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26 Aufmerksamkeit

I. Einleitung

 

Aufmerksamkeit ist ein philosophischer Nebenbegriff, kein Hauptbegriff, dem etwa die Ehre zukommen könnte, in die Stammtafel des menschlichen Verstandes aufgenommen zu werden. Kant schiebt Aufmerksamkeit entweder der Psychologie zu oder bestimmt sie als Leistung des auf die Einbildungskraft synthetisierend wirkenden Verstandesbegriffes. Die Synthese der Apprehension werde einsichtiger, wenn der Begriff, der die Verbindung des Mannigfaltigen ermögliche, konzentriert beaufmerksamt werde. Er ist das eigentlich Verbindende und Stabilisierende jeder Erfahrung und Erfahrungserkenntnis.[1]

Dennoch führt Aufmerksamkeit in philosophische Tiefen, weil das oft beklagte Faktum, daß Aufmerksamkeit nicht selbst und nicht direkt beaufmerksamt werden kann, tieferes Fragen nötig macht. Aufmerksamkeit ist doch nicht Trug und Täuschung, Aufmerksamkeit ist etwas und nicht nichts, vielleicht ein Akt oder ein Modus oder sonst etwas Bewirkendes oder Bewirktes in uns, nicht aber weder ein Akt noch ein Modus noch etwas Bewirkendes oder Bewirktes. Denn vieles, das sich nicht selbst bewirkt, ist gleichwohl und wirkt auch.[2] Welches Rätsel ist Aufmerksamkeit? Eines oder keines?

Man könnte behaupten: Aufmerksamkeit begleite jeden unserer Akte unbewußt. Wird Aufmerksamkeit aber bewußt oder soll sie bewußt werden, dann wiederum nur als Begleitphänomen an den Akten unserer Sinne und unseres Denkens, obwohl diese mit Aufmerksamkeit nicht zusammenfallen. Die unbewußt begleitende Aufmerksamkeit könnte demnach ein schier unendlich steigerbares Maß an Flüchtigkeit, Oberflächlichkeit und Unbewußtheit auszeichnen oder vielmehr nicht auszeichnen. Dennoch wäre evident, daß die begleitende Aufmerksamkeit  nicht wirklich unendlich dezimierbar ist, weil ein völlig mechanisch ablaufender Akt nicht mehr als bewußter Akt wahrnehmbar wäre. Gleichsam niemand würde ihn vollziehen. Eine These, die unwillkürlich die Frage aufwirft, mit welcher Art von Aufmerksamkeit wir unsere Träume beaufmerksamen. Ebenso: wie wir Akte in völliger „Selbstvergessenheit“, etwa unter Hypnose vollziehen können.

Trivial hingegen zunächst die Einsicht, daß beim Verschwinden eines Aktes, weil er beendet wurde, sei es unterbrechend durch einen anderen, sei es absichtlich durch einen nächstfolgenden, auch das je aktbezogene Begleitfluidum verschwindet. Jedem Akt sein beaufmerksamendes Begleitfluidum –  lautete folglich die These. Gegenthese dazu jedoch: weil zwar die Quantität der Aufmerksamkeit wechsle, nicht jedoch die Qualität Aufmerksamkeit (sie wurde von allen Akten unterschieden), sei sie doch ein eigener Akt, auch eine eigene Fähigkeit, etwa eine Art von Willensspannung oder Konzentrationskraft oder Ähnlichem.  Diese sei es, die jeden Akt der Sinne und Gedanken begleite; und ob mehr unbewußt oder mehr bewußt, sei nur eine Frage der Anstrengung der Aufmerksamkeitskraft, ein Plus oder Minus an deren quantitativ bestimmter Intensität.

Nun figuriert aber Aufmerksamkeit, wie schon erwähnt, nicht als Vermögen sui generis, sie wird nicht unter den Vermögen apriori wie Verstand, Anschauung, Vorstellung, Urteilskraft und Einbildungskraft eingeführt. Wurde sie transzendentalphilosophisch vergessen oder zu Recht nur als Aktmodus unserer Bewußtseinsvermögen abqualifiziert? Zu Recht, weil sie vielleicht nur als Modus unserer Einbildungskraft zu begreifen wäre?

Wenden wir unsere Aufmerksamkeit nochmals auf die Anfangsfragen des Problems Aufmerksamkeit: Ausgemacht war, daß wir ein Minimum an Aufmerksamkeit benötigen, um auch die gewöhnlichsten und gewohntesten Akte unserer Lebensvollzüge – Türklinken ergreifen, aus dem Fenster schauen, jemanden grüßen, Dinge oder Münzen zählen usf. – vollziehen zu können. Ohne ein Minimum an Sorgfalt, mag diese auch ritualisiert und mechanisch geworden sein, geht die Chose des Lebens nicht. Jedenfalls funktioniert unser Gedächtnis unter dieser Prärogative von Mechanik: versagt diese, beginnt unser Gedächtnis, in dem alle Arten von Aufmerksamkeit gespeichert scheinen, zu versagen. Das demente Gedächtnis ist das Gegenteil von Gedächtnis.

Man könnte versucht sein, der Schranke der Aufmerksamkeit: diese kann nicht direkt beaufmerksamt werden, ein Schnippchen zu schlagen. Zwar können wir nur Objekte als Gegenstände unseres Bewußtseins direkt beaufmerksamen, nicht aber davon unabhängig das Aufmerken des Subjekts. Aber warum könnten wir uns nicht gleichsam teilen und den Aufmerksamkeitsstrahl verdoppeln, den einen Blick zweier Augen verzweien, und wäre es auch um den Preis schmerzhaften Schielens?

Vor und in uns erscheint ein gezeichneter Punkt, eine ruhende Fliege, ein auf und abschwellender Klang, ein ruhiges oder bewegtes Bild: Akte unserer Sinne erfassen diese Objekte mit mehr oder weniger Aufmerksamkeit. Steigern wir nun diese durch Selbstwiederholung, wird es vielleicht doch möglich sein, die Mauer der Schranke zu durchbrechen: Das Objekt wird nach und nach gleichgültig und am Ende vergessen, und nur noch der reine Aufmerksamkeitsstrahl erscheint unserer aufmerksamen Aufmerksamkeit.

Ein schwerwiegender Einwand dagegen könnte lauten: wenn nicht einmal unser Sehen sich sehen, unser Hören sich hören kann, wie dann erst die Aufmerksamkeit sich beaufmerksamen? Ein Gegeneinwand würde lauten: wie unser Denken sich selbst denken könne, so könne sich vielleicht auch die Aufmerksamkeit selbst beaufmerksamen.

 

II. Psychologisches versus philosophisches Definieren

 

Aber warum unser Fragen und Antworten unnötig beschweren? Verfügt die Psychologie, eine der anerkanntesten Wissenschaften, nicht über eine Legion an Definitionen von Aufmerksamkeit? Nach bekanntem Muster wissenschaftlichen Erläuterungsdenkens: alle Eigenschaften des zu definierenden Begriffes, die in dessen Inhalt analytisch enthalten sind, werden als dessen definierende Prädikate mit der Sache gleichgesetzt. Dagegen zeigen sich Philosophen unwillig: was hilft uns das tautologische Spiel analytischer Urteile? Offensichtlich halten Philosophen dafür, daß es noch eine andere Art als das wissenschaftliche Definieren geben müsse und geben könne.  Folglich widersetzen sie sich auch der Mode des je aktuellen Zeitgeistes, aus unzähligen Prädikaten das zur Zeit angesagteste  zur Definition der Sache zu erheben: „Aufmerksamkeit ist Konzentration“ liest sich unter zeitgeistigen Prämissen wie eine Erleuchtung durch wissenschaftliche Geister. Konzentration sei das Wesen der Sache, sei das erklärte allgemeine Prinzip der gesuchten Spezifität Aufmerksamkeit.

Um die tautologische Kargheit des Prädikats, das zugleich Wesen und Prinzip sein soll, zu verdecken, pflegt man es durch Varianten zu verstärken und aufzublasen: Aufmerksamkeit sei Konzentration, nämlich starke, tiefe, anhaltende, bewußte, gezielte, erfolgreiche, kreative, geübte Konzentration. Dadurch wird die Eigenschaft Konzentration nochmals vereigentümlicht, als Ganzes von Subeigenschaften behauptet, somit als „Gattung“ und „Wesen“ glaubwürdig. Wem aber der Glaube fehlt, wen die Kaskade der verstärkenden Worte nicht überzeugt, dessen Zweifel erledigt der Verweis auf Experiment und Erfahrung: Konzentration als eigentlicher und wesentlicher Inhalt von Aufmerksamkeit sei an Versuchspersonen experimentell nachweisbar. Womit sich das wissenschaftliche Erklären den Status unangreifbaren Definierens gibt.

