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20 Über das Neue

I.

 

Über den Begriff des Neuen philosophisch zu reflektieren ist einerseits uninteressant, denn kaum ein Thema ist vorstellbar, das intensiver zu Sonntagsreden und Schulaufsätzen einlädt als die Beziehung von alt und neu. Nichts trivialer als über die Trivialität des Neuigkeitsbegriffes zu reflektieren, denn was sich über den „reinen“ Begriff des Neuen aussagen lässt, ist erstens nur dies, daß er nicht der des Alten ist, obwohl er nur als dessen reine Negation existiert und uns daher eine dialektische Verstandesoperation beschert, die wir zweitens auf jeden Begriffsinhalt, auf jede Realität dieser Welt anwenden können und müssen, ohne daß im reinen Begriffspaar und dessen reiner Gegensatzoperation von Alt und Neu ein Prinzip für deren zutreffende Anwendung auf die Inhalte dieser Welt, auf konkrete Neuigkeiten aufzufinden wäre. Die Operation erfolgt im Leeren, obwohl kein Patient dieser Welt ohne das Leiden von Neu-wird-Alt anzutreffen ist.

Die andere Seite der Neuigkeitsmedaille zeigt eine radikal entgegengesetzte Inschrift: nichts scheint interessanter zu sein, nichts wichtiger und wesentlicher als über Neues in concreto, über die Neuigkeiten in und aus aller Welt, die der Geschichte und des Universums inklusive, zu reflektieren, zu plaudern und zu palavern. Wir wissen: aufgrund neuer Ereignisse entstanden sogar neue Welten; und nach sogenannten entscheidenden Ereignissen war nachher „nichts mehr wie vorher.“ Die Form des Neuen scheint leer und nichtssagend, der Inhalt des Neuen scheint unerschöpflich und allessagend zu sein. Hier die Banalität einer Vokabel, ohne die wir nicht plaudern könnten, dort die Realität eines Molochs, dem sich niemand entziehen kann; hier die Trivialität eines Abstraktums, dort die Konkretion eines Monstrums: zwischen Trivialität und Außergewöhnlichkeit, zwischen Mittelmäßigkeit und Erhabenheit oszillierend: wer über das Neue zu reflektieren beginnt, beginnt sogleich über das Reflektieren zu reflektieren.

Und dies scheint gut zu sein, obwohl das Gegenteil noch besser zu sein scheint: gäbe es nichts Neues mehr unter der Sonne, nichts mehr worüber zu reflektieren sich lohnte, könnten wir uns zur Ruhe immerwährender Gelassenheit und immergleicher Unveränderlichkeit niederlassen. Eine Niederlassung in einem zeitlosen Arkanum, dessen Form (Reflexion) und dessen  Sein (Inhalt) uns weder aktiv noch passiv machen könnte, denn für immer hätten wir das Nomadentum unserer rastlos suchenden und findenden Gedanken, unserer deutenden und beschwörenden Reflexionen über alle Welt und ebenso unserer evolutionären und revolutionären Handlungen in aller Welt hinter uns gelassen. Wir hätten die Welt der Neuigkeiten durchschaut als nichtiges Treiben ohne Sinn und Ziel, ohne Halt und Grund.

Um diese Alternative – ein neuer Weg ins Paradies – geschichtlich zu reformulieren: wir hätten uns als antike Menschen niemals von einer völlig Neuen Zeit, einer möglichen Endzeit und ihrer ganz anderen – sei es gnostischen, sei es eschatologischen – Weltzeit beeindrucken und verführen lassen. Denn dieses neue Novum war der antiken Welt fremd und unzugänglich; „ebenso“ wie der vormodernen christlich-jüdischen Welt, die der Schöpfung höchstens sechstausend Jahre gönnte, wiederum die Weltzeit der Evolution, somit einer wissenschaftlich offenbarten Weltzeit, fremd und unzugänglich war.

Es ist nicht verwunderlich, daß der homo modernus, der weder in die gute alte Antike noch in die gute alte Bibelzeit zurückkehren kann, in keiner Ewigkeit mehr Platz nehmen, in keiner Unveränderlichkeit mehr Halt und Ruhe gewinnen kann. Daher seine Manie, gegen den Begriff des Neuen so lange mit reflektierendem Kopf anzurennen, bis dessen undurchdringliche Leere das Geheimnis der modernen Welt, ihr rastloses Unterwegs in ein Immer-Neues, preisgeben möge.

 

II.

 

Wäre ein Denken, wäre eine Sprache möglich, die keine Hinweise enthielten, daß Neues in der Welt geschieht? Ein Denken und eine Sprache, aus deren Worten und Begriffen alle beseitigt wären, die das Neue in allen seinen Arten und Facetten auszudrücken pflegen? Man könnte nicht denken und nicht aussprechen, daß Neues geschieht, weder Anfangen noch Erneuern, weder Entdecken noch Erfinden. In unserer Sprache und unserem Denken käme das Neue nicht mehr vor, erschienen Neuigkeiten nicht mehr: erschienen sie auch in Welt und Wirklichkeit nicht mehr?

Könnten nicht archaische Kulturen existiert haben, deren Stammesgesellschaften das Neue unbekannt bleiben musste, weil sie noch die überraschendsten und unbekanntesten Erscheinungen – der Natur, der Kultur – stets nur als Wiederholung eines identisch bleibenden Grund- und Urgeschehens erfahren konnten? Einer Wiederholung, die zwar unendlich variiert, als vielfältigste Variation erschien, die aber doch immer nur Variation, niemals ein neues Thema der sich stets treu bleibenden und identisch handelnden Götter und Geister war. Neues, Niegewesenes konnte nicht sein und werden, weil alles, was wurde, schon gewesen war, alles, was geschah und noch geschehen sollte, auch schon geschehen war.

Nicht weil sie willentlich und absichtlich für das Neue keine Worte und Begriffe hätten eingeführt, sondern weil sich die Fähigkeit, Neues zu erfahren und zu erzeugen, zu erkennen und zu benennen, bei ihnen noch nicht eingeführt hätte, wäre ihnen unmöglich gewesen, Neues in der Wirklichkeit wahrzunehmen und in Wort und Begriff zu erfassen. Ihr Mythos, ihr Weltbild, ihre Art, Welt und Leben zu erfahren, hätten ihnen, nicht erlaubt, sondern unvordenklich aufgezwungen, gegen jeden Augenschein von Novität, auch bei Erfindung neuer Werkzeuge, diese als Wiederholung und Variation eines schon Gewesenen und Vorhandenen zu deuten, – nicht nur zu deuten, sondern unmittelbar zu erleben. Ist der Weisheitsspruch vom „Nichts Neues unter der Sonne“ eine Restruine dieser verschollenen Bewußtseinsart?

Das genaue Gegenteil scheint für unser modernes Bewußtsein zu gelten: alles neu macht nicht mehr nur der Mai, sondern jeder Augenblick dieser Welt, jede Sekunde, jede Millisekunde.  Da sich kein Teilchen dieser Welt in Ruhe und unveränderter Position befindet, gilt für unser wissenschaftliches Weltbild die antimythische Gegenthese: Nichts Altes unter der Sonne, wovon schon Heraklit zu wissen schien, als er den Griechen zu erzählen versuchte, nicht zweimal steige man in denselben Fluß.

Eine permanente Kaskade von Novitäten, die zu benennen unsere Sprache unfähig, die zu begreifen unsere Begriffe unvermögend seien. Und auch im Reich unserer Erfahrung von Kultur: stets anders und neu erfährt der offene Geist von heute seine Welt, denn jedes Ding und jede Erfahrung trägt eine Myriade Perspektiven und Eigenschaften in sich, deren Totalität kein Menschenleben jemals zu Ende erleben kann. Eigentlich bedürfe jeder Augenblick einer eigenen Sprache, eines eigenen Denkens.

 

III.

 

Unsere wie wohl jede Sprache ermöglicht viele Sprach(wort)spiele, um wesentliche von unwesentlicher Neuheit, ein Novum von einer Novität, ein Neues von einer Neuigkeit, eine Neuartigkeit von News zu unterscheiden. An einem mehr oder weniger identischen Laut- und Buchstabenbestand wird an der Gleichheit verwandter Wortausdrücke eine Ungleichheit der verglichenen Wortinhalte und somit ein radikal ungleicher Sinninhalt festgestellt und ausgedrückt. Eine keineswegs spielerische Operation, die uns mitteilen will, daß zwar in der Sprache alles als nah-verwandt dargestellt werden kann, in der Realität jedoch ein Abgrund noch das Verwandteste trennt. Wir wären verloren ohne diese Kraft unseres Denkens und Sprechens, wesentlich von unwesentlich, Sein von Schein, beliebig von notwendig, richtig von falsch, wahr von unwahr unterscheiden zu können.

Die Unwesentlichkeit von Neuigkeiten erweist sich an deren Austausch- und Ersetzbarkeit, während die Wesentlichkeit eines Novums, das in seinem ersten Auftreten zwar gleichfalls in der Form einer Neuigkeit muß erscheinen und berichtet werden, sich durch seinen Inhalt als unersetzbar und unaustauschbar erweist: mehr als nur „nachhaltig“, weil die Wahrheits- und Realitätsfähigkeit des Novums eine neue (Teil)Wirklichkeit begründet und erhält. Dennoch ist ein Bewußtsein möglich und in der modernen Medien- und Unterhaltungswelt sogar weit verbreitet, in dem lediglich Neuigkeiten als „nachhaltige Ereignisse“ gespeichert und erinnert, bedacht und besprochen, tradiert und aufbewahrt werden.

Ein Bewußtsein, dessen Gedächtnis als endlose Newsletterschlange beschrieben werden könnte. Und wie diesem Dämon zu entkommen wäre, ist eine fragwürdige Frage, weil die moderne arbeits- und kulturteilige Welt mit jeder (neuen) Sonderwelt eine fesselnde Neuigkeitswelt zugleich mithervorbringt. Weil daher viele Neuigkeiten vieler Sonderwelten keineswegs nur dazu dienen, uns zu unterhalten, sondern uns (beruflich und kollektivierend) zu informieren, sind in der modernen Welt alle Übergänge zwischen News und Neuartigkeit und sogar zwischen Unterhaltung und Wissen fließend und unkontrollierbar geworden.

Das Allerweltswort „Information“ (auch Infotainment) enthält beides, ohne daß man in den meisten Fällen die Grenze angeben könnte, wo das Eine beginnt und das Andere aufhört. Daher hat auch der sich an Neuigkeiten nur um seiner Unterhaltung willen Delektierende das Gefühl, an einer Sache beteiligt zu sein, an der sich viele beteiligen, nicht um sich zu unterhalten, sondern um mit dabei zu sein. (Die Schlinge der Schlange ist nachhaltig fesselnd.)

Wie kann man unter den medial-technologisch radikalisierten und gigantisch erweiterten Möglichkeiten einer hypermoderne Moderne nochmals versuchen, der Abstraktheit und Beliebtheit des „Neuen“ differenziert zu Leibe zu rücken, – modernistisch formuliert: „kritisch gegenüberzustehen“?

 

IV.

 

Ist das Neue eine Fiktion oder die eigentliche Realität von Welt? Ist das Buch der Welt in stets neuen Namen geschrieben, oder ist jeder scheinbar neue Name nur die Varietät eines schon gewesenen, sei es geschichtlich, sei es apriorisch präexistierenden Namens? Für das längst noch nicht hinter uns liegende Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen sind Atombombe und Französische Revolution, Penicillin und Flugzeug ohne Zweifel empirische Beweise dafür, daß bislang unerkannt und unbekannt Neues in die Welt eingetreten ist und fortwährend eintritt. Also scheint es ein Leichtes zu sein, einen ebenso unbezweifelbaren Begriff des Neuen aufzufinden, an dem alle empirischen Beweise für die Existenz des Neuen, die doch noch einem Schein-Begriff „aufsitzen“ könnten, ihr apriorisches Fundament hätten.

