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15 Musizieren. Eine philosophische Plauderei

Musizieren ist ein Spiel; aber nicht das kindliche der Kinder, nicht das körperzentrierte der Sportler, nicht das verstandes- und zerstreuungssüchtige der Karten- und Brettspieler, nicht das liturgische der kultischen Gemeinde, nicht das begriffseuphorische des philosophischen Denkens; sondern das künstlerische der Kunst, das musikalische der Musik.

Was aber ist das musikalische Spiel der Musik, das künstlerische der musikalischen Kunst?

Auf diese Frage eine salbungsvolle Antwort in einem Satz zu geben, wäre zwar nach dem Gusto der meisten, nicht aber nach dem der Sache. Denn nicht nur ändert sich das Spiel der Kinder, der Sportler, der Vergnügungssüchtigen, der Religiösen, der Wissenschaftlichen und Philosophen zumindest von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Kultur zu Kultur, von Region zu Region und von sozialer Unter- bis Oberschicht; auch das Musizieren folgt gehorsam den Spuren seiner jeweiligen Zeit und dem in seiner Zeit erreichten Status von Musik und Kunst.

Aber musizieren wir heute nicht längst schon in den Musizierweisen aller Jahrhunderte der Musikgeschichte, ja geradezu aller Kulturen, indem wir uns musikhistorisch totalversiert gemacht haben und jede noch so fernliegende Musik und Musikkultur „aufführungspraktisch“ revitalisieren und wiederaufbereiten? Was soll die Frage nach dem Sinn und Wesen des Musizierens, wenn wir in einer Zeit leben, in der das Musizieren ein Spiel auf hundert verschiedenen Spielwiesen wurde? Und der Multiplikator Cross-Over sich anschickt, den musikgeschichtlich tradierten und recycelten Spielweisen aberhundert neue Mischspielwiesen hinzuzufügen?

Wir wissen, daß die Musik spätestens an der Schwelle zum 20. Jahrhundert endgültig aufhörte, hauptsächlich oder gar ausschließlich in ihre Zukunft vorwärtszugehen; daß sie seitdem stets zugleich in ihre Vergangenheit zurückgeht; daß sie weiters ihren europazentrierten Quell- und Führungshalt verloren hat und in alle Kulturen ausbeutend ausschwärmt; und daß der Preis für diese Selbsthistorisierung und Globalisierung von Musik und Musizieren selbstverständlich bezahlt werden muß.

Bis an die Schwelle zum 20. Jahrhundert definierte sich der Sinn des Musizierens durch den jeweiligen Sinn der Musik, den diese durch und für die jeweilige Epoche und Kultur besaß. Ein Sinn, der unreflektiert und historisch ungebrochen vorgegeben war und wurde, indem er den Schichten und Eliten, den Lebensinhalten und -orten der vormodernen Gesellschaften unmittelbar entsprang. Stile, Gattungen, Syntaxen, Funktionen, Zünfte, Feste, Bedürfnisse und Nichtbedürfnisse besaßen einen Sinn, der auch musikalisch klar definiert war, obwohl und weil er weder wissenschaftlich noch philosophisch definiert werden mußte, – die Frage nach dem Sinn des Musizierens wäre nicht als sinnvolle Frage verstehbar gewesen.

Seit dem 20. Jahrhundert rotiert statt dessen die Suche nach einem tieferen Sinn des Musizierens, nach einem Hintersinn, der alle bisherigen Sinnsinne in den Schatten stellen soll. Verständlich; denn kann der Sinn von Musik und Musizieren nicht mehr aus dem Leben der modernen Gesellschaft verbindlich abgeleitet werden, muß er musikintern definiert werden. Besonders in Pädagogien werden wir daher seit Jahr und Tag und landauf wie landab mit Salbungsantworten balsamiert, die den Humanitäts- und Kreativitätswert der Musik und des Musizierens zu einem Übersinn aufblasen, in dessen Hohlräumen jene unerschöpfliche Phraseologie gedeiht, die als Sprachrohr einer pädagogischen Ideologie dient, die sich nicht mehr zu durchschauen und sinnvoll zu begrenzen vermag. Und seitdem uns neuerdings beim Musizieren auch noch die wissenschaftlich beweisbaren Intelligenzzellen wachsen wie den Nichtmusizierenden die Tumore, scheint der Triumph der musikpädagogischen Ideologie sogar den Segen einer höheren Gehirnakrobatik erobert zu haben.