Warum muß Philosophie diesem Spiel der Worte, das sich für erklärende Definition ausgibt, mißtrauen? Ebenso allen Versuchen, durch Beobachtung und Beschreibung von beobachteten Aufmerksamkeiten endgültige Aufklärung über das Wesen des Begriffes Aufmerksamkeit gewinnen zu wollen?

Weil durch empirische Versuche und Definitionen aus Erfahrung nicht zu klären ist, ob Aufmerksamkeit eine eigene Qualität und eigene Funktion unseres Geistes ist. Daher hatten sich die Gegen-Thesen ergeben: (A) Aufmerksamkeit ist nur eine  Zusatzqualität an gewissen anderen, aber noch unbestimmten Qualitäten und Funktionen des Geistes. (B) Aufmerksamkeit ist doch ein eigener Akt, auch eine eigene Fähigkeit, vielleicht eine Art von Willensanspannung oder Konzentrationskraft, weil zwar die Quantität der Aufmerksamkeit ständig wechseln kann, nicht aber die Qualität Aufmerksamkeit.

Der Unterschied von Psychologie und Philosophie wäre demnach, veranschaulicht an den psychologischen und philosophischen Urteilen und Begriffen zum Problem Aufmerksamkeit: Jene gelangt durch empirische Beobachtung und Experiment zu ihren analytischen Definitionen, diese durch ein nichtempirisches Denken in Begriffen, die ihr synthetische Urteile apriori über das System des menschlichen Geisteslebens erlauben.

Dabei hätte die Psychologie den Vorteil, die historische Komponente des menschlichen Geisteslebens nicht zu vernachlässigen, während die Philosophie einen „reinen“, einen gleichbleibenden und ungeschichtlichen, überdies auch überindividuellen allgemeinen Geist, ausgestattet  mit einer allgemeinen Art von Aufmerksamkeit, konstruierte.  Obgleich ahnend und dunkel auch wissend, daß der Kannibale sich und sein Tun womöglich anders beaufmerksamte als ein computerspielender Mensch von heute, die wundergläubige galiläische Gemeinde, die Jesus folgte, wiederum anders als die leidenschaftlich begeisterten Großgemeinden unserer Fußballstadien.

Die Philosophie erhöbe Anspruch auf Erkenntnis eines topographischen Systems der Funktionen des menschlichen Geistes überhaupt, das allen historischen Wandlungen und Veränderungen der Menschheit vorausliege. Die Psychologie und alle empirischen Wissenschaften vom Menschen, Medizin und Evolutionsbiologie nicht ausgeschlossen, gingen den umgekehrten Weg, um die Frage zu beantworten und das Problem zu lösen.

 

III.  Transitive und nicht-transitive Aufmerksamkeit

 

Da sich Aufmerksamkeit in jedem theoretischen wie praktischen Verhalten des Menschen ereignet, muß dieser Tatbestand auch in der Sprache des Menschen Ausdruck finden.

Im Deutschen bekanntlich durch bestimmte Silben, die an einem Verhalten dessen Verstärkung durch beabsichtigtes Verweilen ausdrücken. So reden wir von Hinsehen, nicht nur von Sehen, von Hinhören, nicht nur von Hören. Das Wort „Verweilen“ scheint sich überhaupt ganz in den sprachlichen Ausdrucksdienst des Sinnes von Aufmerksamkeit gestellt zu haben.

Und da das phänomenologische Beschreiben der Realität durch unsere Alltagssprache der Anfang aller wissenschaftlichen Beschreibung und philosophischen Erörterung ist, kann es nicht unangebracht sein, auf den sogenannten „intentionalen Charakter“ vieler Transitiv-Wörter zu verweisen.

Verbal verstärkte transitive Tätigkeitswörter (vulgo Zeitwörter)verweisen auf Zustände oder Akte von Aufmerksamkeit, in denen sich das menschliche Bewußtsein  – das sich wissende Bewußtsein ichbesitzender Subjekte –  auf eigenschaftsfähige Objekte oder auch auf andere Subjekte sowie Gruppen und Institutionen konzentriert. Oft bis zu scheinbar völliger Selbstvergessenheit und Selbstaufgabe – wer leidenschaftlich beim Anderen ist, der ist auch wie verschwunden in dessen Falten und Klüften. Dabei ist „leidenschaftlich“, nebenbei gesagt, eine psychische Akzidenz, deren moralische Neutralität nicht bestritten werden kann.  Ob ein Mensch leidenschaftlich haßt und mordet oder liebt und rettet, steht nicht an der Stirn des Wortes geschrieben.

Dennoch könnte auch das radikale Gegenteil unserer transitiven Verhaltensweisen ein Licht auf das Problem Aufmerksamkeit werfen.  Wenn Goethe, willens, Descartes zu widersprechen, erklärt, schon oft sei er gelegen und habe an nichts gedacht, scheint er bei nichts anderem zu verweilen als beim Verweilen des Verweilens. Er scheint dem unbekannten Wesen der Aufmerksamkeit mitten ins Auge zu blicken. Seine Maxime könnte lauten: Vernichtige Dich durch Konzentration auf ein Nichts an Inhalt, auf ein Nichts an Form, und Du wirst das Sehen des Sehens, das Hören des Hörens doch vergegenwärtigen. Mit dieser Maxime allein wirst Du das unbekannte Ding an sich, das durch Affektion Deiner Sinne diesen Materie und Erscheinungen gibt, erfassen. Nur auf diesem Königsweg wird sich Dir das Gebende des Gegebenen ergeben.

Weniger Paradoxien strapazierend, könnte man unser Traum(er)wachen am Morgen als Ausnahmezustand eines sich beaufmerksamenden Aufmerksamkeitsbewußtseins behaupten. Woraus allerdings resultierte, daß wir nur in unseren Träumen restlos aufmerksam, sonst aber immer zugleich abgelenkt, immer nur selektiver Aufmerksamkeit teilhaftig wären. Nur träumend könnten wir uns als Erzeuger und Geber völlig vergessen und eben dadurch als Geber und Erzeuger (von Welt) erfahren.  Nicht einmal bei sich selbst zu verweilen: nur wer nichts mehr will von Welt und Selbst, berühre das reine Sein von Nichts und dadurch von allem. Aufmerksamkeit ein Kandidat für mystische Praxis?

 

IV. Arten der Aufmerksamkeit

 

Wenn sich Aufmerksamkeit in allen Akten des theoretischen und praktischen Geistes findet, liegt der Gedanke nahe, viele Wörter, die zunächst unverdächtig sind, auf Aufmerksamkeit zu verweisen, könnten gleichwohl nicht ohne Schichten von Aufmerksamkeit ausdrucksmöglich sein.

Wenn wir beispielsweise Achtung als moralische Aufmerksamkeit nominal definieren, können wir kaum umhin, an Kants emphatische Lehre von einer Achtung für das Sittengesetz, ohne die der moralische Mensch ein Ding der Unmöglichkeit sei, zu erinnern. Von dieser Achtung hänge die Achtung des Menschen für und vor sich selbst und ebenso für und vor anderen ab, von den Institutionen des menschlichen (Zusammen)Lebens zu schweigen. Dennoch denken wir dabei nicht an „Aufmerksamkeit“, weil wir diese in allen Feldern unseres Verhaltens gleichsam nach freiem Belieben ein- und ausschalten möchten.

Wogegen aber jede Art moralischer Aufmerksamkeit unwiderlegbaren Einspruch erhebt. Achtung als moralische Aufmerksamkeit ist eben gerade kein Mittel, das nach Belieben verwendet oder auch nicht verwendet werden kann. Sie ist keine Verhaltensmethode, keine Lebensstrategie, sie ist ein (moralisches) Grundvermögen des Menschen. Daraus folgt evident, daß Aufmerksamkeit als sekundäres „Grundvermögen“ des Menschen aktivierbar ist, wenn bestimmte Inhalte des Bewußtseins die Form „Aufmerksamkeit“ aktivieren.

Es ist die Inhaltsoffenheit von Aufmerksamkeit, die bewirkt, daß wir von einem  „Grundvermögen“ Aufmerksamkeit nur in sekundärer und abgeleiteter Form sprechen können. Stets bestimmen spezielle Inhalte und deren eigene Formen  – moralische, religiöse, politische, künstlerische, ästhetische, intellektuelle, zB. mathematische – die Akte von Aufmerksamkeit als Aufmerksamkeit. Diese Form schwebt, als Modus menschlichen Bewußtseins, gleichsam über oder unter allen Inhalten und wird von allen Inhalten als Mittel verwendet.

Nur in der Psychologie, der alltäglichen wie der wissenschaftlichen, sind Meinung und Glaube möglich, alle Selektionen und Konflikte der menschlichen Aufmerksamkeit ließen sich durch unterschiedliche Arten und Stärken von Reizen erklären.  Gewiß: ein Blickfang am weiten Panorama einer Wüste, eines Ozeans, auch an einem Häusermeer, zieht unwillkürlich unsere Aufmerksamkeit auf sich. Gleichsam wie durch einen Magnet werden unsere Blicke auf den magnetisierenden Blickfang gerichtet.

