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19 Musik als Sprache. Ein babylonisches Projekt?

1.

 

Das beliebte Sophisma, Musik sei die einzige Sprache dieser Welt, die auch Analphabeten zugänglich sei, sie trage daher zur Völkerverständigung und zur Errichtung einer friedlichen Welt mehr bei als alle anderen Sprachen (von Politik, Wissenschaft, Kultur, Gesellschaft undsofort), muß sich neuerdings fragen lassen, ob es sich durch die Installierung eines florierenden Marktes für „Weltmusik“ als erfreuliche Realität vollende oder endgültig lächerlich mache. Die Unterstellung, Musik sei eine Sprache, die eine Sprache sei, und alle ihre Arten von Kulturen-, Epochen-, Stil-, Gattungs- und Individualidiomen, ja sogar die Unterschiede von tonalen und nichttonalen Sprachweisen der Musik seien nichts weiter als Dialekte der einen und einzigen Sprache Musik, krankt an der unbestimmten Beliebigkeit des Begriffes von Sprache, der ebenso überzeugt wie gedankenlos der Musik und ihrer Ausdruckswelt unterschoben wird.

Versuchte man den Sprachbegriff nach den Funktionen der Musik, die sie verwirklichen kann, zu präziseren, etwa nach ihrer Fähigkeit, Sprachen für Musik als Kunst, für Musik als religiösen Dienst, für ethnisches Leben und Brauchtum, für säkulare Unterhaltung undsofort zu realisieren, fiele die Unbestimmtheit und Leere des vorausgesetzten Begriffes von Musik als universell verständlicher Sprache, von Musik als Weltsprache, von Musik als Menschheitssprache undsofort unwillkürlich ins Auge.

 

2.

 

Noch heute, im Stadium fortgeschrittener Säkularität der Menschheit, existieren einige tausend musikalische Volkssprachen. Nicht selten werden diese als „Dialekte“ bezeichnet, eine Definition, die unbedacht die Präexistenz einer Haupt- oder Ursprache der Musik anzunehmen scheint, als deren Artenspezifikation die sogenannten „Dialekte“ aller Volksmusiksprachen aufzufassen wären.

Man könnte meinen, die „Fremdheit und Andersheit“ der meisten volksmusikalischen Dialekte für die Stammesangehörigen aller anderen Dialekte sei ein sicheres Indiz dafür, daß den „Dialekten“ keine Ursprache zugrunde liege, daß sie sich nicht von einer Haupt- oder Ursprache als Sondersprachen im Gang der Menschheits- und Musikgeschichte abgezweigt hätten. Sie wären demnach musikalische Sprachen sui generis, und der Ausdruck „Dialekt“ wäre mehr als irreführend.

Dagegen ist freilich einzuwenden, daß Unverständlichkeit von Dialekten noch kein Indiz für Sui-Generität sein muß. Im Feld der Wortsprache verstehen wir beispielsweise die chthonischen Versionen des Schwyzerdütsch nur dunkel und verworren als „deutschen Dialekt“, und wollten wir sie sprechend kommunizieren, müßten wir sie wie eine sogenannte Fremdsprache erlernen. Dennoch kann sprachgeschichtliche Beweisführung glaubhaft belegen, daß es sich bei allen „unverständlichen“ Dialekten um originäre Kinder einer Muttersprache handelt, daß auch Schwyzerdütsch als Zweig des deutschen Sprachbaumes aufzufassen ist, obwohl dieser Baum niemals als bestimmte örtliche und zeitliche Größe empirisch existiert hat. Eine Stammutter ohne Stammland: jede spätere Sprache der europäischen Geschichte scheint das Schicksal der indogermanischen Urmutter zu teilen.

Und was für alle Arten der Wortsprache gilt, scheint auch für alle ethnischen Dialekte der Musiksprache zu gelten: alle scheinen sich einer Stammelternschaft zu verdanken, die als Begriff ebenso gewiß anzunehmen, wie als empirische Realität ungewiß zu verankern ist. Alle scheinen sich aus einem Sprachprinzip zu generieren, das als „tonales Idiom“ oder „Idiom der Tonalität“ umschrieben werden kann. Und nicht zufällig ist diese Umschreibung so vage wie die zu beschreibende Ur-Identität – dem Gattungsbegriff kann kein empirischer Urzustand als erster und verursachender zugeschrieben werden. Nur künstliche Sprachen werden durch (sprachfremde) Systementwürfe und (zu allem) entschlossene

Begründungsurkunden (de)generiert. Und zweifellos war es nicht die Intention Arnold Schönbergs, Dodekaphonie als Esperanto künftiger neuer Kunstmusik, sondern als Fortsetzung und gleichwertigen Ersatz des (für kunstmusikalische Inhalte und Zwecke) ausgeschliffenen Idioms der Tonalität zu generieren.

