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12 Über die Zukunft der Musik

I.

 

Die Frage nach der Zukunft der Musik, im 19. Jahrhundert noch eher marginal, wurde im 20. Jahrhundert chronisch, und sie stellt sich am Ende dieses Jahrhunderts nachdrücklicher als je zuvor. Ihr auszuweichen ist unmöglich, denn sie begleitet bereits jeden unserer Versuche, ein Resümee über das musikgeschichtliche 20. Jahrhundert zu geben, wie der Schatten seinen Gegenstand. Es ist daher nicht die bevorstehende Jahrtausendwende, die zur Zukunftsfrage drängt, sondern die Entwicklung der Musik selbst, die im 20. Jahrhundert einen völlig anderen Verlauf nahm, als aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts vorauszusehen war.

Dennoch ist die Suggestion, die von der großen Zahl – 2000 – ausgeht, nicht zu leugnen, nicht umsonst wird ihr ein Vorschuss an apokalyptischen Ehren und messianischen Hoffnungen dargebracht, als sei das Weltgericht gesonnen, pünktlich und datierbar in die Weltgeschichte einzutreten. Gegen diese Suggestion vermag die Einsicht der Vernunft wenig, daß sich die große Zahl dem Zufall einer arithmetischen Chronologisierung der christlichen Weltzeit nach Jahresumläufen der Erde verdankt. Noch weniger die musikphilosophische Einsicht, daß die Kunstmusik im 20. Jahrhundert ihre eigene Apokalypse durchlebte und noch mitten in deren Vollzug steht. Und ebensowenig die kaum prophetische Vorhersage, daß der Unterhaltungsmusik auch jenseits des Zeitwalls der Jahrtausendwende blühende Landschaften beschieden sein werden.

Es genügen daher die musikimmanenten Gründe und Abgründe, sie sind stets zugleich gesellschaftsimmanente, um zu erkennen, daß wir vor der Jahrtausendwende in der Ersten Welt vor einer Zukunft der Musik stehen, die ein aberwitzig ungleicher Gegensatz – in ästhetischer Qualität und Quantität – kennzeichnen wird. Denn einer Besorgnisbotschaft über die Zukunft einer marginalen Kunstmusik kontrastiert auf das schärfste eine Frohbotschaft über die Zukunft einer omnipräsenten Unterhaltungsmusik. Dennoch pflegt der Reflexionskern der Zukunftsfrage Musik sehr oft nur um jene Besorgnisbotschaft zu kreisen, getrennt und abgehoben von jener Frohbotschaft über die Unterhaltungsmusik, über deren Omnipräsenz in jeder künftigen Gesellschaft mit massendemokratischer Kulturorganisation weder Zweifel noch Begründungsbedarf besteht.

Seitdem die modernen Technologien und Medien der musikalischen Massenkultur einen sich selbst generierenden Maschinenpark zur Verfügung gestellt haben, eröffnete sich dem unterhaltenden Imperium der Musik ein neues Zeitalter. Der musikalische Maschinenpark bereitete die Wege nicht nur einer Globalisierung der Märkte und gigantischen Erweiterung des massenhaften Vertriebs der Produkte, er revolutionierte auch die Produktion, Reproduktion und Rezeption von Musik mit noch unabsehbaren Folgewirkungen. Der Barbarisierung und Verwüstung dessen, was einmal musikalischer Sinn und Geschmack genannt wurde, sind keine Grenzen mehr gesetzt, der gehirnwaschenden Raffinesse und säkularen Orgiastik des omnipräsenten Mediums unterhaltender Musik entziehen sich in der modernen Massendemokratie nur mehr zwei von zehn Bürgern, bald vielleicht nur mehr einer.

Wenn aber das Schicksal der künftigen Kunstmusik nicht unabhängig von der Omnipräsenz künftiger Unterhaltungsmusik betrachtet werden kann, ist zu folgern, daß die Triftigkeit unserer Vorhersagen für das 21. Jahrhundert von einer adäquaten Deutung dessen abhängt, was im 20. Jahrhundert musikgeschichtlich geschah. Und diese These wird uns nicht nur durch die oft geäußerte Vermutung nahelegt, das 20. Jahrhundert hätte uns eine radikale Veränderung im Selbstverständnis der Musik beschert, eine Veränderung, die das künftige Verhältnis der Musik zu Mensch und Sozialität revolutionieren werde. Auch der deutlich vernehmbare Katalog etlicher leidenschaftlicher Wünsche an die Zukunft der Musik zwingt uns, jeden unserer Resumeversuche übers 20. Jahrhundert genau zu bedenken.

Denn der Wunschkatalog an die Zukunft der Musik enthält an oberster Stelle die Forderung nach einer Aufhebung der vielbeklagten Trennung von Unterhaltungs- und Kunstmusik und der Rückkehr eines großen musikgebildeten Publikums. Eine Aufhebung und Rückkehr, die nach Meinung vieler leicht zu bewerkstelligen sei, da schon die Trennung eine nur willkürlich angenommene, eine vielleicht nur eingebildete gewesen sei. Dabei ist allerdings genau zu beachten, wer diesen Wunsch äußert, und unter welchen Prämissen und Zielvorstellungen. Denn eine Aufhebung der Trennung wird vielfach auch unter der Annahme erwogen, die musikgeschichtliche Entwicklung im 21. Jahrhundert könnte oder sollte dazu führen, daß eines Tages die Tradition der Kunstmusik von jener der Unterhaltungsmusik in einem kulturkannibalischen Akt geschluckt werde, weil in nicht allzu ferner Zukunft einzig noch die Unterhaltungsmusik als Musik und damit auch als Kunstmusik im 21. Jahrhundert wahrgenommen werden könnte.

Dahinter steht die unschwer zu erkennende und noch wesentlich gravierendere Befürchtung, daß nämlich das Reich der Klänge insgesamt seine durch Jahrtausende bewährte Urfunktion verlieren werde, als Träger und Symbol von Geist, sei es religiösem, künstlerischem, sozialem oder individuellem, gesellschaftlich anerkannt und benötigt zu werden. In absehbarer Zukunft würden demnach Klänge, und seien sie noch so musikalisierte und künstlich auratisierte, nur mehr den Rang von Unterhaltung und Spektakel beanspruchen können, sie würden nur mehr als entspannendes Spiel sinnlicher Empfindungen, als Spaß einer einmaligen Musizier- oder auditiven Selbsterfahrung, als Event eines angenehmen Kitzels für Ohr und Psyche wahrgenommen. Und davon würde selbstverständlich auch die große Tradition der abendländischen Musik nicht verschont, woran uns schon heute jede Kaufhausmusik prophetisch gemahne, die mit Musik von Bach und Mozart ein bestimmtes Warensortiment anbietet, weil sich dafür eben die „klassische“ Musik als entsprechende Verpackung darbiete.

 

II.

 

Unter ganz anderen Prämissen und Zielvorstellungen begehrt das Crossover der musikalischen Postmoderne eine Aufhebung der Trennung von Kunst- und Unterhaltungsmusik und eine Rückkehr des großen Publikums. Das seit den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts einsetzende postmoderne Ansinnen einer Zusammenführung dessen, was angeblich nur die Moden der Zeit und kompositorische Doktrinen streng getrennt hätten, pflegt allerdings oft zu unterschlagen, daß seit Strawinsky jeder Komponist, der nicht der strengen Linie dogmatischer Atonalität folgen wollte, wie sie die Doktrin der Schönberg-Schule und ihrer Nachfolger vorgab, stileklektizistisch komponieren musste. Zwar konnten sich die Werke des 20. Jahrhunderts auch mit einer sozusagen milden und weltläufigen Brechung und Verkomplizierung der tonalen Syntax und Idiome begnügen; welche Selbstbescheidung den Komponisten häufig den Schimpfnamen, Anhänger einer „gemäßigten Moderne“ zu sein oder noch ärgere eintrugen, etwa jene Adornos für Hindemiths Musik. In klarer Mehrheit aber behaupteten sich jene Werke der heroischen Moderne, in denen sich die Neoismen aller vergangenen Stile, Adaptionen aller Volksmusiken, Aneignungen oder Verhöhnungen aller Formen der Unterhaltungsmusik und des Jazz, aber auch, mitunter zu Schönbergs Erschrecken, Anwendungen strenger Atonalität mit tabuisierter Tonalität einfanden, um sich – nach dem freien Belieben jedes Komponisten – ein sozusagen polyhistorisches Stelldichein zu geben.

Gegen dieses bereits „klassisch“ gewordene Crossover der musikalischen Moderne mussten die Prämissen und Zielvorstellungen der musikalischen Postmoderne schon aus geschichtlichen Gründen andere sein. Es war und ist die Musik der Nachgeborenen, also jener Generation, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren ans Ruder geworfen wurde, um den Kahn der Kunstmusik fahrtauglich zu halten. Das Crossover der Postmoderne wurde unter Leitideen gestellt, die ausdrücklich die aufgerissene Kluft zwischen der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts und dem verloren gegangenen großen Publikum wieder schließen sollten. Die Leitideen der Neuen Einfachheit, der Neuen Schönheit und einer neuen guten Tonalität, – einer Hypothese, der besonders die minimal music huldigt (in Wien auch ein Verein für eine schöne Neue Musik) -, sollten das vertriebene Publikum wieder zurückholen und der Aufteilung des Konzert- und Opern-Repertoires und seines Publikums in eines für alte und eines für neue und womöglich noch eines für die laue, aber umso geschwätzigere Mitte der Kunstmusik Einhalt gebieten. Doch haben die Tage des euphorischen Beginns des postmodernen Unternehmens längst ihr illusionsloses Ende gefunden. Die postmodernen Leitideen waren nicht imstande, den Komponisten des späten 20. Jahrhunderts die erstrebten neouniversalen Synthesen für eine Syntax und Idiomatik einer neopopularen Kunstmusik zurückzugeben. Einsichtig kehrt man daher in unseren Tagen zur Erkenntnis zurück, daß sich die Kunstmusik am Ende des 20. Jahrhunderts nicht um die durch ihre Geschichte freigesetzte Polykomplexität und polyhistorische Eklektik drücken kann. Ebensowenig um die Einsicht, daß eine Rückkehr zum Repertoire und Publikum der bürgerlichen Konzert- und Opernkultur prekär geworden ist, weil in der modernen Gesellschaft ein bindendes Bedürfnis nach einer neuen universalen Kunstmusik, die eine gemäßigte und schockbefreite, eine nichtavantgardistische und traditionsbehütete Fortführung der traditionellen Kunstmusik sein möchte, nur mehr rudimentär existiert.

Weiters finden wir im gegenwärtigen Wunschkatalog an die Zukunft der Musik auch noch den heroischen Wunsch und Anspruch der musikalischen Moderne vor, ihr Arsenal an Werken und Techniken werde spätestens im 21. Jahrhundert in den traditionellen Rang einer universalen Kunstmusik unter universaler gesellschaftlicher Anerkennung aufsteigen. Ein Wunsch und Anspruch, der in der Gegenwart noch in der brüchigen Attitude von Interpreten und Veranstaltern zu erkennen ist, die ihre Programmgestaltung nach dem sogenannten Sandwichprinzip ausrichten. Auch hier dringt die Einsicht allmählich durch, es könnte ein vergebliches Bemühen unter fragwürdigen Voraussetzungen sein, das Publikum am Davonlaufen vor einer ungeliebten Musik dadurch zu hindern, daß man ihm zwischen zwei traditionellen Werken eines aus dem 20. Jahrhundert vorsetzt. Ein Stück von Webern zwischen zwei Sonaten von Schubert und Beethoven erhebt stets den Anspruch, einer Publikums- und Repertoirebildung vorzuarbeiten, die dereinst die Neue Musik des 20. Jahrhunderts als bruchlose Fortführung der traditionellen Musik erkennen lassen werde. Mit Hilfe einer unerkannten Vergangenheit wird ein Kredit bei der Zukunft aufgenommen, über deren traditionsbildenden Kapitalstand nachzufragen, ängstlich vermieden wird.

Auch zielten die Utopien der musikalischen Moderne auf eine Aufhebung der Trennung von Kunst- und Unterhaltungsmusik ganz aus der traditionellen Perspektive einer gesellschaftlich noch dominanten Kunstmusik. Nicht die Trennung sollte aufgehoben werden, sondern die Dominanz der Unterhaltungsmusik und ebenso die des kanonisierten Repertoires der traditionellen Musik. Dementsprechend hilflos orientierten sich die Zielvorstellungen auch der musikalischen Moderne mitunter an den oberflächlichen Designkategorien von ‚ernst‘ und ‚unterhaltend‘, ein angeblich nur vom Zeitgeist erfundener Unterschied, der für ein Genie, dem im 20. Jahrhundert alles erlaubt sei, wie Schönberg meinte frohlocken zu müssen, kein ernstzunehmender sein könne. Schönberg präsentierte daher sogleich nach seiner Wende vom romantischen Saulus zum modernen Paulus dodekaphone Suiten, Gavotten und Menuette und prophezeite, seine Musik würde im 21. Jahrhundert wahrgenommen werden wie jene Tschaikowskys im 20. Jahrhundert.

Die spätestens heute offenbar gewordene Uneinlösbarkeit dieser Prophetie lehrt uns mittlerweile mores bei allen Resümeeversuchen über das musikgeschichtliche 20. Jahrhundert. In der Differenz von ‚ernst‘ und ‚unterhaltend‘, von Kunst- und Unterhaltungsmusik verbarg sich dem Geist des 20. Jahrhunderts weithin das ästhetische Schisma zwischen einer musikalischen Moderne und einer musikalischen Unterhaltungsmoderne. Ein Schisma, das der Jazz und moderne Spielmusiken nicht schlichten konnten, und das seinen musikästhetischen Dreißigjährigen Krieg im 20. Jahrhundert ausgetragen hat, indem es inmitten der modernen Gesellschaft explodierte und jedem künftigen gesellschaftlichen Bewußtsein jene Omnipräsenz unterhaltender Musik und Klänge bescheren wird, an der heute weder Zweifel noch Begründungsbedarf besteht. In ihrem Herzensgrund dachte die musikalische Moderne urtraditionell: Das 21. Jahrhundert werde die Ordnung des 19. Jahrhunderts wiederherstellen, abermals werde sich eine Gesellschaft in naher Zukunft musikgeschichtlich daran orientieren, daß im Himmel der Musik die Kunstmusik oben, die Unterhaltungs- und Volksmusik aber unten einzuordnen und dementsprechend zu würdigen sei.

Auch habe das 20. Jahrhundert eine neue Klassik, die „Klassik der Moderne“ hervorgebracht, die daher befugt und gerechtfertigt sei, im 21. Jahrhundert in das gleichsam ewige Anerkennungspantheon eines geschichtslosen Musikhimmels aufzusteigen. Nur mehr eine Frage der Zeit daher, also des Wartens und engagierten Organisierens auf allen Ebenen der Musikkultur, bis die Kunstmusik des 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert jenen Rang einnehmen werde, der im 20. Jahrhundert der Musik des 19. Jahrhunderts und schließlich allen davorliegenden Jahrhunderten der abendländischen Tradition zuteil wurde. Ungebrochen werde sich die Tradition großer Kunstmusik fortführen lassen, denn wieder und wieder werde sich ein neues und lebendiges Repertoire, ein sich selbst aus den Bedürfnissen und Anerkennungspotentialen der künftigen Gesellschaft tragender Kanon eines säkularen Konzert- und Opernrepertoires ausbilden. Selbstverständlich mit einer neuen universalen Pädagogik und universalen Musiktheorie, mit einer gesellschaftlich und nicht marktorientierten Organisation des Musiklebens samt normierender Musikkritik und verbindlichem ästhetischen Geschmack. Jedes kommende Jahrhundert werde daher in der Avantgarde seiner jeweiligen Kunstmusik das Wesen von Musik und Musikalität neu definieren, und dies auf allen Ebenen der sich darstellenden Musik, also jener des Komponierens, des Musizierens und des Hörens von Musik, wie auch auf allen Ebenen im Begriff der Musik selbst, also jenen von Klangsystem, Syntax und Werkidiomatik. Folgerichtig werde daher das 21. Jahrhundert die neu definierte Musik und musikalische Klassik für das 22. Jahrhundert hervorbringen, dieses wieder für das nächste Jahrhundert und so fort bis ans Ende der Geschichte.