Und in der Rhetorik weiß der virtuose Rhetor, wie man durch Worte den Geist der Hörenden hörend macht, gleichgültig, ob die Inhalte nützlich oder verderblich, gut oder böse, wahr oder falsch sind. Eine Gleichgültigkeit, die schon am Beruf jedes lehrenden Lehrers eine Grenze findet: Die Sachen zwingen ihn, sachlich bei der Sache zu bleiben.

 

V. Aufmerksamkeit und Religion

 

In den Religionen hat Aufmerksamkeit viele Namen;  in der christlichen ist ‚Andacht‘, obzwar ein sterbendes, doch noch aussagefähiges Wort religiöser Aufmerksamkeit. Eine unaufmerksame Andacht verfehlt sich, ein mechanisch ausgeführtes Gebet mag verborgen bleiben, dem Beter selbst wie den anderen, aber entscheidend ist bekanntlich nicht Aufmerksamkeit als irgendeine geheimnisvolle Eigenqualität oder mystische Form, sondern einzig und allein der Inhalt, die Inhalte der Gebete aller Religionen.

Gleichwohl wird den Geistlichen aller Religionen ein bevorzugter Zugang zu Gottessuche, Gottesandacht und Gottesversenkung zugestanden. Etwa im Christentum den Mönchen, Nonnen und Mystikern, weil ihnen nahe sei, worauf sich die religiöse Aufmerksamkeit zu richten habe.

Zugleich ist die Untrennbarkeit von Gottesaufmerksamkeit und Selbstaufmerksamkeit seit Augustinus ein feststehendes Gerüst christlicher Andacht. (Daraus wird später unter säkularen Weltumständen die Untrennbarkeit von Bewußtseinserweiterung und Bewußtseinsvertiefung. Aber unklar wurde, ob es für beides nochmals verbindliche – absolute – Inhalte und Formen geben könne.  Alles und nichts wird bei günstiger Gelegenheit in den Rang spiritueller Substanz erhoben.)

Am Anfang (wohl jeder Religion) galt und gilt die Untrennbarkeit von Selbst- und Gottessuche bzw. -findung, weil in der „Einkehr der Seele“, ein Topos spätantiker Ethik bereits, eine Praxis der Selbstprüfung dem Weg der Doppelsuche vorangestellt oder beigesellt war.

In der Vertiefung lag zugleich die Erweiterung, – durch das Nadelöhr der Enge des menschlichen Bewußtseins ließe sich die unendliche Weite des göttlichen finden, allerdings nur in unendlicher Annäherung, weil die Enge des menschlichen Bewußtseins unaufhebbar bleibe. Mit anderen Worten: daß hinter allen menschlichen Aufmerksamkeiten eine noch andere Aufmerksamkeit stehe, von der man wissen könne, daß sie sei, nicht aber was und wie sie sei, ist bis heute unter den Religionen (und mancher Philosophie) unumstritten. Dennoch wird über das Wie und Was unter den Religionen mit Wahrheitsanspruch gestritten, als ob es sich lohnte über etwas zu streiten, worüber durch menschliche Vernunft niemals ein endgültiges Urteil gefällt werden kann. Allerdings aus guten Gründen in moralischer Hinsicht; weil beispielsweise verschiedene „monotheistische Götter“ verschiedene und oft unverträgliche Moralen bedingen.

Dennoch ist es nicht sinnlos, wenn fast jede Religion verspricht, durch mystische Sammlung – radikale Abwendung von Welt und Selbst – sei ein ewiges Ankern in den Gefilden einer göttlichen Allgegenwart möglich. Das Postulat einer anderen Aufmerksamkeit als der unseren kann nicht als widervernünftiger Akt nachgewiesen werden. Daher die Einkehr der Seele als deren Auskehr: wer Gott findet, findet sich selbst, und nicht umgekehrt. Die Umkehrung der Ur-Relation wird erst in der säkularen Moderne verkündet; um welchen Preis ist an der Verbeliebigung aller theologisch verwesenden Inhalte zu ersehen.

Und doch war die moderne Verbeliebigung schon den Anfängen der unio mystica und ihrer theologischen Deutung eingeschrieben. Zwar sollte sie sich nicht der Willkür menschlicher Willenskraft, sondern einer jeweils schon vorausgehenden und göttlich anstoßenden Anziehung durch einen normativen göttlichen Liebeswillen verdanken. Die intentio des Menschen sei durch die intentio Gottes ermöglicht und in Gang gesetzt. Thomas von Aquin: „Vis cognoscitiva non cognoscit aliquid nisi adsit intentio.”[3]  Gottes Aufmerksamkeit geschieht schon und ist vollendet, wenn die unsrige erst beginnt, ihre Reise zu vollenden. Also ist Gottes Wille ein actus intellectualis zugleich, dem zu folgen doch mit augustinischem Elan möglich sein sollte.

Zu dieser mittelalterlichen Intellektualisierung des Willens steht die transzendentale Voluntarisierung des Intellekts bei Kant in denkbar großer Entfernung und Entgegensetzung. Und doch kann auch Augustinus‘ zweifache Selbst- und Gottessuche als Suche eines guten (menschlichen) Willens, der versuchen soll, dem höchsten guten Willen nicht zu mißfallen, gedeutet werden. Es bedarf der moralischen Aufmerksamkeit allein, um die höchste und gesollte, um die endzwecklich und eschatologisch beabsichtigte Aufmerksamkeit zu erfüllen: Kant. Und diese kann nur unter und in Menschen realisiert werden. Gott bedarf nicht unserer Vereinigung mit ihm. (Gegen die gebannte Lehre von Meister Eckhart.)  Daher deutet Kant das „Dein Wille geschehe“ nicht als Aufruf zur Befolgung eines erkennbaren Einzelwillens Gottes als des Einzigen und Einen, sondern als Aufforderung, allein das moralische Gesetz des göttlichen Willens zu beachten, es sei aller unserer Aufmerksamkeit wert und würdig.

 

VI. Neuzeitliche Aufmerksamkeiten

 

Als die Prämissen der mittelalterlichen Theologie schwanden, stellte sich das Problem Aufmerksamkeit in überraschend neuer Weise: An die Stelle einer alles begründenden Mensch-Gott-Relation tritt die Relation von mentaler Innenwelt und physischer Außenwelt. Diese soll, durch Descartes angeregt, in Gestalt einer Wissenswelt von Wissenschaften mit vollkommener Rationalität alle Welt(en) durchdringen. Gottes Vernunft erleuchte und führe des Menschen Vernunft.

Hatte nun nicht alle Welt ein gleiches Recht auf Aufmerksamkeit? Mußten nicht die „Primaten der Wissenschaften“, – ein Linné, ein Kopernikus und Kepler, ein Galilei und Newton, sie alle in den Rang spezieller (Welt)Religionsgründer aufrücken?[4] Nahm doch jeder Entdecker neuer Gesetze und Phänomene von der unbekannten, ebenso unsichtbaren wie unhörbaren letzten Aufmerksamkeit wenigstens Brosamen auf, gleichsam einen ausgewählten Strahl, um ihn zu zergliedern und dadurch zu begreifen.

Das Wissenwollen des neuzeitlichen Geistes stand somit, nolens, volens, unter der Prärogative des Denkens, auch wenn es sich als wissenschaftliches oft als rein empiristisches Denken, als reines Beobachten und sinnliches Registrieren mißverstand.

Euphemistisch könnte man formulieren: rationale Vernunft wird auf sich selbst aufmerksam, vernünftige Aufmerksamkeit ist per se Selbstaufmerksamkeit der Vernunft. Das Klarheitsideal Descartes soll siegen; es gilt die totale Weltaufmerksamkeit unter der Prärogative des Ich denke: Die absolute Reflexivität der menschlichen Vernunft wird unhintergehbar.

Diese Voraussetzung liegt dem Telos und Ideal einer gesamthaften Welterkenntnis als totales Wissenssystem immer schon voraus. Wissende Aufmerksamkeit hat an ihr selbst ein Endziel, wird als Endzweck menschlicher Vernunft, aber nur in theoretischer Hinsicht, einsehbar. Eine Wende der Geistesgeschichte, die später, am Beginn der Moderne, der Kunst zum Verhängnis wird: sie darf der Wissens- und Vernunftprärogative des neuen Weltverständnisses widersprechen, aber um einen hohen Preis: utopische Gegen- und unerschöpfliche Unterhaltungswelten erschaffen zu müssen.

Von Anbeginn der Neuzeit widersprach die Sinnlichkeit des Menschen –  ewiger Stachel im Fleisch menschlich eingefleischter Vernunft – der neuen Wissenskultur:  Ursprung zweier Kulturen seitdem, der von Geist und Natur, denen ein Waffenstillstand auf Zeit abgenötigt wurde. Nach dem Motto: wessen Kultur du bist, des Geistes bleibst du. Nur Kabarettisten möchten und könnten zwischen Kreationisten und Darwinisten gewinnbringend vermitteln.