A: Und das Neue wäre? – B: Nicht das Alte, versteht sich. – C: Und was wissen wir, wenn wir wissen, daß das Neue das Nicht-Alte, und das Alte, wie ich vermute, das Nicht(mehr)Neue ist? – A: Eigentlich nichts; oder nur soviel, wie wir in der Mathematik wissen, wenn wir wissen, daß Plus nicht Minus, Minus nicht Plus, und Mehr mehr als Weniger, Weniger weniger als Mehr ist. – B: Und doch wäre Algebra unmöglich, gäbe es diese Operation unseres Verstandes nicht und folgte ihr nicht die ganze Welt. – C: Ebenso wäre das Erkennen und Benennen der Welt und womöglich auch unser Handeln in ihr unmöglich, verfügte unser Denken und Sprechen nicht über die Grundoperation der gegenseitigen Negation von Alt und Neu.  – A: Ist unser Gespräch über das Wesen des Neuen damit zu Ende? – B: Es scheint so. – C: Es ist so. – A: Dann „Gute Nacht“ ihr Philosophenfreunde.

 

V.

 

Obwohl die griechische Philosophie das Neue nicht ausdrücklich thematisierte, kannte die griechische Sprache den Unterschied von News und Neuartigkeit. Das Neue der Zeit (neos) wird vom Neuen der Art und Qualität (kainos) unterschieden, und obwohl jedes Neuartige als Neuheit (in) der Zeit erscheinen muß, erscheint es nicht durch eine zeitliche Generierung. Nicht eine Zeitmaschine, nicht ein Zeitgott bringt neue Dinge, neue Gesetze, neue Taten und Erkenntnisse in die Welt, sondern allein die Art und Qualität der sich wandelnden Realitäten selbst.

Abstrahieren wir daher von dieser Rücksicht auf die Realität, verharren wir in quasiritueller Reflexion auf die Zeit und deren Neos, dann haben wir das moderne Neue, sofern es eine Gattung für alles Neue der Realität, das Modernitätsprinzip als metaphysisch schaffendes Zeitprinzip sein soll, bereits dechiffriert. Der Chronos als Vater aller Dinge, der auch noch seine Kinder verzehrt, ist die mythische Ursprungsvorstellung, die der modernen Säkularvorstellung einer andauernd sich überbietenden Moderne zugrunde liegt.

Ideologie sind beide, weil sie einen Innovationsmechanismus unterstellen, der nicht „auf Dauer“ existieren kann, und dies beweist im Fall der säkularen modernen Zeitmaschine deren „Fähigkeit“, mit der Kausalmechanik des Evolutionismus scheinbar unproblematische Synthesen eingehen zu können, die zu einem „evolutionären Weltbild“ führen, in dem das Neue des je späteren Augenblicks das Neue des je früheren Augenblicks, somit jedoch auch aller künftigen Augenblicke, alt aussehen lässt.

Neue Arten können für den Darwinismus jeder Spielart nur durch lückenlose Dauervariation einer Anfangsrealität, sei es einer Urbakterie, sei es einer vorangegangen anorganischen Materie – Ursuppe – entstehen. Das Neue entstehe „von unten“ durch Neu-Zusammensetzung der primären Elemente, jedoch unter den jeweiligen äußeren Existenzbedingungen, die von außen auf die inneren Elemente als innere Bedingungen der evolutionären Veränderung verändernd einwirken.

Und jeder antike Grieche, von Philosophie schon verdorben, hätte angesichts dieser synthetischen Erklärung der Weltneuheiten sogleich gefragt, inwiefern hier von Neuheit gesprochen wird: bloß im Sinne von News oder doch schon im Sinne von Neuartigkeit?

Zwar ist kein News, obwohl als Zeitneuheit definiert, gänzlich ohne Inhaltsneuheit möglich, aber der Inhalt moderner News ist mehr als oft nicht von der Art, die man als Neuartigkeit ansprechen möchte. Ob sich der Star X vom Star Y scheiden lässt oder nicht, ob die Mannschaft A oder B das nächste Spiel gewinnen wird, ist zwar nicht inhaltsbeliebig, doch von so exorbitant austauschbarem Inhalt, daß an dieser Tauschbörse der Neuigkeiten auf fiktive Aktien, auf fiktive Realitäten und Neuheiten gesetzt wird, die längst auch ein ganzes Genre des modernen Unterhaltungsmarktes: Regenbogenpresse, massenmedial multiplizierbar, industriell beschäftigen.

Angesichts dieser Bildungskatastrophe der modernen Kultur, die aus fiktiven reale Bedürfnisse, aus fiktivem wirkliches Wissen macht, möchte man sogar bitten und betteln um die Möglichkeit von rein zeitlichen News, denn diese erfüllten uns nicht mehr mit Scheininhalt und Scheinreflexion. Sie ermöglichten, mit Absicht und Bewußtsein von jeglichem Inhalt von Welt zu abstrahieren, um in einem entleerten Ich den Anfang eines neuen Lebens, einer neuen Welt zu gewinnen. Statt dem Unwesen von Neugierde anheimzufallen, würde das Wesen und die Kraft zu realer Neugewinnung zurückgewonnen.

 

VI.

 

Niemals wäre es den Griechen in den Sinn gekommen, die Geschichte selbst, als (nicht zyklisch) fortschreitende Einheit widerstreitender Weltmächte, zur Grundlage einer Philosophie – etwa von Geschichtsphilosophie zu machen. Noch in später hellenistischer Zeit schien für alle Zeiten feststehend, daß der antike Kosmos nicht untergehen könne, daß lediglich die führenden Mächte ihre Führungspositionen austauschen würden. Noch der späteste Hellenismus in Athen zehrte von einer Rückkehrmöglichkeit in die Zeit vor den Makedonen und Römern, – denn wie sonst sollte es weitergehen können mit der Wiege und Heimstätte der Götter?

Man könnte daher überspitzt formulieren, daß das Neue der Realität namens Geschichte für das antike Denken noch nicht interessant genug war, weil das Interessante damaliger Geschichtsprozesse noch nicht interessant genug war. Der idealisierende Vorgriff Platons in Syrakus war zwar interessant, aber er war auch nur interessant und ging nicht zufällig an der Realität der Geschichte vorbei und zugrunde.

Als nun eine neue Religion im Gefolge der jüdischen in die Welt kam, die eine End- und Heilszeit in oder über oder nach dieser Weltzeit verkündete, hatten selbstverständlich auch die ersten Konzile ihre Probleme, dieser neuen Logik von Welt und Zeit mit den angestammten Mitteln griechischer Philosophie gerecht zu werden. Denn ein „ganz Neues“ konnte nur durch ein „ganz neues Denken“ gedacht werden, durch eine neue Philosophie, deren sich die Theologie jener Epoche noch nicht bedienen konnte. Wie sollte der in die Welt getretene und Mensch gewordene Logos mit diesem eins und nichteins zugleich sein können? Ein Gedanke, der dem Gesetz vom unhintergehbaren Widerspruch zu widersprechen schien.

 

VII.

 

Nach gängiger Lehre ist die Neuzeit die säkularisierte Endzeit des vormodernen Weltbegriffes, des dezidiert jüdisch-christlichen; das ganz Neue ist nicht als Ende der Welt gekommen, es ist als Neue Zeit gekommen, die der Alten Zeit des Mittelalters ein Ende bereitete. Doch jüdische Apokalypse und christliche Eschatologie scheinen nochmals kollabieren zu müssen, wenn eine Moderne Zeit als dezidierte Überbietung der Neuen Zeit diese wiederum als Alte Zeit verabschiedet und im Bild oder Begriff einer Evolutionszeit, die eine (schier) unendliche Vor-Zeit und (schier) unendliche Nach-Zeit (mit der verschwindenden Mitte Gegenwarts-Zeit) in Ein- und Aussicht stellt, von der vor kurzem noch niemand – kein Mensch dieser Erde –  etwas zu ahnen beliebte.

Jetzt erst wird das (Welt)Neue interessant, weil es an eine Grenze stößt, mit der es nicht gerechnet hat, nicht rechnen konnte oder wollte. Indem sich sein Begriff, der als formaler keiner ist, weil ihm keine eigene Realität entspricht, jedoch als Weltbegriff in jede Realität als deren scheinbar primäre Eigenschaft, deren scheinbar primäres Prinzip, deren scheinbar ureigentlicher „Antriebsmotor“ einpflanzt, ist die Innovationsfähigkeit aller Dinge dieser Welt, Menschen eingeschlossen, nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt der Begierde alles Wissens und Handelns: ein Mensch, der sich und seine Welt neu erschaffen, zumindest neu erweitern möchte, um auch noch den letzten Resten religiöser Vollendungsvorstellungen den Garaus zu bereiten.

Aber die Gefahr und reale Möglichkeit, daß er die Welt und sich selbst nicht erweitern, sondern insgeheim vernichten möchte und könnte, kann jedenfalls nicht durch Innovationsargumente moderner Wissenschaft ausgeschlossen werden. Das schrecklichste Szenario: die moderne Welt, sich selbst überbietend, steuere auf eine hypermoderne Welt zu, die sich absolut neu erfinden und erschaffen, aber ebenso und eben dadurch absolut vernichten könnte, – möge dieser Konjunktiv seinen Indikativ niemals finden. Innerweltliche End-Schreckensszenarien sind die Geschwister ihrer innerweltlichen End-Hoffnungserweckungen.

 

VIII.

 

Harmloser scheinen die Gefahren zu sein, die eine hypermoderne Welt ihrer Kultur ermöglichen oder antun, also gleichfalls: entweder erweitern oder (dadurch) vernichten wird. Denn die Vernichtung hat als „kulturelle“ nur partiale Macht und Gewalt, die freilich, weil das Leben der Menschen unmittelbar durchdringend, von kaum geringerem Gewicht ist als jenes hypothetisch erwogene Welt-Ende-Szenarium. Gemeint ist ein Prozeß, auf den schon Georg Simmel am Beginn des 20. Jahrhunderts hingewiesen hat: die objektive Kultur habe die Kultur eines Subjektes eben dieser objektiv explodierenden Kultur unmöglich gemacht. Der Reichtum ist zu groß, als daß man ihn noch leben und überleben könnte.

Die These, daß die Machbarkeitspotentiale der Moderne gegenüber jenen der Neuzeit um den Faktor ‚gigantisch’ angestiegen sind, dürfte wenig Widerspruch erregen. Ist die Neuzeit neu durch Transzendierung des Mittelalters, ohne doch viele von deren Inhalten und Inhaltsträgern (Monarchie und Kirche, Adel und Stände) gänzlich zu verabschieden, so ist die Moderne als Transzendierung der Neuzeit, wie nicht nur die beiden politischen Großideologien bewiesen haben, auch noch, um es formell auszudrücken, als neuerliche Transzendierung einer historischen Transzendierung möglich, ein Selbstüberbietungsszenario, das dem vergleichsweise langsam sich bewegenden und differenzierenden vormodernen Kulturgeschehen, in dem sogar die Illusion von Renaissancen der Antike aus Gründen schlauer Tabuumgehung möglich waren, noch unzugänglich sein musste.

Ist das Veralten des Neuen in der Vormoderne gleichsam gemächlich, Generationen und ohnehin Stände tragend und verbindend, ist es in der Moderne bereits rasend und unübersehbar dispergierend. Ist die Neuzeit innovierend an einem Anderen – den geschichtlichen Mächten und der äußeren Welt – ist die Moderne modern an sich selbst, neu durch und an ihr selbst, ein Phönix seiner Asche gleichsam, und dies bedingt ein Neues, das stets und stetig wieder alt wird, atemlos sich verjüngt, atemlos abstirbt. Kaum ein Feld moderner Kultur und Gesellschaft, in dem das auf Dauer gestellte Modernisieren nicht Plan und Soll ist. (Das Wort eines sich ewig verjüngenden Prinzips „Moderne“ dürfte nicht zufällig mit dem von „Mode“ verwandt sein.)

Die Kehrseite eines auf Dauer gestellten Modernisierens ist ein auf Dauer gestelltes Musealisieren. Eine Selbstteilung des Modernisierungsmechanismus, der in aktueller Kulturmoderne dazu führt, daß sich das Neue gleichsam in zwei Richtungswerte spaltet: Ein Novitätenstrahl streift in die Zukunft, um das Noch-nicht-Gewesene zu realisieren, der gegenläufige Novitätenstrahl streift in die Vergangenheit, um an den gigantischen und täglich anwachsenden Arsenalen des Alten gleichfalls eine neue Praxis oder Theorie, eine neue Revitalisierung oder Deutung des Gewesenen zu realisieren.

