörweisen konvergieren viele Aufführungsweisen, statt einer Tradition eine in viele Traditionen zerteilte Tradition, die nicht mehr weiß, ob sie noch eine ist.

Für Ansermets Horizontgrenze war eine gänzlich neue Musik jenseits von Ton und Tonalität undenkbar. Für unseren erweiterten Horizont ist dies ein Hinweis darauf, daß sich hinter der Auseinandersetzung zwischen Atonalität und Tonalität eine noch grundsätzlichere über das Wesen und die Grenzen von Musik überhaupt ereignet. Die Frage nach dem Sinn einer freigesetzten Klangmusik zwischen Performance und Strukturgenerator verweist uns daher von der musiktheoretischen auf die musikästhetische Ebene. Die Musik des 20. Jahrhunderts reagiert auf einen weltgeschichtlichen Grenzschritt im Begriff der Kunst.

Dies wird auch erahnbar, wenn man die einander widersprechenden Standpunkte Hindemiths und Weberns zum Problem Tonalität-Atonalität vergleicht. Ähnlich wie Ansermet und Leibowitz gelangen auch Hindemith und Webern trotz Ausgehens von einer identischen Grundlage der Argumentation zu diametral entgegengesetzten Antworten. Beide bemühen die Natur – und zwar in Gestalt der Obertonreihe- als Stifterin für Tonsysteme und Musiksprachen.

Während aber Hindemith zu einer vernichtenden Verurteilung der Zwölftonmusik gelangt, weil sie der natürlichen Ordnung der Töne widerspreche, gelangt Webern genau zum gegenteiligen Urteil: die Zwölftonmusik sei die logische und natürliche Weiterentwicklung der traditionellen Musik, die Zwölftonmusik sei eine natürliche Erweiterung von tonalem Tonsystem und tonaler Musiksprache.[20] Während für Hindemith die Zwölftonmusik den gewaltsamen und nachweisbaren Bruch mit der Tradition vollzieht und eine zum Scheitern verurteilte Musiksprache hervorbringt, ist sie für Webern nur die Fortsetzung der traditionellen Musik mit anderen, mit neuen Mitteln.

Nach Hindemiths „Unterweisung im Tonsatz“ sind verbindliche Grundsätze eines Tonsatzes nur auffindbar, wenn man verfolgt, „wie sie aus der natürlichen Beschaffenheit der Töne sich ergeben und deshalb allezeit Gültigkeit haben.“[21] Daher könne die Tonalität auch gar nicht in Frage gestellt werden, sie sei „eine Kraft wie die Anziehungskraft der Erde.“[22] Und der Dur-Dreiklang sei einfach und überwältigend wie der Regen, das Eis und der Wind. Hindemith: “ So lange es eine Musik gibt, wird man immer von diesem reinsten und natürlichsten aller Klänge ausgehen und in ihm sich auflösen müssen, der Musiker ist an ihn gebunden, wie der Maler an die primären Farben, der Architekt an die drei Dimensionen.“[23]

Auch gegen diese Grundsätze einer natürlichen Tonalität wurden Einwände sogleich formuliert: es wurde darauf hingewiesen, daß die Tonalität geschichtlichen Ursprungs sei, nicht ein Postulat natürlicher Bedingungen, sondern die Ausnützung natürlicher Möglichkeiten. In diesem Sinne zitierte Herbert Eimert eine These Arnold Schönbergs in seinem „Lehrbuch der Zwölftontechnik“ (1950): „da sie [die Tonalität] also keine Bedingung ist, die die Natur stellt, so ist es Unsinn, sie um ihrer Natürlichkeit erhalten zu wollen.“[24] Umgekehrt galt für Hindemith, daß jenseits der Tonalität neue Tonsysteme universalen Charakters nicht auffindbar seien, da alle dort im kontingenten Klangraum schwebenden nicht imstande wären, die Grenze partikulärer Erfindung zu passieren. Ist nun zwar auch diese Prophezeiung Hindemiths eingetroffen, so gilt doch auch umgekehrt, daß sich sein Begründungsversuch der Tonalität aus natürlichen Bedingungen als gleichfalls unhaltbar erwiesen hat. Die Tonalitätsbegründungsversuche von Ansermet und Handschin haben sich als konsistenter erwiesen.[25]

Für die Abkehr der Komponisten von der Tonalität im 20. Jahrhundert glaubte Hindemith die geschichtliche Ursache entdeckt zu haben. Sie sei zu orten in einer sinnlosen Suche nach absoluter Freiheit, die sich aber unausweichlich in Anarchie verwandeln müsse, da sie sich jeder natürlichen Grenze widersetze. Ermöglicht wurde dieser musikalische Sündenfall nach Hindemiths Ansicht durch die temperierte Stimmung. Womit Andreas Werckmeister und sein aus dem 17. Jahrhundert stammendes System der „Musicalischen Temperatur“ gleichfalls auf der Hindemithschen Anklagebank Platz nahmen. Denn nur scheinbar wurde die Tonalität durch das temperierte Stimmungssystem gestärkt, in Wahrheit wurde, immer nach Hindemith, dessen natürliche Ordnung in Frage gestellt. An der Popularität der Klaviermusik im 19. Jahrhundert hätte man dann die faulen Früchte ernten müssen, denn mit der segensreichen Entdeckung der gleichschwebend temperierten Stimmung sei ein Fluch in die musikalische Welt gekommen: „der Fluch allzu leichten Erringens der Tonverbindungen. Das Überhandnehmen der Klaviermusik im letzten Jahrhundert ist ihm zuzuschreiben, in der ‚atonalen‘ Kompositionsweise sehe ich seine letzte Erfüllung, sie ist das kritiklose Anbeten der götzenhaften temperierten Klavierstimmung.“[26]