 

III.

 

Gegen diese Utopie einer sich stets erneuernden großen Kunstsprache von Musik mit einer jeweils neuen universalen Syntax und Idiomatik, und selbstverständlich mit jeweils neuen klassischen Repertoires für ein großes, als musikalische Elite in der Gesellschaft verankertes Publikum, erhob sich im 20. Jahrhundert eine Reihe grundsätzlicher Einwände, deren Phalanx bereits angedeutet wurde. Erstens die Omnipräsenz der Unterhaltungsmusik und die Ansprüche des Jazz, zweitens der Unglaube der musikalischen Postmoderne an die Grundprinzipien der utopischen musikalischen Moderne, drittens die Wiederaufführungsgeschichte der Alten Musik seit dem 19. Jahrhundert, die der traditionellen Musik der christlichen Epoche von den gregorianischen Anfängen bis zu Mahler und Strauss ein kanonisierbares Repertoire und Gedächtnis erarbeitet hat, viertens das Crossover als neues Prinzip musikgeschichtlicher Traditionsbildung, in welcher der professionalisierte Musiker den Komponisten als Leitfigur der Musikgeschichte abzulösen beginnt, fünftens die technologische Beherrschung von Klang und Musik durch eine sich selbst generierende Wissenschaft und Ingenieurpraxis und sechstens die aus der Selbstdifferenzierung der Musik notwendigerweise erfolgende Neufunktionalisierung der Kunstmusik, deren kulturelle Kollektivierung nun nicht mehr aus der Mitte der modernen Gesellschaft erfolgt, weil deren Eliten nicht mehr durch ein existentielles und praxisorientiertes Bedürfnis an Musik gebunden sind, sondern durch musikspezifische Märkte und Organisationen, pädagogische und andere Provinzen, die fortan der modernen Gesellschaft die traditionelle Kulturkollektivierung von Musik abnehmen, wovon allein die omnipräsent gewordene Darbietung der Unterhaltungsmusikidiome auszunehmen ist, weil das Omnipräsente das Selbstverständliche des Dauerkonsums ist, das keiner speziellen Vermittlung bedarf.

Diese sechs Einwände wirken ineinander, und die Vermutung erhebt sich, daß in diesem Ineinanderwirken ein archimedischer Punkt für die Beantwortung der Frage nach der Zukunft der Musik liegen könnte, und um diese Vermutung zur Gewißheit zu erheben, bedarf es zuvor einer Erinnerung an eine Kernthese des philosophischen Diskurses über die traditionellen Künste in den säkularen Epochen von Neuzeit und Moderne. Hegel hatte die Bahn dieses Diskurses am Beginn der sogenannten Romantik, dem heimlichen der Moderne, eröffnet, und zwar mit der paradoxen These, die Kunst sei zu Ende, aber dieses Ende werde ihrer Weiterentwicklung keineswegs im Wege stehen, ganz im Gegenteil, erst nach ihrem Ende beginne die Kunst ein Leben als Kunst. Eine offensichtlich paradoxe oder antinomische These über den Geschichtsprozess der Kunst, die richtig und nicht falsch zu verstehen, der philosophische Diskurs des 20. Jahrhunderts sich bis heute bemüht. Die unzähligen Auslegungen und Differenzierungen dieses Grundparadoxes durch Heidegger, Gehlen, Adorno und viele andere brachte zuletzt Danto auf die griffige Formel: Das 20. Jahrhundert sei eine große Zeit für die Kunst, aber nicht mehr eine Zeit großer Kunst. Während daher ebenfalls bis zum heutigen Tag der ästhetische und kulturelle Diskurs der modernen Gesellschaft, insbesondere der Künstler und ihrer Verehrer und Begleiter, an dem Begriff einer ewigen und insgeheim immergleichen Kunst festhält, am Mythos des ästhetischen Schaffens und Tuns, das stets und in gleicher Weise fähig sei, Menschheit zu sagen und das Tiefste und Höchste des Individuums und der Gattung auszusprechen, erhob der philosophische Diskurs dagegen seit Hegel, mit Andeutungen bei Kant, unbeirrbaren Einspruch.

Zum einen genötigt durch den Anspruch der christlichen Religion als einer des Geistes, die daher nicht als selbstlose Quelle für Ströme von Einzelkünsten im Rang von Kunstreligionen umgedeutet werden könne, eine Religion des Geistes, die daher auch nicht durch die autonomisierten Einzelkünste der Neuzeit und Moderne kunstreligiös zu überwinden sei, wenn sich diese zu später geschichtlicher Stunde im Selbstrausch den Purpurmantel von säkularen Kunstreligionen umzuhängen anschicken. Zum anderen genötigt durch die Freiheitsprinzipien der Neuzeit, deren universale Formulierung sich sämtlich den Entdeckungen der philosophischen Reflexion verdankt, worauf der Geschichtsprozess die individuelle und gesellschaftliche Verwirklichung der neuen Freiheitsprinzipien einleitete. Eine weltgeschichtliche Wende, die folglich auch die Künste nicht unberührt lassen könne, und daher sei der Fortschritt ihrer Autonomisierung nur um den Preis ihrer Depotenzierung zu erkaufen, – ihre Karriere als nachchristlicher Mythos sei endlich und säkularer Schein. Ein Fortschritts-Verlust-Geschäft also mit genauer gegenseitiger Deckung der Schulden, das sich daher in der epochalen Antinomie vom Ende der Kunst als ihrem Anfang, und vom Anfang der sich autonomisierenden Künste als ihrem Ende als universaler Künste fassen ließ.

Die weltgeschichtliche Wende trifft die Musik und deren kunstmusikalische Autonomisierung seit dem 18. und 19. Jahrhundert mit gleicher Wucht, und sie lässt sich gleichfalls auf eine scharfe Antinomie bringen: Auch die Musik hat ihr geschichtliches Ende als universale Kunst erreicht, sie kann nicht mehr als Geschichte und Gesellschaft bildende Kraft mächtig werden, und zwar weder für sich im eigenen Reich noch auch im Reich der modernen Gesellschaften der Zukunft. Aber obwohl die Musik ihr universales geschichtliches Ende irreversibel erreicht hat, hört sie nicht auf, weder als Musizieren, noch als Hören, noch auch als Komponieren von Musik wichtig und unersetzlich zu bleiben, ganz im Gegenteil, so viel Musik wie heute war noch nie, und kein Horizont ist in Sicht, der uns ein entlastendes Weniger und ein wieder humanes Maß an Musik für die Zukunft versprechen könnte.

Das Epochenparadox der Künste drang selbstverständlich auch in den Diskurs der Musiker und Komponisten über Musik ein, gleichfalls in den Diskurs der Musikhistoriker und Musikkritiker über den dramatischen Prozeß der Musikgeschichte. Dabei gerät die Antinomie bis heute in eine oft unversöhnliche Verschärfung der in ihr enthaltenen Extreme oder auch – kompensatorisch – in eine laue Mitte, die nicht die gesuchte vernünftige Vermittlung sein kann, weil sie die Extreme zu ignorieren versucht. Einer ganz schwarzen und todbetrübten Deutung der Musik im 20. Jahrhundert und ihrer nahen und fernen Zukunft widerspricht eine überaus helle und geistbeschwörende Deutung, und dazwischen spricht eine unscheinbar graue vor sich hin, als existierten die Extreme nicht, also in der Haltung einer angenommenen Normalität, zu der sich diese Deutung berechtigt glaubt, weil doch das Schwarze und das Helle, die Extreme von dunkelster Finsternis und reinstem Licht nur eine Erfindung einseitiger Geister sein könnten.

Die ganz schwarze Version der Antinomie führt zu jener schon erwähnten Prognose, welche die endgültige Verabschiedung von Klang und Musik als geistfähiger Medien ausspricht. Das Reich der Klänge und der Musik verliert seine durch Jahrtausende bewährte Urfunktion, als Träger und Symbol für Geist und Freiheit benötigt zu werden. Der Prozeß der säkularen Geschichte entleibt den Mythos Musik, nach und nach verliert er alle Rationalitätsprinzipien seiner mimetischen Sinnlichkeit, alle Weisen einer verständlichen Sprache, alle Kraft des Trostes und der Erkenntnis, allen Willen zur universalen Gestaltung, er stürzt sich am Ende in ein panisches Überproduzieren und hermetisches Individualisieren, um sich schließlich auf die Kadaverhaufen der Kulturgeschichte zu werfen, dem Schicksal eines endgültigen Vergessens ausgeliefert. Der musikliebende Teil der Menschheit werde an der Überproduktion und Überkonsumation von Musik zugrunde gehen, die Musik werde unter Gebirgen von Musikmüll ersticken.

Zu dieser schwärzesten aller möglichen Prognosen über die Zukunft der Musik fügt sich in erhellendem Kontrast die hellste aller möglichen. Busoni vertrauend, und allen ihm nachgefolgten spiritistischen Auratiseuren neuer und niegewesener Klänge und Musiken, dürfen wir in naher Zukunft eine Kunstentwicklung der Musik erwarten, in der sie endlich ihre große Karriere als Trägerin und Symbolsprache für Geist und Freiheit antreten werde. Endlich werde sie aus freier Stimme ihre ureigenste Wahrheit einer Menschheit verkünden, die diese Wahrheit als ihre ureigene annehmen werde. Was Beethoven der Musik gewonnen habe, ihren philosophiegleichen Rang, das sei nur ein schwaches Vorspiel dessen gewesen, was der Kunstmusik zukünftig möglich sein werde, teilte uns Busoni prophetisch mit.

Zwischen diesen Extremen möglicher Prophetie pflegt sich gewöhnlicherweise der mittlere Konsens des 20. Jahrhunderts einzupendeln. Da unser Jahrhundert musikgeschichtlich ein ebenso großes und normales wie die vorangegangenen gewesen sei, weil es eben die vorangegangenen bruchlos weitergeführt habe, lohne es nicht, extreme Prophetien der genannten Art ernst zu nehmen. Jede Epoche, jedes Jahrhundert, jede Zeit bringe ihre Musik im Range von Kunst und damit höchster Kunst hervor, auch die des 20. Jahrhunderts sei daher von gleicher Meisterlichkeit wie die der vorigen Jahrhunderte, formuliert Hartmut Krones. Allerdings scheinen die omnipräsenten Idiome der Unterhaltungsmusiken von dieser ewigen Meisterlichkeit ausgeschlossen zu bleiben, also jene Musik, die acht oder neun von zehn Bürgern der modernen Gesellschaft in diesem Jahrhundert für die ihre und daher wohl nicht für eine ignorierbare oder gar für eine schlechte halten.

Diese drei Prophetien – die Nichtprophetie der mittleren Position enthält auch eine Prophetie – formulieren das emphatische Pro und Kontra zur musikalischen Moderne und ihrer Kunstmusik im 20. Jahrhundert. Sie reagieren sowohl auf die Kernthese vom Ende der Kunst wie auch auf jene Phalanx der Einwände gegen das utopische Programm der musikalischen Moderne. Weil sie aber über das Szenario zweier unvermittelter Extreme und einer vermittlungslosen Mitte nicht hinauskommen, bedarf das Ineinanderwirken der genannten Einwände einer differenzierteren Deutung und damit einer differenzierteren Prognose.

 

IV.

 

An der Speerspitze der Phalanx wurde erstens das musikgeschichtliche Veto der Unterhaltungsmusik genannt, weil eben der technologisch-mediale Gebrauch ihrer omnipräsenten Idiome längst alle sozialen und ökonomischen Ebenen der modernen Gesellschaft und alle individuellen Lebensebenen des modernen Subjekts durchdrungen habe. Im technologischen und stilistischen Total-Crossover der verschiedenen Idiome der Unterhaltungsmusiksparten sowie des Jazz und aller ihrer Verarbeitungen der Folkloren der absterbenden Volksmusiken entstehe daher eine Popularmusik im Rang einer Weltmusik, die als zentrale Kraft künftiger musikalischer Welt-Musikgeschichte anzuerkennen sei. Gegen die weltumspannende Macht dieser popularen Weltmusik im Bewußtsein einer medial vernetzten Weltbevölkerung sei die Fortführung einer eigenen Tradition von Kunstmusik überflüssig, das Bedürfnis danach werde aussterben, die heute noch künstlich am Leben erhaltenen oder künstlich erzeugten Bedürfnisse nach einer autonomen Kunstmusik würden nach und nach verschwinden.

Zweitens ist der Einwand der musikalischen Postmoderne zu nennen, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren die zu ihrem Bewußtsein gekommene musikalische Moderne repräsentierte, nachdem die Ansätze der doktrinären musikalischen Moderne in ihrer Brüchigkeit durchschaubar wurden. Ein durchschauendes Bewußtsein, das auch den nichtdoktrinären Richtungen der heroischen Moderne, Strawinsky, Bartok, Hindemith u.a. noch nicht möglich gewesen war, da diese insgeheim doch eine universale Vereinheitlichung der Atonalität erhofften, entweder in Form einer syntaktisch und idiomatisch kodifizierbaren Nichttonalität oder in Form einer universalen Verbindung von Tonalität und Atonalität, die über das Experimentieren und nur individuelle Verfügen der Komponierwerkstätten einzelner Komponisten hinausgehen würde. Die musikalische Moderne wußte noch nicht, daß der Musik jenseits der Tonalität weder ein universales Tonsystem noch eine universale Syntax noch eine affirmative Idiomatik zugänglich sein kann.

Der Einwand der musikalischen Postmoderne richtete sich dezidiert gegen das Tabu, das die fortgeschrittensten Richtungen der musikalischen Moderne über den Gebrauch aller bisherigen Sprechweisen von Musik verhängt hatten. Dieses Tabu sei überflüssig geworden, weil auch die musikalische Moderne, trotz und wegen ihres Programmes einer permanenten Innovation und Entgrenzung von Material, Formen und Inhalten, nicht der Aporie dieses Programmes entkommen sei, da ihre Werke und ihr Gebrauch von Klängen längst bestätige, was musikgeschichtlich unausweichlich geworden sei, daß nämlich im 20. Jahrhundert alles Material Zitat geworden, alle Formen schon durchprobiert, alle Inhalte bereits gesagt seien. Ein universal Neues sei daher unter der Sonne der Musikgeschichte nicht mehr zu erwarten. Jenes Tabu aber hatte die musikalische Moderne ausgesprochen, um sich der erdrückenden Wucht der traditionellen Musik und Musikalität und der noch erdrückenderen Omnipräsenz der Unterhaltungsidiome zu erwehren, – denn noch einmal sollte eine wirklich neue Kunstmusik als führende musikgeschichtliche Macht inthronisiert werden.