Indem jedoch das Musizieren als Ersatz oder gar Vorbild für Religiosität, Moralität, Kommunikation und Intelligenz behauptet wird, werden erstens die Künstler aller anderen Künste degradiert und beleidigt. Diese können verständlicherweise nicht akzeptieren, daß nicht auch ihre Künste, sondern ausgerechnet nur die Musik und das Musizieren das Gelbe vom Ei der Kunst sein soll. Zweitens erklärt die moderne Demokratie durch Verfassungsdekret, daß ihr die Freiheit der Kunst heilig ist; folglich alle Künste den Rang dieser Freiheit genießen, alle in gleicher Weise frei sind und die Ergüsse ihrer Freiheiten über zugewiesene Märkte der modernen Gesellschaft zuzuführen haben. Drittens ist ein moralischer und sonstiger Übersinn des Musizierens für den Menschen von heute, der in der Regel als nichtmusizierender, obzwar andauernd musikkonsumierender unter der Sonne wandelt, kaum verständlich zu machen.

Für ihn ist Musik höchstens Erholung und Zerstreuung, Unterhaltung und Berauschung, kaum noch Ausdruck seines eigenen oder gar des Gesamtlebens der modernen Gesellschaft durch herausragende Künstler, – sieht man vom einträchtigen Markttreiben der U-Musik-Genres für Kinder, Jugendliche und solche, die es musikalisch bleiben, ab. Und viertens überfordert sich das hehre Programm der musikinternen Vordenkerin Musikpädagogik grenzenlos, wenn es das Tun und Treiben von Musik und Musizieren als Leitinhalt und Leitfigur der modernen Gesellschaft einzulösen versucht. In kulturell ausdifferenzierten Gesellschaften kann der homo creativus jeglicher Berufs- und Lebenssparte nicht mehr als Leitbild oder Repräsentant für andere Sparten fungieren.

Wenn in den theoretischen Schriften der musikalischen Vormoderne, etwa bei Athanasius Kircher, Johann Mattheson und Robert Schumann das Musizieren als solches angesprochen wird, dann eben nicht als solches, niemals als technisches Abstraktum, auch niemals als „magisches“ Tun und Lassen, das unabhängig vom Sinninhalt der zu spielenden Musik begreifbar wäre, sondern stets nur als solches der zu spielenden Musik. Der Sinn des Musizierens ist noch der Sinn der zu spielenden Musik; und den Sinn der zu spielenden Musik zu spielen, ist noch der unmittelbare Sinn des Musizierens. Ein Sinn, der sich gleichsam selbst durch den Interpreten im Bewußtsein seiner Hörgemeinde spielt, solange noch gilt: Sinngleichzeitigkeit verbindet Komponist, Interpret und Publikum. Das All der Musikgemeinde versteht unmittelbar, was der Sinn meint, wie er zu nehmen und weiterzugeben ist. Weder ist die Musik, noch ist der Komponist, noch auch ist der Interpret historisch geworden; denn auch letzteres wird möglich, wenn technische Tonträger die Interpretationen verstorbener Interpreten an die Nachgeborenen tradierbar machen.

Wenn weder das Musizieren gegenüber der Musik noch das Musikhören gegenüber Musizieren und Musik in historische Differenz und Trennung getreten ist und auf eine je eigene Professionalisierung drängen, dann ist das Wesen der Musik noch nicht historisch geworden, – dann lebt es noch als ein Wesen, dessen Zukunft als Leitbestimmung seiner Entwicklung fungiert. In Analogie gesprochen: wie die sogenannte allgemeine Geschichte der Menschheit lebt und vollzogen wird bis zum heutigen Tag: nach vor handelnd – an den Aufgaben der Zukunft in der Gegenwart; nach zurück sowohl erinnernd – an den Identität schaffenden Taten und Denkmälern des Schreckens und des Glückes – wie auch vergessend, wenn die Aufgaben der Zukunft die Gegenwart mit praller Geschäftigkeit, zweckgeführter Sinnhaftigkeit und traumwandlerischer Orientiertheit erfüllen.