Unversehens sind wir von der musikästhetischen Ebene, jenem musikalischen Sündenfall einer angeblich sinnlosen Suche nach absoluter Freiheit, wieder auf die musiktheoretische Ebene zurückgekommen. Dennoch bleibt unübersehbar: auch die geschichtliche Einsetzung und angebliche Anbetung der temperierten Stimmung setzte eine ästhetische Entscheidung für ihren Gebrauch voraus, über deren Gründe die Musiktheorie keine Antwort geben kann, am wenigsten eine Musiktheorie, die an natürliche Gesetze der Tonalität glaubt.

An natürliche Gesetze glaubte auch Anton Webern, allerdings, ganz im Gegensatz zu Hindemith, an natürliche Gesetze für die Grundlegung eines neuen Tonsystems, dem der dodekaphonen Atonalität. Das neue System sei „durch die Natur des Tones gegeben, wie das, was früher praktiziert wurde.“[27] Dabei habe die Zwölftontechnik gegen die Tonalität voraus, daß sie eine größere Anzahl von Obertönen verwende. Und da die Zwölftontechnik die natürliche Erweiterung der Tonalität sei, sei auch die chromatische Tonleiter die natürliche Erweiterung der diatonischen Tonleiter, wie für jene gilt auch für diese, daß sie „nicht erfunden wurde, sondern gefunden“ wurde.[28]

Es sei überaus kurios, kommentiert Enrico Fubini in seiner „Geschichte der Musikästhetik“, daß Webern, der nach 1945 „als das Nonplusultra der Avantgarde angesehen“ wurde, weil man seine Werke als den „unvermeidlichen und endgültigen Bruch mit aller Tradition“ auffaßte, (die eben noch durch Schönbergs Dodekaphonie und dodekaphone Werke fortführbar erschienen war,) sich selbst ganz anders, eben als getreuer Schüler seines Meisters und der Tradition deutete. Die nachwebernschen Avantgardisten, so Fubini, waren überzeugt, daß „alle Möglichkeiten des diatonischen Materials erschöpft“ seien, und zwar so gründlich und unumkehrbar, „daß es darüber hinaus nur noch das Schweigen gäbe – oder eine gänzlich neue Musik, eine, die von der abendländischen Tradition, der diatonischen Tonleiter und den klassischen Strukturen ganz und gar abgelöst wäre.“[29] Nur mehr theoretisch – naturtontheoretisch – hätte Webern die Tradition zu bewahren gesucht, in seinen Werken habe er die Wege des traditionellen Tonsatzes und seiner Musiksprache endgültig verlassen.

Tatsächlich ist seitdem die ‚Natur‘ als Begründungskategorie in der Neuen Musik verschwunden, sie ist radikal mutiert, sie meint nun ein freigesetztes kontingentes Material, das jeder Werkstruktur nach jeweiligem Belieben des Komponisten zu unterlegen ist. Die von Leibowitz nur intendierte musikalische Freiheit ist Realität geworden, tendenziell muß jeder Komponist und für jedes seiner Werke eine eigene „Natur“ als Einheit von Material und Form ausfindig machen. Und Busonis Prophezeiung, die eigentliche Musik komme erst noch aus der Zukunft auf uns, Beethoven habe davon nur an gewissen Übergangsstellen seiner Werke geträumt, scheint sich im freien Chaos-Feld des Klangmaterials zu erfüllen.

Die Avantgarde nach 1945 habe, so hörten wir, das Werk Anton Weberns als „unvermeidlichen und endgültigen Bruch mit aller Tradition“ aufgefaßt. Webern selbst hätte sich dieser Deutung allerdings entschieden widersetzt, da er fest davon überzeugt war, das neue Komponieren mit „zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ sichere die logische und fruchtbringende Weiterentwicklung der musikalischen Tradition. Die Dodekaphonie garantiere die Integrität und Stimmigkeit des autonomen Werkes in Gestalt einer Synthese von niederländischer Polyphonie einerseits und motivisch-thematischer Durchführung und Variation im Sinne Beethovens andererseits.

Gleichfalls verweigert sich der avantgarden Deutung von Weberns Werk bis heute der Kreis um Heinz-Klaus Metzger und Dieter Schnebel, – übrigens unverkennbar in einer gewissen Nachfolge von Adornos Deutung der Webernschen Musik. Für diese Deutungsrichtung gilt daher zwangsläufig, daß Weberns Werke bis heute weder adäquat verstanden werden noch wirklich akzeptable kompositorische Nachfolger gefunden haben.[30] Weberns Kunst des Lauschens auf den Ton als Klangereignis habe eine Musik hervorgebracht, so Dieter Schnebel, die qualitativ höher stehe als die der Tradition, folgerichtig sei sie daher für eine Gemeinde von Lauschenden und nicht mehr für den Konzertsaal bestimmt.