Die postmoderne Aufhebung des Tabus über den Gebrauch bisheriger musikalischer Sprechweisen kollidierte jedoch, wie schon erwähnt, mit den euphorischen Leitideen der Postmoderne in den Siebzigerjahren, die mittels Neuer Einfachheit, Neuer Schönheit und einer wieder guten Tonalität das verlorene große Publikum zurückgewinnen wollten. Die enttabuisierte Polystilistik konnte selbstverständlich nicht dazu taugen, neouniversale Synthesen in Syntax und Idiomatik für eine neopopulare Kunstmusik zurückzuerobern. Der musikalischen Postmoderne war entgangen, was schon der musikalischen Moderne entgangen war, daß uns nämlich im 20. Jahrhundert in der Musik und in den traditionellen Künsten insgesamt, nicht mehr Originalgenies, sondern nur mehr Individualitätsgenies zur Verfügung stehen können. Eine Einsicht, die uns unzählige Fehlresümees über den Gang der Künste im 20. Jahrhundert und ebenso viele Fehlprognosen über ihre Zukunft erspart hätte – gleichfalls eine Unzahl von Missverständnissen und Selbstmissverständnissen der Künstler, insbesondere von Komponisten und Musikern.

Bis an die Schwelle zum 20. Jahrhundert verzehrte die Musik die Substanz einer Tradition, die ihrer abendländischen Geschichte autonom begründete Grammatiken und Logiken einer universalen musikalischen Sprechweise sicherte, selbstverständlich mit einer ungebrochen affirmativen musikalischen Ausdrucksweise, die bis heute immerhin noch einigen Menschen in ihren Kindheitstagen die historische Initiation einer unerklärlichen Freude und Liebe zur Musik der Tradition beschert. Im Vollzug und Verzehr dieser Tradition verselbständigte sich weder die Autonomie der Musik durch hybride Selbstdifferenzierung noch die stets notwendige Funktionalisierung der Musik durch gesellschaftliche Zwecke, ehe dann die Unterhaltungs- und anderen musikexternen Zwecke der säkular gewordenen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts auch dieser glücklichen Harmonie zwischen Autonomie und Funktionalisierung ein grausames Ende bereitete.

Den universalen Syntaxen und Stilen der Tradition waren universale Gattungen durch eine kollektive Praxis und Traditionsbildung eingeboren – Messe, Fuge, Sonate, Oper usf. -, denen wiederum individuelle Werke als zugleich universale einzuschreiben waren. Nach dem Personalstil der großen Originalgenies organisierten sich daher teleologisch die Epochen der abendländischen Musiktradition. Die traditionelle Musik verfügte in ihren Gattungen und deren universalen Individuationen über einen ästhetischen musikalischen Sozialkörper, über musikalische Kollektive mit gemeinsamer mimetischer Sinnlichkeit und Geistigkeit, die sich durch ihre Genies als Organe und hierarchische Entscheidungsträger zu einem Organon von Werken artikulieren ließen, worin zugleich die Freiheit und Macht der führenden gesellschaftlichen Kollektive repräsentierbar war. Alle teilnehmenden Subjekte wurden auf höchster musikalischer Ebene zugleich gesellschaftlich affirmativ in mimetisch-rituelle Kollektive integriert. Noch heute erleben wir teilnehmend dieses ästhetisch säkularisierte Nachbild der christlichen Gemeinde im traditionellen Repertoireempfang unserer Konzertsäle und Opernhäuser. An den Höhepunkten der universalen Tradition finden wir daher auch jene „Klassiken“ vor, die uns bis heute jene Bewertungsskalen gewähren, nach denen wir an der Tradition einen feinstufigen Kosmos von Genies und Epigonen, von embryonalen oder experimentellen Materialzuständen und vollendeten Formkristallen, von Früh-, Spät- und Meisterwerken usf. erfahren und beurteilen, und ebenso den Auflösungsprozess dieses Kosmos seit dem 20. Jahrhundert. Schönberg und Strawinsky geben sich noch als Brüder Beethovens, Xenakis und Cage endgültig nicht mehr.

Der Personalstil der Originalgenies war zugleich der Kollektivstil eines Kollektivgenies, weil der Sprache seines Musizierens und seiner Werke Gestaltungsprinzipien einer inneren Zweckmäßigkeit inhärierten, die als zugleich universale und individuationsfähige sowohl das Material wie die Formen wie auch die Ausdrucksgehalte der Musik durchdrangen. Diese noch universale Autonomie des Musikalischen war daher auch fähig, die mimetische Erschaffung einer stimmigen und ungebrochen tröstenden Welt von Musik inmitten der Lebenswelt der vormodernen Kollektive auszutragen. Musikalische und gesellschaftliche Freiheit harmonierten noch, die Avantgarden der Künste waren zugleich die der Kirchen, der Kollektive, der Gesellschaften. Die universalen Prinzipien einer inneren musikalischen Zweckmäßigkeit schufen jene universalen musikalischen Synthesen, durch deren traditionsbildende Zeugungskraft die große Tat möglich wurde, daß nämlich Musizierweisen und Werke von vollkommener Schönheit das Licht der Welt erblicken konnten. Eine Musik, die zugleich als Repräsentantin der kollektiven christlichen Heiligkeit und sittlichen Gutheit der vormodernen Gesellschaften triumphierte, und die sogar den Anschein ontologischer Wahrheit in Anspruch nehmen konnte. Noch Schopenhauer dachte, nur die Musik verstünde letztlich objektiv das Wesen von Welt und Mensch, und wer daher die Musik verstünde, der befände sich im Innersten des Kosmos.

Das Individualitätsgenie des 20. Jahrhunderts hingegen musste, bereits um eines werden zu können, alle universalen Gattungen und Individuationen, alle Synthesen der traditionellen Syntax und Idiomatik fragmentieren, permutieren, auflösen und hinter sich lassen. Die traditionellen Universalien wurden anfangs noch zu vermeintlich übergeschichtlichen Formen salviert und dadurch zu Schematen degradiert, die nach Maßgabe der sich vereinzelnden Genialität mit individuellem Material und Ausdruckgestus angefüllt wurden. Diese Phase und Richtung in der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts präsentiert uns daher bis heute Fugen, Sonaten, Sinfonien und selbst noch die traditionellen Opern- und Konzertformen mit bitonalen, polytonalen, freitonalen, atonalen, seriellen, aleatorischen und sämtlichen nichttonalen Klangstrukturen in jeder nur möglichen individuellen Zubereitung und Vermischung.

Die universale innere Zweckmäßigkeit verwandelt sich also in eine individuelle, jeder Komponist mit Gewissen über seine historische Lage unterwirft sich dem Epochenprinzip Individualität, und diesem entziehen sich nur mehr die Kollektive des Jazz, der Unterhaltungsmusik und der Volksmusik, die bereit sind, dafür ihren Preis an musikalischer Entindividualisierung oder eingegrenzter musikalischer Vorindividualität zu bezahlen. Unterdessen wandern die Nachfahren der traditionellen Kollektive der Kunstmusik in die pädagogischen Reservate der Kulturprovinz Musik aus, wo sie sich in einer nie dagewesenen Differenzierung und Professionalisierung zu Zwecken einer permanenten Regeneration institutionalisieren, woran mittlerweile auch Teile des Jazz, der Unterhaltungs- und Volksmusik teilhaben.

Das neue Epochenprinzip trifft nicht nur jeden einzelnen Komponisten mit Gewissen, es trifft auch jedes seiner Werke, denn jedes soll nun die individualisierte Individualität repräsentieren, bei jedem soll alles neu sein, jedes soll die Musik neu erfinden. Nicht nur wird damit der Personalstil im traditionellen Sinn unmöglich, auch der Komponist als Kollektivgenie gehört endgültig der Vergangenheit an.

Der moderne Komponist muß seinem Individuationsprinzip treu bleiben, auch wenn er für dessen hybride Selbstdifferenzierung mit gesellschaftlicher Marginalität bestraft wird. Und dies schon deshalb, weil der neuen Kunstmusik durch den absorbierenden Aufmerksamkeitscharakter, den Musik als wahrgenommene verlangt, nicht jene Kapitalisierung ihrer Produkte möglich ist, die den bildenden Künsten, der Malerei insbesondere, auf den Kunstmärkten der modernen Gesellschaft zugänglich wurde. Eine CD verwandelt ein Musikwerk nicht in ein anhörbares Bild, sondern in einen kleinen stummen Konservensarg, den nur die totale Aufmerksamkeit eines Hörers zu einem der Kunst würdigen Leben und Vollzug erwecken kann.

Insgeheim weiß das Individualitätsgenie des 20. Jahrhunderts sehr wohl, daß es nicht mehr als universales Organ der modernen Kollektive fungieren kann, wenn es sich nicht historistisch missversteht und womöglich der Propaganda seines Verlages oder der Journalistik auf den Leim geht, wonach dann Stockhausen als unser Bach, Lachenmann als unser Beethoven, Picasso als unser Raffael, Christo als unser Michelangelo und Beckett als unser Shakespeare oder wenigstens als der der Zukunft gehandelt wird. Die vormodernen, streng hierarchisch organisierten Kollektive mit rituell-mimetischem Geist existieren nicht mehr oder nur mehr in meist ruinösen Restbeständen. Das Individualitätsgenie steht in der Moderne Kollektiven gegenüber, die durch einen schrankenlos und ohne Leitwissenschaft sich ausdifferenzierenden Kosmos von Wissenschaften und deren angewandten Praxen und Techniken in strenger Arbeitsteiligkeit in die Welt der aktuellen Massendemokratie integriert werden. Die modernen Kollektive sind daher dabei, sich in allen autonomisierten Bereichen, die die moderne Gesellschaft ihrem Freiheitsprinzip gemäß ausbilden musste, also in Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Kultur, ja selbst in Religion, unter der Leitidee einer nichthierarchischen Kommunikation auf der Basis von universaler Reflexion und Sprache als höchster Form menschlicher Kommunikation zu organisieren.

Kollektive dieser Art können sich und ihre Freiheit nur mehr selbst darstellen, allenfalls noch vom Film, der einzigen universalen Kunstform technologischer Herkunft, die seit dem 20. Jahrhundert auch die Geschichte begleitet und die moderne Gesellschaft dominiert, zu Informationszwecken mit reflektierter Teilnahme vorgeführt werden. Existiert aber die traditionelle Welt der traditionellen Kollektive nicht mehr für den Künstler der traditionellen Künste, die gleichwohl im 20. Jahrhundert nach wie vor existieren, so erhebt sich die Frage: Für wen komponiert ein Komponist radikal individualisierter Musik? Wem kann er noch dienen, was ist die Berechtigung seines Daseins, was der Sinn seines Tuns? Und warum könnte er berechtigt sein, an seinem Individuationsprinzip festzuhalten, auch wenn dessen Äußerungen und Werke von der modernen Gesellschaft nur mehr marginal in den Reservaten der Neuen Musik oder überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden?

 

V.

 

Als primärer Grund für seine Berechtigung ist zunächst anzuführen, daß das Individuationsprinzip einen zentralen Grundwert auch der modernen Kollektive ausmacht. Die Freiheit des Individuums gilt in der modernen Welt als ein universales Menschenrecht, das in den Kollektiven so erfüllt werden soll, daß das Individuum sich nie nur als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck realisieren und anerkannt werden soll. Weil aber diese kollektive Individuation in der gegenwärtigen weltgeschichtlichen Phase unter Sach- und Kollektivzwängen einer arbeitsteilig spezialisierten und wissenschaftsdominierten Praxis oder immer noch unter den hierarchischen Prinzipien einer traditionellen Individuation erfolgt, können die neuen nichthierarchischen Leitprinzipien noch nicht der Freiheit der Individuen gemäß, sondern nur unter universaler Beschädigung des Individuums verwirklicht werden.

Die moderne Individuationskunst ist daher genötigt, in allen ihren Darstellungen des Freiheitsprinzips durch eine radikal individualisierte künstlerische Freiheit immer zugleich auch auf die universale Beschädigung des Individuums hinzuweisen, ohne diese beheben oder auch nur Konzepte einer kollektiv- und gesellschaftsbildenden Behebung anbieten zu können. Sie kann nur die Freiheit und die Beschädigung des Individuums gegen und durch das unvollkommene Kollektiv darstellen, und dazu bedient es sich all jener Verfremdungen und Schocks, aller jener Entgrenzungen und Entkunstungen der Kunst, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Sie spürt die Freiheit und die Beschädigung des Individuums in den verborgensten sub- und prärationalen Kammern des Individuums auf, um einen chaotischen Kosmos von sprachlosen Sprachen als rätselhaften Emblemen unerfüllter Sehnsucht hervorzubringen.

Sie ist daher auch gezwungen, die höchste Vernunftgestalt organisierbarer Musikalität, nämlich die zu kollektiven Traditionen universalisierbare Tonalität, nur mehr als gebrochene, wenn überhaupt noch, zu verwenden. Jede Gestalt der Tonalität enthält das Modell und das Leben einer hierarchischen Individuation, die daher der Mitte und den Eliten der modernen Gesellschaft obsolet werden musste. Die Tonalitäten wurden im 20. Jahrhundert entweder der Unterhaltungsmusik und dem Jazz überantwortet, oder sie fristen ihr Leben als volksmusikalische und verwandte Idiome. Die kunstmusikalischen Tonalitäten der großen Tradition aber überleben in der pädagogischen Provinz und im Dienst an der Wiederaufführungsgeschichte traditioneller Musik und Musizierens.

In der Darstellung von Freiheit und Beschädigung des Individuums hält die moderne Individuationskunst aber auch den Raum eines radikalen Anderssein im modernen Menschen fest, in dem sich eine sprachlose und vollkommen ohnmächtige Bitte an den deus absconditus formuliert, der gleichfalls die verborgene Mitte der säkularen Kollektive und ihrer Praxis prägt. Die Individuationskunst hält an einer ästhetischen Religion des Individuums fest, unter der Annahme, daß sich im deus absconditus der Gegenwart die neue Gestalt eines allgegenwärtigen, die Individuen universal durchdringenden und tragenden Gottes vorbereite, der nur mehr in nichthierarchischen Kollektiven erfahren und gelebt werden könne.

Diesen Glauben kann das durchschnittliche säkulare Subjekt der Massendemokratie selbstverständlich nicht teilen, und er kann sich auch nicht zu einem wirklichen Glauben – etwa dem einer neuen Kunstreligion ausbilden – er kann nur als Kunstglaube, als Glaube und Postulat Weniger an eine prophetische und befreiende Kraft innovativer Kunst praktiziert werden. Das säkulare Massenindividuum kann schon deshalb diesen Kunstglauben nicht teilen, weil er die Fundamente seiner Normalität und kollektiven Rationalität unterläuft. Ohne die Sicherheit des common sense von Alltagsverstand und Normalitätsgewohnheiten ist vorerst soziale Kommunikation nicht möglich. Eine Form kollektiver Rationalität, ohne die auch der modernste Künstler gegenwärtig nicht als Mensch unter Menschen existieren kann. Das säkulare Massenindividuum spricht also wahr und gut und nicht lügend und böse, wenn es behauptet, es wisse nicht, was die moderne Kunst darstelle, wovon sie spreche, was sie wolle; wüßte es nämlich erfahrend davon, so wäre es nicht mehr der durchschnittlich Eine, sondern schon jener gesuchte Andere; und ließe sich dieses Wissen auch noch kollektivieren, dann würde zugleich die Individuationskunst nicht mehr benötigt, weil geglückt wäre, was heute noch nicht einmal zu den Glücksgütern gezählt werden kann.