Dies führt selbstverständlich zu einer völlig anderen Traditionsbildung als in aller Vormoderne, zu einer Traditionsbildung, die von ihrem Gegenteil kaum zu unterscheiden ist, weil sie keinerlei Konventionen, Normen, Kanons anerkennen kann. Je breiter das Angebot, desto freier der Zugang, je freier der Zugang, desto breiter das Angebot. Traditionszerfall wird Tradition, an die Stelle fortschreitender Novität tritt ein nach Marketingstrategien verfahrendes Marktgeschehen vieler großer und kleiner Kulturmärkte, die entweder siegen oder unterliegen, entweder herrschen oder dienen. Und neben die Versammlungsorte von Schule und Kirche, Universität und (vormediale) Öffentlichkeit, Museum und Konzert- wie Operntempel, Berufs- und Freiheitswelt tritt das Internet, in dem Angebot und Zugang sich gegenseitig multiplizieren, um eine Endlosschleife zu eröffnen, der alles und nichts in neuer permeabler Form einschreibbar ist, was bisher unmöglich war einzuschreiben und einzubilden.

In dieser Situation steigt nicht zufällig die Aktie der Natur und des Naturschönen um einen schier unendlichen Wert, verspricht sie doch die Möglichkeit eines Ausstieges aus der Moderne in eine Anti-Moderne, die sich als ewige um einen ewigen Bestand zu versammeln scheint. (Rousseaus Traum scheint immerfort revitalisierbar.)

Es ist die Natur, die große und weite und befreiende, es ist die Erd-Natur und die astronomisch-kosmologisch erschlossene Universums-Natur, an welchen der (ewignatürliche) Anti-Modernist, wohl nicht nur ein Nebenprodukt von Neuzeit und Moderne, den Grund und die Frucht seiner Ewigkeits-Religion anschaut und lebt. (Nicht mehr eine ewige Menschennatur, weil der durch Evolution Mensch gewordene Menschenaffe, eine Rückkehr in eine ewige und zugleich natürliche – kulturfreie –  Identität des Menschen unmöglich gemacht hat.)

Und auch dieser (Anti)Modernist stößt an eine Grenze, die er nicht als homo modernus, nicht aus wissenschaftlichen Gründen und Ursachen überwinden kann: einerseits ist die Natur, die der als ewig setzt, nicht ewig, sondern von vor-vorgestern, von extremer Altheit und Herkunftsentwicklung; andererseits erzwingen nicht nur die zeitlichen Dimensionen dieser Altheit die Frage, ob Natur und Welt sich lediglich einer Selbstorganisation von Natur und Welt verdanken können. Das Theorem vom Urknall stellt nur die Frage des Anfangs, beantwortet sie nicht; der Menschenaffe ist nur die unbedingte Bedingung der Existenz von Mensch und Menschheit, nicht deren unbedingter Grund und Ursprung.

 

IX.

 

Das Junktim zwischen Neuartigkeit und News, die Notwendigkeit, daß jedes (sach)neuartige Neue in der Zeit erscheinen muß, weil es ohne diesen seinen Zeitindex nicht erscheinen kann, führt, wenn schlechthin verallgemeinert, in die Aporie einer wissenschaftlichen Unerklärbarkeit des Weltanfangs. Denn der Zeitindex kann nicht für einen Anfang von Welt geltend gemacht werden, der nach dem Modell von „Urknall“ angefangen haben soll, weil und wenn mit diesem Anfang allererst auch die Zeit soll angefangen haben. Das (halb)lustige Bonmot von Volker Gerhardt, der „Urknall muß zu seiner Zeit die absolute Novität gewesen sein“, er müsse demnach vorzeitlich und zeitlich zugleich gewesen sein, führt in die aporetische Vorstellung eines ältesten Ursprungsereignisses, das zugleich kein ältestes und kein Ursprungsereignis gewesen sein konnte.[1] Was aus einer Vor-Zeit (und dennoch in der Zeit) entstanden sein soll, dem kann kein Zeitindex als Wert seiner (Erst)Neuartigkeit verpasst werden.

Dieselbe Aporie erscheint bei der Vorstellung eines Endes dieser Welt, das den Anfang einer neuen Welt, mit neuer Materie und deren neuen Formen bedingte und hervorbrächte. Der eschatologische Anfang setzt das Ende der Endzeit dieser Welt voraus, also auch das von Zeit, somit den Beginn einer neuen, die aber – als gänzlich neue – keine Zeit mehr sein könnte. Am Anfang dieser und am Anfang jener Welt steht somit eine Neuartigkeit, die nicht als News Wirklichkeit werden kann. Eine Merkwürdigkeit, die unvermittelt zur Nachdenklichkeit führt.

Wäre die Neue Welt jenseits dieser Welt vom Standpunkt dieser Welt noch oder schon erkennbar, hätte sie mit der Alten Welt wenigstens die gemeinsame Erkennbarkeit gemeinsam. Die eschatologische Neuheit ist ausdrücklich gedacht als jener Grenzbegriff einer „Neuen Erde“, der als Gericht und Belohnung dieser Erde zuteil werden soll. Der Gedanke eines Neu-Anfanges im Sinne eines Total-Abbruches der aktuellen Welt-Entwicklung ist ein Ungedanke. Er setzt voraus, daß Geist als Geist in völliger Neuheit existieren könnte und sollte. Die neue Welt, der neue Geist wären so neu, daß nicht einmal deren Ankunft könnte angekündigt werden.

Der Ungedanke setzt die „gänzlich neue Welt“, mit neuer Materie und neuer Form sowie neuer Inhaltseinheit beider, unabhängig von der Art und Weise eines Betrachters, obwohl nur unter der Voraussetzung eines göttlichen Betrachters und Schöpfers die Setzung des eschatologischen Grenzbegriffes überhaupt Sinn macht. Das göttliche Auge muß alle seine Welten – die ältesten wie die neuesten – als seine setzen und erkennen. Schon von daher gilt, daß jede neue Welt, ohnehin eine „gänzlich neue Welt“, niemals nur das Produkt der vorangegangenen bzw. gegenwärtigen Welt sein kann. Ein außerweltlicher Eingriff ist als unbedingte Grundbedingung der Möglichkeit innerweltlicher Nova, die Wahrheit und Freiheit mit sich führen, vorauszusetzen, obwohl und weil wir auch vom eschatologischen Grenzbegriff immer nur das Hinterteil erblicken.

Nur Gott kann dafür zuständig und dazu fähig sein, eine gänzlich neue Welt zu erschaffen, und weil innergeschichtlich keine Generation, keine Epoche, keine Kultur über die Gesamtfreiheit der Geschichte, gar über jene der Zukunft verfügt, ist auch das innergeschichtliche Schaffen neuer Generationen, Epochen und Kulturen keine nur menschheitliche Aufgabe und Arbeit.

Daraus folgt für den Anfang dieser Welt, daß deren creatio ex nihil diese Welt als absolutes Novum aussagt, nicht als Produkt vorheriger, gar unendlich vieler vorheriger Welten und auch nicht als Selbstprodukt einer ewig präexistenten Welt, welcher Selbstwiderspruch nur den Ungedanken der Aporie reproduziert. Und dieses Prädikat, absolutes Novum zu sein, bleibt ihr auch dann, wenn sie als Produkt der creatio in eine schier unendlich währende creatio continua aufgehoben wird. Die Creatio als Ursprung bleibt die nicht nur begleitende Ursprungskategorie dieser aus absoluter Freiheit geschaffenen und gehaltenen Welt.

 

X.

 

An diese Extreme von Novum, die zu inhaltlich unaussagbaren Grenzbegriffen führen, (was war vor, was ist nach dieser Welt?) schließen sich die innerweltlichen und scheinbar harmlosen Novum-Begriffe an, die vertrauten Extreme von evolutionärem Novum einerseits und revolutionärem Novum andererseits. Traditionell formuliert: es gibt nur Allmählichkeit in der Welt, keinen Sprung; dagegen: es gibt Allmählichkeit, aber auch den Sprung; dieser setzt jene voraus, und jene setzt auch diesen voraus – als Ziel und Ende ihrer Prozedur, denn ohne dieses Ziel wäre die Allmählichkeit von jeglichem Etwas nichts als endlose Veränderung, ein wirklich Neues könnte nicht werden und hätte niemals werden können, ein neuer Anfang eines Neuen wäre unmöglich, stets nur hätte sich ein Anfangs-Altes variiert.

Wäre das evolutionäre Novum das einzige in der Welt, würde es mit dem der News zusammenfallen, denn was diese „auszeichnet“, die zugelassene Zufälligkeit und Relativität des Inhalts, fehlt der evolutionären Allmählichkeit zwar, die strikt an der Knotenlinie ihrer inneren Notwendigkeit weiterkriecht; doch eben diese, da nicht allein in der Welt und somit durch andere Weltinhalte bedingt und bedrängt, muß doch wieder auf Relativität, und – wie die Evolutionstheorie zeigt – auf noch „ärgere“ Zufälligkeit zurückgeführt werden. Kein Wesen dieser Welt kann sich zu seiner Entwicklung zugleich total bedingen und unbedingt bestimmen.

Da nun in beiden Fällen, im evolutionären wie im revolutionären, das Neue als das (Noch-)Nicht-Gewesene mit dem Schon-Gewesenen zusammenhängen muß, wenn es aus diesem – allmählich oder springend oder beiderseitig – hervorgeht, ist die Frage nach der Möglichkeit dieses Hervorgehens oder- springens die Frage aller Fragen. Wie ist es möglich, daß sich eine vorhandene Welt so stellt und so prozessiert, daß sie sich nicht mehr (nur) reproduziert, sondern ein Novum produziert, von dem sie sich als Antiquum abhebt?

Wäre auf diese allgemein gestellte Frage eine allgemeine Antwort möglich, wäre der Begriff der angefragten Welt(re)produktion einer und nur einer; er wäre ein nur allgemeiner; nun sind aber viele Sonderwelten und folglich viele Welt(re)produktionen in der Gesamt(re)produktion von Welt möglich und wirklich, woraus ersichtlich, daß der Weltbegriff nicht als allgemeiner, sondern stets zugleich („nur“) als spezifischer und individueller existiert: sich positioniert und prozessiert.

Die Frage lautet daher richtig und konkret gestellt: wie ist eine bestimmt vorhandene Welt gestellt und prozessierend, daß sie sich nicht mehr (nur) reproduziert, sondern ein Novum produziert, von dem sie sich als Antiquum abhebt? Und woran haben wir die Gewissheit, daß dieses – Evolution – oder jenes – Revolution – oder auch die Negation von beidem: Stagnation (Verharren) und sogar Umkehr (Rückschritt) geschieht? Und bei diesem Fragespiel ist die Frage, ob die angefragten Neuerungen auch geschehen sollen und sogar müssen, scheinbar noch gar nicht mitgedacht. Als wäre das Neue und Erneuern ein Spiel, das in dieser Welt sein oder auch nicht sein könnte.

Da für den Allmählichkeitsstandpunkt nur die stille und langsame Evolution von jeglichem Etwas möglich und wirklich ist, kennt dieser auch nur diese Art von „Revolution“: die stille und unbemerkbare, – der allgemeinen Langeweile wird keine spezifizierende Kurzweil gegönnt. Und insofern nun ein Neues doch immer wieder zu erscheinen scheint an der Kette der unmerklich langsam fortkriechenden Allmählichkeit, muß der Schein solcher unerhörten und ungesehenen Novität destruiert werden, muß also die sichtbare Novität auf einen betrügenden Schein, auf einen täuschenden Trick, auf eine (unwissenschaftliche) fata morgana der Erscheinungen und ihrer zugehörigen Sinnesapparatur des Menschen zurückgeführt werden. Denn nur auf diesem methodischen Weg kann die Allmählichkeit und deren Mechanik oder Organik (eine aggregatisch ansetzende oder organisch angliedernde Prozedur) als letzter Grund und Beweisgrund für das, was möglich und wirklich ist, festgehalten werden. Nicht ein Neues wurde gesichtet, sondern nur eine weitere Variation, Mutation und Selektion eines Alten: Maus und Mensch trennen lediglich fünf Prozent unterscheidbaren Genmaterials.

 

XI.