Dieter Schnebels These, Webern habe dem Rätsel Musik den vollkommensten Ausdruck verliehen, folgt der These Adornos, wonach sich das Paradoxon der Webernschen Musik formuliere als Vereinigung von reinem Ausdruck einerseits und totaler Durchkonstruktion andererseits.[31] Ermöglicht werde die Verwirklichung dieses Paradoxons dadurch, daß Webern die Zwölftonreihe nicht mehr als bloße Materialvorlage, nicht mehr als bloße Vorordnung atonaler Intervalle verwende, wie noch Schönberg und Berg. Allein Webern habe die Reihe als Grundlage und Generator neuer Formen aufgefaßt, als Kraftquelle, die alle strukturellen Eigenschaften aus sich ableiten lasse, welche die jeweilige Komposition verlange.

 

III

 

Weberns „Variationen für Klavier“ op. 27, 1937 komponiert, gelten allgemein als beispielhafte Ausführung des neuen Komponierens, als Paradigma seines Verfahrens, aus zugrundeliegenden Zwölftonreihen eine musikalische Werkgestalt herauszukomponieren. Zwar kritisierte Ernst Krenek an den späten Werken Weberns, besonders an den Klaviervariationen, eine „Abkehr von der Schilderung menschlicher Gefühle“ und eine „zunehmende Beschränkung auf eine kühle, selbstgenügsame Welt abstrakter Formen“, und ähnlich schrieb Adorno manchmal von einem Zug zur „totalen Versachlichung“ beim späten Webern; durch glückliche Umstände jedoch sind Weberns eigene Interpretationsvorstellungen durch den Pianisten Peter Stadlen, der das Werk mit dem Komponisten 1937 einstudierte, erhalten geblieben und seit 1979 in einer eigenen Ausgabe des Werkes zugänglich. Diese Anweisungen für einen jungen Pianisten zeigen uns Webern, wie man Peter Stadlens Worten beipflichten muß, „als zutiefst ausdrucksbemühten Lyriker“.[32] Es bestätigt sich, was vielfach, 1960 auch von Otto Klemperer in seinen „Erinnerungen an Gustav Mahler u.a. autobiographische Skizzen“ bezeugt wurde, daß Webern ebenso wie seine frühen auch seine späten Werke „mit enormer Intensität und Fanatismus“ spielte und gespielt haben wollte.[33] Die Formulierung Adornos vom Paradox der Musik Weberns – als durchkonstruiertem Ausdruck – abwandelnd, spricht Peter Stadlen von einer „enigmatischen Dialektik von expressivem und konstruktivem Wollen, zumindest im Augenblick der Komposition.“[34]

Dennoch ist die zwiespältige Aufnahme der Klaviervariationen selbst im Kreis der Eingeweihten ein Hinweis auf ein ungelöstes und vielleicht unlösbares Problem in der Sache Zwölftonkomposition, das wiederum zurückverweist auf die vorige Frage, ob die Musik mit Webern von aller Tradition „unvermeidlich und endgültig“ Abschied genommen habe oder ganz im Gegenteil als deren Steigerung und mögliche Vollendung zu deuten sei.

Notenbeispiel: Anton von Webern: Variationen für Klavier, op. 27, 3. Satz; Takte 1-12.

Notenbeispiel

Notenbeispiel

Copyright 1937, 1979 by Universal-Edition, Wien

Konfrontierten wir den heutigen Normalkonsumenten von Musik, also jenen, der auf dem endlosen Meer der Unterhaltungsmusik segelt, unvermittelt mit Weberns Klaviervariationen, so bekämen wir wohl vernichtende Urteile zu hören. Bestenfalls würde er zugestehen, daß es sich um eine Musik mit starkem Zufälligkeitscharakter handle, vielleicht auch noch um eine von bewußter, dadaistischer Spaßhaftigkeit. In der Überzahl jedoch wären gewiß jene Urteile, die ganz offen bezweifelten, daß die vorgeführten Klänge als Musik gemeint seien. Als Mitglieder der höheren musikalischen Kultur sind wir gewohnt, solche Urteile dadurch abzutun, daß wir den Normalkonsumenten von Musik als Patienten einer Dauergewöhnung an die Tonalitätsmaschine der Unterhaltungsmusik behandeln. Sein Urteil entäußere daher nur die spontane Reaktion auf eine ihm ungewohnte Sprache Neuer Musik. Für den musikgeschichtlich versierteren Musikhörer, der sich solche Urteile nicht erlauben darf, schon weil er damit seinen Bildungscharakter beleidigte, stellt sich die Problematik einer angemessenen Reaktion und Beurteilung differenzierter. Mag er auch subjektiv einen gewissen Zufallscharakter an Weberns Klängen für sich empfinden, mag er sich auch tolerant gleichgültig bis distanziert ablehnend zur Zwölftonmusik und zur Webernschen insbesondere verhalten, so hat er doch in der Regel so viel musikhistorische Information angesammelt, um zu wissen, daß Webern in den Annalen der Musikgeschichte nicht als Aleatoriker geführt wird. Für ein verbindliches Urteil wird er daher auf den Experten verweisen, wo immer dieser auch wohnen mag, auf ein höheres Expertenbewußtsein, dessen eingehende Werkanalysen eine Hörerfahrung von Weberns Klaviervariationen ermöglichten, eine Hörerfahrung, in der der Eindruck des Zufälligen und Ungewohnten getilgt und als Maske oder leerer Schein durchschau- und durchhörbar werden kann. Erst ein auf Wissen begründetes Hören sei also befähigt, in den Raum jener „enigmatischen Dialektik von expressivem und konstruktivem Wollen“ einzutreten, in dem Webern seine unendliche Konstruktion in den Dienst unendlichen Ausdrucks stellte.