Descartes‘ herkulische Zirbeldrüse sollte am Anfang vermitteln: als Durchgangsstation zweier Welten und ihrer unvereinbaren Kausalitäten. Nicht lange konnte das überstrapazierte Organ in dieser gewünschten Höhe überleben, es wurde ins Depot der Wissenschaftsgeschichte, Abteilung Kurioses, abgeführt. Geblieben ist die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf physische Mechanismen als Mütter oder Väter aller Aufmerksamkeiten.

Und weil der Waffenstillstand zwischen den Kulturen hält, wenn auch auf sonderbare  – nirgendwo durch Vertrag mit inhaltlichen Konventionen erfüllte –  Weise, hält auch die Freiheit des freien Meinungsglaubens bis heute. Sind zwei Kulturen, sind auch zwei Selbstverständnisse von Mensch und Menschheit in einer und derselben Welt. Die einen glauben an ein zu habendes Ich, die anderen an ein gehabtes Gehirn. Kein Problem, sagt die für alles offene Kultur: vielleicht muß sich erst herausstellen, wes Geistes oder Nichtgeistes Kind das Mensch genannte Lebewesen ist. Schon in der Mitte der neuzeitlichen Kultur begann zwischen den beiden Teilkulturen ein Loch zu klaffen, das sich eines Tages als Vulkan betätigen könnte.

Um Descartes‘ Zirbeldrüse zu verabschieden, setzt Malebranches Okkasionalismus ein göttliches Kausieren voraus, – um die Möglichkeit eines Zusammenwirkens des leiblichen und nichtleiblichem im ganzen Menschen zu begründen. Es sei weder leiblich noch seelisch, sondern in Ideen verankert, ohne daß der Mensch wissen könne, wie das Okkasionieren Gottes mit seinen Ideen verbunden sei. Doch offenbare sich der  „Herzensaufmerksamkeit“, wenn sie als „natürliches Gebet“ vollzogen werde, die innere Wahrheit des eingreifenden Gottes.[5]

Dieser Vorschlag zu einer dritten Kultur, die das Loch der Mitte füllen könnte, schwebt – wie ein Gespenst? – über der Kultur der Ersten Welt bis heute. Wobei Malebranches Neoplatonismus nochmals christologisch (mit)begründet war. Doch Darwins evolutionär erkannter Pavian, der alle Probleme der Metaphysik lösen sollte, wartete schon um die Ecke des nächsten Jahrhunderts.

Der Kampf um die Aufmerksamkeit auf die erste Aufmerksamkeit – aber auf welche, wenn in der Mitte ein Loch zu klaffen beginnt? – wurde anfänglich auf dem philosophisch-theologischen Kampffeld zwischen Empiristen und Rationalisten, später durch die Nicht-Mehr-Kämpfe (weil Waffenstillstand) zwischen Naturwissenschaften und transzendentalem Idealismus ausgetragen bzw. nicht mehr ausgetragen. Wer heute seine Aufmerksamkeit auf Begründungsfragen richtet, muß mit Nachbarn rechnen, die ihn nicht verstehen oder als Scharlatan denunzieren, verständlicherweise vice-versa, weil unterm Waffenstillstand kein Krieg, nur Friede, leerer und fauler Friede möglich ist.

 

VII. Kants Aufmerksamkeit

 

Kant stellt das Abstraktionsvermögen des Menschen über dessen Aufmerksamkeitsvermögen. Dies kann zunächst erstaunen, weil der Kantische Gattungsbegriff beider Vermögen: das Sich-Bewußt-Werden seiner Vorstellungen, doch eindeutig das „Aufmerken“ (attentio) dem „Absehen“ (abstractio) vorzuziehen scheint. Wir denken unwillkürlich: wir werden uns doch eines Etwas, in uns oder außer uns, nur durch Aufmerksamkeit bewußt. Aufmerken und Bewußtwerden sei dasselbe.  Doch zeigt eine einfache Reflexion auf die Art unseres Vorstellens, daß Aufmerken und Absehen untrennbar sind. Schon im Feld des sinnlichen Wahrnehmens ist Aufmerksamkeit ohne Abstrahieren (modern: Selektieren) unmöglich. Das Hinsehen setzt sein Wegsehen, das Wegsehen setzt sein Hinsehen als Grund seiner eigenen Ermöglichung voraus.

Das Absehen von einer bewußten Vorstellung (abstractio), sei „nicht bloße Unterlassung oder Verabsäumung“ einer bestimmten Aufmerksamkeit, denn „das wäre Zerstreuung“ (distractio), es sei vielmehr ein „wirklicher Akt des Erkenntnisvermögens.“[6]  Daher sage man auch nicht „e t w a s abstrahieren (absondern), sondern  v o n  e t w a s  abstrahieren.“ Und nur durch diesen (Abstraktions-) Akt des Bewußtwerdens (ein „Verfahren mit sich selbst“) von Etwas werde eine konkrete Etwas-Vorstellung konstituiert.[7]

Kant scheint zu übertreiben, um zu zeigen, daß das sinnliche Abstrahieren (Wegsehen) die Vorbedingung der (von ihm) gesuchten Abstraktion ist: Eine Vorstellung in einen allgemeinen Begriff des Verstandes aufnehmen zu können. Sehe ich den Besen eines Stiels nicht nur, sondern erkenne ich ihn auch als realisierten Begriff eines Besenstils, weiß ich, daß ein Besen ohne Stiel noch kein gültiger Besenstiel ist.  Erst eine denkbar gewordene Vorstellung könne den Rang einer wirklich bewußt gewordenen Vorstellung beanspruchen.

Kants Folgerung: Von einer Vorstellung, selbst einer aufdringlichen, abstrahieren zu können, sei „ein weit größeres Vermögen, als es zu attendieren“ (beaufmerksamen). Erst durch dieses Verfahren beweise sich die „Freiheit des Denkvermögens“ als „Eigenmacht des Gemüts“, den „Zustand seiner Vorstellungen in seiner Gewalt zu haben.“[8] Und daher sei das Abstraktionsvermögen wichtiger, wenn auch schwieriger als das der Attention.

Wegsehen soll also schwieriger sein als Hinsehen, und erst durch Wegsehen soll unser Verstand fähig werden, vorgestellte Gegenstände unter unsere Verstandes-Begriffe zu subsumieren? Da dies nicht Kants Meinung sein kann – „Begriffe ohne Anschauung sind leer“ – müssen offensichtlich die beiden Gegenstandsbereiche, auf die sich Aufmerken und Absehen beziehen, weder verwechselt noch vermischt noch auch willkürlich getrennt werden: Wahrnehmen einerseits, Denken andererseits, Anschauen einerseits, Erkennen andererseits. Zwei Seiten einer einzigen Medaille, es ist die gesuchte eines Vernunftbegriffes von Aufmerksamkeit.

Kant erläutert seine Bevorzugung des (sinnlichen) Abstrahierens an einem berüchtigten Beispiel: viele Menschen seien unglücklich, weil sie nicht abstrahieren könnten: „Der Freier könnte eine gute Heirat machen, wenn er nur über eine Warze im Gesicht oder eine Zahnlücke seiner Geliebten wegsehen könnte.“ Es sei eine spezielle Unart des menschlichen Aufmerksamkeitsvermögens, „gerade darauf, was fehlerhaft an anderen ist, auch unwillkürlich seine Aufmerksamkeit zu richten.“[9] Der aufmerksame Leser bemerkt das Ablenkungsmanöver Kants: von der Erhebung einer Vorstellung in den Begriff ist hier keine Rede mehr.

Es scheint, als wollte Kant nur ein Ressentiment gegen Heiratswillige an den Mann und gegen die Frau bringen: Wer mangels Abstraktionskraft nicht zum Heiraten komme, der komme doch wenigstens zur Philosophie. Ein anderes Beispiel wäre weniger abseitig, weniger absehend gewesen: Viele Menschen sind unglücklich, (hätte Kant ironischerweise behaupten können), weil sie nicht abstrahieren können, wenn sie von sich und anderen erzählen. Sie möchten wohl, sind aber außerstande, beim Erzählen von unzähligen Einzelheiten und Details abzusehen.

Nun war Kant ein versierter Menschenkenner, wie nicht nur seine „Anthropologie in pragmatischer Absicht“ beweist. Er hätte an diesem (ironischen) Beispiel bemerkt, daß nicht nur Frauen mit Lust und Wonne und daher nicht unglücklich oder gar geniert, in protokollarischen Nacherzählungen ihrer Erlebnisse und Erinnerungen schwelgen. (Man ist hingerissen aufmerksam auf das, wodurch man den Geist der Hörenden wie durch Zauberhand zwingen kann, aufmerksam auf das Erzählte zu werden. Schon ist eine gemeinsame und daher aufmerksamkeitswürdige Geschichte geschaffen, und wäre es nur die vom heutigen Wetter. Ohne wechselseitige Rede-Hypnose findet sozialer Alltag nicht statt.)