 

Da sich die Patrone der immer nur allmählichen Welterneuerung nicht von ihrer Langeweile erlösen lassen, umgekehrt die nach permanenter Kurzweiligkeit suchenden Pubertrone und Innovatoren permanenter (Welt)Revolution gleichfalls nicht, muß man diese Extremisten ihres Glückes ihrem Unglück überlassen.

Bildlich gesprochen: es gibt nur zwei Arten von Revolution: die stille (evolutionäre) und die laute (wirklich revolutionäre); jene geschieht immer und bleibt zumeist unbemerkt; diese ereignet sich selten und unter Qualen und erregt mehr als nur die Aufmerksamkeit der weiten Welt.

Und natürlich ist es auffällig und nicht zufällig, daß ein antiquiertes Fremdwort, das wortsinngemäß Umwälzung meint (revolutio), uns dazu dienen muß, das Gegenteil auszudrücken. Die Sprachen der Alten Welt (Europa) haben noch kein adäquates (neues) Wort gefunden für das, was mit ihnen und ihrer Welt sei 1789 geschah. Als wollten sie sagen: Wir stehen noch unter Schock, und: Es möge nicht so laut zugehen in dieser Welt. Könnte man von ihren Blähungen und Gärungen, von ihren Katastrophen und Umwälzungen nicht verschont bleiben?

Gegen den formalen Unterschied von Evolutionieren und Revolutionieren – Allmählichkeit versus Sprung – steht der inhaltliche: es gibt es so viele Arten von Revolution wie es verschiedene Inhalte von Welt gibt, und noch die höchste Realität für diese Welt fungierte revolutionär: durch Offenbarungen, die als Erstsetzungen (Welt)Religionen begründeten.

Die Durchdringung von Inhalt und Form bedeutet formell: kein Inhalt dieser Welt, der sich nicht fortwährend in stiller Revolution, in unbemerkter Veränderung befände; aber ebenso: keiner, der nicht hin und wieder durch eine laut explodierende Revolution auffällig würde.

Kann es einen perennierenderen Anblick geben als den eines Gebirges? Prächtige Häupter erheben sich seit Millionen Jahren, und noch etliche solcher Jahre werden sie verharren in scheinbarer Unveränderlichkeit, als geschähe weder Bewegung noch Veränderung. Und doch wissen wir: jene großen Revolutionen, die ihr Verschwinden durchführen werden, werden schon heute, von jetzt zu jetzt, von Augenblick zu Augenblick, vorbereitet. Es wird ein Neues sein, und sie werden nimmer sein, sei es, weil ein neues Gebirge oder sei es, weil kein Gebirge mehr den verflossenen Ort ihrer Position und Prozedur wird eingenommen haben, – und dies ist in gewissen Umrissen schon heute erahn- und prognostizierbar.

Gibt es ein perennierenderes Kulturprogramm als das der religiösen Rituale, Gebete und Gesänge? Und doch drückt der Psalmensatz: „Singet dem Herrn ein neues Lied“ zugleich die entgegengesetzte Möglichkeit aus: ein wirklich neues Lied könnte gemeint sein, nicht ein (altes) Lied des stehenden (Psalm)Repertoires, sondern ein wirklich neues, ein bislang noch nicht religiös gesetztes, vielleicht ein Pop- oder Rocklied, mit neuem Text und Bekenntnis. Moderne Messen scheinen das Neue im Ausdruck „ein neues Lied“ revolutionär, alte und seit kürzlich sogar uralt erneuerte Messen scheinen es evolutionär und sogar stationär und retardierend zu interpretieren. Wer und was aber beweist, welches Neue ein wirklich Neues: eine neue und höhere Stufe der Religion, ihrer Kultbildung ist? Könnte nicht auch das Gegenteil der Fall sein: Stagnation oder Verfall? Der Teufel wohnt nicht erst im Detail, er haust schon im Inhalt, im Schleichen und Springen der konkreten Realitäten.

 

XII.

 

Philosophie soll neue Wahrheiten erkunden, Wissenschaft neue Erkenntnisse, Technik neue Geräte, Maschinen und Erfindungen produzieren, Kunst neue Werke, Religion neue Theologien, Politik neue Institutionen und neue Entscheidungen verwirklichen, Ökonomie neue Regeln in neuen Krisen, neue Gewinne auf neuen Märkten machen, Recht soll neue Gesetze in die Welt setzen, – und alle diese Setzungen sollen nicht beliebige, sollen nicht bloß Novitäten und News, sondern ein Novum sein, bei dem es sich lohnt – aber anders als bei Unterhaltung und Spaß, nämlich wirklich handelnd und erkennend, verantwortlich und verpflichtend – dabeizusein.

Die Welt der Nova ist die Welt des Ernstes, die Welt der Novitäten die von Spaß und Spiel, und wo die wahre Freude wohnt, scheint auch die Kunst, jedenfalls als modern-subversive, nicht mehr zu wissen. Denn ihre Neuheiten können für ihre Setzungen nur mehr pluralistisch und individualistisch zerteilte Inhalte, Formen und Materialien ins Gehege führen. Dessen Unverbindlichkeit wurde verbindlich.

In allen anderen genannten Gebieten der Welt des Ernstes bezieht sich die Setzung der Nova auf (neue) normative Prinzipien sei es der Nützlichkeit, der Sicherheit, des Wohllebens, der Freiheit, des Wissens und der Wahrheit. Auch in der modernen Welt ist die Welt der unterhaltsamen Novitäten zunächst das intendierte Gegenteil dieser Welt des Ernstes, eine radikal entlastende und entspannende Gegenwelt, – unter (hybrid)modernen Bedingungen idealtypisch inkarniert in den Welten von Film (TV), Sport und Kabarett. Und die Zwischenwelt der „ernsten“ Künste hat, wie schon erwähnt, an der modernen Medienwelt eine Genossin bekommen, die gleichfalls zwischen Novum und News laviert (Informations- und Infotainment-Kultur), weshalb nicht nur „alles“ als Kunst, sondern insbesondere die mediale Technologiekultur als neues Gesamtkunstwerk gehandelt werden kann.

Wer in der Welt der ernsten Nova die Gründe und Ursachen kennt, die aus einer Jagd- und Sammlerkultur eine Agrarkultur, aus antiker eine nicht-antike Kultur und Gesellschaft, aus Monarchie eine Demokratie oder Diktatur, aus dem Reich der Sassaniden über Nacht ein islamisches Reich, aus dem Alten ein Neues Europa, aus einer vortechnologischen eine Internet-Kultur gemacht haben, der kennt sich im Gang der Welt aus und darf als Weltkenner anerkannt werden.

Es ist ein Kenner, der vor seiner Kennerschaft tiefen und demütigen, schaudernden und melancholischen Respekt haben muß, weil die genannten Gründe und Ursachen nicht nur viele und sehr viele, sondern auch noch durch viele und zumeist uneindeutige Beziehungen verknüpfte sind. Daher pflegt die beschwörende Floskel und Rhetorik von der „multifaktoriellen Ursache“ ihre wissenschaftliche Placebo-Wirkung nicht zu verfehlen.

Im multifaktoriellen Allerlei trägt sich die Dialektik der Gegensatz-Einheit von evolutionärer und revolutionärer Entwicklung aus, nun aber in der Perspektive der jeweiligen Totalität von Welt und Kultur, die stets nur als Einheit einer Vielheit von Teilwelten existiert. Weil Evolution und Revolution untrennbar und „multifaktoriell“ ineinander verschlungen sind, ist deren Zukunft im Allgemeinen unvorhersehbar, wenn aber doch im Allgemeinen vorhersehbar, dann nicht im Besonderen und schon gar nicht im Einzelnen.

Sprachformell sind von den Nova der Geschichte deren Supernova zu unterscheiden: jene begründen und realisieren neue Teil-Welten, diese hingegen eine ganze neue Welt, eine neue Kultur und Epoche der Menschheitsgeschichte. Die Supernova beginnen zwar revolutionär: ein Gott, der sich kreuzigen lässt, aber dessen Durchsetzung geht in einer langen Inkubationszeit gleichsam evolutionär vor sich; erst dreihundert Jahre nach der ursprünglichen Revolution innerhalb der jüdischen Religionstradition wird daraus – unter Konstantin – eine antike Staatsrevolution, und nochmals zweihundert Jahre waren nötig, um die antike Welt und Kultur in die Unterwelt der Geschichte zu versenken.

 

XIII.

 

Die Problematik des „Multifaktoriellen“ birgt eine weitere Misslichkeit und mehr als dies: einen Quell von Ungewissheit und Irrtumsanfälligkeit, Verblendung und Schicksal. Jedes nachhaltig wirkende Novum scheint dank immanenter Sachlogik und der kollektiv augenscheinlichen Tatsache, daß es für länger, ja für lange Zeit Bestand gewinnt, eine wahre Größe zu sein, ein Sein, nicht ein Schein, eine Idee, nicht eine Ideologie, ein mainstream, dem viele hinterherlaufen – und jede These jeder Spielart von Historismus, die diesen Tatbestand bereits als Verifikation von Wahrheit und Freiheit des aktuellen Novum bestätigte, fiele unter denselben Vorbehalt: möglicherweise nur Schein und Trug, nicht Wahrheit und Erkenntnis zu sein. – In der „Idee“ eines (Welt)Kommunismus samt zugehöriger neuer Weltanschauung dachte sich der Marxismus–Leninismus das (sach)logisch Neue des Kapitalismus, die höhere Wahrheit der bürgerlichen Gesellschaft, die höhere Wahrheit von Staat und Nation. Durch die neue Wahrheit würden die alten Unwahrheiten überwunden und verschwinden, – nicht (nur) „von selbst“ daher, sondern durch die Gewalt einer siegreichen Weltrevolution. Und angesichts des im 20. Jahrhundert erfolgten Scheiterns der neuen Wahrheit, die sich irreversibel als Unwahrheit erwiesen hat, pflegt die Floskel und Rhetorik von „der Geschichte“, die uns eines anderen und besseren belehrt habe, ihre (wissenschaftliche?) Placebo-Wirkung gleichfalls nicht zu verfehlen. Die vermeintliche Supernova war nur eine Nova, und da ohne Bestand, nicht einmal eine wirkliche und wahre Nova.

Das „multifaktorielle“ Gebilde von „Geschichte“ ist in der Welt der ernsten und mühseligen Nova stets jener Faktor, der als Summe aller Faktoren ins Spiel kommen muß, weil sich keine Veränderung und Revolution der Menschheitsgeschichte außerhalb derselben zutragen kann. (Daher die Ungewissheit: war oder ist es eine Supernova oder doch nur eine Nova oder weder noch?) Gäbe es nun allein die evolutionäre Logik in der Geschichte konkreter Realitäten, hier der Politik, müssten sich alle Wahrheiten, die sich als Unwahrheiten zu erkennen geben, rein schon dadurch, also durch sich selbst, vernichten, beseitigen und entsorgen. Eine revolutionäre Selbstaufhebung wäre die Regel, etwa wie in Frankreich seit 1789.

Doch ist dies nicht die Regel, sondern die Ausnahme, weil vorhandene und somit reproduktiv evolutionäre Kulturen und deren politische und ökonomische Systeme keineswegs nur durch revolutionäre Selbstaufhebung verschwinden, sondern in aller Regel zugleich durch Kollision mit anderen Kulturen, die jene „überreifen“ kulturellen Systeme zum Verschwinden bringen. Dennoch musste das Eintreffen der Weißen Götter in Mexiko nicht mit einem Niedergang der Roten Götter zusammentreffen; letztere waren immer schon reif und verdammt gewesen, eines Tages verschwinden zu sollen. Im Unterschied zu diesem neuzeitlichen Szenario kollabiert in der modernzeitlichen Geschichte der Kommunismus nicht allein durch und an der Naivität Gorbatschows, sondern zugleich und untrennbar davon durch die Standhaftigkeit Reagans; verzichtbar war lediglich Westeuropas Phantasiepazifismus. In der modernen Welt ist das Zusammentreffen von innerer und äußerer Kollabierung (die Clashes of Civilizations) allerdings unvermeidlich: die (enge) Globalisierung der Welt von heute ist nicht mehr die (weite) Globalisierung der Welt von gestern.