Nun zeigt sich aber bei der Analyse des Werkes, die dessen eigentliche Nichtzufälligkeit und inneren Zusammenhang demonstrieren möchte, eine nicht unerhebliche Schwierigkeit. Da sich Weberns Klaviervariationen als Werk mit „Thema und Variationen“ ankündigt und auch sonst als Werk einer bestimmten Gattungstradition der musikalischen Sprache der Tradition angehört, müssen in der Analyse des Werkes die Kategorien dieser Tradition, also der tonalen, auf ein Werk der Dodekaphonie angewendet werden. Auch Webern selbst dachte ja in den Grundkategorien des Kontrapunkts, der Harmonik, der Melodik, der Metrik und Rhythmik sowie des architektonischen Gestaltens, beispielsweise: Hauptstimme und Gegenstimme, Wiederholung, Melodie, Kanon, Kadenz, Motiv und Durchführung, und nicht zuletzt: Thema und Variation.

Auch in der bis heute nachwirkenden Analyse des Werkes, die Dieter Schnebel mit Heinz-Klaus Metzger 1952 erarbeitete, und die 1984 unverändert erschien, geschieht diese Anwendung des traditionellen Kategorienapparates.[35] Zwar hören wir gelegentlich von nagenden Zweifeln, wenn gefragt wird, ob denn bei Webern überhaupt noch von Mehrstimmigkeit und Kontrapunkt, von Motivik-Thematik und Variation die Rede sein könne; dennoch werden durchgängig die traditionellen Kategorien bis hin zu Melodie und Melodiebogen, cantus firmus, Dux und Comes, Hauptstimme und Durchführung, Kanon und Kadenz gebraucht, wenn auch hin und wieder unter Anführungszeichen. Alles in allem also der Versuch eines Nachweises, daß wir es mit einem Werk der Tradition, ja mit deren Kulmination in einer Gattungsform zu tun haben, wenn auch mit der genannten Einschränkung, die freilich einer Erweiterung, einer Erhöhung des ästhetischen Ranges der Klaviervariationen gleichkommt, – daß es nämlich nicht mehr für den Konzertsaal, sondern für eine Gemeinde von Lauschenden bestimmt sei.

Das Problematische einer scheinbar unproblematischen Anwendung der traditionellen Formkategorien wird sofort akut, wenn wir mit Dieter Schnebel beim Analysieren von Weberns Klaviervariationen versuchen, das Thema des dritten Satzes ausfindig zu machen. Nach Schnebel soll zunächst die Viertongruppe es-d-e-f das eigentliche Thema (Takte 1-4), die Hauptmelodie, ja der „cantus firmus“ des Variatonensatzes sein. Eine Folge von vier Tönen, die sich auf vier Takte verteilt, dynamisch abrupt zwischen piano und forte wechselnd und, durch meist lange Pausen getrennt, binnen vier Takten in vier verschiedene Oktavlagen springend: ein „cantus firmus“ jedenfalls der ganz eigenen Art. Die übrigen Töne und Motive der Takte 1 bis 5, die zusammen die zwölf Töne der sogenannten Grundreihe vorführen, teilt Schnebel zwei Gegenstimmen zu, so daß wir im Ganzen einen dreistimmigen Kontrapunkt vor uns hätten, der überdies die Gestalt eines Kanons aufweisen soll. Die auffällig langen Pausen zwischen den isoliert gehaltenen Tönen und Tongruppen werden von Schnebel den Motiven bzw. Stimmen als rhythmische Motiv- und Stimmenanteile zugeschlagen, woraus sich eine Spannung von „eigentlichem Rhythmus“ und dem metrisch bestimmten Zählrhyhtmus des 3/2 Taktes ergeben soll.[36] Um zu dieser Auffassung zu gelangen, muß Schnebel allerdings voraussetzen, daß das Metrum als zugrundeliegende Einheit von Zählzeiten wenigstens unbewußt mitzählend vollzogen wird, weil sich sonst jene „rhythmische“ Spannung nicht einstellen könnte. Aber Schnebels Voraussetzung ist mehr als fragwürdig, da die Webernsche Extremgestalt der dodekaphonen Tonhöhenstruktur die metrische Basis aushöhlt: die Häufung verschiedenster Oktavlagen, die freie prosarhythmische Folge der Tondauern, der ständige Wechsel von forte und piano, die oftmalige Einschränkung der Intervalle auf die „oktavverfehlenden“ von Septime und None, und nicht zuletzt die überlangen Pausen, – alle diese Webernschen Eigenheiten setzen das Metrum als Widerpart eines „eigentlichen Rhythmus“ außer Kraft. Webern komponiert dabei in seiner Art völlig konsequent: wie seine Reihenaussetzung im Werk das Harmonische außer Kraft setzt, seine Melodik des Widerparts einer inneren Harmonik beraubt, ebenso ist seiner prosaartigen Rhythmik das Metrische nur mehr als chronometrisches Zeitmaß beigesellt. (Niemand hört das es in Takt 5 als verzögerten und daher spannungsgeladenen Eintritt gegen das es in Takt 1, wie Schnebel meint; und wenn es jemand so hörte, hätte er sich den Resultaten der Webernschen Reihenoperation widersetzt.)