Demnach gehören Absehen und Hinsehen, Attendieren und Abstrahieren im alltäglichen Bewußtsein des Menschen untrennbar zusammen, weil nur durch deren permanent vollzogene Synthese vorgestellte Gegenstände (und deren Eigenschaften) sowohl festhaltbar wie erkennbar, erzählbar und erinnerbar sind. Dennoch ist unbezweifelbar, daß willentliches Absehenkönnen der empirische Anfang des menschlichen Denkens ist. Nicht zwar Grund und Ursache von Denken und Denkvermögen, aber doch eine unersetzliche (empirische) conditio sine qua non seines realen Vollzugs. Wessen Blick (sekundär auch Gehör) durch ein übermächtig gewalttätiges Objekt in Entsetzen und Schock, in panische Furcht und Angst gerät, kann den Verlust seiner rationalen Denkfähigkeit, wenigstens für Momente, erleiden. Er verharrt ohne zurechenbaren Verstand und gleichsam ohne freies Ich in einem Zustand extremer psychischer Lähmung. (Auch Formen des Autismus gehören in diese Sektion menschlicher Extreme.)

Sophistische Zyniker könnten zwar meinen und äußern, nun erst wäre der Mensch „ganz Aufmerksamkeit“, ganz vom Objekt der Aufmerksamkeit hingerissen, kein anderer Zustand sei unabgelenkter, keiner sei aufmerksamer als dieser.  Doch ist eine Aufmerksamkeit, in der sich der Aufmerkende seines Aufmerkens nicht mehr bewußt werden kann, eine kaum noch menschlich nun nennende Aufmerksamkeit. (Daher auch Folter unter Verbrechen gegen die Menschlichkeit fällt.) Ist alle Distanz zwischen Objekt und Subjekt getilgt, ist auch Aufmerksamkeit getilgt, fungiert das Objekt (oder ein anderes Subjekt, Mensch genannt) als verschlingender Moloch.

 

VIII.  Instinkt und Aufmerksamkeit

 

Inwieweit dabei eine Annäherung an das Instinktverhalten der Tiere vollzogen wird, dürfte schwer zu ermitteln sein. Da freies Wollen immer freies Denken voraussetzt – beides im Reich des Instinktlebens der Tiere jedoch unmöglich ist  –  können Tiere nur abgelenkt werden, nicht aber sich selbst zu einem Absehen willentlich entschließen. Weil sie nicht absehen(abstrahieren) können, überschreiten sie nicht die Schwelle zum Denken. Um diese überschreiten zu können, muß ein Lebewesen unabgelenkt absehen können. Absehen ist nicht Abgelenktsein, Abstrahieren ist nicht Abgelenktwerden.

Der erwartbare Einwand, daß Tiere zu Haustieren domestizierbar waren und sogar stärkste Raubtiere den Künsten mutiger und virtuoser Dompteure nicht widerstehen können, bestätigt nur die These, daß Tiere durch sich selbst von sich selbst nicht absehen können.  Der angegebene Grund gilt unbedingt: das Selbst der Tiere beherbergt kein ichförmiges. Die für menschliche Lebewesen geltende Vernunftvoraussetzung: freies Wollen setzt freies Denken voraus, und beides ist nur im Raum eines ichhabendes Lebewesens verbindbar, ist nicht vorhanden.

Weil Tieren gegeben ist, durch ihr Instinktsystem alle Außenreize als organisierte Innenreize zu ordnen, ohne ordnen zu müssen, ist diese Leere an Vernunft nicht eine Schwäche, sondern eine Stärke, die der Tiere.  (Ein Hauptgrund, weshalb Tiere die bisher längste Zeit der Menschheitsgeschichte den Rang vorbildlicher Götter oder Halbgötter besetzten.)  An dieser Schwäche ihrer Stärke (in eine spezielle Welt von Gesamt-Welt kongenial eingebunden zu sein) fädelt der gleichsam adoptierende Dompteur seine ganze Raffinesse, sein für Tiere unbegreifliches System von Belohnungen, Täuschungen und Umgewöhnungen ein. Die zu dressierenden Tiere sollen „abgerichtete“ werden: systematisch ablenkbar durch Befehle, die eine Inkorporation instinktfremder Gewohnheiten ermöglichen.  Bei Raubtieren immer unter dem Risiko, daß sie eines „unbedachten“ Moments in ihre angestammte Instinktwelt zurückkehren und einen Dompteur plötzlich als nützliches Beutetier wiedererkennen.

Dem aufmerksamen Leser ist das Paradox in Kants Formulierung nicht entgangen:  der  eine gewünschte „Heurat“ anheuernde Freier richte seine Aufmerksamkeit unwillkürlich auf das vermaledeite Merkmal. Von der Warze kommt sein Blick nicht los, obwohl doch das Gesicht seiner Schönen gewiß noch jede Menge anderer Reize darbietet.

Die Unwillkürlichkeit scheint zugleich durch die Warze und durch den Warzenblick des Befangenen verursacht zu sein. Wäre dies der Fall und somit die ganze Wirklichkeit des Geschehens, wäre kein freies Bewußtsein nötig, das seine Aufmerksamkeit auf die vermaledeite Warze erst noch richten müßte. Es wäre schon gerichtet und hingelenkt, es wäre unwiderstehlich fixiert und hypnotisiert, – das Vorurteil aller einschlägig argumentierenden Gehirnforschung.  Nur ein anderer Reiz, ein nächster Blickfang hätte die Macht, neuerlich abzulenken.

Daher das Instinktsystem der Tiere ein Bewußtsein mit sich führt, das nur Unwillkürliches, nicht aber Spontanes kennt. Nur weil wir unser Verhalten auf das tierische projizierend  übertragen, erscheint uns das tierische als spontan reagierendes, obwohl es nur auf äußere Reize durch verinnerlichte Reizsysteme reagiert. Daher sind Tiere auch zu Aufmerksamkeitsleistungen fähig, deren Intensität und Extension der Menschen nie erreichen werden und auch weder erreichen sollen noch müssen.

Eine unerwartete Fliege auf der vermaledeiten Warze würde in einem beobachtenden Tier ein lustversprechendes Alarmsystem auslösen,  und zwar mechanisch. Indes ein die Fliege unwillkürlich registrierender Mensch spontan reagierte: so oder auch anders, je nach Anlage seiner Möglichkeiten – belustigt oder angewidert oder sonstwie.  Mit einem Wort: Tiere haben ein „Schalterbewußtsein“, der Mensch hat ein freies Bewußtsein noch in der extremsten Unwillkürlichkeit der sogenannten bedingten Reflexe. Dennoch ist nicht zu leugnen, daß bei höheren Primaten ein Übergang zum Menschen stattfindet, der gleichwohl nicht übergeht, weil auch der klügste Schimpanse immer nur in Vorformen des Denkens und Wollens verharrt. Auch steht es uns frei, menschliche Reflexsysteme in Analogie zu tierischen Instinktsystemen zu verstehen. Ein tautologischer Satz, der sich selbst erklärt.[10]

Wir kennen das Phänomen des „unwillkürlichen Gerichtetseins“  aus der ubiquitär wirksamen Kausalität menschlicher Neugier. Ein sich bewegender Blickfang auf einem Gipfelgrat: ein Tier, ein Mensch, ein Lebewesen? Was für eines, wohin unterwegs? Ein Königreich für einen Bescheid über das, was der Fall ist, für die Befriedigung des unwillkürlichen Bedürfnisses Neugier. Es folgt beim Menschen unversehens aus ungeduldiger Langeweile oder nötigender Orientierung; nicht aus der „Instinktsucht“ wie beim Tier, das bei hungrigem Bauch nach neuer Beute späht, oder bei fernverspürter Gefahr in die bergende Murmeltierhöhle verschwindet. Aber nochmals: sosehr Menschen in ein System erworbener Neugierpraxen und deren Befriedigung eingebunden sind, sie regredieren nicht in Instinktsysteme, auch ihre Zeitung lesen sie nicht auf Druckkopfbefehl ihres Gehirns.

Verständlicherweise sind Darwinisten versucht zu versuchen, aus den Paradoxien der Unwillkürlichkeit evolutionäres Kapital zu schlagen. Die Grundvermögen unseres Geistes könnten doch ausschließlich aus Instinktaufmerksamkeiten hervorgegangen sein. Sei es durch Übertreibung, sei es durch geschockte Unterbrechung. Die Metaphysik von Darwins Pavian gebietet förmlich (unwillkürlich?) die Annahme, der letzte Primat hätte eines Tages zu lange auf der faulen Haut gelegen und daher plötzlich zu grübeln begonnen. Oder in einer Gefahr zu äußerster Konzentration gezwungen, versunken in ein gejagtes Beutetier, wäre er plötzlich, durch welchen unbekannten Reiz auch immer, unterbrochen und schockiert, „auf andere Gedanken“ gekommen und hätte sich als fragendes Wesen, als ersten Darwinisten, entdeckt.