Obwohl sich also die formelle Freiheit und die universale Beschädigung des modernen Individuums in den nominalistischen Individualitätsprachen der vollständig autonomisierten Künste ausdrückt, wendet sich das moderne Individuum nicht oder nur oberflächlich den Werken und Aktionen der   Individualitätsgenies zu. Lieber lässt es sich seine Normalität durch das Pantheon der Unterhaltungsmusik verklären oder die Reste seines vorsäkularen Schönheitsempfindens durch den Tempeldienst der traditionellen Musik in den Stunden gehobener Unterhaltung bestätigen, – sofern es nicht längst in das Imperium des Films ausgewandert ist.

Nur mehr der zur Allheit unübersehbarer Arten und Individuationen ausdifferenzierte Kosmos der Musik befriedigt daher in der modernen Gesellschaft das Musikbedürfnis aller, nur mehr das unversöhnliche Zusammen aller Arten von Musik, das unübersehbare Chaos verwandtester und divergentester Musiken kann und muß sich jetzt an die Allheit aller wenden. Ein chaotisierter Kosmos, der sich daher auch nicht mehr im Individuum zu einer beherrschbaren, geschweige harmonischen Einheit zusammenfügen lässt, die es als Herrn im Haus seines individuellen Musiklebens ausweisen könnte. Das Subjekt selektiert und vermischt nun nach Maßgabe seiner biographischen Präferenzen und der durch die Märkte erzeugten sekundären Bedürfnisse. Der Zusammenbruch aller verbindlichen Kriterien für einen verbindlichen Geschmack in der Beurteilung von Musik war unausweichlich, Musiken die von verschiedenen Planeten kommen, lassen sich nicht unter gemeinsamen Kriterien beurteilen.

Steigerbar wäre das Chaos dennoch, und die Steigerung braut sich bereits zusammen: Eine tödlich fruchtbare Variante des Crossover könnte die im gesellschaftlichen Zusammen musikalisch Getrennten – traditionelle (außereuropäische, volks-, kirchen-, kunstmusikalische), unterhaltende und moderne Musik -, dem allheitsversierten Musiker der nahen Zukunft überantworten. Musik würde als Mittel zur Selbstdarstellung professioneller Musiker verkommen. Kunstmusik und Starzirkus wären nicht mehr zu unterscheiden, und der vollkommen autonomisierte und souverän über alle Musiken verfügende Musikergeist hätte der Musik als ernstzunehmender Kunst und als Sprache des zu antizipierenden Individuums endgültig den Garaus gemacht.

Daß die Individualitätskünste den modernen Kollektiven nur peripher helfen können, ist selbstverständlich, da sie Zielvorgaben weder eines religiösen, noch eines moralischen oder sittlichen, noch auch eines ästhetischen Sollens im Rang universaler Ideale erheben können. Wie könnte dies auch eine Kunst, die durch die Individuation von Individualitätsgenies gebrochen wurde, in der also jeder Künstler sein eigenes Sollen und Ziel vor sich hertragen muß.

Was immer an künstlerischen Verhaltens- und Verfahrensweisen genannt wird, die für die moderne Gesellschaft und ihre Kollektive unersetzliche universale Verhaltensweisen sein sollen: Innovative Phantasie, entgrenzte Sinnlichkeit, verfeinerte Wahrnehmung, Offensein für alles und jedes usf. , wiederholt nur den Auftrag des verschollenen Individuums, dem zu antizipierenden Individuum eine sprachlos gegen das Kollektiv einsprechende Sprache zu leihen. Ein Einspruch des Individuums, der also bestenfalls engagiert kritisch bleibt, nicht aber affirmativ ein Kollektiv konstituieren kann. Das Individualitätsgenie muß sein Leben seinem sollipsistischen Gesamtkunstwerk opfern. Ein Beuys macht noch keinen Sommer von Beuys. Dennoch bleibt ihm sein Auftrag unabnehmbar aufgebürdet: der deus absconditus in ihm verlangt dieses Opfer, und sei es nur, um als Therapie Anwendung zu finden. Die moderne Gesellschaft verweigert diesem Tun keineswegs ihre partiale Anerkennung, und dies hat mittlerweile auch zur Anerkennung der Kunst der Geisteskranken wenigstens in der Malerei geführt.

 

VI.

 

Die alten universalen Diskurse mimetischer Musikalität komponieren sich allein noch in der Unterhaltungsmusik und im Jazz fort, allerdings unter steter Verflüchtigung jener Substanz, die einst die musikalischen Originalgenies und ihre Kollektive anhielt, dem Gott der Kirchen und dann der Humanitäten der Neuzeit bis hin zur Romantik universale affirmative Sprachen und Werke zu schenken. Auch hier scheint ein Auftrag vorzuliegen: Kollektiv und Substanz sowie deren ästhetische Darstellbarkeit sollen so entleert wie nur möglich präsent werden, um den Rückzug des Absoluten aus jeder rituell gebundenen Sinnlichkeit zu vollenden. An ihrem Verschwinden zu arbeiten, ist daher der Auftrag der Unterhaltungsmusik an die Rückseite ihrer omnipräsenten Vorderseite als kommender Weltmusik. Ö3 verfügt über ein großes Repertoire für ein großes Publikum, aber die Kategorie der Größe muß nun massendemokratisch, also gesellschaftlich, sozial und ökonomisch, nicht mehr musikalisch, geschweige denn kunstmusikalisch definiert werden. Über die Top Ten in den Charts stimmt der Geschmack des großen Publikums ab, und dieser ist von derselben in sich kreisenden Größe wie das, worüber er abstimmt.

Das musikalische Unterhaltungskollektiv unterhält sich bei seinen Events, um sich vom Rationalitätsdruck der modernen arbeitsteiligen Welt und seiner entzauberten Freiheit zu entlasten. Aber die Freiheit des Individuums, dieser höchste und grundlegende Wert der Neuzeit und Moderne wird in der Unterhaltungssphäre nur zynisch betäubt und getötet. Weder Jazz noch Unterhaltungsmusik noch gar Volksmusik können daher das demokratische Kollektiv, das sich unter den Bedingungen der modernen Lebenswelt ausdifferenziert, wirklich repräsentieren. Und Jazz und Gospel können den Kirchen nicht jene neue geistliche Musik mit erneuertem Gemeindegesang und neuen musikalischen Messen bescheren, auf die ihre besorgten Repräsentanten angeblich warten. Weshalb wir auch in der Revitalisierung der großen geistlichen Musik mittlerweile beim Gregorianischen Choral angelangt sind.

Die Wesensbestimmung der Unterhaltungsmusik ist ein Desiderat, weil die übliche Reduktion auf Unterhaltung im Sinne eines „Sich gut Unterhaltens“ enormen Schaden im kulturellen Selbstverständnis der Musik im 20. Jahrhundert angerichtet hat. Festzuhalten ist, daß eine Unterhaltungsmusik im heutigen Sinn vor dem 19. Jahrhundert nicht existieren konnte, weil erst in den Niederungen des vorigen Jahrhunderts eine Musik möglich wurde, die ästhetisch anrüchig werden und den Manen des Kitsches verfallen konnte. Ursache ist die absolute Reflexion der tonalen Substanz in der Musik Beethovens, die deren Nachfolger seit Rossini zwingt, in zwei Boote der Musik ein- oder umzusteigen: U-Boot und E-Boot sind daher auch nicht mehr zu jenem einen Boot restaurierbar, das sie vor ihrer Trennung sein durften.

Weiters ist die tiefere Funktion der Unterhaltungsmusik im 20. Jahrhundert festzuhalten, denn diese blieb nicht jene vom 19. Jahrhundert übernommene eines Unterhaltens im Sinne von Zerstreuung und Ablenkung von den Sorgen und Mühen des Lebenskampfes. Für eine nur zerstreuende Funktion der Musik im Sinne eines ubiquitären Zeitvertreibs wäre weder der ungeheure Aufwand an oft professioneller Ausbildung, technologischer Apparatur und industrieller Vermarktung noch auch das pathetische Selbstverständnis der Jazz-, Rock- und Pop-Heroen als Erlöser-Repräsentanten ihrer Gemeinden nötig. Bei Sport und Film ließen sich die Lasten des Lebens gründlicher vergessen als bei den Entäußerungen von lärmgewaltig musizierenden Bühnengrößen, die ihr vermeintlich botschaftsfähiges Inneres via Klänge und Worte der staunenden Menschheit mitteilen.

Auch war die Unterhaltungsmusik des 19. Jahrhunderts, ohnehin als sogenannte höhere Unterhaltungsmusik, durch ihre Nähe zur Kunstmusik salviert, weil sie deren Gehalte und Formen und ebenso die sich biedermeierlich säkularisierenden der Volksmusik in den gesunkenen Weisen von Potpourri und erleichterter Bearbeitung jenen Bürgern zuführte, die sich bei Musik existenziell erleichtern wollten, und die daher in den Hallen der Musik von deren höheren Geistern nicht mehr angesprochen werden wollten oder konnten. Brahms konnte sich an einem gelungenen Strauß-Walzer noch musikalisch begründbar erfreuen, Stockhausen muß sich schon die Maske eines musikalischen Allgevatters des 20. Jahrhunderts aufsetzen, wenn er Gleiches von einer Techno-Nummer behauptet.

Die Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts hat von den Zeiten des scheinbar harmlosen Versinkens der Kunstmusik in die Niederungen des bürgerlichen Bewußtseins längst und gründlich Abschied genommen. Als nur „unterhaltende“ wäre sie nicht zu jener Weltkarriere auf der Bühne des 20. Jahrhunderts befähigt gewesen, die zu ihrer Omnipräsenz in der gegenwärtigen und künftigen modernen Gesellschaft geführt hat.

Dazu befähigte sie ein Gehalt, welcher der in ihre säkularen Schwundstufen absinkenden Tonalität – ihrer homophonen Syntax und Idiomatik -, nochmals zu einer originalen, aber nun ruinös originalen Traditionsbildung anvertraut und den Unterhaltungsgenies und ihren Kollektiven überantwortet werden konnte. Denn die Humanität des Humanus hielt noch die Geschlechterliebe und die Selbstliebe des Menschen im Talon, um sie der universalen Repräsentation durch eine gesunkene Tonalität freizugeben, die seitdem die Massen und Musiker begeistert. Ein Gehalt von evidenter Macht, gegen den das politische Palaver von Befreiung und Selbstverwirklichung durch die Heroen der grölenden Bühne zur Attrappe verblasst; musikalisch initiationsfähig im jugendlichen Alter; über die Märkte von „musikalischen Jugendkulturen“ zu ewigen Nostalgien gesellschaftlich verankerbar; in illusionskräftigen Jahrzehnten als vermeintliche Subkultur zu vermarkten: ein Triumphbogen für alle und keinen.

Die traditionelle Tonalität der homophonen Epoche gibt sich diesem Dienst an die säkulare und von großer neuer Kunst verlassene Menschheit wie ein zu allen Leiden und Beleidigungen entschlossenes Opferlamm hin, unter stets ärgerem Verschleiß und Verzehr ihrer Ausdruckskraft und dem Verlust aller ihrer durch Jahrhunderte bewährten Konsistenzen in Syntax und Idiomatik. Ähnlich und doch ganz anders als das Individualitätsgenie in seinem E-Boot muß auch das Unterhaltungsgenie in seinem gewaltigen U-Boot die alten Formen und Materialien auflösen, fragmentieren, perturbieren, ohne sie jedoch jemals in naher Zukunft hinter sich lassen zu können. Der spezielle Sound, der Ohrwurm des Hits, die mechanische Obsession an das rhythmische Pulsieren des Begleitkorpus, der dem Ohrwurm korreliert, – sie sprechen uns an als Einstimmung zur Liebe, als einschmeichelnd unvergessliche Liebeserklärung, als erfüllender Liebesvollzug. Kaum erwähnungsbedürftig, daß an dieser Transformation der Menschenliebe in stets weniger ästhetisch sublimierte Universalia einer musikalisch sich darbietenden Geschlechter- und Selbstliebe die individualitätsgenialisch gebrochene Sprache der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts nicht teilnehmen kann, und daher wird sie auch in jeder künftigen Crossover-Mischung des Repertoires, die sich daran versucht, marginal bleiben.

Es versteht sich, daß das Schicksal der Individualitätskunst davon abhängen wird, welche Gestalt der deus absconditus in den modernen Kollektiven in Hinkunft annehmen, in welcher Gestalt er sich erheben wird, und welches Schicksal das Individuum in diesen künftigen Kollektiven und Gesellschaften durchleben und durchleiden muß. Die Erste Welt ist diesbezüglich die Avantgarde der ganzen Welt – die Freiheitsproblematik des Menschen wird universal.

Und im Rückblick auf das 20. Jahrhundert wird nun auch verständlich, weshalb die sogenannte „Klassik der Moderne“ nicht mehr die universale Tradition einer ungebrochenen und die Musikwelt dominierenden neuen Kunstmusik ausbilden konnte. Universale Grammatik und Handwerk blieben ihr versagt, statt wirklicher brachte sie es nur zu Schematen von Gattungsformen, statt wirklicher nur zu nominalistischen Personalstilen. Ihre Artefakte bleiben in unserer Erinnerung und Praxis als ein Reich ästhetischer Erstsetzungen ohne Fortsetzbarkeit, wie Elmar Budde sinngemäß nominiert, dem Individualitätswurf war nicht die ersehnte Generierung von universalem Stil, pantonaler Syntax und affirmativer Idiomatik zu entlocken. Die Uneinsichtigkeit Schönbergs diesbezüglich und sein anfänglicher Versuch, seinen Schüler Anton Webern von dessen vermeintlicher Schrulle zu Kürze und Verstummen therapeutisch behandeln zu lassen, erklärt nachträglich, daß er sich noch als ungebrochenes Originalgenie verkannte.

Dazu kommt, daß in der modernen Lebenswelt längst der Film die Dominanz der traditionellen Künste kassiert hat. Er vollzieht seinen kulturkannibalischen Akt an allen traditionellen Künsten, die er sich als Material von Musik, Bild und Sprache einverleibt. Indem er sich die moderne Welt in realistischer Simulation aneignet, bildet er eine dem ästhetischen Schein der traditionellen Künste überlegene Form des Scheinens aus, welcher der Unterschied von Kunst und Unterhaltung bzw. Kitsch nicht mehr als ästhetisches Schisma gefährlich werden kann. Der Film generiert einen Kosmos universaler Gattungen individuierend aus, die längst die Nachfolge der Formgattungen der traditionellen Einzelkünste angetreten haben. Der Auftrag dazu erfolgt aus der Mitte der modernen Gesellschaft, denn das bewegte Bild erklomm den Rang dargestellter Objektivität nicht nur in den Wissenschaften, – reflexions- und sprachmächtige Subjekte müssen gesehen haben, was alle gesehen haben, dies der geheime Sinn von Information und Medienrealität. Dennoch geraten wir beim Film niemals in die Gefahr, einen Filmregisseur oder Schauspieler mit den traditionellen Originalgenies zu verwechseln, obwohl die Schauspieler die großen Künstlerlieblinge der Massen geworden sind.

 

VII.