 

3.

 

Noch schlagender läßt sich die Unterstellung des Sophisma blamieren, wenn wir Ferrucio Busonis These, Anfang des 20. Jahrhunderts erwogen, Musik werde erst jenseits aller tonalen, ja sogar aller tonlichen Idiome und Substrate zu ihrer wirklichen Kunstsprache finden, mit der These des Franzosen Jean François Sudre konfrontieren, der zu Anfang des 19. Jahrhunderts Pläne für eine musikalische Weltsprache entwickelte, die freilich noch heute als „Plansprache“ bezeichnet wird: Solresol. Ein größerer Auffassungsgegensatz über das, was „Sprache der Musik“ sei oder sein könnte, wird sich schwerlich finden lassen: hier die solmisationsgenerierte Dur-Moll-Tonalität, dort eine von allen tonlichen Beziehungen befreite Klangsprache.

Und diese letztgenannte müßte der vielberufenen Menschheit, die Musik angeblich als Universalsprache verstehe und achte, wesentlich leichter eingehen, wesentlich leichter verständlich sein, da sie gänzlich ohne den „Regel-Plunder“ von Musikalphabet und Solmisation, von Grammatik und Syntax auskommt. Daß vorerst nur eine Minderheit aktueller Menschheit die neue Sprache praktiziert und versteht, nicht immer zur Freude und Stärkung des Selbstbewußtseins dieser Minderheit, bedeutet immerhin dies: es gibt noch etwas Neues unter der Sonne der Musikgeschichte: einen (verborgenen) Universalienstreit an der Fakultät der Musik.

Ein Mittelweg bei der Projektierung einer Universalsprache Musik scheint Arnold Schönberg vorgeschwebt zu haben. Da nicht nur zwischen tonal bestimmten Tönen, sondern zwischen allen nur überhaupt möglichen Tönen, die ein Komponist sich ausdenken mag, musiksprachfähige Beziehungen realisierbar seien, genüge eine (beispielsweise zwölftönige) Anordnung des „atonal“ entgrenzten Tonhöhenmaterials, um eine pantonale Sprache zu realisieren. Und wie Sudre für seine Sprache Silben und Kurzschriftzeichen verwendete, experimentierte auch Schönberg mit dergleichen, um eine dodekaphone Solresol-Grammatik der Musik auf den Weg zu bringen. Er war überzeugt, daß „in hundert Jahren“ die treffsichere Solmisation und spontane Erfindung einer Zwölftonreihe zu den unverzichtbaren Aufnahmebedingungen an jedem Konservatorium zählen werden.

Eine Auffassung möglicher Neusprache von Musik, die Theodor W. Adorno in der Zeit der heroischen Jahre der sogenannten „Zweiten Wiener Schule“ geteilt zu haben scheint. Denn wie Beethoven unter den Fesseln einer naturalen Sprache Sonaten mit Durchführungen und Variationen komponierte, so komponiere nun Schönberg ebenfalls Sonaten und sogenannte „Großformen“ in einer nicht mehr naturwüchsigen, sondern zum Geist der Musik befreiten geistigen Sprache.

Es bedeutet nicht, die Verdienste der Heroen der Solmisation (vor allem in Frankreich und Ungarn) zu schmälern, wenn ihnen ein zu enger Begriff von musikalischer Sprache vorzuwerfen ist; Busoni hingegen ein zu weiter Begriff, der nicht mehr von Nichtsprache unterscheidbar ist; Schönberg und Adorno ein illusorischer Begriff, der nicht halten konnte, was er versprechen wollte.

Nicht zufällig liegt zwischen den ersten Versuchen, eine universale (nicht bloß guidonische) Solmisation und den heroischen Versuchen der musikalischen Moderne, eine gänzlich neue Sprache von Musik zu finden, jenes 19. Jahrhundert, das für das Schicksal der Musik von heute und morgen entscheidend werden sollte. Wie es im Pandämonium der aktuellen Unterhaltungsmusik von heute keine Art, kein Genre, keine „Sprache“ gibt, die sich jenseits der Tonalität verkünden könnte, gibt es im Gegenpandämonium der aktuellen Kunstmusik keinen Modus von Musik, der nicht jedem nur erdenklichen Ton- und Klangmaterial den Aufstieg in den Rang einer Musiksprache ermöglicht.