Die Gegenthese lautet bekanntlich: weder im Kontinuum bruchloser Allmählichkeit, – Darwins fixe Vorstellung erinnert an Leibniz‘ Kontinuum zwischen Perzeptionen und Apperzeption -, noch durch einen Sprung innerhalb des Instinktsystems kann geschehen sein, was geschehen ist: Der Anfang einer Menschengeschichte.[11] Natürliche Kontinua (nach Darwins Denkweise) leugnen die Diskreta neuer Qualitäten und Arten; Sprünge und Brüche im Instinktsystem springen und brechen nur innerhalb des Systems. Aus den Mechanismen spezialisierter Instinktwelten kann die Spontaneität einer Bewußtseinswelt nicht generieren. Schon mit unseren sinnlichen Wahrnehmungen sind wir stets zugleich in und über den spezifischen Welten unserer Gesamtwelt.

Wir wissen in der Regel, „wo“ wir sind, in welcher aller gegeben Welten, –  beispielsweise im Finanzamt, nicht im Wald, – oder umgekehrt. Davon zu wissen, bedarf das Tier nicht. Jede Spezies hat nur ihre gelebte Sonderwelt, weshalb jede (menschliche) Utopie einer Befreiung der Tiere zu einer Gesamtwelt, in der sie als gleiche, freie und vielleicht sogar friedliche koexistieren könnten, Utopie bleibt.

Wenn Aufmerksamkeit eine „Art“ von Instinkt oder gar selbst ein spezifischer Instinkt wäre, hätten wir an einem Aufmerksamkeitsinstinkt ein spezielles Grundvermögen, etwa die von esoterischen Zirkeln gesuchte und gepriesene Achtsamkeit – auf alles und nichts, auf jeden Fall aber auf jeden Augenblick.

Das Aufmerken der Tiere auf ihre speziellen Zweck-Mittelrelationen ist zwangsläufig und daher wohl zweckmäßig, nicht aber zweckmittelbewußt. Im Unterschied zu ihnen lebt der Mensch, sofern er nicht in Schlaf oder schwerer Betäubung und Krankheit „darniederliegt“, in unaufhörlichen Wechselstromkreisen von Zweck-Mittel-Relationen. Auch einen Ausstieg aus diesem Stromfeld kann er nur als Zweck-Mittel-Relation konzipieren und vollziehen. Bekanntes Beispiel: Welche „Stecker“ muß der gestresste moderne Mensch ziehen, um wenigstens zwischendurch als ein wieder vormodern nichtgestresster zu leben? Durch welche Mittel können wir „abschalten“ und „aussteigen“, um in welchen Feldern von Entspannung und Ausspannung zu rekreieren?

Weil auch der Ausstieg aus den Zweck-Mittel-Relationen wieder nur in diese zurückführt, ist der Unterschied zum Verhalten der Tiere total. Diese „relaxen“ gleichwohl, aber ohne Relaxen und Chillen willentlich erwägen und durchführen zu müssen.

Ihr Instinktsystem sagt ihnen, wann und wo und wie es zu jagen und zu fressen gilt, wann und wo und wie nicht. Und im Übrigen sorgen die Kausalitäten spezieller Umwelten, in denen sie leben, dafür, daß ihnen nicht langweilig wird. Aber auch Langeweile und Kurzweile sind für sie kein bemerkbarer Unterschied. Sie sind stets in Aufmerksamkeit, noch die kontingentesten Ereignisse ihrer spezifischen Aufmerksamkeitshorizonte entgehen ihnen nicht. Nicht Langweile oder Kurzweile ist die Alternative, sondern Gefahr oder nicht, Beute oder nicht, Überleben oder nicht.

Man könnte aber doch versucht sein, die Aufmerksamkeitsweisen von Kindern und Kleinkindern in Analogie zum Instinktverhalten der Tiere zu sehen. Wenn für den erwachsenen Menschen gilt: Je gedachter und erkennender seine Aufmerksamkeit, umso aufmerksamer die Aufmerksamkeit, dann muß für nichterwachsene Menschen das genaue Gegenteil Wirklichkeit sein. Wissen wir um das planetarische Existieren von Atmosphären, wird auch auf Pluto eine zu finden sein, wenn sie unserer Beobachtung harrt. Kaum entdeckt, wird sie in ihre Bestandteile zergliedert, um ihre Art von Atmosphäre von den Atmosphären anderer Planeten, Kleinplaneten und Monden und nicht zuletzt von der Sonnenatmosphäre zu unterscheiden.

Erblickt ein Kind zum ersten Mal die Dinge dieser Welt, kann nur Erstaunen das Elixier seiner Aufmerksamkeiten sein. Am Beginn des menschlichen Lebens ist Neugierde als Abenteuer unschuldig möglich und notwendig. Diese Unschuld macht unsere kindliche Neugierde scheinbar der tierischen Aufmerksamkeit analog; scheinbar an Intensität und Extension der tierischen Versenkung vergleichbar. Doch an die Stelle von Gefahr und Überleben, Fressen und Gefressenwerden, tritt von Anfang das (von Erwachsenen) umsorgte Spiel mit den Eindrücken einer noch wunderlichen Welt, die kaum noch erkannt, nur phantasievoll angedacht wird. Noch ist alles bunt und überbunt, ein Zauber in allen Dingen, die Sinne plastisch empfänglich, das Denken sinnerfüllt wie später nie mehr, das Wahrnehmen und Empfinden, Verstand und Vernunft von Phantasie und Wünschen kaum zu trennen.

Als wir daher im Kindesalter unter günstigen Umständen an gewissen dunklen Flecken auf dem Mond das Gesicht eines Mannes erblickten, mußten wir diese Entdeckung entweder geheim halten, wenn wir nämlich schon wußten oder ahnten, daß uns die Erwachsenen eine Dusche aus wissenden Worten bereiten würden. Oder wir waren wirklich noch gänzlich unschuldig und meldeten unsere Erkenntnis, um schmerzhaft bemerken zu müssen, daß unser Erstaunen nicht allen Menschen zugänglich ist. Wir fühlten uns wie bestraft und ahnten: in dieser Welt wird man vermutlich ständig (um)erzogen werden. Dies sagte sich übrigens ein menschliches Wesen, das sein Ich noch nicht entdeckt hatte und daher von sich noch in der zweiten oder dritten Person sprach.

Nicht in die Sektionen tierischer Instinkte tauchen wir als kindlich Wahrnehmende ab, sondern in die abgründigen Zaubergründe mythischen Bewußtseins vormoderner Kulturen, die sich unter modernen Weltzuständen endgültig verabschieden. Auf die Sonne als Re, auf den Mond als Thot können wir nicht mehr aufmerksam gemacht werden. Aber Märchen werden die Aufmerksamkeit von Menschen dennoch fesseln, solange es Kinder künftiger Menschen geben wird.

 

IX. Moderne Nicht-Aufmerksamkeiten

 

Wer in der heutigen Gegenwart behauptet, um etwas sehen und hören, denken, erzählen und erinnern zu können, müsse man von vielen anderen Etwassen absehen und weghören  können, setzt sich dem Vorwurf aus, noch nicht in der modernen Welt angekommen zu sein. Der moderne Multitasking-Mensch praktiziere nämlich das genaue Gegenteil der soeben behaupteten Norm:  Er könne von nichts mehr absehen, von nichts mehr weghören, von nichts mehr nicht sich ablenken lassen. Positiv formuliert: Alles müsse, alles könne ihn ablenken, denn das Alles sei seine neue Welt. Wie der vormoderne Mensch in grauesten Vorzeiten die Instinktwelt der Tiere hinter sich gelassen, lasse der moderne Mensch die überschaulichen Welten der Vormoderne hinter sich.

Sein „Etwas“ sei eine unübersehbare Fülle von Etwassen, seine Welt eine unüberschaubare Vielfalt von Welten, die sich überdies stets neu, im Gewande neuer Neuigkeiten präsentieren – und dies beinahe in jedem Augenblick. Eine Evolution der kulturellen Fertigkeiten, welche die Menschheit durch revolutionären Sprung auf die nächsthöhere, weil nächstkomplexere Stufe der Entwicklung heben wird. Und Gewißheit schon heute, daß dieser neue Mensch nicht ohne digitale Prothesen in seiner neuen Aufmerksamkeitswelt bestehen kann. Ohne Stelzen und Stützen, ohne große und kleine Maschinen und Programme, ohne äußere und innere Sensoren wird er nicht mehr um die nächste Ecke biegen.