 

Den dritten Einwand gegen die Utopie der musikalischen Moderne formuliert seit dem 19. Jahrhundert die Wiederaufführungsgeschichte Alter Musik. Sie reagiert damit auf den Übergang der Kollektive des Originalgenies in die des Individualitäts- und Unterhaltungsgenies im 20. Jahrhundert, also scheinbar ein Jahrhundert verfrüht. Sie reagierte dennoch korrekt und nicht aus Gründen eines der Musik äußerlichen Historismus, weil in Beethovens Musik der Gipfel dessen erreicht wurde, was dem Originalgenie in Musik überhaupt möglich sein kann. Da nun die große Tradition der Musik, die sich mehrmals auf kollektiver Basis zu einer universalen Kunstsprache von Musik erneuert hatte, zuletzt etwa um 1600 und 1750, – konform mit der Entstehung neuer religiöser und dann säkularer Kollektive der neuzeitlichen Gesellschaft -, nach dem Kollaps der Spätromantik nicht mehr wie noch bis zu Beethoven in eine universale Traditionsbildung höherer musikalischer Freiheit aufzuheben war, blieb die traditionelle Kunstmusik im 20. Jahrhundert als Widerpart jeder Neuen Kunstmusik unverrückbar stehen. Weil die innere Konformität von musikalischer und gesellschaftlicher Freiheit am Beginn des 20. Jahrhunderts zum Erliegen kam, verblieb dem 19. Jahrhundert nur noch die Aufgabe, den Abschiedsgesang der abendländischen Tradition zu gestalten, – konform mit dem Verenden der monarchischen und vordemokratischen Tradition Europas.

Anders als im Originalitätsgenie, in dessen Ich und Phantasie ein Wir arbeitete, das als kollektiv beauftragtes Organ sein Kollektiv an die beauftragende Substanz ihrer Tradition, – den Gott der Kirchen und die Freiheiten der Humanität der Neuzeit – ästhetisch-musikalisch binden konnte, arbeitet im Ich der selbstbezüglichen Phantasie des Individualitätsgenies bereits das Nichts als Repräsentant der modernen Freiheit, jene unbestimmte Bestimmtheit, die sich – einem Gotte gleich – zu allem bestimmen kann, und die daher die totale Machbarkeit einer neuen Allheit in Material, Form und Ausdruck zu ihrem inneren Organ ausbilden muß. Nichts und Alles: mit diesen verinnerlichten Extremen vollendeter Säkularität teilt die Kunst des modernen Individualitätsgenies auch die Schuld aller Moderne, deren Entgrenzung und rücksichtslose Machbarkeit alles Machbaren durch die dominanten Wissenschaften und Politiken im 20. Jahrhundert die Menschheit an den Rand des Abgrunds und in die Position des Selbstmörders geführt hat.

Und im Kontrast zu diesem scheinbar allmächtigen Genie und seiner Kollektive, – das Unterhaltungsgenie und dessen Kollektive sind sein kompensatorischer Zwilling -, hören und genießen wir an den Musiken und Werken der traditionellen Kollektive und ihrer Genies bis heute eine Stimmigkeit, der sich bereits der Beginn jener Wiederaufführungsgeschichte und auch die Geburt einer historischen Wissenschaft der Musik verdankte. Die nunmehr Alte Musik wurde zu einer vergleichsweise ewigen, sie blieb unvergessbar und wurde zum unabschüttelbaren Widerpart der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts, und dies nicht aus Rückschrittlichkeit oder Dummheit der modernen Gesellschaft, wie die Individualitätsgenies in ihrem Zorn oft meinten, weil sie nicht verstehen konnten oder wollten, daß ausgerechnet das sich fortschrittlich gebärdende 20. Jahrhundert nicht seine fortschrittliche Kunstmusik, sondern jene der vergangenen Jahrhunderte und mehr noch die omnipräsente Unterhaltungsmusik favorisierte.

Die Wiederaufführungsgeschichte hat freilich die große Tradition vorerst nur dem Musikerstand und dem Musikhistorikerverstand überantwortet, im 20. Jahrhundert kam noch die Technologie und die marktorientierte Organisation des Musiklebens hinzu. Noch nicht dem Begriff selbst und seiner Vernunft oder nur erst in Ansätzen, etwa bei Ansermet und Adorno u.a., und selbstverständlich in jeder Universalhistorie der Musik, die bemerkte, daß eine auf universaler Selbstbegründung fußende autonome Musik nur im christlichen Abendland möglich war, weshalb auch die Folge ihrer Teiltraditionen nicht heteronom verlief, sondern als Selbsterschöpfung ihres Arsenals an universalen musikalischen Sprachen und Schönheiten. Die Musikhistorie verkennt sich selbst und das Wesen der Musik, wenn sie glaubt, sich darüber eines verdammenswerten Eurozentrismus anklagen zu müssen.

Die These der musikalischen Moderne, die Kunstmusik der künftigen Jahrhunderte werde mit ihren Musiken und Klassiken so traditions- und repertoirebildend sein wie die traditionelle Musik für das 20. Jahrhundert, zerbricht also an der Existenz der Wiederaufführungsgeschichte der traditionellen Musik. Deren „Klassiken“ der gregorianischen, polyphonen, barocken und homophonen Epoche werden in Zukunft nicht verschwinden, im Gegenteil, sie werden dank Musikerstand und Musikhistorikerverstand und nicht zuletzt dank einem Bedürfnis nach ungebrochener, wenn auch vorindividueller Musik in der modernen Gesellschaft immer umfangreicher und in sich differenzierter werden. Ein ungeheures Repertoire sammelt sich an, das jeder künftigen „Klassik der Moderne“ als mitgeschleppter Klotz am Bein hängen würde, sollten die Klassiken und Musiken der Zukunft tatsächlich, wie die utopische Moderne meint, die Klassiken der Tradition weiterführen können, weil sie mit diesen vergleichbare Arten von Musik auszubilden fähig wären.

Da sich die Alte Musik Europas offensichtlich nicht vergessen lässt – sie wurde mittlerweile an die ganze Welt weitergegeben -, bleibt ihre Stimmigkeit ein ewiger Vergleichsmaßstab jeder künftigen Musik, so sehr sie im 20. Jahrhundert dem Unwesen von Starmusikern und ihres Betriebes sowie dem Unterhaltungsmissbrauch anheimfallen musste. Einem Unwesen und Missbrauch, dem sich bekanntlich die sogenannte Historische Aufführungspraxis zu entziehen versucht, indem sie eine Symbiose von Musiker und Musikhistorikerverstand ausbildet, die ihre historistischen Ideale als höchste musikalische der modernen Gesellschaft präsentiert.

Weil aber ihr Ideal des Musikalisch-Authentischen stets historistisch gebrochen ist, muß es durch die Authentizität eines Musizierens und Musikertums beglaubigt werden, das ganz dem heutigen Bewußtsein von Musik entstammt und daher das Musizieren selbst als Fetisch vermeintlich geschichtsenthobener Authentizität ausbilden muß. Die Mimesis an vergangene Mimesis von Musik, die Rückkehr zu den vermeintlichen Origina von Originalklang, Originalinstrument, originaler Rekonstruktion eines vergangenen Bewußtseins von Musik und von originalen Musizier- und Hörweisen fällt daher mit dem Wunsch des heutigen Musikers und seinem Angebot an die moderne Gesellschaft zusammen, sich bei den Darbietungen und Festivals für Alte Musik professionell unterhalten zu können und nicht amateurhaft sich langweilen zu müssen. Der Musiker wird zum authentischen Überbringer der großen traditionellen Musik, zum unumschränkten Pontifex Maximus musikalischer Authentizität, er erklimmt den Rang eines Nach- oder Pseudokomponisten, und damit wird der traditionelle Komponist, das stets mehr verschollene Originalgenie, ein weiteres Mal als Leitfigur der künftigen Musikgeschichte vom Thron gestoßen. Jene Kämpfe, die früher die Komponisten als Repräsentanten der moderni und antiqui ihrer Zeit austrugen, werden in Zukunft die Musiker der historischen Aufführungspraxis austragen, und sie haben dazu den Segen der modernen Gesellschaft, wenn auch nur mehr in einem Reservat der Kulturprovinz Kunstmusik.

Unschwer zu prophezeien, daß sich unter der Ausdifferenzierung der Aufführungspraxis-Traditionen in Hinkunft das Repertoire sowohl erweitern wie zugleich spezialisieren wird. Einmal wird, der historistischen Prämisse gemäß, alles Gewesene revitalisiert, zum anderen wird das Repertoire durch die aufführungspraktische Spezialisierung zugleich ästhetisch verbeliebigt. Der historistische Glaube an die Ehrwürdigkeit alles Gewesenen und des Musikers Glaube an die Allmacht seiner Authentizitätskraft führen zu einer der Tradition unbekannten Leitvorstellung, wonach alles Gewesene gut und womöglich gleich gut, also nicht nur historisch, sondern auch ästhetisch salviert sei, denn schließlich könne jedes Werk der Tradition durch den Professional der Historischen Aufführungspraxis mit den Würden unhinterfragbarer Authentizität präsentiert werden. Der absolute Unterschied von Händel und Bach, von Haydn und Beethoven, von Brahms und Schönberg, und von einzelnen Werken innerhalb des Gesamtschaffens eines Komponisten, wird hinfällig, denn die Aura der Aufführung allein soll nun über den Sinn und Wert der dargebotenen Musik entscheiden. Die Extreme von Nichts und Alles, die im Inneren des Individualitätsgenies hausen, beherrschen also auch den professionellen Musiker der Historischen Aufführungspraxis. Der freigesetzten Freiheit individueller Authentizitätskraft konvergiert der Wille historistisch motivierter Allmacht.

Auch der Historischen Aufführungspraxis ist daher eine universale Traditionsbildung im Sinn der bisherigen Tradition, die mit den neuen Syntaxen und Idiomen der aktuellen Komponierweisen immer zugleich auch die aktuellen Musizierweisen mitveränderte, nicht mehr möglich. Musik zu musizieren, nur weil sie eine vergangene ist, ist unsinnig. Was geht uns die Musik vergangener Epochen und Kollektive an, wenn wir sie nicht als die unsrige achten und erfahren können? Noch unsinniger ist es, vergangene Musik zu hören, um zu wissen, was in vergangenen Epochen als Musik und Kunst in Ansehen stand. Musizieren und Hören von Musik verlangen eine über den Horizont historischer Bildung hinausgehende Rechtfertigung. Auch das Heiligenstädter Testament hilft uns in Beethovens Musik nicht wirklich hinein, und das Gesamtwerk Vivaldis auf das Pathos der Musik des 19. Jahrhunderts aufführungspraktisch umzudressieren, ist nur die Fortführung dessen, was das moderne Regietheater den traditionellen Opern antut.

Die übliche Symbiose von Historischer Aufführungspraxis und musikhistorischem Wissen produziert daher einen wahrheitsschwachen Begriff von Musik, der letztlich dazu dient, sowohl unsere historische Bildung falsch zu verabsolutieren als auch den Musiker der Aufführungspraxis als Ersatzkomponisten für das verschwundene Originalgenie auf den Thron zu heben.

An der Kunstmusik der Gegenwart und des 20. Jahrhunderts könnten die Aufführungspraktiker ihrem Fetisch originaler Authentizität paradiesisch frönen; daß sie es nicht tun, es nicht zu ihrer einzigen Lebensaufgabe als Musiker machen, widerlegt noch einmal das Selbstverständnis der utopischen musikalischen Moderne. Der Musikerstand ist seit dem 20. Jahrhundert nicht mehr gesonnen, den moderni der aktuellen Kunstmusik wie ehedem gehorsam nachzufolgen; mit seinem Eifer für eine authentisch darzubietende traditionelle Musik reagiert der Musiker als nun autonomisierter Musiker auf den musikhistorischen Übergang vom Originalgenie zum Individualitätsgenie.

Wenn aber schon die historistischen Interpretationsweisen der traditionellen Musik, welche deren Wiederaufführungsgeschichte im 20. Jahrhundert hervorbringen musste, nicht als universale Tradition im Rang der alteuropäischen Kollektive und ihrer Genies möglich sind, wie uneinlösbar dann erst der Anspruch der utopischen musikalischen Moderne, ihre jeweils Neue Musik samt neuer „Klassik“ und neuer Musikalität als Repertoire und Traditionsbildung einer künftigen Kunstmusik im Rang einer universalen Tradition zu behaupten, die das Kontinuum der alteuropäischen Musiktradition ungebrochen fortsetzen könnte. Die historistischen Interpretationstraditionen, die das 20. Jahrhundert beginnen musste, und die sich mittlerweile mit den Prozeduren der technologischen Klangbeherrschung untrennbar vermischt haben, werden sich in Zukunft als simultane Teiltraditionen entfalten, und zwar im Rang einer säkularen Schrumpfstufe und Mimikry jener Substanz, die in der Geschichte des alten Europa die großen musikalischen Stile der Epochen, Dynastien, Nationen, Regionen und Individuen hervorgebracht hat.

Nicht geringer wird der Anteil der Alten Musik am Musikleben der Zukunft, wie die utopische Moderne erhoffte, und sie hört auch nicht bei Bach auf, wie Adorno dekretieren wollte, sondern sie hat an Bachs Werk eine insgeheime Mitte, in der sich die abendländische Produktion als Versöhnung von autonomisierter Musikalität und ermöglichender Religiosität kristallisierte. Jede künftige Kunstmusik wird daher mit einer Potenzierung ihres Widerparts zu kämpfen haben, der Klotz traditioneller Kunstmusik wird wachsen und nicht abzuschütteln sein, die Zukunft der Kunstmusik kann deren Vergangenheit nicht mehr in produktiver Ungebrochenheit in sich aufheben und weiterentwickeln. Nicht nur wird das Wiederaufführungs-Repertoire der Alten Musik explodieren und sich unendlich differenzieren, auch die ästhetischen Bewertungen der großen Tradition werden sich zunächst dem Wertekanon der Aufführungspraktiker überantworten. Dieser ist aber, wie schon erwähnt, gebrochen durch die stets gegenwartsverhaftete Authentizität der Musiker, und daher wird sich das Babylon der Musikprovinz auch in seinem Reservat für Alte Musik in der künftigen modernen Gesellschaft bis auf weiteres anarchisch potenzieren.

Der Engel der Musikgeschichte sieht sich seit dem 20. Jahrhundert gezwungen, mit dem Rücken zur Zukunft in deren Freiheitsräume vorwärtszuschreiten, er sieht sich demnach gezwungen, unausgesetzt und wie ein Abenteurer unseres kollektiven Erinnerns in die Vergangenheit der Musik zurückzusehen und zurückzuhören. Gegen die Kollisionen und Kreuzungen verschiedener Repertoires verschiedenster Musiken in der Zukunft wären jene des 20. Jahrhunderts eine noch harmlose Idylle gewesen, ließe sich der Anspruch der utopischen musikalischen Moderne auch nur im Sinne einer künftigen Gleichberechtigung ihres Teilrepertoires einlösen.

Ohnehin darf die Omnipräsenz der Unterhaltungsidiome in jeder künftigen modernen Gesellschaft nicht vergessen werden, denn auch die Unterhaltungskollektive und deren Unterhaltungsgenies mussten mittlerweile, nach einer kaum mehr als einhundertjährigen primären Wirkungsgeschichte, ihre Wiederaufführungsgeschichte einleiten. Aber das allseits beklagte virtuose Revitalisieren altgewordener Jazzidiome und das Remixen und Covern im Pantheon der Evergreens ist nicht der Anfang vom Ende der Unterhaltungsmusiken oder des Jazz, wie jene meinen, die an ein historisches Ende der Omnipräsenz der säkularisierten Idiome der Tonalität glauben, an ein Verschwinden der Unterhaltungsmusiken folglich, weil demnächst die neue Kunstmusik der Gegenwart ihre vermeintlich angestammte Leitposition im Herzen der modernen Bürger oder doch wenigstens im Reich der Musikprovinz wieder zurückerobern werde. Denn selbstverständlich sind Geschlechterliebe und Selbstliebe universale Gehalte einer säkularen Menschheit geworden, mit denen die gebrochene Musik- und Kunstsprache der Individualitätsgenies nicht konkurrieren kann. Die erotisierte und sexualisierte Musik der Unterhaltungsidiome wird auch im 21. Jahrhundert konkurrenzlos die Märkte einer nochmals durch Musik kollektivierbaren Humanität beherrschen.