 

4.

 

Angesichts und angehörs der Artenvielfalt, die Musik am Beginn des 21. Jahrhunderts erreicht hat – und ohnehin der totalen Vermischbarkeit aller dieser Arten – nehmen sich die Versuche früherer Jahrhunderte des abendländischen Musikdenkens, eine verbindliche Sprachtheorie von Musik zu finden oder gar die Behauptung, eine gefunden zu haben, kindlich aus. Und daß sich in der bürgerlichen Musikkultur kein verbindlicher Begriff von Tonalität durchsetzen konnte, – mittlerweile kann jeder „ganz persönliche“ als einer von Sache behauptet werden – ist angehörs der Klischee-Tonalität aller Unterhaltungs- und Jazzidiome geradezu ein Vorteil.

Zwar scheint die gesellschaftlich-mediale Omnipräsenz der unüberschaubar gewordenen Genres der Unterhaltungsmusik, die durchgängig tonalen Schemen folgen, ebenso die totale Promiskuität dieser Genres untereinander, unwidersprechlich für Tonalität als entscheidendem Proprium wirklich musiksprachfähiger Klänge zu sprechen. Doch ist der Grundsatz: Die Mehrheit kann nicht irren, auch im Gebiet der Musiktheorie nicht begründungsfähig.

Zu fragen wäre, warum die Mehrheit agiert, wie sie agiert, und zweifellos ist die große Sensation der Musikgeschichte seit dem 20. Jahrhundert diese: daß Musik, auch und weil degeneriert zu Massenunterhaltung, ihr großes, ja ihr größtes Publikum finden konnte. Man spricht nicht in einer fremden Sprache zur Menschheit, mag sich diese auch dem musikalischen Analphabetismus nähern.

Und man spricht in globalen Mischsprachen zu einem Weltpublikum von Weltmusik, wenn die originären Sprachen sekundär und ausgesprochen sind. Das Cross-Over-Prinzip: Alles machen können, was bisher nicht machbar war, kann seinen Zug ins Infantile schwerlich leugnen, wenn nämlich zugleich das Prinzip gilt, daß ohnehin alles erlaubt ist.

Die am Ende des 19. Jahrhunderts in der Musikästhetik und -wissenschaft noch erörterte Frage, ob Tonalität untrennbar zu Begriff und Realität von musikalischer Sprache gehöre, weil ohne dieses Formprinzip von wirklicher musikalischer Sprache nicht verbindlich und objektiv könne gesprochen werden, scheint am Beginn des 21. Jahrhundert ebenso hinfällig wie unentscheidbar geworden zu sein. Gleichgültigkeit und Unsicherheit dürften sich die musikgeschichtliche Waage halten.

 

5.

 

Ohne Zweifel existieren heute mehr Arten von Musik(sprachen) als Arten von Tonalität; dennoch ist bislang keine globale Art von Musik möglich, die nicht eine Art von Tonalität wäre; musikgeschichtlich fügten sich auch die niedrigeren Arten von Musik zunächst einer noch gutgearteten Tonalität ein, ehe sie auch diese in den Abgrund zogen. Und an der Wende zum 20. Jahrhundert entstieg über diesem Abgrund erstmals eine neue Art von Musik, die sich der Artenbildung tonaler Gattungssprache entziehen mußte – der Ekel des Heurigenmusikers Josef Matthias Hauer über den verdorbenen Wein war nicht mehr zu überwinden.

Dennoch ist nicht zu leugnen, daß dem Sprachcharakter der radikal neuen Art von Musik(sprache), die mittlerweile alle nur möglichen Nicht-Tonalitäten und Nicht-Tonlichkeiten ausschöpft, eine bislang nur marginale Globalität zukommt. Es ist nicht Kunstmusik, die zur führenden Kraft von Weltmusik aufgestiegen ist.