Ein weiterer Einwand gegen Schnebels Zuteilung der einzelnen Töne und Tongruppen zu einer Struktur von kontrapunktisch geführten Stimmen mag banal klingen, ohne doch der argumentativen Kraft zu entbehren. Wäre es nämlich Webern tatsächlich darum gegangen, seine Klaviervariationen als durchgängigen Kanon von Haupt- und Nebenstimmen oder auch von gleichgewichtigen Hauptstimmen zu gestalten, so hätte er sich leicht der Notationsweise des späteren Schönberg bedienen und die einzelnen Stimmen mit entsprechenden Zeichen markieren können. Und da nichts dergleichen im Notentext vorliegt, sehen wir Schnebels Analyse in die Schwierigkeit verstrickt, die Webernschen Klanggebilde durch ungewisse Subsumption unter traditionelle Formkategorien erfassen zu müssen.

Das Thema des 3. Satzes sollte zunächst die genannte Viertongruppe es-d-e-f sein; aber gemäß einer Deutung an anderer Stelle soll sich das Thema zugleich von Takt 1 bis Takt 12 erstrecken und gemäß dem dreimaligen Durchlauf der zwölf Töne in drei Teile gliedern.[37] Scheint sich nun dieser Widerspruch noch einmal als lediglich äußerer schlichten zu lassen, indem man einen Gegensatz von keimhaftem Urthema (4 Töne) und entwickelter Themenexposition (12 Takte) annimmt, so ist der folgende Widerspruch ein innerer, der ins problematische Zentrum der dodekaphonen Werkstruktur und der Schnebelschen Analysemethode führt.

Die genannte Viertongruppe soll nämlich – in einer Sicht der Dinge –   nichts weiter als ein dürftiges chromatisches Material sein, das erst durch die formgebende Kraft kontrapunktischer Melodiebögen motivisch-thematische Gestalt annehme. Die melodischen, dynamischen und rhythmischen Kontraste zwischen den Teilmotiven es-d und e-f würden durch die Klammer des Melodiebogens, der teils dodekaphon (durchs Gesetz der Reihe), teils kontrapunktisch (durchs Gesetz des Kanons) definiert wird, zusammengehalten. Was es-d und e-f motivisch zusammenfasse, sei die kontrapunktische Struktur, die „auch dem kleinsten seiner Gebilde“ innewohne, „so daß gleichsam [!] eine Art Umkehrungskanon entsteht.“[38]

Der behauptete starke innere Gegensatz der Motive (es-d und e-f) schlösse es aus, daß etwa c und fis in Takt 3 zu einem Motiv bzw. zu einer Stimme gehören könnten. Eine derartige Zusammenziehung von c und fis würde zu einer so starken Spannung führen, daß die Kontinuität des cantus firmus gefährdet wäre. Erst unter der Schnebelschen Zuteilung „entsteht ein bruchloser, wohlgegliederter Verlauf innerhalb jeder Stimme“. Und der ‚“stärkste Beweis für die Richtigkeit dieser Aufteilung“ sei, daß sich nur so die für Webern typische Kanongestaltung ergäbe, die eben fordere, daß zuerst der c.f. einsetze.[39]

In einer anderen Sicht lesen wir über die kontrapunktische Kraft des „cantus firmus“ : da sich der letzte Satz im „Grunde aus der kleinen Sekunde und dem rhythmischen Motiv o o entwickelt“, erhebt sich die Frage: „Haben diese beinahe primitiven Gestalten die Kraft, einen größeren musikalischen Zusammenhang, wie ihn der letzte Satz von op.27, ein ‚Thema mit Variationen‘ darstellt, hervorzubringen und die einzelnen Teile in ihm aneinanderzubinden?“[40] – Schnebel gibt nun die dodekaphone, nicht die kontrapunktische Antwort: die Zwölftontechnik sei das verbindende Gestaltungsprinzip, „der Reihenablauf faßt die Mosaiksteinchen der Einzelergebnisse zum übersichtlichen Bild zusammen, indem er einen logischen Ablauf der Motive gestattet.“[41] Wir haben also nun zwei Logiken: die kanonische des traditionellen Kontrapunkts, im Prinzip: die durchgehende Imitation, und die dodekaphone der chromatischen Totale, die Abwicklung der zwölf Töne im dodekaphonen Verbotskontext der Reihenaussetzung. Sind diese beiden Logiken vereinbar, können ihre „Gesetze“ zusammen bestehen? Oder macht vielleicht gerade ihre Unvereinbarkeit jenes vielbeschworene Rätsel und Geheimnis der Musik Weberns aus, „den Zug ihrer geheimnisvollen Gesetzlichkeit, das ihn zum Mittel des Kanons greifen lasse?“[42]