Und da dieser Prozeß einer gewalttätigen oder gewaltandrohenden Überwindung und Beseitigung herrschender Mächte durch „fremde“ – kontroverse und widerstreitende – Mächte als Proprium der Weltgeschichte erkannt und anerkannt werden muß, ist die Frage unhintergehbar, wie aporetisch eine Vorstellung von Weltgeschichte sein muß, die meint, ohne dieses unfriedliche Mittel befreiender und entwickelnder Erneuerung auskommen zu können.

 

XIV.

 

Kontrastieren wir diese innere Dialektik der ernsten Nova der Geschichte nochmals mit der Welt der heiteren Novitäten unter den Bedingungen technologischer und globaler Hypermoderne. Die Welt des modernen Sports ist gewiß eine Nova, denn die These, schon in der Antike gab es „Profisportler“, unterschlägt, daß der versunkene „Sport“ der Antike kultisch und religiös, somit nicht säkularer Berufssport, geschweige denn Mediensport und Weltmarktsport war.

In dieser völlig neuen Welt unzähliger Sportarten wiederholen sich nun zwar stets die dieselben Spielarten und Wettbewerbe – bei gleichzeitiger, meist unbemerkter Genesis neuer – doch garantiert die Ungewißheit, nicht wissen zu können, wer das nächste Spiel als Sieger beenden wird, eine Novität garantierter Abwechslung und Erwartungsspannung. Und auf ratende Ahnung setzt nur der Wettende sein loses Geld, was zwar die Spannung erhöht, doch zugleich schon auf eine Inflation des überbordenden Novitätenangebots reagiert: einfach und geldlos mitzufiebern genügt nicht mehr.

Die (hyper)moderne Sportwelt bringt durch ihr Gelingen die Aporie des (Un)Wesens von Novität und News auf deren (leeren) Punkt. Ist das Spiel gespielt, ist die Neugierde gestillt; aber nur für einen verschwindenden Augenblick, der stets mehr verschwindet, je größer das („laufende“) Angebot an stets wartenden und schon morgen oder gar gleichen Tags stattfindenden Spielen lockt. Maximale Abwechslung schlägt in totales Einerlei, in die Immerwiederkehr austauschbar werdender Abwechslung um. (Irgendwer wird immer Gewinner gewesen sein: was hat diese agonale „Religion“ mit der Art und dem Vollzug meines Lebens zu tun?)

Die massenmediale (Welt)Produktion und Reproduktion unzähliger Sportevents erlaubt eine stets steigende Anteilnahme an aktuellen und musealisierten Wettbewerben, Spielen, Siegen und Niederlagen: in den Spiel-Wett-Lokalen der neuen Sportkultur lassen sich mittlerweile wenigstens vier „Live“-Spiele gleichzeitig „verfolgen“, als wären zwei Augen, die dem Menschen durch eine schwache Evolution verpasst wurden, längst schon durch eine technologische Steigerung der („humanen“) Evolution zu vermehren gewesen.

 

XV.

 

Diese permanente (hypermoderne) Steigerung von Angebot und Zugang („access“) zu einer sich ständig reproduzierenden Serienproduktion, die ein gigantisches Erinnerungsmuseum produziert, produziert zugleich ein (Sportkultur)Subjekt, dem nur mehr eine entweder spezialisierte oder eine orientierungslos („surfend“) in unendlichen Labyrinthen – digital oder analog, gedruckt oder gefilmt – teilnehmende Teilnahme zugänglich ist.  Eine Entwicklung, die den Punkt eines rasenden Stillstandes und eines stillstehenden Rasens ansteuert, der uns das Prinzip von Hypermoderne „in Reinkultur“ vorführt. Und doch ist auch die Welt des hybrid sich differenzierenden und darstellenden Sports nur eine unter unzähligen, die gleichfalls diesem Prozeß unterliegen, dessen Summe die Gesamtkultur unserer Teilkulturen prägt. Weshalb die „Eventisierung“ moderner Kultur dieser nicht von außen angetan wird: hypertrophe Angebote bedingen einen Totalverlust von „Aufmerksamkeit“ und daher einen Kampf um die letzten Reste von universaler (vormoderner) Kultur-Aufmerksamkeit, – die entleerte Kulturkategorie „Aufmerksamkeit“ steigt zum „höchsten Gut“ im Anerbieten aller Angebote auf: Das Novum einer Novität, die Novität eines Novums, das mit dem von „rasendem Stillstand“ konvergiert.

Die Verlangweiligung noch des (bislang) Spannendsten, die Versensationierung (zu News) noch des (bislang) Hinfälligsten ist nun möglich nicht nur, sondern reale Wirklichkeit und alltägliche Erfahrung. Und die Gefahr, zwischen unwesentlichen und wesentlichen Nova nicht mehr unterscheiden zu können, steigt von Minute zu Minute. Diese Selbstinflationierung von Innovation könnte an der Produktion, Rezeption und Kommentierung moderner Kunst wohl am nachhaltigsten studiert werden. Das „Bürgeln“ und „Sloterdijkeln“ ist mittlerweile sprichwörtlich geworden und bereits als Weiterspiel-Software im Angebot des Internet zugänglich. Nur noch zurückgebliebene Geister (der Geniekonzeption des 19. Jahrhunderts) sammeln sich nochmals um das Wort „Kreativität“, wenn sie den Künsten von heute eine Vorreiterrolle für die moderne Kultur und deren Gang in die Zukunft reservieren wollen, –  eine „ästhetische Kategorie“, deren Illusionsideologie auch jedem Künstler einsichtig ist, der er sich mit den Prinzipien der (hyper)modernen Welt vertraut gemacht hat.

Ist Innovation das Grundprinzip jeder Teilwelt der modernen Gesamtwelt, dann ist „Kreativität“ ebenso selbstverständliches wie unbestimmtes Autonomieprinzip jeder Teilwelt, und dieses bedarf keiner Bevormundung durch Künstler oder andere Mächte der modernen Welt. Allein der Kampf um „Öffentlichkeit“ und deren „Aufmerksamkeit“ ist es daher, der jenen zurückgebliebenen Geistern, angesichts der Marginalisierung gewisser Märkte von Kunst, die fama einer künstlerischen Kreativität eingibt, die angeblich Norm oder Modell oder Vorbild oder sonst was (Marketing-Sprechblase) für alle Welt aller modernen Teilwelten sein könnte und sein sollte.

 

XVI.

 

Binsenweisheiten sind alte Weisheiten, deren Auffrischung gleichwohl lohnen kann, wenn das Gegenteil erhellt werden soll: Novum, Supernovum, News und Neuartiges. Die Binsenweisheit, daß ein durch Erfindung gefundenes Novum ein anderes ist als ein durch Entdeckung entdecktes Novum, zwingt nicht nur zur Reflexion auf den Unterschied von Erfindung und Entdeckung. Der bekannte Imperativ: „Es sucht der Geist, solang’ er strebt“, bezieht sich offensichtlich auf beides: Erfindungen sind ebenso erstrebenswert wie Entdeckungen, und wie es scheint: seit jeher und für immer.

Diese These setzt voraus, daß es – immer noch und immer wieder –  Entdeckbares und Erfindbares gibt. Ist dies eine gesicherte und wahre Voraussetzung, oder eine, die eines Tages ungewiß und falsch werden könnte? Die vorausgesetzte ewige (Prä)Existenz von Entdeckbarem und Erfindbarem setzt eine weitere Voraussetzung als Grund ihrer Möglichkeit voraus: daß die je existierende Menschheit seit jeher und für immer innerhalb beschränkender Grenzen existiert: handelt, erkennt, glaubt und schafft. Alles jenseits dieser Grenzen Liegende ist als Unentdecktes und Unerfundenes bestimmt und darauf wartend, entdeckt und erfunden zu werden.

Dies führt auf eine erzwungene und permanente Entgrenzung bisheriger Grenzen des Entdeckten und Erfundenen, die nicht durch eine allgemeine Entdeckungs- oder Erfindungslogik gesteuert und kontrolliert werden kann, weil jedes Entdecken und Erfinden ohne konkrete Inhalte und deren Evolutionen und Revolutionen unmöglich ist. (Noch das Erfinden von Nonsens, etwa das „Bürgeln“ aktueller Kunstdiskurse, setzt eine gewisse Kenntnis der Inhalte moderner Kunstkommentare voraus.)

Wir müssen professionelle Kenner und Täter einer bestimmt existierenden Teil-Welt sein, um das Entdecken und Erfinden professionell, nicht bloß „ästhetisch“ oder „künstlerisch“ oder sonst wie phraseologisch voranzutreiben. Und auch das kosmologische Entdecken ist wie das subatomare unserer Teilchenbeschleuniger nur das Entdecken schon vorhandener Realitäten vorhandener Teil-Welten. Eine Theorie für alles wäre nur eine Theorie für alles.

 

XVII.

 

Zweifellos ist das Erfinden novitärer als das Entdecken, – der Unterschied von schon-vorhanden und noch-nicht-vorhanden ist unverzichtbar. Obwohl also die Neue Welt (Amerika), ein neues Element, ein neues Atomteilchen, eine neue Atomkernfusion oder -teilung, eine neue Galaxie, ein neuer Planet undsofort das Prädikat „neu“ verdienen, verdienen sie es weniger als eine Erfindung, die über Vorhandenes hinausgeht. Und über die strikte Trennung von Entdeckung und Erfindung wird gleichfalls permanent hinausgegangen, weil aus Entdecktem, also Vorhandenem, Erfundenes kann abgeleitet werden: die Atombombe. Dies ist rational, weil jede natürliche wie kulturelle Materie an ihrer ursprünglichen Existenzform nur eine ihrer folgenden besitzt. (Die Erhaltung von Abu Simbel, die Restaurierung von da Vincis Abendmahl undsofort.)

Ist für dieses Entgrenzen gesetzter Grenzen, für dieses Prozessieren von Entdecken, Erfinden und der Synthese beider ein Ende abzusehen: ein Endpunkt der Entwicklung – ihrer Evolutionen und Revolutionen – an dem sich beide vorausgesetzte Voraussetzungen aufheben: ein endliches Diesseits und ein unendliches Jenseits von Erfindungen und Entdeckungen?  Ein Punkt, an dem alles Entdeckbare entdeckt, alles Erfindbare erfunden sein wird, weil auch dieses Jenseits letztendlich ein endliches wäre?

Wer auf diese Frage eine Antwort wagte, wäre wie ein Reisender, der mitten auf Fahrt verkündete, er sei schon, obwohl noch unterwegs, am Ziel der Reise. Oder wie ein Zöllner, der den Dienst an seiner Grenzstelle zwar noch versieht, zugleich aber behauptet, die Grenze sei aufgehoben, weil die beiden einander begrenzenden Länder eines geworden seien.

Die unhintergehbare Antwortlosigkeit auf die ebenso unhintergehbar zu stellende Frage führt auf die Vermutung, daß der starke und strenge Antipode, der wahre Gegenbegriff des Neuen nicht das Alte, sondern das Ewige ist – oder das, was man dafür hält. Das Kleine Einmaleins kann nicht mehr neu werden, es kann und muß nicht mehr entdeckt, nicht mehr erfunden werden, es kann nur mehr auf neue Materien und durch neue Anwender angewandt werden. Und Legion sind mittlerweile die Dinge und Erkenntnisse, Wahrheiten und Weisheiten, die dieses Schicksal teilen: alt und ewig geworden zu sein. Wer das Rad neu erfinden möchte, kann nicht von dieser Welt sein.

 

XVIII.

 

Das Neue und das Ewige: da noch für das „Ewigste“ gilt, daß es in dieser Welt als „News“ erscheinen muß, wenn es neue Seiten seines Wesens offenbart, gilt dies selbstverständlich auch für jede Teil-Welt und deren Inhalte: obwohl deren Wahrheiten einst nicht waren in dieser Welt, sind sie schon beim Eintritt in diese Welt als etwas erkenn- und anerkennbar, das seine Wahrheit und Ewigkeit nicht dem Akt der Erkennung und Anerkennung verdankt, – daher nicht mehr verschwinden kann und schon seinem Eintritt in diese Welt präexistiert. Es sind die freien Gesetze der Weltinhalte und diese selbst, ohne die deren Materien nicht als welttragende Forminhalte Bestand haben könnten.