Das ungebrochene Vorwärtsleben des Wesens von Musik konstituierte daher den Status ihres Goldenen Zeitalters für alle Zeiten: die je neueste Musik erfüllte den je neuesten und erneuerbaren Sinn der Musik und damit des aktuellen Musizierens als eines Mitlebens und Mitführens der vormodernen Gesellschaft. Und der musikalische Gedächtnis- und Denkmäler-Kanon, den daraus das 19. Jahrhundert zog, ist weder so harmlos noch so kontingent, wie der heutige homo modernus meint, wenn er versichert, alles heute musikalisch Produzierte sei in gleichberechtigter Weise und Würde zu achten und zu bewahren, weil wir nicht wüßten, welche Kanones die künftigen Generationen sich wählen würden.

Wie wir wissen, begann die innere Konkordanz von Komponist, Interpret und Publikum im romantischen und unterhaltungsprosaischen Zwiegang der Musik durch das 19. Jahrhundert allmählich zu zerfallen; ein Prozeß der Differenzierung, der schließlich auch zur Scheidung des Musizierens und Interpretierens von der aktuell fortschreitenden Musik-Geschichte führte. Eine Verselbständigung des Musizierens, die zugleich die unabdingbare Voraussetzung war und ist für das moderne professionelle Musikertum, ohne das unser heutiges Musikleben undenkbar wäre. Ein Musiker, der sich heute allein und ausschließlich der heute und morgen komponierten Kunstmusik verschriebe, wäre nicht lebensfähig; in scheinbarer Kompensation dazu ist in der modernen U-Musik eben diese Verschreibung unausweichlich und überlebensnotwendig, obwohl auch in den U-Musik-Genres von heute das Recyceln, Recovern und Remixen der Musik von gestern und vorgestern längst eingesetzt hat.

Ist das Wesen der Musik spätestens seit dem 20. Jahrhundert in Vorwärts- und Rückwärtsleben gebrochen, dann ist zum nicht geringeren Prozentanteil der Sinn des Musizierens heute, alle Musiken, die je gewesen und im Heute aktualisierbar erscheinen, über spezielle Märkte einem interessierbaren Publikum zu servieren. Und niemand täusche sich über die damit unweigerlich gesetzte Sinnungleichzeitigkeit zwischen Komponist, Interpret und Publikum.

Der moderne Musiker, sofern er sich den Gefilden der Kunstmusik nicht fern hält, mutiert nun in den neuen Typus eines universalistischen Virtuosen, dessen Musizieren entweder nach kontingenten Maßstäben die gesamte Musikgeschichte ins Repertoire nimmt bis hin zu einer Anpassung an die aktuellen Marktbedürfnisse eines Cross-Over aller Musiken; oder das Musizieren separiert sich als Spezialist für Spezialrepertoires, die gleichfalls dem Gusto des Interpreten, gebrochen durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage, entspringen. – Weder der modern universalistische noch der ebenso modern spezialistische Musiker kann die vom 19. Jahrhundert kanonisierten Repertoires festhalten und weiterführen.

Und wie sich jeder Musiker seinen Kanon oder seinen Ausschnitt aus dem Totalangebot aller Musiken unter sogenannten programmatischen Ideen zu geben versucht, um sich den Märkten erfolgreich einzufügen, so verfährt er analog auch in der Ausbildung seines Musizierstils, der nicht mehr an die vormaligen Interpretationstraditionen unmittelbar anknüpfen kann, weil erstens die Sinnkonkordanz zwischen Komponist und Interpret stets mehr sich veräußerlicht und auflöst, und weil zweitens unter verschärften Markt- und Konkurrenzbedingungen die strenge Zuspitzung von individueller Interpretation und Virtuosität stets strenger wird.

Daß sich kein Musiker in der Haut seiner grenzenlosen Auswahl- und Darbietungsfreiheit gänzlich und unbedingt wohlfühlt, beweisen zwei hermeneutische Gegenanker, die wie zwei feste und immerwährende Konstanten ins Spiel gebracht werden, um dem des eigenen Musizierens einen selbstgewissen Sinnhalt zu verleihen. Einmal soll es einen Willen des Komponisten geben, der am Notat der Werke und womöglich an den Ex- und Inzessen seiner Biographie ablesbar festgeschrieben sei; einen jeweiligen Komponistenwillen pro Werk, den der Interpret wie ein Testamentsvollstrecker zu vollstrecken hätte.