Man möchte ihn sich selbst überlassen, er wird die dialektischen Geheimnisse der Aufmerksamkeit rechtzeitig genug entdecken. Jene, die dies nicht schaffen, werden zu den Verlierern zählen. Doch weil keine Kulturrevolution ohne Verlierer und Gewinner denkbar, kann man auch diese Dialektik  ungerührt in die Annalen der res gestae aufnehmen, wobei dennoch gilt, daß nur nach menschlichem Ermessen die Letzten die Letzten, die Ersten die Ersten sein werden.

Zwar toben an der Peripherie des Übergangs von der bisherigen in die künftige Welt manchmal noch vernachlässigbare (Rückzugs)Gefechte  zwischen den Zeloten bisheriger Humanität und den Verkündern neuer künstlicher Intelligenzen, unter denen die menschliche nur mehr eine unter vielen sein werde. Jene malen das Menetekel einer entmenschlichenden Entgrenzung des Menschen an die Wand, diese feiern just diese Entgrenzung als Geburt eines neuen Menschen. Doch ist auch die Sache dieser Revolution gegessen, weil von der Geschichte  – verstanden als Entwicklung menschlicher Fertigkeiten – serviert. Eines Tages, es ist noch nicht lange her, war auch das Ackerbauen Revolution und eine neue Welt durch neue Menschen.

 

X. Antinomien, Analogien und Beispiele der Aufmerksamkeit

 

Man könnte die Antinomie der Aufmerksamkeit wie folgt formulieren.  Einerseits ist Aufmerksamkeit von allen sogenannten Grundvermögen des Geistes wie Anschauen, Vorstellen, Denken, Sprechen, Erinnern, Zählen und Rechnen usf., unterschieden. Andererseits ist Aufmerksamkeit in und für alle Grundvermögen unausweichlich notwendig, um deren Akte wirklich zu realisieren. Ohne ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit sind auch die einfachsten und eingewöhntesten Handlungen und Gedanken,  Reden und Rechnungen unseres Alltagsbewußtseins unmöglich.

Wortschlaue Denker könnten daher von einem Akzidenzvermögen sprechen, denn ein Vermögen, das von allen anderen unterschieden und zugleich von ihnen untrennbar ist, könne doch nur etwas Akzidentelles an etwas Substantiellem sein. Kaum weiter – als in analoge Worte-Lösungen – scheint die Unterscheidung von primären und sekundären Vermögen, von primären und sekundären Modi des menschlichen Bewußtseins und Geistes zu führen. Denn nur in Relationen zu Anderem ist das Eigenständige vom Nichteigenständigem zu unterscheiden, und da das Andere (hier die Grundvermögen) seinerseits nur in Relationen definierbar ist, scheint dem Spiel mit willkürlichen Begriffsinhalten und -relationen Tür und Tor geöffnet. Um der Funktion Aufmerksamkeit ihre unverzichtbare Stelle im Gesamtsystem des menschlichen Geistes zuweisen zu können, muß offensichtlich auf ein apriorisches System und dessen synthetische Einheit Bezug genommen werden. Ist keine der vielen Funktionen ohne die anderen möglich, muß in diesem Organismus auch die scheinbare Nebenfunktion Aufmerksamkeit ihre Aufgabe und unverzichtbare Stelle haben.

Folglich muß auch das Fragen nach dem Was und Wie des scheinbaren Nebenbegriffs Aufmerksamkeit die Zielfrage alles Fragens nach uns selbst mitenthalten: Was ist und wie ist Geist möglich?  – ohne deshalb der Warum- und Wozufrage nahetreten zu müssen. Denn wir wissen: nur durch eine neue, nicht mehr instinktive Aufmerksamkeit wurde der letzten Primat in den ersten Menschen verwandelt.

Dies wird an vielen Bonmots ersichtlich, die über Aufmerksamkeit seit jeher in Umlauf sind. Keine dieser geistreichen Sentenzen ist kreierbar ohne ein Rückbezug auf das System der Funktionen menschlichen Geistes, das sie sowohl voraussetzen wie zugleich betätigen. Aufmerksamkeit sei nichts als die aktive Selbstbeziehung des Geistes; Aufmerksamkeit sei des Geistes Selbstmultiplikation, Aufmerksamkeit sei die Spitze seines Existierens, Aufmerksamkeit sei das Nadelöhr des Lebens, Aufmerksamkeit sei Achtsamkeit als Religion.

Oder in Analogie von Farbe: Farben sind an allen äußeren Dingen unserer Welterfahrung. Farben sind nicht ohne Dinge und deren Erfahrung durch uns, dennoch sind sie ein Eigenes, wie sich daran erweist und erfahren läßt, daß auch vorgestellte Farben existenzmöglich sind. Allerdings wäre die nur vorgestellte Farbe nicht in unseren vorstellenden Geist gelangt, wenn wir zuvor keine Farbe erblickt hätten. Blinde und Farbenblinde haben nur Surrogate von Farbe(n) als vorgestellte Vorstellung.

Und die erweiterte Analogie wäre, der Extension und Intensität von Aufmerksamkeit verschiedene Farben zuzuordnen, etwa rot für sehr aufmerksam, schwarz (weiß) für unaufmerksam, grau für flüchtig aufmerksam. Welche Zuordnung auch immer: keine ist möglich, ohne Rückbezug auf das System des Farbenkreises, der somit auch dem System des Geistes und seiner Funktionen analogisierbar ist.  Wem ganz schwarz oder weiß wird vor Angst, wer vor Wut sofort rot sieht, wer nur das Blaue am Himmel oder überall nur das Grüne sieht, dieser würde demnach akzidentelle mit substantieller Welterfahrung gleichsetzen.

 

XI. Abschluß

 

Nicht erst das bewußte Vorstellen von Vorstellungen, sondern schon das Bestreben danach, das Bestreben, „sich seiner Vorstellungen bewußt zu werden“, ist nach Kant Aufmerksamkeit. Sie teile sich in zwei Varianten oder Modi: In das Aufmerken als attentio und Absehen als abstractio. Wie bereits erörtert, sind diese beiden Modi in jeder vollzogenen Aufmerksamkeit untrennbar, denn wenn wir uns einer bestimmten Vorstellung mit Gewißheit bewußt werden oder sind, dann auch dadurch, daß wir von anderen Vorstellungen abgesehen haben. Freilich ist zuzugeben, daß im Prozeß des Bestrebens nach Aufmerksamkeit ein vagierendes Wechselspiel zwischen attentio und abstractio unvermeidlich ist, weil wir uns, da nicht instinktgebunden, früher oder später für eine Sache entscheiden müssen, die wir in den Fokus von Aufmerksamkeit nehmen sollen oder wollen.

Dabei entdeckt sich eine Voraussetzung von angestrebter und erreichter Aufmerksamkeit: Jede Vorstellung ist ein Ganzes von Teilvorstellungen. Jede sich vertiefende und erweiternde Vorstellung bemerkt unausweichlich, daß jede anfänglich einfach erscheinende Vorstellung, wenn sie der Beaufmerksamung unterzogen wird, ihren ausschließenden Schein von Einfachheit verliert.

Der Mittelpunkt eines Kreises, aufrichtig und nachhaltig beäugt, offenbart seine Relationen, sein Herkommen, seine ganze inhaltliche Definition, durch die allein davon gesprochen werden kann, daß er eine (vermeintlich) ganz einfache Vorstellung und deren äußere Realität sei.

Die Teilvorstellungen der einfachen Vorstellung Kreismittelpunkt dürften Hunderte sein, gleichwohl erblicken wir ihn mit der Gewißheit, keine Mozartkugel zu erblicken.  Dieses Phänomen – der unwillkürlichen Vereinfachung durch unmittelbare Anschauung –  führt auf die Frage, ob und wie sich Aufmerksamkeit als Gewißheit von Aufmerksamkeit als Wissen unterscheidet. Unser Bewußtsein vom Daß-Sein eines Etwas ist „einfacher“ als unser Bewußtsein der aufmerksam zergliederten Inhalte eines Etwas.

Nennen wir jene Anschauungs-Gewißheit, diese hingegen Erkenntnis-Gewißheit, wissen wir unwillkürlich, daß vom Daß-Sein zum Was-Sein ein Weg führt, der durch Aufmerksamkeit begehbar ist: Das prozeßhafte Geschehen wachsender Erkenntnis, welches unabschließbar wäre, sollten die Teilvorstellungen der ganzen Vorstellung eines Etwas unbegrenzbar viele sein. Daran läßt sich der Unterschied von Alltags- und Wissens-Bewußtsein in nuce festschreiben: Aufmerksamkeit als punktuelles Ereignis, Aufmerksamkeit als endloser Prozeß.