Indem Webern seinen Reihen imitatorische Intervallspiegelungen einsetzte, wollte er bekanntlich den von ihm unhinterfragten Zusammenhalt der chromatischen Totale nochmals steigern. Und im Grunde begehen alle Adepten, die seinem Denken folgen, stets wieder denselben Kurzschluß: kontrapunktische Formen seien atonalisierten Tonverhältnissen, also solchen ohne innere Tonverwandtschaft nach Belieben so einzuschreiben wie sie den tonalen Tonverhältnissen notwendig eingeschrieben sind, und dies mit nichtkontingentem Erfolg: der atonale Kontrapunkt sei so kohärent wie der tonale.

Dies erklärt, was Schnebel unerklärt zuläßt: daß der Reihenablauf, der eben noch den „logischen Ablauf der Motive“ gestattete, zugleich auch soll vergessen werden können: „Die motivisch-kontrapunktische Ordnung des Stückes, über der man vergißt, daß es sich um eine Zwölftonkomposition handelt, ist dem Reihenablauf horchend abgelistet.“[43] Die Reihenstrukturen mögen vielleicht nicht bewußt vollziehbar sein, aber ihr Resultat als Werkgestalt kann nicht vergessen werden, weil es unmittelbar vollzogen wird: wir hören ein der Dodekaphonie gehorchendes Stück, nicht ein tonales und nicht ein über beiden schwebendes Stück. Die Dialektik im Begriff des musikalischen Vergessens – es ist die von musikalischer Vermittlung und Unmittelbarkeit – sollte nicht einem undialektischen Vergessen ausgeliefert werden.

Schnebels Unsicherheit in der Feststellung des eigentlichen Themas, seines Wesens und seines Vermögens, zeigt sich nochmals, wenn er versucht, den Gegensatz von Thema und Variation in Weberns Klaviervariationen zu retten. Denn einmal spricht er vom Thema als einer „kurzen, hinsichtlich ihres Tonmaterials charakteristischen und unveränderlichen Gestalt“,[44] von jenem viertönigen Motiv es-d-e-f, dem seine vielfältigen Abwandlungsgestalten gemäß einer „Art Cantus-firmus-Technik“ folgen; zum andern jedoch soll das genannte Motiv nur motivisches Material sein, „aus dem die eigentlichen Bildungen erst abgeleitet werden.“[45] Nach der ersten Definition gleichen sie mit Schnebels eigenen Worten „einer magischen Formel, die sowohl Objektivität wie das Rätselhafte für sich beansprucht“. Gerade weil die Webernschen Motive aus wenigen Tönen bestünden, „weil sie so wenig Material verwenden, seien sie „höchst charakteristisch, zugleich deshalb auch unpersönlich, formelhaft.“[46] Nach der zweiten Definition sind sie bloßes Material, so sehr nämlich, „daß das eigentliche Thema, das ungeformte Material der Viertönegruppe gar nicht exponiert wird, es läßt sich schon ob seiner Gestaltlosigkeit nicht aufstellen.“[47]

Wir sind jetzt im innersten Zentrum des Problems und seiner Widersprüche. Und wir wissen nicht, worüber wir mehr erschaudern sollen: über die Unlösbarkeit des Problems an der Musik oder dessen Unbemerktheit beim Analysierenden. Denn Schnebels Formulierung: „Thema und Variation stehen gleichberechtigt nebeneinander“ und jede Variation entfalte eine je „neu aus ihr abgeleitete Konfiguration“[48] vernebelt die entscheidende Einsicht in das entscheidende Faktum: daß nämlich der Unterschied von Thema und Variation aufgrund einer unhaltbaren Logik von Motivbildung verschwinden muß. Was wir hören ist eine Art Übervariation, ein Austausch von Variablen ohne Konstante, ein Variieren ohne festhaltbares Substrat, das als erkennbares variiert werden könnte. Da alles Variation ist, ist keine mehr, da alles Durchführung ist, ist keine mehr; indem Webern getreulich der Maxime Schönbergs folgt, die Reihe solle „in der Art eines Motivs“ wirken, folgt er ihm in den Abgrund der Dodekaphonie.[49] Bereits die Reihe selbst ist totale Variation, aber als totes Extrakt und Absud totaler Durchführung, das musikgeschichtliche Resultat der Chromatisierung, deren totaler Modulation und enharmonischen Verwechslung, der zu Ende gebrachten Motivik-Thematik der Kunstmusik nach Beethoven. Die Reihe zerfrißt daher den Identitätskern des Motivs, dieses schrumpft auf seine leere Dauerngestalt, es wird von den umgebenden Pausen ununterscheidbar, und indem es die Grenze der traditionellen Formkategorie überschreitet, kollabiert es zum atomisierten Gestus dessen, was Motiv und Variation einmal war. Es ist daher sinnwidrig, bei Webern nach einem cantus firmus von Themen und dessen Variation zu suchen.