Und zum anderen soll das hermeneutische Zaubergebot befolgbar sein, daß jede Musik „nur aus ihrer Zeit heraus“ wahrhaft und wirklich zu verstehen sei. Zwei Mythen, ebenso schön ausgedacht wie leicht als unhaltbar zu durchschauen. Wahrheit ist, daß es so viele Komponistenwillen je Werk gibt, als es Interpreten je Werk gibt; und der hermeneutische Salto mortale in die Musikgeschichte, wonach jede Musik wahrhaft nur aus ihrer Zeit zu verstehen sei, zerschellt an der ebenso hermeneutische Klippe, die uns unerbittlich zwingt, jede Musik der Vergangenheit immer schon aus unserer Gegenwart heraus verstanden und interpretiert zu haben, wenn wir vorgeben, eine Musik nur aus ihrer Zeit heraus verstanden und interpretiert zu haben.

Der Sinn des Musizierens wurde historisch, weil der Sinn der Musik historisch wurde; und der Sinn der Musik wurde historisch, weil der Sinn der Musikgeschichte historisch wurde. Er ist in sein posthistoire eingetreten.

Daraus resultiert auch das Paradox, daß der moderne Musiker vor sich und für die moderne Gesellschaft einerseits als der getreueste Diener seiner Herrin Musik erscheint; andererseits für jene Verselbständigung des Musizierens gegen die Musik verantwortlich zeichnet, die ihm das Kainsmal des Professionisten auf die Stirn setzt, der den einst vorprofessionell entsprungenen Sinn der Musik und des Musizierens getötet hat. Weil er ihn aber zugleich als einziger Traditionsträger, obzwar als zurückgehender, fortzubilden hat, ist zugleich das Mal einer Hoffnung auf seiner Stirn, daß sich dereinst noch werde zeigen ein anderer Sinn der gespielten Musik, den wir heute noch nicht einhören und noch nicht einspielen können.

Zunächst aber schlägt diese Präferenz und Dominanz des Musizierens über die Musik unmittelbar auf den Geist des modernen Publikums durch, sofern dieses noch einmal sich bequemt, oberhalb der Verhaltensränge von Erholung und Zerstreuung, Unterhaltung und Berauschung Platz zu nehmen. Denn es fragt kaum noch oder gar nicht mehr, was die gespielten Musiken voneinander unterscheidet und dadurch ihren absoluten Selbstwert oder Unwert offenbart, sondern vielmehr, was das Spiel der spielenden Musiker voneinander unterscheidet, – welcher Musiker welche Musik in welcher Interpretationsweise genommen hat, um sein Publikum zu beglücken.

Wird aber mehr nach den Interpretationsunterschieden als nach den Sinnunterschieden der Musik gehört und gefragt, ist der Sinn der Musik an den der Interpretation delegiert; und dies muß zunächst auch so sein; denn nur das Musizieren der Interpreten entstammt der Gegenwart, die Musik aber nicht. Dies gilt auch und insbesondere für das Musizieren der sogenannten Historischen Aufführungspraxis, die im 20. Jahrhundert auf den Abbruch der unmittelbaren Interpretationstraditionen reagierte. Karajan bedurfte noch nicht der Lektüre Matthesons, um sein Publikum zu beflügeln; doch alle Karajan-Nachfolger sind nur mehr solche.

Das sogenannte Historische Musizieren ist nicht historisch getreu und authentisch, wie es meint, sondern hypermodern; denn wäre es historisch getreu, müßte es bemüht sein, auch die Schlechtigkeiten des seinerzeitigen Musizierens nachzuahmen; und an der Unmöglichkeit, den gegenwärtig längst verblichenen Hörer von einst wieder herbei zu beamen, in dessen Geist allein das Spiel der seinerzeitigen Musik spielte und wiedererweckbar wäre, scheitert die gleichwohl produktive Illusion, das moderne, wissenschaftlich reflektierte Verhalten zur Musik der Vergangenheit unter den Mantel einer spontanen Musizier-Unmittelbarkeit von heute zu kehren, damit der authentische Staub des Augenblicks von einst wieder aufwirble. Es sind immer moderne Füße, die auf den Wegen der Vergangenheit in das Goldene Zeitalter zurückgehen.