Es liegt in der Natur der Dialektik von Novum und Ewigkeit, von Welt und Wahrheit, daß Buchreligionen die Aporie ihrer festgeschriebenen ewigen Wahrheit austragen müssen, wenn sie mit einer radikal neu werdenden – der neuzeitlichen und modernen – Welt und deren Auffassung von Ewigkeit und Wahrheit kollidieren –  dramatisch und furchterregend an der Situation des gegenwärtigen Islams und seiner Antipoden zu studieren.

Hat die Wahrheit aller Wahrheiten, der Ursprung alles Entsprungenen in diese Welt gesprochen, und wurde dieses Sprechen auch noch gehört und niedergeschrieben, dann ist erstens der empfangende Prophet als höchstes göttlich-menschliches Medium, zweitens das Wort als ewiges Medium der Wahrheit und drittens ein ganzes bestimmtes (Buch)Wort und dessen eineindeutig sein sollender Inhalt als ewige Wahrheit anerkannt und für ewig festgeschrieben, – zwar in einer individuellen historischen Sprache, aber diese Einschränkung ist eine Grenze nur für die neuzeitlich moderne Auffassung von Welt und Sprache. Ewigkeitssprachen sind modern: anathema (geworden); Normalsprachen sind vormodern (für religiöse Inhalte): anathema (geblieben).

Nach vormodernem Standpunkt hat sich in ewigen Worten ewiger Sprache die ganze ewige Wahrheit aus- und zu Ende gesprochen, denn was der Menschheit überhaupt an Einsicht in die ewige Wahrheit und wahre Ewigkeit zuteil werden soll, das sei nun gesagt und aufgeschrieben, in Wortlaut und Schriftzeichen manifestiert, und weitere Entdeckungen neu aufzufindender ewiger Wahrheiten in Erwägung zu ziehen, sei bereits Symptom von Zweifel und Unglauben, Beweis von Frevel und Lästerung.

Zwar kann und muß das Ewige Wort im weiteren Lauf der Welt neu bestimmt, gedeutet, anders angewandt werden, weil der Lauf der Welt läuft und nicht steht wie der heilige Inhalt und dessen ewiger Bestand. Dieser ist die heilige Quelle der Wahrheit und der Welt, und mag sich diese auch ändern im verwickelten Gang des Weltlaufes, so ist dieser Gang oder Lauf doch unwesentlich für den Stand der Wahrheit, der nicht geht und nicht sich verwickelt, sondern in seiner ursprünglichen und geschichtslosen Reinheit festzuhalten ist. (Eine „letzte“ Verwandtschaft von rigider Buchreligion und den Religionen mythischer Abkunft. Jede mythische Großreligion bedurfte zu ihrer Genesis wenigstens eines Jahrtausends, um ihre vorangegangene Naturreligion zu überwinden und als (halb oder ganz) verdautes Moment zu integrieren. Dem Islam genügte zu seiner Genesis ein halbes Jahrtausend (100 bis 600) mißglückter christlicher Missionierung der arabischen Welt.)

 

XIX.

 

Die für moderne Gemüter peinliche Frage, warum dieses Ewige des ewigen Wortes nicht am Anfang der Welt oder doch wenigstens am Anfang der Menschheitsgeschichte in die Welt eingetreten sei und eingesprochen habe, ist für vormoderne Gemüter „universaler“ Wahrheitsreligion unwesentlich, weil der Faktor geschichtliches Gewordensein für die vormoderne Ewigkeits- und Weltlehre unwesentlich ist. Das wahre Ewige ist nach menschlichen Maßstäben zwar spät erschienen, aber dies ist gleichgültig für den Inhalt und dessen Wahrheit, denn menschliche Maßstäbe sind nicht maßgeblich, wenn es um nicht-menschliche  Wahrheiten handelt.

Und auf die zweite peinliche Frage, ob es nicht vermessen sei, sich so einfach und leicht auf den Standpunkt eines ewigen Wissens ewiger Wahrheit zu stellen, muß letztlich ein peinliches Schweigen der Gefragten als Antwort folgen, weil die moderne Unwissenheit und falsche Demut der Fragenden das vormoderne Gemüt peinlich berührt. (Beide Standpunkte müssen einander peinlich sein.)

Und doch besaß auch der Islam die Möglichkeit, seine Quelle anders in dieser und für diese Welt zu positionieren, als es geschehen ist. Erst nach Kampf und Überwältigung verschwanden jene Traditionen, die anfangs nicht der Scharia und ihrer Deutungsweisen folgten, sondern anderen, die mit der modernen Relation von Welt und Wahrheit, von Geschichte und Ewigkeit durchaus kompatibel sind – wie etwa die Tradition der Mutaliziten. Allerdings ist auch die Einsicht in das Verhängnis unhintergehbar, daß der Islam ohne jene Scharia-Tradition niemals seine imperialen Welterfolge und seinen Aufstieg zu einer Weltreligion hätte erreichen können. Diese werden spätestens seit dem 19. Jahrhundert, mit dem Niedergang des osmanischen Imperiums, ein Verhängnis, weil die Refundamentalisierung des Islams, die in vielen Teilen seines Machtbereichs unterm Druck der aufstrebenden Ersten Welt notwendig wurde, mit dem Fortschritt der Ersten und somit der ganzen Welt in Widerspruch geraten mußte. Versuchte er sich anzupassen, ging der unter: Atatürks Revolution; suchte er die Quellen zu restituieren: Wahabitismus und dessen aporetische Restauration.

Dieses Verhängnis war und ist in der Geschichte des Islams nicht nur ein News, das vernachlässigt oder ignoriert werden könnte, sondern ein Novum von revolutionärer und katastrophischer Qualität. An einem ewigen Kern, der seit Anbeginn unerschütterlich feststeht, an dem die ganze Welt und deren Geschichte hängt, an diesem Ersten und Letzten, Innersten und Heiligsten soll ein Selbstwiderspruch sein: ein für den wahren Gläubigen der wahren Ewigkeit, der ihr zur Weltherrschaft verhelfen soll, undenkbarer Gedanke: wie kann einem ewigen Kern durch eine geschichtliche Kernspaltung Gefahr drohen?

In moderner Sicht ist evident, daß diese Kernspaltung durch jene oben angeführte (XII) Überwindung einer Kultur durch die ihr widerstreitende und zuwiderhandelnde ausgeführt werden muß. Und selbstverständlich nicht unter den Bedingungen vormoderner (weiter) Globalität, sondern in der (engen)Globalität moderner Welt durch diese selbst, im Konflikt Erste contra Zweite Welt. Anders als den Roten Göttern der Indios ist dem Grünen Gott des Islams die Welt der Andersgläubigen und Ungläubigen seit Jahrhunderten bekannt, wenn auch nur sehr relativ vertraut, und zunächst nicht nachvollziehbar.

 

XX.

 

Die Aporie des Islams wird verständlicher, wenn man die Art und Weise betrachtet, wie das Christentum mit seiner absoluten Wahrheit in deren Geschichte verfuhr. Und auch für die Erörterung des Neuigkeitsbegriffes ist eine Religion aufschlußreich, die zwar gleichfalls behauptet, ihre Wahrheit sei eine ewige Wahrheit, dies aber nicht als „ewige“ (Buch)Wort-Religion an- und auslegt, sondern zugleich die Endlichkeit und Verwicklung der geschichtlichen und menschlichen Welt in ihr Verständnis der Ursprungs-Quelle einbezieht.

In der Geschichte des Christentums beginnt die Bibel, „das Buch der Bücher“, erst seit Mitte des 15. Jahrhunderts in das Zentrum des Glaubenslebens der Christen vorzustoßen. Für ein Jahrtausend und ein halbes wurde als wesentlicher Kern und Mitte christlicher Wahrheit und Ewigkeit die neue Botschaft: die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, die Lehre und Deutung dieser Botschaft sowie ihr kultischer Vollzug durch die Gemeinde und das Leben der Glaubenden verkündet und praktiziert. Nicht also ein Buch, sondern ein Mensch, und nicht ein Mensch als Prophet, sondern als Gottes Sohn sind letzte Wahrheitsinstanz der neuen Religion, die sich zugleich als Vollendung und Erfüllung ihrer Vorgängerreligion versteht.

Aber die Eineindeutigkeit dieser Instanz und Botschaft ist bereits im Ursprung der neuen Religion problematisch: Ein neuer Anfang, aber nur als Fortsetzung alter Anfänge, daher umstritten bis heute, ob zwischen Judentum und Christentum Evolution oder Revolution, und wenn beides, in welcher anerkennungsfähigen Universalität vorliegt; weiters nicht ein Heiliges Buch, sondern sogleich vier; und nicht eine Sprache, sondern sogleich zwei Weltsprachen, also keine „Ursprache“, die sich als „ewige“ an das Urereignis einer Heilsgeschichte festklammern konnte.

Und zu alledem eine Botschaft, die von einer (Mensch-Gott)Geschichte berichtet, die das Geschehen extremen Gegendeutungen unterwirft: vom Christus als Pantokrator, König und Weltenherrscher bis hin zum Leidens- und Schmerzensmann, der für die Erniedrigten dieser Welt deren Kreuz getragen und überwunden hat, und dessen fragliche Einheit oder Nichteinheit mit Gott dem Vater zu heftigen Differenzen auf Konzilen und nachfolgenden Schismen der Katholizität samt grausamen Religionskämpfen (Athanasianer versus Arianer undsofort)führen sollte.

Gründe genug für die (noch) katholische Kirche, in verwandter Strategie auch für die orthodoxe, die Lektüre der Bibel dem Klerus und Deutungsmächtigen, nicht den unkundigen Lesern, nicht den Christen zu überlassen. Ohnehin waren die christianisierten Völker Europas der alten Sprachen, die nur unter den Deutungsmächtigen als ewige lingua franca residierten, nicht mächtig und daher geschützt vor Missverständnissen, falschen Deutungen und Anwendungen und vor allem vor Häresien, deren es schon genug gegeben hatte.

 

XXI.

 

Wie Gott in der Sprache Christi spricht, das war somit nicht so selbstevident klar wie im Koran, wo das (Gottes)Wort selbst, in ewiger Sprache diktiert und niedergeschrieben, dafür bürgte, sich selbst objektive Deutung und Verständnis sein zu können. Der wahre und höhere Christ mußte erst darin geschult werden, die Sprache der Evangelien und ihres Zusammenhanges mit dem Alten Testament zu verstehen, während sich das Verständnis des Korans letztlich, ähnlich wie in Luthers Intention das der Bibel, durch dessen Text selbst einstellen sollte.

Als nun im Verlauf des 14. Jahrhunderts zum einen der Christus der Armen und Rechtlosen, der Ohnmächtigen und Leidenden, zum anderen erste Übersetzungen der Bibel in Volkssprachen die Weltlage der Kirche und Christen gründlich zu verändern begannen, (später wurde eine „Christianisierung des Christentums“ erkannt), führte dies einerseits zur Reformation der katholischen Lehre und Tradition durch eine neue Konfession, die die Lektüre der Bibel ins Zentrum rückte, andererseits zu vielen innerkatholischen Neuerungen, etwa zur Verbreitung neuer Christus-Bücher, darunter jenes von Thomas a Kempis, dessen  „Nachfolge Christi“ in alle europäischen Sprachen übersetzt wurde.

Misstrauisch musste daher die katholische Kirche die seit Erfindung des Buchdrucks (1456) möglich und unverhinderbar möglich gewordene Verbreitung von Volksbibeln beäugen. Es setzte jene religiöse Erneuerungsbewegung ein – innerhalb und später außerhalb der katholischen Konfession – die man als Vorstufe, als evolutionäre Genesis eines modernen – individuellen und freien – Gewissens bezeichnen könnte.

Denn eine Bibel, die als individueller Gewissensspiegel fungiert, macht es möglich und notwendig, erstens die heiligen Reden und Berichte der Bibel stets wieder und stets wieder neu zu lesen, zweitens die Gleichheit und Identität aller Christen in Christus anzuerkennen sowie sich drittens dem ewigen Ereignis eines liebenden und befreienden Gottes persönlich, individuell, somit auch in individueller Sprachwendung, zu stellen, und viertens – nicht nur nebenbei – die in Konventionen erstarrte Kirche zu neuem geistigen Leben zu erwecken.

Die neue Religiosität, durch neue Selbstprüfung möglich und unumgänglich geworden, setzt durch das neue Verhältnis zu Christus eine neue Freiheit und tendenziell eine neue Kirche und Welt frei. Während aber diese Reform in Spanien durch die Conversos, die neuen Christen, die oft von Juden abstammten, schon um 1520 ein vorläufiges Ende findet, beginnt jene in Deutschland erst am 31. Oktober 1917.