Die Kollision und Kreuzung verschiedenster Repertoires verschiedenster Musiken hat bereits im 20. Jahrhundert durch die weltweite Aufnahme des Repertoires der außereuropäischen Musiken die künftige Gestalt einer kontinentalen Entgrenzung eines globalisierten Repertoires angenommen, die jeglichen Eurozentrismus in jeder künftigen Musik für immer verabschiedet hat. Nicht nur der Jazz und die Unterhaltungsidiome, auch die europäischen Komponisten und Individualitätsgenies des 20. Jahrhunderts wurden bei ihrer Suche nach innovativen Material- und Formenressourcen bei den außereuropäischen Musiken fündig. Und mit dieser universalen Verabschiedung vom musikalischen Eurozentrismus ist nun auch evident geworden, daß wir uns musikgeschichtlich längst auf dem Boden des vierten Einwandes gegen die Utopie der musikalischen Moderne bewegen: Crossover.

 

VIII.

 

Die Vorformen des kommenden Crossover wurden bereits auf allen drei Ebenen der sich darstellenden Musik aufgezeigt. Im Komponieren setzt sich der unausweichliche Stileklektizismus der heroischen Moderne im polyhistorischen Eklektizismus der musikalischen Postmoderne fort, und im Total-Crossover der Weltpopularmusik amalgamieren sich die Idiome der Unterhaltungsmusiken, des Jazz und der Folkloren aller Länder und Regionen. Das Musizieren der Kunstmusik wird davon unmittelbar affiziert, weil ihr Musikerstand immerhin versucht, dem Repertoire des 20. Jahrhunderts ebenso zu folgen und zu dienen wie jenen der Jahrhunderte zuvor; und im Musizieren der Weltpopularmusik, weil in dieser das Komponieren und Musizieren oft noch so ungetrennt eins ist, wie es in der Kunstmusik des alten Europa war. Aber nicht erst darüber brechen im Hören der Musik alle traditionellen Wertehierarchien für eine universale ästhetische Beurteilung der Musik in sich zusammen.

Schon zuvor hatte die Wiederaufführungsgeschichte infolge ihres schwachen Wahrheitsbegriffes von Musik das Capriccio-Prinzip in der Repertoire-Gestaltung der Alten Musik installiert, und die Entwicklung der technologischen Klangbeherrschung hatte mittels ihrer totalen maschinellen Verfügbarkeit über die Produktion und Reproduktion von Musik zu jenen virtuos und beliebig vagierenden Weisen der Rezeption geführt, die heute selbstverständlich geworden sind. Der moderne Bürger hält daher jene Musik für die beste, die ihm am besten gefällt; er meint, sein Geschmack sei nach wie vor ein verlässlicher Garant für wenigstens subjektive Werte im Reich der Musik. Und seine hohle Allmächtigkeit bestätigen ihm CD-Industrie und Internet, indem sie dem totalen Musikkonsumenten ermöglichen, nach freier Wahl beliebige Teile aus Stücken jeder Art von Musik zu einer individuellen CD brennen zu lassen. Der freigesetzte Hörer avanciert zum Komponisten seiner individuellen best-of-music.

Dem Capriccio-Prinzip gemäß kann in der Programmgestaltung des Repertoires mittlerweile jedes Stück jeder Epoche mit jedem Stück jeder anderen Epoche auf den Tellern unserer Konzertabende serviert werden, und selbstverständlich ist auch dieses Prinzip in der Epoche der totalen technologischen Verfügbarkeit über Musik nochmals steigerbar, es regrediert in Radio und Fernsehen zum Pasticcio-Prinzip, das uns mit Stückchen aus jedem Stück bedient und dazu einen amüsanten Brei aus Geschichte und Biographik als verbindendem Kitt knetet, mit dem die fragmentierte Musik endlich jenen Rang erreicht, den man heute exemplarisches Lernen und Bildungsgut nennt, weil das wirkliche verschwunden oder noch nicht vorhanden ist. Darüber wölbt das säkulare Kirchenjahr der europäischen Kunstmusik sein Pantheon von Gedenkkomponisten, ein nach dem Zufallsprinzip von Jahreszahlen zwanghaft organisierter Gedächtniskult, der mit seiner bunten Wiederholungsreihe von Geburts- und Sterbejahren aller Heiligen der Musikgeschichte das Capriccio-Prinzip durch das hohle Prinzip der faktischen Gedenkzahl zu überwinden meint.

Im 22. Jahrhundert würde die Musikgeschichte, setzte sie sich nach den äußerlich gewordenen Leitfaden des 20. Jahrhunderts fort, an jedem Tag jedes Jahres ein Heer von gedenkwürdigen Komponisten und Musikern ausrufen können, um damit ebenso viele Spezialmärkte der anarchisch ausdifferenzierten Kunst- und Unterhaltungsmusiken zu bedienen. Und zum harmlosen Sophisma herabgesunken wäre dann die These, Strawinskys auskomponiertes Faible für Pergolesi und Genossen sei als ungebrochene Traditionsbildung der Kunstmusik im 20. Jahrhundert zu verstehen.

Die durch die totale technologische Verfügbarkeit möglich gewordene Vermischbarkeit aller Arten von Musik – in Produktion, Reproduktion und Rezeption – führt zur Selbstinthronisation eines radikal subjektiven und hedonistischen Geschmackes. Dieser grassiert auch unter Musikern weithin und führt zu dem bekannten Urteilskalauer, daß es nur gute und schlechte Musik, nicht aber Arten und Werte von Musik gäbe, die unabhängig vom Zugriff der Interpreten und Hörer bestünden. Und wenn es auch Arten und Werte von Musik gäbe, so wäre doch jede Musik in ihrer Art so gut wie jede andere, wenn sie nur gut auf die Bühne gebracht oder gut wahrgenommen würde. Dieser Trugschluss enthauptet endgültig die traditionelle Lehre von einer inneren ästhetischen Werteskala der Musik – das Nichts und Alles des Individualitätsgenies findet sich also auch im rezeptiven und reproduktiven Hedonismus der freigesetzten Hörer und Interpreten des 20. Jahrhunderts.

Nun hat jedermann seine Wahrheit von und über Musik, jeder seinen Musikverstand und sein Musikgefühl, und damit ist an die Stelle des vernünftigen Diskurses über Musik der Kampf der Meinungen einzelner Subjekte und konkurrierender Lobbies getreten, ein Kampf um Macht, nicht mehr um Wahrheit in der Musik. Das Gespräch der modernen Gesellschaft über Musik musste sich daher dem philosophischen Gespräch über jene Nacht angleichen, in der alle Kühe schwarz sind. Das 20. Jahrhundert erntet die Früchte des relativierenden Historismus, der seit dem 19. Jahrhundert das Verhalten zur Kunstmusik bestimmte, und der hybriden Selbstdifferenzierung der Musikprovinz, die unter den Bedingungen der technologischen Verfügbarkeit und der marktorientierten Organisation des Musiklebens in eine totale Überproduktion und Werteinflation übergehen musste.

Damit ist der Boden für das Total-Crossover der Zukunft zur Genüge vorbereitet, und dieses erfüllt sich, wie schon erwähnt, wenn es auf die Ebene des Musizierens durchschlägt, wenn der professionalisierte Musiker in naher Zukunft alle traditionellen, alle unterhaltenden und alle modernen Musiken und Musizierweisen zum Zweck professioneller Selbstdarstellung einzusetzen versucht. Nicht nur scheint der professionelle Musiker berufen, die Segmentierung und Abtrennung der Repertoires der genannten Musiken aufzuheben, er scheint auch berufen, alle Brüche in der Musik des 20. Jahrhunderts, vor allem jenen zwischen Kunst- und Unterhaltungsmusik einer universalen Heilung zuführen zu können. Die vermeintlich unsinnige Trennung von U und E sei für sein stupendes Können keine Schranke, als neue Leitfigur der Musikgeschichte werde er nach Ablösung des traditionellen Komponisten die Entwicklung der Musik auf eine völlig neue Ebene tragen.

Das professionelle Kreuzen und Verpfropfen aller Arten und Gattungen aller Musiken und Musizierweisen der Gegenwart und Vergangenheit strebt daher weit über das hinaus, was einst die Promiskuitäten von Salon und Potpourri, Arrangement und Improvisation für die traditionellen Kollektive bedeuteten; weit auch über das Verjazzen von Messe und Bach und der traditionellen Musik insgesamt, worin sich nur der musikalische Irrtum des Jazzers manifestierte, die traditionelle Musik sei von schwachem rhythmischem Geist, und diesem sei mittels swingender Rhythmusprothese auf die Beine zu helfen.

Aber während die Kunstmusik der Individualitätsgenies die Darstellung der Freiheit des Individuums an dessen universale Beschädigung bindet, und während die Unterhaltungsmusik der Unterhaltungsgenies dieselbe Freiheit an die Gier nach Spaß bindet, in der sich die Darstellung der Geschlechter- und Selbstliebe verpuppt, setzt das totale Crossover die Allversiertheit des professionalisierten musikalischen Tuns als ästhetischen Selbstzweck der Musik, um sie dadurch zu einem nichtigen Götzen zu erhöhen. Die Differenz, die das Individualitätsgenie Kurtags vom Unterhaltungsgenie Webbers trennt, ist nicht die permanent schlechte Laune des einen und die chronisch gute Laune des anderen, – vom an sich crossover-untauglichen Wesen der traditionellen Idiome vorerst ganz zu schweigen. Natürlich unterhält sich der professionelle Musiker des totalen Crossover glänzend bei der individuellen Selbstdarstellung seiner Virtuosität, aber er bringt auch die ganze Dämonie des Satzes ans Licht, wonach es nur gute und schlechte Musik gäbe, keine von Arten und Gattungen. Auch im Musiker des totalen Crossover arbeitet das Nichts und Alles der freigesetzten Freiheit autonomisierter Kunst im 20. Jahrhundert, und diese Arbeit macht ihn zum Chamäleon aller Musiken, während er sich selbst für unverwechselbar hält, weil die Durchmischung heterogenster Musiken doch ein einzigartiger Ausdruck seiner musikalischen Spontaneität sei. Abermals ein Beginn, das komponierende Individualitätsgenie des 20. Jahrhunderts als Leitfigur abzulösen, aber der Musiker des totalen Crossover verliert zugleich das rigide Gewissen des Individualitätsgenies im Gebrauch oder vielmehr Nichtgebrauch der sich verbietenden Materialien, Formen und Ausdrucksinhalte.

Ein verjazzter Beethoven ist für Anne-Sophie Mutter Crossover; dieses wolle sie uns nicht antun, weil sie es nicht könne, sosehr sie in ihrer Freizeit überwiegend Jazz höre. Dennoch verstehe sie nicht, wozu das Crossover ihrer Kollegen, Nigel Kennedy und Vanessa Mae, eigentlich gut sein solle. Sie vermutet, der Zwang dazu komme daher, daß wir unnötiger Weise an der traditionellen Musik zwischen ernster und unterhaltender Musik unterscheiden. „Als ob eine Beethoven-Sonate nicht auch unterhaltsam sein könnte. Was ist daran so ernst? Was heißt denn Crossover?“

Am Verhalten des Crossover ist demnach nochmals zu lernen, daß die traditionelle Musik nicht in den Kategorien von U und E erfassbar ist. Im Originalgenie und -kollektiv der Tradition sind U und E nicht vereint, sondern in ihrer Differenz noch nicht vorhanden. Die traditionelle Kunstmusik und deren subalterne Musiken wohnten noch eine Etage höher, in der die Musik noch nicht an diesem Riss durch ihre Seele litt. Sie war noch Repräsentantin einer Einheit des Menschen und dessen Musik, die uns verloren gehen musste, und die uns daher nach ihrem Ende zu unbewusstem und unendlichem Genuß dient. Als ein höchstes Desiderat an die Zukunft der Musik ergeht daher an ihre Geister die Forderung, die erkannte Resurrektion der traditionellen Musik nicht mit Adorno als Regression zu denunzieren, sondern als vollkommene Vollendung des Wesens von Musik zu erfassen, indem wir die Tradition der alteuropäischen Musik als Theophanie der Musik überhaupt dechiffrieren. – Das Crossover vernichtet endgültig den Reigen jener seligen Geister, welcher der Alten Musik zum Ausdruck von musikalischer Transzendenz verhalf, nachdem sie sich von der religiösen Sphäre gelöst hatte. Und Elton Johns „Candle in the wind“ wandelt nicht mehr in den Spuren jener Geister, die Schuberts Erlkönig nochmals herbeibeschwören konnte.

Während das Individualitätsgenie der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts für die Zukunft nur mehr ein gebrochenes Repertoire hervorbringen kann, wird das Repertoire des Crossover noch weniger als jenes ewige Repetitorium möglich sein, das uns die Tradition vorgegeben und überliefert hat. Die Werke des Crossover tendieren zu bewussten Nichtwerken als Events spontaner Virtuosität, oder sie verdanken sich der Mithilfe der technologischen Apparatur; jedenfalls wenden sie sich bereits direkt an die Märkte, um deren sekundär aufbereitete Bedürfnisse zu befriedigen. Sie züchten jene unerschöpflichen Novitäten einer entgrenzten Artistik, in denen ein spektakelsüchtiges Publikum sein säkulares Staunen als Schwundstufe eines einst divin ästhetischen erfährt, ohne davon noch zu ahnen. Eine Frage der Zukunft wird sein, ob den professionalisierten Musikern auf dem Weg des Crossover jene Kapitalisierung der Musik gelingen kann, die der Malerei in der modernen Gesellschaft gelungen ist, freilich auch dieser traditionellen Kunst nur unter der Bedingung, wie Gehlen zeigte, daß sie sich längst von ihren „früheren Fundamenten in den Seelen“ gelöst hatte. Guldas Techno-Mozart verwechselt sich mit der Lösung des Problems, und es ist erschreckend, erkennen zu müssen, daß der professionelle Musiker nicht erkennt, daß er eine Mitursache, nicht die Lösung des Problems ist.

Das Crossover wird vor allem die musikpädagogische Provinz, in der es für die Bedürfnisse der künftigen Märkte gezüchtet wird, vor ein grundlegendes Problem stellen, denn das Crossover führt das Musizieren selbst in die Krise einer verselbständigten und sich als Selbstzweck setzenden Virtuosität niegewesener Art. Weil die Leitvorstellungen für die künftige Ausdifferenzierung und Entwicklung der musikpädagogischen Provinz nicht mehr auf einen primären musikalischen Bedürfniskanon der modernen Gesellschaft gegründet werden können, musste im 20. Jahrhundert die sachliche Verantwortung für eine Sinn- und Zweckbegründung von Musik und Musizieren gänzlich der Musikprovinz selbst überantwortet werden. Vor allem die musikpädagogische Provinz muß nun erörtern und entscheiden, wie das Musizieren vor seiner universalen Beschädigung durch hybride Professionalisierung bewahrt werden könne. Dazu bedarf die musikpädagogische Reflexion eines universalen Begriffes von Musik, der ihr über die Freiheitsmöglichkeiten der Musik im Rahmen der Freiheitsmöglichkeiten des menschlichen Geistes überhaupt illusionslos Auskunft gibt. Fragen der Tonalität und Atonalität etwa darf sie nicht mehr als Fragen über nur geschichtliche Phänomene vor sich herschieben, denn sie grundieren die Fundamente und Grenzen des musikpädagogischen Tuns, das hier und heute und damit in einer Wahrheitsverantwortung vor dem Wesen Musik geschieht. Es bedarf in Zukunft einer gründlicheren Vergewisserung über die musikalischen Universalia, als sie uns unsere „Allgemeinen Musiklehren“ darbieten, die stets nur ein autoritäres Abbild dessen wiedergeben, was musikgeschichtlich erschien und geglaubt wird.