Die Tragödie des Werkzerfalls betrifft natürlich auch den Gehalt der Werke, jene vielberufene Idee des reinen Ausdrucks, das Beschwören des auratischen Lauschens eines absoluten Lyrikers, die fama, Weberns Werke hätten dem Rätsel Musik den vollendetsten Ausdruck gegeben. Denn mit der Sprengung der traditionellen Formkategorien mitten im Werk zerstiebt auch die Belangbarkeit ihres geistigen Gehaltes. – Es beginne in Weberns Musik, so beschwört Schnebel sein klingendes Idol, „die Seele selber zu tönen“; und doch sollen die Klaviervariationen weder traurig noch fröhlich sein, denn Weberns Musik sei ohne Namen.[50] Womit nun nicht Adornos Lehre von der Musik als einer der höchsten Namen, jenseits von Begriff und Wort, gemeint sein kann, sondern unwissentlich eine Figur des Todes ausgesprochen wird.

Es ist bezeichnend, daß Schnebel an vielen Stellen seiner Analyse den motivisch-thematischen, den kontrapunktischen und auch den dodekaphonen Ansatz verläßt und die Rede von der Klangfarbenmelodie anhebt. Webern hätte damit keine Freude gehabt, er wollte nur eine andere Art Bach sein. Allerdings ist es richtig, daß kraft der atomisierenden Reihenoperation der Primat von Tonhöhe und Tondauer im traditionellen Sinn in Weberns Werk an sich bereits gebrochen wird, ohne daß schon die freigesetzte Klangmusik der nachseriellen Musik für Webern irgend greifbar war. Weberns Auskomponieren des Aggregatgeistes der Reihe war konsequent, die Dissoziierung griff auf alle Momente der traditionellen Werkstruktur über, das Werk verendet in unvergeßlicher Plastizität. Und nicht verwunderlich, daß sich darüber der Irrtum und Schein erzeugen konnte, mit Weberns Musik beginne das Wirken geheimnisvoller Rätselgesetze, und verborgene Kräfte hätten einen neuen musikalischen Zusammenhang in die Welt gebracht. In Weberns Musik stirbt die traditionelle Musik ihren authentischen Tod, ohne daß der wirklich Neuen Musik zwischen Performance und Strukturgenerator jene Grundlage gegeben wurde, die die serielle Generation hinter Weberns Reihenoperationen vermutete.

 

 

Erschienen in: Musica conservata. Festschrift Günter Brosche zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Josef Gmeiner, Zsigmond Kokits, Thomas Leibnitz und Inge Pechotsch-Feichtinger. (Eine Publikation der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek und des Instituts für Österreichische Musikdokumentation.) –   Schneider, Tutzing 1999; S. 47-70.

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[1] In einer umfassenden Studie ist der damaligen Situation an der Wiener Musikhochschule vor kurzem Carmen Ottner nachgegangen: „Bedeutende österreichische Komponisten als Pädagogen. Schulbildungen, Kreise (Wien um 1900 bis in die Dreißigerjahre)“. Ein Auszug davon in: Musikerziehung 1996/97 Nr.4, S. 155 ff. – Schönberg gelang es mit seinen elf Schülern lediglich einen „freien theoretischen Kursus“ ohne Prüfungsbefugnis für das Jahr 1910/11 zu erhalten. An der Musikhochschule Wien regierte die extreme Konservative, daneben die gemäßigte Moderne, nicht aber die „Wiener Schule“: Robert Fuchs, Hermann Graedener, Joseph Marx, Karl Weigl, Alexander Zemlinsky, Franz Schmidt, Franz Schreker.

[2] Pierre Boulez: Schönberg est mort, in: The Score, Februar 1952.

[3] Enrico Fubini, Geschichte der Musikästhetik. Von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart, Weimar 1997, S. 372.

[4] Ebda., S. 373.

[5] Ebda., S. 373.

[6] Thomas Mann, Dr. Faustus, Frankfurt 1949. S. 789.

[7] Ebda., S. 302.

[8] Ebda., S. 382.

[9] Ebda., S. 384.

[10] Ernest Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, München 1986, S. 531 ff.

[11] René Leibowitz, Introduction à la musique de douze sons, Paris 1949, S. 101.

[12] Ebda., S. 103.

[13] Ebda., S. 107 f.

[14] Vgl. Martin Hufner, Adorno und die Zwölftontechnik, Regensburg 1996.

[15] Fubini, a.a.O., S. 370.

[16] Fubini, a.a.O., S. 371.

[17] Ansermet, a.a.O., S. 673 und 764.

[18] „Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.“ – Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 1970, S. 9.

[19] Ansermet, a.a.O., S. 17.

[20] Anton Webern, Der Weg zur neuen Musik, Wien 1960, S. 16.

[21] Paul Hindemith, Unterweisung im Tonsatz, Mainz 1940, Band 1, S.23.

[22] Ebda., S. 183.

[23] Ebda., S. 39.

[24] Arnold Schönberg, Probleme der Harmonie, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt 1976, S. 232.

 

[25] Vgl. Jacques Handschin, Der Toncharakter. Eine Einführung in die Tonpsychologie, Basel 1948.

[26] Hindemith, a.a.O., S. 186.

[27] Anton Webern, Der Weg zur neuen Musik, Wien 1960, S. 16.

[28] Ebda.

[29] Fubini, a.a.O., S.369.