 

XXII.

 

Indem nun die Freiheit eines Christenmenschen, die Luther entdeckt, an die rechtfertigende Gnade des liebenden Gottes einerseits, zugleich aber an das Wort der Heiligen Schrift andererseits, das alle seine Widersprüche und Gegen-Aussagen über das Rechtfertigungsereignis der Heils-Geschichte durch immanente Auslegung – eine durch Deutung und Reflexion vermittelte Selbstevidenz – zurückbindet, wird eine Kette von Nova-Ereignissen unausweichlich, welche die Reformation des Glaubens als Vorstufe der Revolution der Aufklärung erkennen lassen.

Erstens wird die Trennung von Kirche und Staat, von Religion und Glauben möglich: Staat und Gesellschaft werden als „weltliche Dinge“ weltlicher Freiheit denkbar, deren Gesetze in anderen als heiligen Büchern aufgezeichnet sind oder aufgezeichnet werden sollen. Und das „Buch der Bücher“ wird eine erbauungswürdige Metapher, bei der man nicht (mehr) weiß, woran man denkt, wenn man dabei denkt. Zweitens wird das Heilige Wort der Schrift zur Gegeninstanz gegen seine bisherige Deutungstradition durch katholische Provenienz erhoben – unterschiedlich bei Luther, Calvin, Zwingli und anderen Reformatoren.  Drittens wird das nun gereinigte und unverfälschte Wort der Schrift, aus zunächst unerfindlicher und umstrittener Ursache stets wieder einer neuerlichen Reinigung und Rückeroberung, Wiederentdeckung und Wiederfindung überantwortet: historisch-philologische Forschung soll den wahren im fleischgewordenen Christus finden und theologisch aussprechen.

Das befreiende Ur-Ereignis soll an ein befreiendes Ur-Wort zurückgebunden, aus diesem als Grund und Ursache erklärt werden. Und obwohl das Wort der Freiheit als Wort der Freiheit (Gottes) erkannt wurde, soll dieses einem eineindeutigen Wortlaut gefolgt sein, und diesen hätte es auch via Schrift hinterlassen, wenn es eineindeutig (ab)gehört, verstanden und aufgezeichnet worden wäre. Der Vorteil des Koran ist offenkundig, sein Vorsprung uneinholbar: eine Worttatsache kann als ewige Wahrheitsquelle nicht überboten werden. Was könnte reiner und unschuldiger, eindeutiger und selbstverständlicher sein?

 

XXIII.

 

Vor der Gefahr, diesen Vorsprung einholen zu wollen, ist ein Christentum nicht gefeit, daß allein im unverfälschten Wort die unverfälschte Offenbarung zu haben können meint. Denn auf diesem Weg muß die stets unsichere Überlieferung der Worte (weg)gereinigt und ohnehin die Vermittlung durch Priester und Lehramt gekündigt werden; nur der historisch-kritisch Gebildete kann noch seines Glaubens gewiß werden. Die intendierte Verwandlung des Christentums in eine Wortreligion rächt sich also unmittelbar, wenn jene „Reinigung“ durch kritische Deutung und Wissenschaft freigegeben wird: das fleischgewordene Wort wird nicht ein oder das authentische Wort, sondern ein historisch-philologisches Wort(problem), und die Person des Erlösers, die als Wortspender authentischer Worte sollte gefunden werden, wird angesichts dieser Austrocknung durch exegetische Theologie humanitär fundamentalisiert: kein Wort ist nötig, um Jesus als Zimmermannssohn zu verstehen, der im Glauben an Gott dessen Gnade empfängt, ohne über ein neues (Wort)Wissen über Gott verfügen und dieses verkünden zu müssen. Der Erste der (neu) Glaubenden ist der Erste neu Glaubender.

Die Beseitigung jedes verbindlich eineindeutigen und somit als Tatsachenwort allgemeingültigen und unhintergehbar notwendigen – „katholischen“ – Wortlautes und Schriftwortes macht auch den katholischen Wortindex zu einem unter vielen, zu einer gleichfalls „ewig“ sich reformierenden und umdeutenden Instanz. Sogar diese, an starken Traditionsglauben gefesselte Instanz wird nun im Prinzip fähig und genötigt, auf neue Weise mit der (neuzeitlichen und modernen) Freiheit der (Welt)Geschichte mitzugehen.

Gibt es aber keinen verbindlichen Begriff von Gottes Wort, der als Wort verbindlich sein könnte, sind alle Annäherungen an das Wort, das seine Identitätsmacht als Wortlaut verloren und auch nicht mehr nötig hat, möglich und wirklich. Die Konfessionalisierung des Christentums vollzieht nur, was in der Sache sich vollzogen hat, – wo drei sich im neuen Namen Gottes versammeln, weht der neue Geist der neuen Glaubenden. Namen sind Worte, die stets neu getauft werden müssen, um den Geist der Freiheit zu bergen und zu spenden. Und die Glaubenden leben nun in einer Vielzahl von Glauben, die mit dessen Freiheitsfreisetzung irreversibel wurde. Immanuel Kant: kein Buch kann für uns denken, kein Priester für uns Gewissen sein.

 

XXIV.

 

Freiheit ist ohne Neuheit nicht denkbar, und dies gibt zu denken, aber nicht ein Neues, sondern ein Ewiges: Freiheit ist ohne Neuheit nicht denkbar. Welche Ur-Einheit dieser Welt und aller ihrer Teil-Welten auch immer als erste Einheit folgender Vielheiten, als erstes Ganzes folgender Teilungen undsofort vorgesetzt wird („Urknall“), jede ist nur als (erstneue) Setzung der Freiheit möglich und wirklich, Freiheit muß jeder ersten Ureinheit vorausgesetzt sein und schaffend vorausliegen. Und nur in dieser Freiheit ist auch der gemeinsame Grund für die Koexistenz von Evolution und Revolution auffindbar; die Ur-Freiheit ist allmächtig, indem sie jede besondere und individuelle Weltmacht ermöglicht, ernötigt und, wenn nötig, korrigiert oder beseitigt. Diese Sätze sind nicht Beobachter-relativ, weil jedes Beobachten von Welt und Welten ihre Existenz und Anerkennung voraussetzt. Man kann wohl meinen, aber nicht denken: Freiheit folge aus Unfreiheit, – welcher Art auch immer, man kann wohl wähnen, aber nicht sein, indem man nichts als determiniert wäre, –  kein Seiendes ist davon ausgenommen.

Dennoch ist eine Maus weniger frei als ein Mensch; daher muß den realen Verhältnissen der freien Welten zueinander ebenso nachgefragt werden wie dem Verhältnis der ganzen Welt zur Freiheit, soll die ewige Relation von Freiheit und Neuheit nicht leer und unbestimmt verbleiben.

Da die Sachen und Welten dieser Welt ihre eigene Logik haben müssen, sonst wären sie nicht Sachen und Welten, geht die Frage zunächst auf die Logik dieser Logiken. Negativ formuliert: sie können nicht auseinander hervorgehen im Sinne einer Evolution, die erste Ur-Teile und Materien zu stets anderen und vermeintlich neu-artigen verbände; und sie können auch nicht durch eine Revolution in der vorangehenden Welt als alleiniger Ursache der folgenden – neuen – Welt und ihrer Logik hervorgehen, weil in diesem Fall nur eine Logik wäre, die den Satz „alles ist Evolution“  – oder auch: „alles ist Revolution“ – als Prinzip behauptet, obwohl jener und dieser Satz und deren Prinzipien leer und nichtssagend sind.

 

XXV.

 

Wären die Teil-Welten in den (Groß)Welten von Natur und Geist nicht als logische Nova gegen alle anderen Teil-Welten bestimmt und begründet, folgte die ganze Welt einer Logik des „von unten nach oben“, einer Logik der „Komplexion des Einfachen“ – anfangs ist „alles“ einfach, später ist alles kompliziert, und zwar durch Aufschichtung immer weiterer und variierter Einfacher und deren Relationen. In dieser Logik und Rede von einer Zusammensetzung und Variation einfacher Elemente, Materialien und Formen zu neuen Welten, können für vermeintlich neue Welten stets nur variierte oder mechanisch „erweiterte“ Prinzipien alter Einheiten und deren Spezifikationen vorgewiesen werden. Nicht neue, sondern bestenfalls Variationswelten alter Welten erschienen zwischen Himmel und Erde.

Wir hätten also, wenn wir die Welt in ihrer Chrono-Logik betrachten, eine „horizontale Anhäufung“, wenn wir sie in ihrer System-Logik betrachten, eine „vertikale Anhäufung“, – im Bild gesprochen: eine umgekehrte Pyramide. In der Nachbarkette der „horizontalen Anhäufung“ ist der jeweilige Vorgänger (pater et mater) der vollständige Grund und die vollständige Ursache des Nachfolgers; in der Systemkette der umgekehrten Pyramide ist anfangs eine Ebene mit einfachem Nullniveau, später eine immer „höhere“ Niveaulage, eine immer „komplexere“ Ebene erreicht, weil sich die Anfangsebene durch die Mechanik ihres Wirkens, die an Zauberei grenzt, in andere Ebenen und deren Welten verwandelt. Der Mensch überhebe sich daher nicht, wenn er sich über die Maus erhebt, er ist so neu nicht, wie sein Wähnen wähnt.

In der Mechanik dieses Weltenaufbaues von „unten nach oben“ und von „früher zu später“, von „alt zu neu“, von gestern und morgen undsofort ist das höhere System, wie die Bedeutung des (Raum)Wortes „höhere“ selbst, ein Realisat äußerlicher, aggregatischer, quantitativer oder sonst wie „komplexerer“ Anhäufungen und Zusammenführungen „niedrigerer“ Systeme. Wären die Welten dieser Welt und diese in ihrer Totalität in diesem Sinn und Plan erbaut, wären sie sehr simpel und einfältig erdacht und erbaut. Pfuscher wären am Werk gewesen, nicht Setzung von Freiheit und Vernunft, nach deren Vor-Schrift jede Teil-Welt dieser Welt ihre je eigene „Komplexion“ durch ihre je eigene neue Einheit und deren Selbstbestimmung sein muß und sein soll.

 

XXVI.

 

Zwar lassen sich in der Welt der Natur sowohl in wie zwischen den Welten des Anorganischen und des Organischen vielfältigste Abhängigkeits- und Bedingungsverhältnisse aufzeigen (der Mensch muß atmen wie die Maus), aber der Ausdruck „Welt“ (oder „Reich“ oder „System“ oder „eigene Wirklichkeit“) für die Unterschiede dieser natürlichen Welten wäre Lüge und Täuschung: eine Als-Ob-Schwindelei. Denn radikaler Monismus wäre das letzte und erste Wort, eine Naturburschen-Philosophie, die nicht zufällig am Beginn des 19. Jahrhunderts zur höheren Mainstream-Philosophie für deutschgründlich nach-denkende Millionen aufstieg.

Ebenso sind die Verflechtungen und „Komplexionen“ in der Welt des Geistes und realisierten Freiheit unübersehbar; dennoch ist Moralität nicht als „Transformation“, womöglich graduelle, sozialer Verhaltensweisen, womöglich von Tier- oder Menschenaffen, zu begreifen, zu setzen und zu begründen; Legalität nicht aus den Weltprozeduren der Moralität, der Staat nicht aus den Ebenen der Gesellschaft, die Gesellschaft nicht aus den Ebenen der Familie.  Wären diese (Welt)Unterschiede nur Ausdruck eines Herrschaftswillens herrschender ökonomischer Klassen, wäre ein ökonomischer Monismus unvermeidlich und dazu verdammt, alles auszurotten, was die Idee des Guten, durch ein Novum (an Geist, Moralität, Legalität, Staats-, Gesellschafts-, Familien- und Individuumsbildung) mitten in die Verkettungen der Evolution und Geschichte geworfen, radikal zu vernichten. Dieser Konjunktiv fand im 20. Jahrhundert seinen Indikativ.