Ist aber das Musizieren gegenüber der Musik professionell verselbständigt, führt dies notwendigerweise auch zu einer unendlichen Vermehrung des Musikerstandes gegenüber allen bisherigen Epochen der Musik. Mit der schikanösen Konsequenz, daß auch die größten reproduktiven Begabungen und Talente, und an diesen ist unsere Zeit reicher als alle früheren, nicht sogleich und direkt an den Markt (von zufälligen Ausnahmen und Sonderprotektionen abgesehen) geführt, sondern zunächst dem Martyrium einer hierarchischen Skala musikinterner Wettbewerbe zugeführt werden müssen. Musizieren wird Wettbewerbsmusizieren, um der virtuosen Professionalisierung eine musikerinterne – nach Instrumenten und Szenen und Ländern differenzierbare – Bühne zu verschaffen. Mit der allbekannten Konsequenz: die hoffentlich Besten gewinnen unter dem strengen Richtstab von Experten (obwohl Wettbewerbs-Jurys nicht nur der Prinzessin auf der Erbse gleichen), um danach einem Betrieb übergeben zu werden, in dem vielfach die Banausen regieren und ein sinkendes Publikum auf musikexterne Reize lauert.

Unter Hunderten und weltweit Abertausenden, die gleiche Anlage, oft sogar Fähigkeiten besitzen, die entscheidenden Preise zu gewinnen, schafft lediglich eine kleine Schar Erwählter den „Durchbruch“ aus der Anonymität und lokalen Prominenz in die große internationale Karriere, die immer noch das Telos der erfülltesten Existenz eines Musikers sein muß, wenn auch für Musik im Range höchster Kunst das Potential einer Welt-Anerkennung durch ein Welt-Publikum existiert. Die Diskrepanz, daß ein Erfolgreicher über hundert Leichen Nichterfolgreicher und Erfolgsarmer, die sich in subalternen Karrieren zu verdingen haben, gehen muß, ist der vermutlich schrecklichste Inhumanitätsaspekt eines Musizierens, das sich nur mehr über Wettbewerbe und deren Star-Sieger an die moderne Welt als universale Größe vermitteln läßt.

Die moderne Musikpädagogik, professionelle Betreuerin eines professionellen Musikertums, beginnt allmählich zu erkennen, daß Musik und Musizieren im 21. Jahrhundert in ein völlig neuartiges Dschungelgelände eintreten. Das Historischwerden des Musizierens unterm Bruch der inneren Sinnkonkordanz zwischen Komponist, Interpret und Publikum zwingt einmal zur sozusagen täglichen Neubestimmung der Lernziele und Lehrpläne; zum anderen zu einer Suche nach musikimmanenten Wertkriterien, um den notwendigen Unfug beliebiger Sonderkanones in erträglichen Grenzen zu halten, – denn im Wesentlichen ist der vom 19. Jahrhundert überlieferte Repertoire-Kanon der traditionellen Gattungen, Stile und Werke unüberbietbar.

Weiters vermag die Vermittlung vollständig frei-gesetzter Künste an die Träger der modernen Demokratie nur mehr über spezielle Märkte zu erfolgen; folglich muß schon die Musikpädagogik das Organisieren von und Überleben in eigenständigen Märkten und Marktsegmenten ins Visier nehmen.

Und schlußendlich zwingt die massenhafte Vermehrung des Musikertums, zwar einerseits das marktorientierte Konkurrenzverhalten früh einzuüben, dennoch zugleich die unersetzliche Geborgenheit der jugendlichen Musizierenden in den Stuben der Musikausbildungsstätten nicht gänzlich zu zerstören. Der Musikunterricht ist einer der wenigen Unterrichte, die eine auf das Mittelalter zurückgehende Paar-Beziehung von Meister und Schüler, von alleswissendem Guru und treugehorsamen Gesellen unverzichtbar weiter tradieren müssen.

Die Extreme sind zum Zerreißen gespannt; wir tun nur, als bemerkten wir’s nicht.

 

 

Erschienen in: In: „Üben & Musizieren“ – Heft 6/2003; S. 29-32.

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