 

[30] Heinz-Klaus Metzger, Zur möglichen Zukunft Weberns, in: Musik-Konzepte /Sonderband Anton Webern I, München 1983, S. 306.

[31] „Seine entfliehende Musik hat ihre Schwere daran, daß sie die Idee des reinen Ausdrucks nicht isoliert verfolgt, sondern in die musikalische Gestalt selber hineinträgt, diese so durchbildet und artikuliert, daß sie eben dadurch zum reinen Ausdruck fähig wird. Um dieses Paradoxon, die Durchkonstruktion um der unmittelbaren Kundgabe willen, ist das gesamte oeuvre von Webern geordnet.“ – Theodor W. Adorno, Nervenpunkte der Neuen Musik. Anton Webern, Hamburg 1969, S. 57.

 

[32] Anton Webern, Variationen für Klavier, op. 27. Erläuterungsausgabe von Peter Stadlen, Wien 1979, S.2.

[33] Ebda.

[34] Ebda.

[35] Dieter Schnebel, Die Variationen für Klavier, op.27. Eine Anleitung zum Hören des Werkes, in: Musik-Konzepte /Sonderband Anton Webern II, München 1984, S. 162-217.

 

[36] Ebda., S. 193.

[37] „Das Thema T. 1-12 ist in drei Teile gegliedert, was sich aus der Struktur der cantus-firmus-artigen Hauptmelodie ergibt.“ S.193. – „Trotzdem stellen nicht die Takte 1-12 das eigentliche Thema dar, sondern eben die erwähnte Viertönegruppe.“ ebda., S. 192.

[38] Ebda., S. 174.

[39] Ebda., S. 195 f.

[40] Ebda., S. 175.

[41] Ebda.

[42] Ebda.

[43] Ebda.

[44] Ebda., S. 173.

[45] Ebda. S. 192.

[46] Ebda. S. 175.

[47] Ebda. S. 193.

[48] ‚Konfiguration‘ als Variation einer Variation enthält die Aporie dodekaphoner Dekomposition. Schnebel möchte das Unverbindbare zusammenzwingen, indem er die traditionellen Kategorien in das Webernsche Werk nötigt. Den Kern der unlösbaren Aporie enthält die folgende Stelle: „Webern exponiert zu Beginn jeder Variation eine neu aus ihr abgeleitete Konfiguration, die es [das Thema!] dann weiterführt und dadurch ein im Rahmen des Ganzen verhältnismäßig selbständiges, fast [!] satzartiges Gebilde schafft. Das bedeutet, daß „Thema“ und Variationen gleichberechtigt nebeneinanderstehen; ja, das „Thema“ ist eigentlich schon erste Variation. Das eigentliche [!] Thema, das ungeformte Material der Viertönegruppe, wird gar nicht exponiert, läßt sich schon ob seiner Gestaltlosigkeit nicht aufstellen.“

Und nun der Gegensatz der Antinomie: „Jedoch die weiten Melodiebögen des „cantus firmus“ [!] in T. 1-12, die breite thesenartige Aufstellung der drei Gestalten der Viertönegruppe, sowie die statische Haltung jenes Teiles verleihen ihm den Charakter eines Themas im traditionellen Sinn.“ ebda., S. 192 f.

 

[49] „Die Grundreihe funktioniert in der Art eines Motivs…. Sie ist in keiner Weise mit der chromatischen Skala identisch… Aber etwas anderes [als Haupt- und Nebenharmonien] und Wichtigeres leitet sich von ihr ab mit einer Regelmäßigkeit [!], die der Regelmäßigkeit und Logik früherer Harmonik vergleichbar ist; die Vereinigung von Tönen zu Harmonien und deren Aufeinanderfolge wird…von der Anordnung dieser Töne geregelt.“ – Arnold Schönberg, Komposition mit zwölf Tönen in: Stil und Gedanke, Frankfurt 1995, S. 110 f. – Zur musiklogischen Auflösung dieser Aporie vgl: Leo Dorner, Zum Paradigmenwechsel der Musik im 20. Jahrhundert, (I), Linz 1997, unveröffentlicht, Anmerkung 22.

[50] „Weberns Musik ist Meditation über Übermenschliches, darum läßt sich seine Musik auch so schwer in menschlichen Kategorien beschreiben… Sie ist weder traurig noch fröhlich. Die Seele selber begann zu tönen und mit ihr das, worin sie ruht. Deshalb ist diese Musik eigentlich namenlos, und sie fordert Namenlosigkeit vom Interpreten wie vom Hörer, wie Meditation eben Hingabe ist an etwas, das man höher erachtet als sich selber und alles andere. Der sie nicht zu leisten vermag, ist verloren – für Webern und für andere.“ – Doch berichtet Peter Stadlen von Aussagen Weberns über seine Klaviervariationen, die uns zeigen, daß der Komponist sein Werk als getreue Fortführung der Tradition verstanden haben wollte. Stadlen, a.a.O., S.2-4. Der zweite Satz etwa erschien ihm von unbezweifelbarer Heiterkeit; „er hätte, sagte er mir, während der Komposition immer wieder an die Badinerie von Bachs h-Moll Suite denken müssen.“ Webern/Stadlen, a.a.O., S. 3.