Die Entgeistung der Musik durch die Perfektion eines professionalisierten Crossover-Vermögens, in dem sich die willkürliche Freiheit des sich marktorientiert darstellen müssenden Musikers mit der Darstellung seiner artistischen Virtuosität vereint, vernichtet letztlich die Musik als Sprache des Humanus gründlicher als der Massenkonsum von Massenmusik, denn das industriell reproduzierbare Crossover wäre eine noch ärgere Verkümmerung der Musik als jene zu Unterhaltungszwecken, die das 20. Jahrhundert flächendeckend vorgenommen hat, – sie wäre eine Musikkultur für Musikprofessionalisten.

Die lebensweltliche Basis jeder Musikkultur, die sich als praktizierende verstand, war bisher jener Dilettant, der im Range eines musikliebenden Amateurs nicht eigens institutionalisiert werden musste, weil sich seine gesellschaftliche Basisexistenz für das kollektive Leben der Musik von selbst verstand. Diese Selbstverständlichkeit ist im Zeitalter der sich vollendenden Autonomisierung und Professionalisierung von hybrid sich ausdifferenzierenden Kunst- und Unterhaltungsmusiken nicht mehr gegeben. Verschwunden ist damit auch die Kraft der tonalen Syntax und Idiomatik, die modernen Kollektive und deren Individuen in der ganzen Tiefe und Höhe ihrer modernen Freiheit repräsentieren zu können. Aber trotz dieses Verlustes der traditionellen Universalität von Musik, bleibt ihr sprechendes Klangmedium ein unersetzliches Ausdrucksmittel im Rang einer transsprachlichen Sprache auch zu rituell-kollektiven Zwecken, solange die wirkliche Sprache eines wirklich sprechenden Menschengeschlechtes noch nicht gefunden wurde.

Die moderne Gesellschaft verfügt in den Teilprovinzen ihrer Kultur durchaus noch über einen ererbten Humus an Chor- und Blasmusikwesen, an lokalen Orchestern, an Opernbühnen und vereinsmäßig organisierten Musizierkollektiven, in denen der wissende Amateur noch agiert, welcher der Musik um ihrer selbst und ihrer kollektivierenden Kraft willen treu bleibt, und nicht um sich ihrer zu Zwecken virtuoser Selbstdarstellung zu bedienen.

Zwischen den Extremen der Kunst- und der Unterhaltungsmusik muß daher seit dem 20. Jahrhundert die verantwortliche musikpädagogische Provinz an der Erhaltung jener Mitte arbeiten, in der die Musik weder zu Fun und Event verkommen, noch zu Klage und Experiment ums künftige Individuum ausschließlich vereinnahmt werden kann.

Und schon diese hoffenswert breite Mitte wird den Tonalitäten – abgesehen von ihrer Unersetzlichkeit im Reich der omnipräsenten Unterhaltungsmusik als kommender Weltmusik – jene unaussterbliche Existenz und Tradition sichern, welche die utopische Moderne des 20. Jahrhunderts in ihrer Verblendung für beendbar erklärt hatte, weil sich die Tonalitäten angeblich nur der Konvention historischer Musikgeschmäcker verdankten. Allein die unübersehbare Produktion an pädagogischer und sogenannter Gebrauchs-Musik, deren Funktion kaum unsere Beachtung findet, weil wir sie immer noch als selbstverständlich empfinden, trägt mittlerweile bereits unersetzlich zum ökonomischen Überleben der traditionellen Musikverlage, des Instrumentenbaus und unzähliger anderer Branchen der Musikprovinz bei. Schönbergs Prophezeiung, das Erfinden von Zwölftonthemen werde künftig, also wohl heute, zum selbstverständlichen Inventar der Aufnahmeprüfungen an Konservatorien zählen, hat sich als Ulk eines Individualitätsgenies erwiesen, das sich mit einem Originalgenie verwechselte.

In der künftigen Gesellschaft wird also das Fortleben des praktizierenden Amateurs – Nachfolger und Steigerung des einstigen Dilettanten im Zeitalter des professionalisierten Musikertums -, über das Weiterleben der Musik im Rang einer unersetzlichen Art des gemeinsamen ästhetischen Handelns entscheiden; – auch noch die musikalisch eingegrenzte Humanität des modernen Menschen bedarf vorerst noch der Rituale der traditionellen Idiome und ihrer hierarchisch organisierten Musizierkollektive.

Ohne praxisorientierte Bedürfnismitte nach Musik geht deren Existenz in naher Zukunft einer ungeheuren Zerreißprobe entgegen. Denn ohne die vielberufene breite Basis im Fundament der sich babylonisch teilenden Pyramide der Musik könnte diese einst vergötterte Kunst im Zeitalter ihrer totalen technologischen Verfügbarkeit dem Schicksal ausgeliefert sein, auch noch die letzten Anker in den Fundamenten der modernen Seele zu verlieren. Eine Verankerung, der sie fortan bedarf, will sie verhindern, daß sie in naher Zukunft nur mehr als sogenannte Berieselung wahrgenommen wird. Im immerwährenden Hören des permanenten Crossover aller technologisch verfügbaren Musiken könnte den Menschen gleichgültig werden, mit welcher Art von Musik sie berieselt werden, wenn es nur überall bis hinab auf die Toilette labende Geräusche regnet.

Und auch die immanente Alternative dazu wäre der technologisch präparierten Musik kaum weniger gefährlich, weil Musik und sogar Musikalität zu degenerierten Namen für die Fähigkeit werden könnten, Musiken nach ihrer vermeintlichen Affinität zu beurteilen und auszuwählen, ob und wie sie den alltäglichen Räumen und Zeiten der modernen Lebenswelt zugehörten oder nicht. Stück um Stück und Stück aus Stück könnte das Pantheon bisheriger Musik und das technologisch aufbereitete und crossoverte Arsenal aller Musiken als Baustoff für eine individuell gestaltete akustische Innenarchitektur versetzt werden. Jeder Raum, jede Stunde, jeder Lebensaugenblick ließe sich mittels computergesteuerter Sensoren mit Musiken jeder Art als omnipräsenten Lebensbegleitern versorgen. Und alsbald hörten die Menschen nicht mehr, daß sie nicht mehr von Musik, sondern nur mehr von industriell erzeugten und individuell geklonten akustischen Tapeten und damit der letzten säkularen Schwundstufe dessen umgeben wären, was sie einst Musik und Musikalität nannten. Musik wäre omnipräsent geworden und dadurch verschwunden, ihr Geist wäre überall und immerwährend und dadurch unter uns nur mehr als Gespenst seines Jahrtausende währenden Lebens, als verkümmerte Erinnerung an sein göttliches Gewesenseins – das abgebrauchte und sinnentleerte Skelett eines einst glorreichen Triumphbogens.

 

IX.

 

Auf alten Bildern und Filmen erblicken wir Musiker, die sich staunend und in scheuer, halb betroffener, halb belustigter Begeisterung über den Blechkelch eines Grammophontrichters beugen, als lauschten sie einem Orakel über die Zukunft der Musik. Das fünfte Argument gegen die utopische musikalische Moderne trat bescheiden in die Welt des 20. Jahrhunderts. Die technologische Verfügbarkeit über Klang und Musik schien den Anspruch der modernen Komponisten, eine gänzlich neue Kunstmusik und Musikalität erkomponieren und erdenken zu können, kaum zu beeinträchtigen. Und in der euphorischen Phase der elektroakustischen Kunstmusik nach dem Zweiten Weltkrieg schien sich diese technifizierteste Art einer neuen Kunstmusik sogar als Ziel der ganzen bisherigen Entwicklung der musikalischen Moderne präsentieren zu können.

Die weltgeschichtliche Geburt einer elektroakustischen Kunstmusik sei nach Gesetzen einer strengen musikgeschichtlichen Logik erfolgt, ihre musizierlosen Werke vollendeten die Entwicklungsstufen der atonalen, seriellen und aleatorischen Musiken, und die elektroakustischen Komponisten seien demnach jene Kolumbusse, die das Ufer des wirklichen Amerikas einer Neuen Musik betreten hätten, um dort die Fahne einer höchsten musikalischen Rationalität aufzupflanzen. Geglückt schien die Adaption der technologischen Klangbeherrschung unter musikautonome Prinzipien, und die epochale Herrschaft einer neuen Kunstmusik, die der modernen Gesellschaft und ihrer technischen Entwicklung eine ebenbürtige technische Musikkunst anbieten könne, schien begonnen zu haben. Und seitdem dürfen wir auch erleben, wie sich manch‘ einer der in einen Klangingenieur verwandelten Originalgenies der Musik als Guru vermeintlich kosmischer Klangwelten zu präsentieren versucht, als Schöpfer akustischer Galaxien, ohne deren Hörung der moderne Mensch sowenig existieren könne, wie der Mensch des Barock ohne seine geistliche und weltliche Musik.

Die Ernüchterung über diese falsche Euphorie erfolgte gesellschaftlich aus zwei Gründen. Einmal erreichten die digitalisierenden Genlabors der technologischen Klangbeherrschung das Imperium der Unterhaltungsmusik und schenkten ihr jenen sich selbst generierenden musikalischen Maschinenpark, dessen orgiastisches Universum an Klangspektakeln mittlerweile jedem einst unreflektiert technikgläubigen Komponisten der euphorischen Phase das Fürchten lehren müßten. Zum anderen erreichte die elektroakustische Klangerzeugung erst mit dem Strukturgenerator und der Live-Elektronik in Echtzeit jene computerale Systemform, die das elektroakustische Tonbandsystem der Gründerzeit nach dem Zweiten Weltkrieg hinter sich ließ, und womit nun einsichtig wird, wie auch das als Strukturgenerator zum technologisch handhabbaren Instrument gewordene Element des elektroakustischen Klangmaterials in der Zukunft dem Individualitätsgenie zweckdienlich sein wird. Und der gelungene Witz, Stockhausen als Gevatter der Techno-Musik hochzuhandeln, womit wieder einmal die Differenz von U und E als Irrtum nachgewiesen wäre, kennzeichnet nur das Beliebigkeitsniveau des gegenwärtigen Diskurses über Musik auf den Öffentlichkeitsbühnen von Feuilleton und Musikprovinz.

Die technologische Revolution in der Beherrschung aller Klänge trifft seit dem 20. Jahrhundert jede Art von Musik, die traditionellsten ebenso wie die neuesten, die unterhaltenden ebenso wie jene der Kunstmusik. Und sie trifft mit zerstörender Wucht jene illusionären Konzepte der utopischen musikalischen Moderne, die unter dem Leitstern einer neuen Musik und Musikalität, die zugleich im Universalitätsrang der traditionellen Musik und Musikalität stehen sollte, geschichtsmächtig wurden. Nach dem Glauben der Schönberg-Schule, zu dem sich Adorno als reflektierender Anhänger bekannte, sollte der Musik im 20. Jahrhundert das Glück beschieden sein, bei ihrer Suche nach einer höheren, der modernen Welt entsprechenden musikalischen Rationalität fündig zu werden. Über die Panchromatik der Spätromantik werde sie zu einer universalen Pantonalität vorstoßen, in deren höherer Wahrheit die vorangegangenen Tonalitäten als Teilmengen und Vorformen, als niedrigere Prinzipien im höheren Prinzip, aufgehoben, produktiv fortgeführt, musikalisch tiefer gegründet und als Vorstufen einer höheren musikalischen Freiheit integriert sein würden.

Eine gänzlich neue integrale Musik und Musikalität würde sich in bestimmter Negation, also in innerer Notwendigkeit aus der traditionellen Musik und Musikalität entfalten, und daher zwinge uns das Materialgesetz der Musik und ihrer Geschichte, Schönberg als zumindest restaurierten, wenn nicht gar höheren Beethoven anzuerkennen. Daran ließ sich in einer gesteigerten Illusionsbildung Webern als stimmiger Fortsetzer und Vollstrecker der Wahrheit Schönbergs konstruieren, und am Ende auch noch die serielle, aleatorische und elektronische Musik als universale neue Musik und Musikalität im erfüllten Geiste Weberns darmstädtisch ausposaunen, ehe dann der Passagier Adorno selbst – vers une musique informelle -, die Notbremse im rasenden Zug der aufgestapelten Irrtümer zu ziehen versuchte.

Es versteht sich, daß die höhere musikalische Rationalität zugleich höhere synthetische Prinzipien einer universalen inneren Zweckmäßigkeit der musikalischen Sinnlichkeit hätte enthalten müssen, um dem zu entgehen, dem die Neue Musik im 20. Jahrhundert nicht entgehen konnte: Polykomplexität als Ausdruck des freigesetzten Individualitätsgenies darbieten und verarbeiten zu müssen.

Die neue Rationalität hätte dank neuer innerer Zweckmäßigkeit eine neue und originale Sprache von Musik gebären und einer kollektivierbaren neuen Vermittlung von Materie und Form sowie von Form und Ausdruck musikalischer Klänge zuführen können. Wäre möglich gewesen, was unmöglich war, hätte sich eine pantonalisierbare und folglich nicht mehr hierarchische Harmonik-Melik und Metrik-Rhythmik zu einer neuen kunstmusikalischen Formenwelt mit neuen Motiven und Themen und ihrer prozessualen Verarbeitung und Darstellung innerhalb neuer Werkgattungen und Arten, universaler Stile und verbindlicher Personalstile auskristallisieren lassen. Und wiederum hätte die Kunstmusik die Bühne jenes inneren musikalischen Welttheaters errichten können, das es zuletzt Beethoven noch einmal erlaubte, das sittliche Freiheitsideal seiner bürgerlichen Gesellschaft begrifflos zu repräsentieren.

Mitleidlos und mit zerstörerischer Wucht beseitigte die technologische Revolution des 20. Jahrhunderts dieses illusionäre Konzept der utopischen musikalischen Moderne. Die technologische Klangbeherrschung entlarvt alle Rationalitätsprinzipien der utopischen musikalischen Moderne als Konzepte von schwacher technischer Rationalität, denen die wirklichen der sich ausdifferenzierenden Technologie heillos überlegen sind. Damit erhielt die moderne Gesellschaft die nun auch geschichtliche Auskunft, dass sich in den Freiheitsgründen des 20. Jahrhunderts nicht mehr der Beginn und Ursprung einer neuen Zukunft originaler musikalischer Kunstsprachen verbarg. Die traditionelle Fortführung der Tradition war nicht mehr möglich, weil sie weltgeschichtlich nicht mehr notwendig war.