Nicht einmal in der Welt der Erfindungen und Machbarkeiten gilt das Prinzip des „von unten nach oben“, des „aus Einfach mache Komplex.“ Keine Erfindung und Entdeckung kann durch mechanische Zusammensetzung schon vorhandener Elemente (Materialien und deren Formen) wirklich verstanden werden und wirklich möglich sein; – zwischen den Vorstellungen „mechanisch“ und „kombinatorisch“ auf der einen Seite und der Vorstellung „neu“ auf der anderen Seite klafft ein Abgrund. Auch das Kombinieren muß schon ein neues und erstmaliges sein, wenn es Neues und Erstmaliges sucht und findet: erkombiniert.

 

XXVII.

 

Wird aber versucht, durch Apparaturen oder Rechenprogramme den Zufall methodisch zu Hilfe zu nehmen – spätestens seit Lullus Kombinationsmaschine eines deduktiven Wissens („Ars magna“) nicht nur Theorie – um zu neuen Erfindungen zu gelangen, hat man schon demonstriert, daß man eine Erfindung lediglich für ein neues Puzzle alter Erfindungen hält.  Mögen hier die Grenzen auch fließend sein, ist doch evident, daß bei methodischen Zufallserfindungen kein Suchen und Finden, auch kein wirkliches Kombinieren unter Zwecksetzungen erfolgt, sondern ein Machen und Machenlassen durch sogenannte Zufallsoperationen, in denen das Mechanische als Mechanisches und das Zufällige als Zufälliges auf seinen Punkt gebracht wird. – Auffällig die Nähe zur Nonsens-Produktion der Bürgelei (siehe XVI); auch diese bemüht einen Zufallsoperator, der erfolgreich mit Worten zu spielen erlaubt.

Folgten die Unterschiede und Einheiten dieser Welt einer Logik des Schaffens „von unten nach oben“, wären beispielsweise die Sinne des Menschen, die Künste der Kunst, die Religionen der Welt, die Philosophien der Philosophie aus elementaren Ur-Einheiten generierbar; sie folgten gleichsam ihrer eigenen Induktion, einer praktizierten Induktionslogik, einer umfassenden Zusammensetzungslogik von Gattungen durch Arten, Arten durch Individuen, Einheiten durch Unterschiede, Ganzer durch Teile undsofort. In diesem Fall könnten und müssten wir aus einem elementaren Ursinn alle anderen Sinne, aus einer ursprünglich schaffenden Ur-Kunst alle anderen Künste, aus einer ursprünglich offenbarenden Ur-Religion alle anderen Religionen, und aus einer ursprünglich erkennenden Philosophie alle anderen Philosophien ableiten.

Dies ist weder synchron noch diachron der Fall: weder die Chronologie der Geschichte noch die Systemlogik der Unterschiede und Einheiten folgt einer schaffenden Induktion. Wäre somit vernünftige Freiheit nicht konstitutiv in der Welt und über der Welt, wäre diese nicht als hierarchisch organisierte und sinnaufsteigende Welt von Teil-Welten möglich und wirklich. Und der Maus und dem Affen mag der Mensch vieles verdanken, nicht aber seinen Aufstieg zum Menschen, – ein Wesen und eine Welt, die das Novum des freien und vernünftigen Auftrags, in dieser Welt und ihrer Welten unentwegt nach neuen Entdeckungen und Erfindungen mit befreiender und sichernder Macht suchen zu können, ausführen soll und muß.

 

XXVIII.

 

Ein neues „Buch der Bücher“ scheint mit Hegels Logik in die Welt gekommen zu sein. Behaupten einige, alles sei Evolution, andere wiederum, alles sei Revolution, behaupte Hegels Logik, einem gängigen Missverständnis zufolge, alles sei Begriff und Gedanke, Vernunft und Freiheit.

Doch weil diese Position unmittelbar widersinnig und unvernünftig wäre, – eine letztlich radikal gnostische Position, die von Unfreiheit und Unvernunft, Bösem und Zufälligem in dieser Welt nichts hören, sehen und denken möchte, kann Hegels angebliche Behauptung nicht in diesem empirischen All-Sinn behauptet worden sein.

Ein weniger primitives Missverständnis deutet Hegels Logik scheinbar ihrem Anspruch gemäß, einen universalen deduktiven Logizismus zu demonstrieren, der folglich sogar das Versprechen von Lullus „Ars magna“, ein deduktiv abrufbares Universalwissen zugänglich zu machen, einlösen könnte.

Denn Hegels Logik zufolge sei der Satz: alles (jede Welt, jede Sache) muß seine Selbstbestimmung sein, auf den Satz: ‚auch die Selbstbestimmung ist ihre Selbstbestimmung’, nicht nur zurückführbar, sondern aus dieser allgemeinsten Selbstbestimmung sei auch jede besondere und individuelle Selbstbestimmung herausführbar, – sei es evolutionär, sei es revolutionär oder beiderseits. In einer Welt des Denkens und dessen reiner Negativitäten wäre alle Welt, in einer reinen Logik aller Logiken wäre jede (Welt)Logik nicht nur vorgebildet, weshalb man an diesem Orakel eines neuen „Buches der Bücher“ ein erstmals vernünftiges habe, das man nur befragen müsse, wenn man wissen wolle, warum etwas wirklich und was etwas wirklich sei.

Da nun aber gewiß das Denken nicht aus dieser Welt stammt, in der es stets nur die Vermischung von Denken und Gedachtem, von Denkenden und deren weltlicher Existenz gibt, muß es ein Vor-Denken geben, in dessen Nach-Denken unser Denken immer schon Denken geworden ist. Denn die Bewegung des denkenden Voraussetzens und Setzens denken wir uns nicht aus, sondern es ist diese Bewegung, die sich unser Denken ausdenkt. Und an dieser gegensätzlichen Bedeutung von „ausdenken“ kann die Bewegung der Reflexion an einem Wort, das nicht beantragt, ein Ur-Wort sein zu wollen, beobachtet werden.

Wäre nun jenes reine und absolute Selbstbestimmen nichts als das Setzen von Voraussetzungen und deren Aufhebung, die sich wiederum aufhöbe, dann allerdings wäre eine derartig als „totale Negativität“ verabsolutierte Reflexion imstande, uns zu jenem Missdeuten von Hegels Logik zu verführen.

 

XXIX.

 

Denn der Satz: Alles was ist, ist nichts als die Negativität eines Denkens, ist Tautologie, wenn „alles“ bedeutet: „nichts als Negativität.“ (Negativität ist nichts als Negativität.) Da wir uns aber aus zunächst unerklärlichen Gründen immer noch einbilden, daß auch Positives und sogar Beständiges in dieser Welt sei, wäre im verwirklichten Falle des Negativitäts-Satzes nicht einzusehen, worin das Positive bestehe und wie es zum Schein und Betrug komme, daß wir uns einbilden, daß Positives, sogar eine Welt und auch noch viele (Eigenwelten) existieren. Wir hätten einen radikalen Skeptizismus und Nihilismus zu parieren, der uns einredete, alles Gerede von beständiger Logik und beständigen Logiken dieser Welt verfehle immer schon jene A-Logik dieser und jener Welt, der empirischen wie der intelligiblen, denn nichts als nichtige Vernichtungslogik regiere diese Welt, habe sie regiert und werde sie immer regieren.

Der Satz, alles ist Negativität, alles ist durch (nichts als) Negativität ein Dasein und Etwas, ein Wesen und dessen Wirklichkeit, ein Begriff und dessen Realität, äußert somit eine Aussage, die einer Theorie folgt, die nichts als eine Theorie, aber über alles und nichts sein möchte. Daher stimmt sie auch, aber gleichsam zu sehr, und ist daher unstimmig und leer. Sie folgt lediglich dem Kalkül, über alles und nichts reden zu können, redet aber, wie vorhin schon erwähnt, nur zu sich selbst: das Ur-Gesetz jeder Art von Plaudergeist. Ähnlich ließe sich widerspruchsfrei behaupten: alles muß irgendwo und irgendwann sein, alles Seiende und Denkende dieser Welt und ihrer Welten eine Raum- und eine Zeitstelle (oder auch viele) haben. Und auch diesem Satz zu widersprechen lohnte sich nicht, weil dieser Satz nur ein allgemeiner Spruch mit vorgetäuschter Spezifikation sein möchte.

Die Gegendeutung von Hegels Logik (und ihrer Nachfolgebücher) lautet daher: es ist erstens nicht die Negativität einer verabsolutierten Negativität, die sich positioniert und sich ein (neues) Ur-Buch schreiben lässt, sondern es ist versuchsweise eine Vernunft formuliert, die sich als unhintergehbare Einheit aller ihrer Negationen und Negativitäten behauptet und positiv demonstriert. Ein Buch, das uns zu lehren versucht, daß wir Freiheit und Vernunft nicht trennen müssen, wenn wir Geist und Welt zu denken versuchen, im Gegenteil: diese beiden – Vernunft und Freiheit – als identischen Einheitsgrund dieser Welt und ihrer Welten nur denken können, wenn wir die Vernunft als Freiheit und die Freiheit als Vernunft denken.

 

XXX.

 

Das Faktum dieser Welt, ihres Denkens und ihres Seins, daß alle (Welt)Logiken sowohl diese Logik der Vernunft und Freiheit voraussetzen wie zugleich nicht aus dieser – evolutionär oder revolutionär oder beiderseits – durch die Reflexion unserer Vernunft ableitbar sind, bestätigt „nur“, daß jene Grundeinheit sich verwirklicht, indem sie sich in ihre begründeten Einheiten und deren Vielheiten verliert, – nicht anders kann Freiheit gegenständlich und Vernunft Wirklichkeit werden und sein. Ist eine neue Welt entstanden, ist die alte vergangen und verstorben oder zu einem Mittel für die neue Welt herabgesetzt.

Will man daher beweisen, daß Vernunft und stets neue Freiheit in der Welt unterwegs sind, benötigt man sowohl deren Begriff wie auch die schon vorhandene Realität dieses Begriffes in dieser Welt. Dies bedeutet erstens, daß alles, was ist, Idee ist, Einheit von Begriff und Realität, also eine Einheit von vernünftiger Freiheit in kontingenter Existenz, eines Begriffes, der in der gesamten Realität zwar als seine Realität, doch zugleich auch im System anderer realisierter Begriffe und somit in diesem juste milieu (des Kreide-Erdzeitalters, der Weimarer Republik, der Befreiung des Iraks)seiner selbst und seiner anderen existiert. Und dies bedeutet für die Neuheit, die von der Freiheit unabtrennbar ist, daß deren Vernunftgestalt durch keine reine Negativitätslogik dieser oder einer anderen Welt, ja nicht einmal durch die bestimmtesten und speziellsten Logiken ihrer Teil-Welten vorhergesagt werden kann. Es gibt keine Antwort auf die Frage, welches das bestimmte neue Neue der Zukunft sein wird. Und dies ist sehr erfreulich, obwohl wir sehr gerne nicht nur einige Jahre, sondern mehr überspringen möchten, wenn, nicht unser, sondern das Leben und die Entwicklung der Welt und ihrer Welten zur Debatte steht.

In einer letzten und daher ersten Definition ist das Neue somit das permanente Einsprechen (Ermöglichenkönnen) des Logos der Freiheit und der Freiheit des Logos in diese Welt und deren Teilwelten. Ist ein Wort (einer Teilwelt) ausgesprochen, ist auch dessen erfüllte (realisierte)Ewigkeit ausgesprochen. Und ob ein Mehr an Worten schon ausgesprochen oder noch nicht ausgesprochen wurde, darüber kann, wie gezeigt, weder durch Negativitäts- noch durch Positivitätslogik entschieden werden.

Wäre aber die Annäherung aller entstandenen (und vergangenen) und entstehenden (künftigen) endlichen Teilwelten (von Natur und Geist) an den Zustand des vollkommnen Ausgesprochenseins eine unendlich-endlose, wäre der Logos des absoluten Geistes ein selbst endlos-unendlicher und somit kein absoluter, sondern ein nur relativer, ein bedürftiger und endlicher, keine absolute Freiheit und Vernunft, sondern ein Ableger dieser Welt und ihrer Endlichkeiten. Der Neuheiten wäre kein Ende, und damit auch kein Anfang, – ein Wort, das sich widerspricht.

 

(4. November 2008)

 

 

[1] Volker Gerhardt: Kleine Apologie des Neuen. In: Merkur, September/Oktober 2008, S. 741 ff.