Weil Aufmerksamkeit ein für alle Funktionen (Tätigkeiten) des menschliches Geistes unersetzliches Mittel ist, dessen Gebrauch bis zu äußerster Virtuosität erworben und angewandt werden kann, müssen wir zwar den ersten Gebrauch in jeder Funktion von Geist erlernen, dann aber ist durch Gewöhnung und Übung das Gegenteil von Erlernen und Erwerben erreichbar: Die zweite Natur des beinahe automatisierten Könnens, dem der Gebrauch seiner Mittel unbewußt wird. Bewußte Aufmerksamkeit auf den Gebrauch seiner verinnerlichten Mittel würde den Vollzug der gewohnten Praxis sogar stören. Etwa die stupende Praxis aller „native speaker“, ein Beispiel, das für viele, vielleicht alle Funktionen und Sachinhalte des Geistes mustergültig ist. Den Koran auswendig verinnerlicht haben, gilt unter Moslems als Zeichen eines erlesenen Glaubensgehorsams.

Die Zwecke des Mittels Aufmerksamkeit, nach denen sich das Mittel wie ein Chamäleon jedesmal anders färbt, sind alle überhaupt möglichen(Tätigkeiten) des menschlichen Geistes.  In historischer Sicht auch alle vergangenen und verschollenen, in künftiger Sicht auch alle noch gar nicht konzipierten oder entdeckten. In sachinhaltlicher Sicht alle technisch-praktischen (Radfahren, Holzhacken), alle moralisch-praktischen (Unterrichten, Helfen), alle theoretisch-praktischen, (Forschen, Philosophieren und jede Art von Kunst), die sich nicht als „wertfreie“ Praxen mißverstehen sollten, weil sie sonst zu technisch-praktischen absinken, die aber in der Regel gleichfalls nicht wertlos durch „Wertfreiheit“ sind.

Sind es demnach die Zweckinhalte der Tätigkeiten, welche die jeweilige Aufmerksamkeit führen und leiten, begrenzen, begründen und normieren, dann ist dies auch der Grund für das vernünftige Faktum, daß Aufmerksamkeit niemals selbst Objekt von Aufmerksamkeit werden kann. Jede Aufmerksamkeitsübung muß stets an einem objektiven Inhalt, an einer bestimmten, von anderen klar unterschiedenen Tätigkeit vollzogen werden. Diese Zwecke und Tätigkeiten können beliebig gewählt, ihre Inhalte so geistlos und leer wir nur möglich sein, – wie  etwa die zu beäugende Nasenspitze oder der Atem eines Yogi. Ist Entleerung des Geistes der Zweck der Übung, ist auch dieser Inhalt von der Aufmerksamkeit, mit der er erreicht werden soll, unterschieden.

Insofern könnte man Aufmerksamkeit mit der grammatischen Funktion des Wortes „Und“ vergleichen. Ein Wort, das verbindet, ohne selbst durch eigenen Inhalt zu verbinden. Folglich ist es befähigt und befugt, alle überhaupt möglichen Inhalte, sofern sie in die Sprache der Worte Eingang finden, verständnisleicht zu verbinden.  Ohne dieses Zauberwort käme kaum eine Rede des Menschen zustande, nicht die trivialste, nicht die von Pathos triefende; und mag sein Gebrauch explizit oder nur implizit durch (grammatische) Stellvertreter erfolgen.

Auch mit Atem und Atmen des Organismus aller Lebewesen könnte man einen Vergleich anstellen, wenn man die Differenz zwischen den Tätigkeiten der Natur und des Geistes nicht vernachlässigt. Unser Atmen ist beinahe grenzenlos anpassungsfähig, und doch ist es mehr als die Aufmerksamkeit des Geistes ein eigenes Tun des Organismus, das daher auch wirklich selbst beaufmerksamt werden kann. Das unwillkürliche Atmen kann jederzeit in willkürliches überführt werden. Eine Transformation, die sich in Extremsituationen, auch bei Krankheiten jeder Art bis herunter zum Lampenfieber zu bewähren pflegt.

Von den Perlentauchern bis zu den Himalaya-Bergsteigern: schier unendliche Anpassungsfähigkeit und dennoch eindeutig vorgegebene Zweckinhalte. Auch jede der unzähligen körperdominierte Sportarten ist ein nicht natürlicher, ist ein kulturell gesetzter Handlungszweck. Dazu ist speziell eingeübtes Atmen  innerhalb der Grenzen des natürlichen Atmens nötig. Grenzen, die nur durch  erweiternde Maschinen wie Sauerstoff- und andere Geräte für Tieftaucher und Hochgebirgs-Bergsteiger überschreitbar sind.

Das willkürlich gesteuerte Atmen wird durch spezielle Zwecke und deren Inhalte bestimmt und normiert, das unwillkürliche hingegen immer durch den Endzweck des Organismus, als lebendiger leben zu sollen. Widrigenfalls läge eine Erkrankung des Geistes vor, etwa ein autistisches oder panisches Aufmerken auf den eigenen Atem, der jederzeit, und nicht erst am Ende des Lebens, seinen letzten Zug zu nehmen droht.

Anders als das Atmen läßt sich das Beaufmerksamen durch Aufmerksamkeit auf alles und nichts richten. Sein Strahl ist kein eigener, sondern ein geborgter; aber je besser geborgt, umso erfolgreicher seine eigentümliche Anwendung. Auch beim Nichts läßt sich nur an schwarzen Punkten und Farben und ähnlichen Analogien und Symbolen, wie der Nacht, in der alle Kühe schwarz sind, verweilen; und die Kategorie des Nichts läßt sich nicht ohne seine Negation durch die Kategorie des Seins denken.

Womit am Ende die Frage erscheint, ob nicht doch das Denken des Denkens befähigt und befugt sein könnte, die Aufmerksamkeit als sui generis mentis zu ermöglichen und zu verwirklichen. Doch erhebt sich ein unüberwindlicher Einwand: Der Inhalt der Kategorien setzt ihre Formen und deren Bewegung in unserem Denken zwar nicht ohne Aufmerksamkeit auf diese Bewegung frei, aber diese Aufmerksamkeit erzeugt nicht, was sie nur sieht und beaufmerksamt, was sie nur denkt und nicht erzeugt. Die Freiheit unseres Aufmerkens geht nicht über die Freiheit unseres Denkens in eine höhere Freiheit höheren Denkens hinaus.  Die Grenzen unserer Vernunft sind auch die Grenzen unserer Aufmerksamkeiten.

Dies läßt sich am Seelengrund des Menschen, der sich nach Tauler und Ekkehard mit Gott durch reine Aufmerksamkeit auf diesen vereinigen soll, demonstrieren. Die übervernünftige Vereinigung soll durch einen Willen des Menschen geschehen, der wisse, daß er mit Gottes Willen eins geworden ist. Doch könne er darüber in Worten nicht mehr Auskunft geben, weder sich selbst noch anderen. Eine gewisse Gewißheit über seine Ankunft und Vereinigung könne (und solle) er somit niemals behaupten. Weshalb auch jeder Mystiker mit Gewissen stets wieder betont, aus der höchsten, ohnehin nur konzipierten Vereinigung, müsse der freiwillig entwilligte Wille des Seelengrundes doch wieder zur Demut der unendlichen Annäherung und ihrer docta ignorantia zurückkehren.[12]

 

Leo Dorner, Dezember 2015

 

[1] Zur Logik der Apprehension: Die Wirkung der Synthesis des Verstandesbegriffes auf die frei vagierende Einbildungskraft, um Anschauung und Begriff zusammenführen bzw. darauf aufmerken zu können: was und wie konkret zusammenführt wird. Kant, Kritik der reinen Vernunft: „Von der Synthesis der Apprehension in der Anschauung.“  Weischedel-Ausgabe, Bd. III. S. 162 ff.

Die Sonne muß in unserem transzendentalen Verstand als dessen verstehbare Erscheinung erscheinen können. Dies ist immer schon geschehen, wenn sie als Erscheinung erscheint.

[2] „Hättest Du aufmerksam zugehört, hättest Du verstanden, was ich Dir mitgeteilt habe.“

[3]   Thomas von Aquin. Summa contra gentiles. I, 55.

[4] Seit dem 20. Jahrhundert genießt das „Jahrhundertgenie“ Albert Einstein quasireligiöse Verehrung.

[5] Malebranche, N., De la recherche de la vérité, VI, 1. Paris 1979.

[6] Kant, Anthropologie: Didaktik §3. Weischedel-Ausgabe. S.412.

[7]  Ebenda.

[8] Ebenda. S. 413

[9] Ebenda. S. 413

[10] Tiere kennen Werkzeuggebrauch, reden aber nicht über diesen und handeln auch nicht mit dessen Produkten.

[11] www. Leo Dorner/Traktate/(3) /Beobachtungen und Bemerkungen zu Immanuel Kants: „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ (1786) – Erster Teil (2015)

[12] „Aber was er [Gott] in diesen [seligen Menschen]in dem unmittelbar berührten Grund wirke, davon kann niemand sprechen, noch vermag ein Mensch dem andern davon zu sagen, sondern wer es weiß, hat es allein wahrgenommen, aber auch er vermag dir nicht davon zu sprechen.“ Johannes Tauler: Predigten, Bd. 1, S.39. Herausgegeben und übertragen von Georg Hofmann. Einsiedeln-Trier 1987.