Die totale technologische Verfügbarkeit im Reich der Klänge enthält bereits selbst eine totale Neudefinition von Musik, die weit über die im Grunde bieder-traditionellen Konzepte der ästhetischen Moderne hinausgeht, und die einen totalen Bruch zu jeder bisherigen Wesenstradition von Musik formuliert und bestätigt, wie er sich gründlicher nicht ausdenken lässt. Erstens wird nun erstmals in der Weltgeschichte die Produktion von Musik jeder Art ohne Musizieren möglich; zweitens das Erscheinen von Musik an jedem Ort und zu jeder Stunde wirklich; und drittens die totale Manipulierbarkeit jeder Musik, auch der musizierten, wenn sie einmal in Fänge von Studio und Labor geraten ist, an jedem ihrer Parameter durch externe Eingriffe, die im freien Belieben des Golems der virtousen Klangbeherrschung stehen, unausweichlich.

Während also das totale Crossover zur semiotischen Katastrophe der Musik führt, führt die totale technologische Verfügbarkeit zur Geburtskatastrophe eines neuen Wesens von Musik in einem neuen Menschen, dem Musik etwas anderes als bisher bedeuten wird. In dieser Andersheit wird sich die inkarnierte Niveau- und Werteskala aller bisherigen und künftigen Musik entweder zu einem gleichgültigen Nichts verflüchtigen oder zu einem Pantheon des absoluten Wissens über die musikalischen Wertehierarchien offenbaren. Beides liegt latent in unserer Gegenwart, sowohl die Möglichkeit zur totalen Verdinglichung der Musik zu einem kulturellen Konsumgut, in dem sich die Werte der Geschichte der Musik in ein Beliebigkeitsgedächtnis ihrer verfügbar gewordenen Gleichzeitigkeit verabschieden, wie auch die vollkommene Vergeistigung ihrer Ungegenständlichkeit auf ihr theophanes oder mundanes Wesen hin.

Der Komponist des Strukturgenerators aber repräsentiert das vollkommen zu seiner Freiheit gekommene Individualitätsgenie, das sich daher von jenen falschen Vergleichen und ideologischen Verwechslungen mit dem Originalgenie der Tradition lösen kann, die das 20. Jahrhundert verwirrten. Nicht nur ist das Individualitätsgenie jetzt befreit von der letzten Zuckung des Originalgenies im 20. Jahrhundert, stets wieder unspielbare und schon daher nur vermeintliche Originalitätswerke in die Welt setzen zu müssen, die dann stets ebenso wieder von irgendeinem professionalisierten Meistervirtousen oder -ensemble als spielbar erwiesen wurden; es muß die musizierende Menschheit nun auch nicht mehr der Tortur singulärer Musizierverfahren unterwerfen, Verfahren, die der professionalisierte und daher autonomisierte Musiker besser in den Dienst seines eigenen Bedürfnisses nach Ausdruck seines Daseins in einer modernen Welt stellen sollte, um uns als selbsteigen improvisierender Compositeur an den Tiefen seines spontanen Unbewussten und an seiner musikalischen Deutung des Sinnes oder Unsinnes von Welt und Mensch teilhaben zu lassen.

Weil sich die Prinzipien der totalen technologischen Verfügbarkeit über das Reich der Klänge den naturwissenschaftlich-technischen Naturbeherrschungsverfahren einer industriellen Klangtechnologie verdanken, die die moderne Gesellschaft auch der Musikprovinz zur Verfügung stellt, ist das zu sich befreite Individualitätsgenie auch davon befreit, der Illusion zu verfallen, abermals autonome Prinzipien für eine neue universale musikalische Sinnlichkeit, womöglich gar eine mimetisch kollektivierbare, hervorbringen oder überhaupt nur anstreben zu müssen. Im Gegenteil, die absolut individuelle Kreativität und Freiheit des neuen Herrn der Klänge ist jetzt gefragt wie nie zuvor, und er sollte uns daher seine Funde und Resultate nicht abermals als kosmische und neopythagoräische vorgaukeln, weil er sich dadurch nur selbst oder sein Denken als gaukelhaft zu erkennen gibt.

Das mit seinem adäquaten Instrumentarium ausgestattete Individualitätsgenie verfügt nun in seinem kontingenten inneren Klanguniversum über eine kongeniale Konzeptualität und Virtuosität von notwendig nonuniversalen – radikal individualisierten – Zweckbeziehungen zwischen Material und Formen sowie Formen und Ausdrucksinhalten, die jedes Werk zugleich als Variable weiterer Werke, auch unter Einbezug eines interaktiven Reproduzenten qua Rezipienten – dem kontingenten Material und Ausdrucksbedürfnis gemäß -, zur Erscheinung individueller Freiheit und Einmaligkeit bringen. Hinter ihm die Apokalypse des Interregnums und der eitlen Mischformen von Original- und Individualitätsgenie, vor ihm eine Zukunft als Herr im Haus frei verfügbarer Polykomplexität, unter ihm die apokalyptische Obsession, sich und uns als Fortführer einer „großen Musik“ einreden zu müssen, deren Gespenst die Postmodernisten und ihre Nachfolger immer noch an der Nase herumführt. Jetzt und hier darf es daher ganz sicher sein, die Bühne eines neuen inneren Klangtheaters errichtet zu haben, das, ohne auf die moderne Gesellschaft im geringsten schielen zu müssen, sich in eben deren hierarchielosen Freiheitsabgrund hinabbewegt, von dessen Zukunft, wie schon erwähnt, die Dialektik des deus absconditus im künftigen Menschen weitere Auskunft und Offenbarung geben wird.

 

X.

 

Die Technologie bringt also einen Umsturz im Wesen der Musik hervor, den Umschlag in eine neue Qualität, über deren Wert höchste Ungewissheit dort besteht, wo die Technologie jene Musik erfasst, die bisher sozusagen natürlich zustande kam, und die nicht zuletzt diesem ihren originären Wirken die auratische Macht ihres Zaubers in den Gemütern der Menschen verdankte. Mit dieser höchsten Ungewissheit – die Zukunft der Musik insgesamt scheint auf dem Spiel zu stehen – ist das sechste, das ökonomische Argument unmittelbar verknüpft, weil die entfesselte Technologie selbstverständlich dem Produktionsapparat einer durchrationalisierten Warengesellschaft und der marktkontrollierten Verteilung ihrer Produkte kongenial in die Hände arbeitet. Also jenem Betrieb einer sich selbst entfremdeten Kultur, den uns Adorno als Kulturindustrie beschrieb, und über den er uns belehren wollte, daß es sich nicht lohne, in ihm zu leben, weil das Individuum darin nur mehr als ohnmächtiger und austauschbarer Appendix existiere.

Die ungeheure Quantität der Musikproduktion schon im 20. Jahrhundert – erzeugt durch die hybride Selbstdifferenzierung der autonomisierten Musikprovinz, gefördert durch die Mechanismen einer marktorientierten Kultur, gesteigert durch eine entfesselte Technologie, gesteuert durch eine Reklameapparatur, die mittels sekundär erzeugter Bedürfnisse die Überproduktion dennoch profitbringend dem Überkonsum zuzuführen versucht -, all dies erweist gleichfalls den Umschlag von Musik und Musikkultur in eine neue Qualität und Dimension.

Organisierte sich vor dem 20. Jahrhundert das musikalische Bewußtsein der vormodernen Gesellschaft durch musizierende Kollektive mit dem Originalgenie und dessen Werken an der leitenden und orientierenden Spitze, so gestaltet seit dem 20. Jahrhundert nur mehr die sekundäre Kollektivierung von Musik – die disparate Produktion und Rezeption eines unendlichen Angebots von Musiken -, ein ebenso disparates und orientierungsloses musikalisches Bewußtsein der modernen Gesellschaft. Leitend ist zwar die omnipräsente Unterhaltungsmusik, aber kein seriös Urteilender wird nüchtern behaupten wollen, daß deren Artefakte und Events die Fortsetzung der traditionellen Kunst und Musik nur mit anderen Mitteln auf gleicher Höhe seien, wie dies manche Heroen des Unterhaltungsimperiums gleichwohl immer wieder behaupten.

Weil aber andererseits auch die Rationalitätsprinzipien der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts nicht mit den Rationalitätsprinzipien der modernen Gesellschaft mithalten konnten, weil sich diese zu autonomen, arbeits- und freizeitteiligen Bereichen ausdifferenzieren mussten, erfolgt die kulturelle Kollektivierung von Kunst und Musik nur mehr über ein System zwischengeschalteter Märkte, die sich sowohl nach dem Angebot der Produktarten wie auch nach den beliebig erzeugbaren sekundären Bedürfnissen eines Massenpublikums differenzieren. Schon dies bedingt, daß die Konzentration und Darstellung der gesellschaftlichen Freiheit in den Werken der gegenwärtigen Kunst pluralistisch beliebig werden musste, – das Originalgenie hätte keine gesellschaftliche Funktion mehr, selbst wenn es sich in kleinen Reservatkollektiven künstlich am Leben erhalten wollte. Und in der unendlichen musikalischen Artenvielfalt der Märkte werden auch die Singulärwerke des Individualitätsgenies nur als eine Art von Musik unter unzähligen anderen wahrgenommen.

Daher die große kulturelle Umorganisation des Musiklebens seit dem 20. Jahrhundert: nicht mehr nach einem primären musikalischen Bedürfniskanon der Gesellschaft, sondern nach der Spezialisierung der Musik selbst organisieren sich nun die Vereinigungen der Musiker, um sich als Partner der Kulturmärkte anbieten zu können. Jede musikalische Betätigung, jedes Instrument, jede Richtung von Musik, jede Abteilung der Musikprovinz organisiert sich seitdem in nationalen und internationalen Vereinigungen, und jedes bietet seine Produkte, Wettbewerbe, Kurse, Kongresse, Publikationen, Meinungskartelle, konkurrierende Teilsysteme, Veranstaltungen, Stars und Wasserträger usf. den kulturellen Spezialmärkten der modernen Gesellschaft an. Auch wo der demokratische Staat seine ererbten Musikprovinzen, die pädagogische insbesondere, gemäß traditionellem Kulturauftrag fördert und trägt, muß sich daher jeder Komponist und Musiker nochmals um seinen Markt umsehen, er muß sich um den Selbstverkauf seiner selbst und seiner Leistung bemühen. Dabei ist er einer unter unzähligen, und auch die Stars sind als Sklaven ihres Erfolges unerbittlich an die Apparatur ihres Spezialmarktes sowie an die belebende und zugleich tödliche Konkurrenz von ihresgleichen gefesselt.

Es versteht sich, daß das Bedürfnis nach Kunst und Musik in der modernen Gesellschaft ein völlig anderes als in den traditionellen Gesellschaften werden musste. Und da alle Kunst nunmehr über spezielle Märkte an die Gesellschaft kollektiviert wird, erübrigen sich auch die alten neomarxistischen Märchen der Kritischen Theorie von einer neuen Kunst und Musik, die zur Veränderung der Gesellschaft, gar zu ihrer Befreiung von aller Unfreiheit berufen wäre. Dieser revolutionäre Elan der musikalischen Moderne ist längst zur Bitte um ein Publikum geschrumpft, das doch die Neue Kunst nicht als unzumutbar zurückweisen, das also lernwillig und aufgeschlossen, offen und interessiert sein möge.

Die Bitte um einen verständnis- und kauffähigen Kundenstand bekennt ein, daß die Kunstproduktion des 20. Jahrhunderts längst zugestimmt hat, den neuen Gesellschaftsvertrag über ihre Wertschätzung in der modernen Gesellschaft zu unterschreiben: das Neue jeglicher Art brauche eben seine Zeit, um sich auf seinem Markt entfalten zu können. Rufen daher Künstler den Staat heute noch zu Hilfe, so meist nur mehr, um die Artenvielfalt der Kunstproduktion schützen und fördern zu lassen, weil sie durch die Omnipräsenz der Unterhaltungsimperien und des Filmes angesichts der multiplizierenden Kapazität der Medien bedroht sei. Dass aber die Medien nicht zwischen Unterhaltungs- und Kunstkultur wertend unterscheiden, erklärt sich aus der Überlegenheit ihres Rationalitätsprinzips für die moderne Welt und ihr Bewußtsein, der filmischen Darstellung vor allem; nicht zufällig ist dem Fernsehen jedes Kulturprodukt gleich willkommen, wenn es nur die ökonomisch und massendemokratisch rechtfertigenden Einschaltquoten erbringt.

Durch ihre marktorientierte Kollektivierung wird Musik und Kunst erstmals ein sich selbst tragender Wirtschaftszweig, über dessen Unersetzlichkeit in der modernen Gesellschaft kein Zweifel besteht, wenn auch die Einbrüche gewisser Spezialmärkte zu denken geben. „Weil es irgendwie anders ist als all das, was in der Werbung passiert“, versichert uns eine Expertin für Kunst- und Kultursponsoring, hätten große und mittlere Unternehmen der Wirtschaft ein Interesse an Kunst und Kultur, denn deren Produkte und Veranstaltungen garantierten dem Publikum eine besondere Erlebniswelt und den Unternehmen die Chance, ihre eigenen Produkte kulturpositiv imprägnieren zu lassen. Banken und Versicherungen betätigen sich daher als Kunstsponsoren, um ihre relativ ähnlichen Produkte mittels mäzenierter Kunst- und Kulturprodukte für die A- und B-Einkommensschichten unterscheidbar und präsent zu machen. Künstler und Musiker aber, oft noch im Dunstkreis des traditionellen Kunstbegriffes aufgewachsen und sich oft noch mit traditionsfortführenden Nachfahren des Originalgenies und seiner verschwundenen Kollektive verwechselnd, hegen eine mitunter unüberwindliche Scheu vor der fremden Welt des Business und bewegen sich verunsichert und ahnungslos auf dem neuen Terrain.

Denn für die Firmen ist das Sponsoren und Vermarkten von Kunst und Künstlern ein Geschäft, für die Medien ein Produkt unter unzähligen anderen, für den Musiker und Künstler aber ist sein Tun und Produkt eine Freiheitsbotschaft an die unerlöste Menschheit. An diesem Widerspruch spitzt sich daher im ökonomischen Argument die Antinomie vom Ende der Kunst zur Vorwegnahme einer Lebenskatastrophe zu: der Zauberer muß sich als Händler verdingen. Nun weiß bereits die ganze Welt, mit welchen neuen Karten in der modernen Gesellschaft um den Kulturauftrag der Künste gespielt werden muß, es bedarf also nur noch, dieses Spiel in allen Winkeln der Kunst- und Musikprovinz bekannt und erlernbar zu machen. Zur erwähnten großen kulturellen Umorganisation des Musiklebens gesellt sich daher seit dem 20. Jahrhundert das große Umdenken in den Psychen der Künstler und Musiker; denn um im harten Geschäft des Kunst- und Musikmarktes die Torturen der Selbstvermarktung von Kunst und Künstlern, von Musik und Musikern zu bestehen, bedarf es einer adäquaten Ausbildung und der Habitualisierung von musikgeschichtlich bisher unbekannten Tugenden und Untugenden.

Die angeführten sechs Argumente gegen die utopische musikalische Moderne stellen somit die These zur Diskussion, daß ihr Ineinanderwirken einen prognostischen Zugang zur Zukunft der Musik enthält. Und wie das Ganze aller Argumente die Totalität, so formuliert jedes einzelne Argument eine einzelne Figuration der Antinomie vom Ende der Kunst aus. Jedes einzelne und alle zusammen haben in dieser Antinomie ihren archimedischen Punkt, und dieser kann daher die Wissenschaften der Musik dazu rüsten, das Wagnis einer allgemeinen Prognose über die Zukunft der Musik zu unternehmen.

 

 

In: Wiener Jahrbuch für Philosophie. Hrsg. v. Hans Dieter Klein. 1999/2002; S. 189-226.