Ob es gewisse Erweiterungs-Grenzen der Tonalität geben könnte, hinter welchen das Niemandsland von Musik beginne, in dem das Wesen von Musik in Unwesen, Musik in Unmusik umschlagen müsse, diese brennende Frage des Musikbürgertums am Ende des 19. Jahrhunderts, scheint gelöst: es gibt kein Niemandsland. Musik überlebt alles, auch ihren Tod, und dies bedeutet: sie hat die Macht und Freiheit, zu setzen und wieder aufzuheben, zu erzeugen und wieder zu vernichten alle Sprachen von Musik, die musikalisch möglich sind, und über die Möglichkeitsgrenzen ihrer Verwirklichung entscheidet Musik allein.

Musik ist ihre eigene Sprache geworden, aber nicht wie Busoni dachte, nicht wie Schönberg hoffte, und nicht wie das Sophisma predigt, sondern indem die totale Entwicklung der Musik durch ihre autonomisierte Befreiung eine Artenweiterung ermöglichte, die auch alle Nichtarten als andersartige Arten einschließt. Sprache von Musik ist alles, was ermöglicht wird, als Sprache von Musik zu erscheinen; und Musik selbst erlaubt und realisiert, was sie als machbar erkennt: die spezialisierten Eliten und Märkte der Musik.

 

6.

 

In dieser völlig neuartigen, wahrhaft modernen Lage von Musik, Musikleben und Musiksprache mußten sich zwei Verhaltenspositionen zur Musik extremisieren, die durch eine Mitte, die nicht mehr vermittelnd und zusammenhaltend, sondern nur mehr crossovernd ist, auch nicht mehr aufeinander beziehen. Einerseits ist der sozusagen gemütliche Pol zu nennen, worin das Publikum, aber auch dessen Musiker und Komponist, sich in einer (Haupt)Sprache als der „seinen“ einhaust und darin zufrieden ist; ohne Drang zur Missionierung, ohne Zwang zur Verteidigung, denn universale Toleranz war schon die Bedingung der Ermöglichung eines Zustandes, in dem alles erlaubt ist, was machbar ist, und alles machbar ist, was erlaubt ist. Meine Musik muß mit meinem Musikgeschmack übereinstimmen, aus diesem Imperativ folgt – unter den Bedingungen rechtlich verbriefter und gelebter Toleranz: niemand gönne den anderen deren angestammten Geschmack samt Vergnügen nicht.

Dieser durch Toleranz und Schicksal (von Erziehung, Milieu und Gewohnheit) immunisierten Gemüts-Position steht die Gegenposition, die extrem ungemütliche, radikal gegenüber, ohne abermals, wie noch in der Epoche der heroischen Avantgarde, die Fackel der Revolution in das Lager der Musik werfen zu wollen. Das Lager der Ungemütlichen will nicht Haus und Hof, will nicht Heimat, sie möchte Fremde, und zwar Dauerfremde finden auf dem Meer der Musik. Sie möchte etwas hören, was sie noch nicht und niemals gehört hat und in den Pendants dazu: etwas wirklich Neues und Niegewesenes komponieren und musizieren. Und dies nicht heute und morgen nur, sondern auch übermorgen und immerdar. Es gibt auch im Land der Musik ein Recht auf Ausschwärmen und Nichtrückkehr: auf todesmutiges Abenteuer.

Die einen finden in der Suche nach dem Superstar des Landes, was sie suchen wollten, die anderen suchen bei Scelsi, was sie finden möchten. Die einen ruhen auf ihrer Insel Evergreen, die anderen können nicht lassen von ihrem Begehren, jeden Tag zu neuen Ufern aufzubrechen.

Wie schon erwähnt ist die Position der Mitte keine mehr von vermittelnder Mitte, sie ist daher auch nicht hervorbringender Grund und zu erreichendes Ziel der Extreme, gar deren Harmonie. Sie ist jene, die das historische Panoptikum- und Sandwich-Prinzip von Konzert- und Musik-Konsum verinnerlicht und universalisiert hat. Ihr kann nicht verboten werden, an keinem Tisch nicht zu naschen. Und auch dies gilt wiederum nicht nur für Publikum und Konsument, es gilt auch für Komponist und Musiker. Freilich bedarf diese allesvernaschende Mitte für ihr Querfeldein-Vergnügen an den (Sprach)Tischen von Sandwich und Pasticcio, von Crossover und Eklektizismus in der Regel eines Verdauungsmoderators, der erklärt, daß alles gut und schön, wesentlich und wichtig ist, daß es nicht versäumt werden dürfe und daß die überfüllige Speise schon ihr eigenes Magenbitter sei.

Gibt es eine Welt, die besser geordnet wäre als die der Musik? In der jeder nach seiner (Musik) Facon und Bedürfnis-Innerlichkeit glücklich ist oder wird, in der kein Geschmack möglich ist, der nicht das Seine oder Un-Seine findet? Ist sie nicht ein Vorbild für geglückte Pluralisierung und Individualisierung, die nach Ansicht pessimistischer Soziologen und Psychologen, Pädagogen und Philosophen nicht zwei Glücksbringer, sondern zwei dämonische Hydren sind, die den Zerfall der modernen Gesellschaft herbeiführen werden?

 

7.

 

Die kulturpessimistische Stimme antwortet auf diese Frage mit unsicherem Timbre und einer besorgten Weiterfrage: Was bedeutet die reale Möglichkeit, daß immer mehr Menschen durch infantilisierende Musik infantilisiert werden? Eine Frage dieser Art, die die Möglichkeit einer Infantilisierung durch Musik erwägt, muß in unserer liberalen Kultur mit einer empörten Gegenfrage rechnen: „Muß denn immer alles etwas bedeuten?“, womit die Gefahr einer flächendeckenden Infantilisierung zwar gebannt wäre, noch nicht aber die einer Ausbildung von Parallelkulturen, die zwar nicht die Probleme anderer Parallelgesellschaften auftürmten – etwa religiöser, beispielsweise islamischislamistischer, oder wissenschaftlicher, beispielsweise gläubiger Evolutionisten, die zwischen Mensch und Tier nicht mehr unterscheiden -, die aber doch die These von der geglückten Pluralisierung und Individualisierung durch und in Musik vernichteten.

Denn ist Bedeutungslosigkeit Thema und Quelle, Sache und Event, wonach also in der modernen Gesellschaft und Kultur wenigstens Einiges (etwa Musik) auch nichts bedeuten darf, weil Einiges, vielleicht auch Vieles, ohne Konsequenzen verabreicht und verdaut werden könne, dann wüßten wir, daß es nur ein Nichts ist um den Sinn und das Ziel von Musik als Unterhaltung. Sinn, dieses „schöne“ doppeldeutige Wort der deutschen Sprache meint bekanntlich sowohl das Tun (der Sinne) wie den Inhalt, der getan wird; und ist nun ein Nichts der Sinn und das Ziel des Tuns und der Sache, wäre mit dem Verschwinden der einen Seite von Sinn auch die der anderen verknüpft. Musik existiert nur als sich verdoppelnder Sinn, als permanente Wechselverursachung von (musikalischem) Objekt und Subjekt. Kann nun ihre Sinnproduktion das Gegenteil: Un-Sinn und dessen Quelle: Nichts, in naher oder ferner Zukunft nicht mehr ausschließen, werden uns nicht nur die Fragen nach den Konsequenzen der Sinn-Unterminierung einholen. Umsomehr, als auf den Inseln von Evergreen nicht immergleicher Frühling, sondern durch Selbstverbrauch und Selbsterschöpfung sowie Überproduktion für globale Märkte eine rasende Aus-Differenzierung zu Sub-Arten und Wiederverwertung aller Sprachen aller Genres und Stile erfolgen muß.

Tritt nun zu dieser Entwicklung die einer sich differenzierenden und vermächtigenden Musiktechnologie nicht äußerlich hinzu, weil diese immer schon treibender Motor, Mitquelle und Mitthema war, dann könnte sich durch die technologische Aufrüstung der Musik – permanente Beschallung und Konsumierung, abnorme Lautstärke und Rhythmisierung sowie brachiale Vermarktung – die pessimistische zur verzweifelten Frage steigern: Ab welchem Quantum und Zeitpunkt wird Musik zur Musikseuche, und durch welche Instanzen wird diese Frage nach welchen Kriterien beantwortet? Die Frage muß beantwortet werden, weil eine Gesellschaft, die sich als Demokratie mündiger Bürger eines mündigen Souveräns bedienen muß, nicht mit unmündigen, etwa unterhaltungssüchtigen, existenzfähig sein kann. Nun könnte man zwar einwenden, auch Platon und Aristoteles konnten, trotz Ablehnung gewisser Musikentwicklungen und leidenschaftlich vorgeschlagener Gegenstrategien, die sogar das Verbot bestimmter Tonarten und Musizierpraxen sowie eine Ächtung des Virtuosentums einschlossen, nicht das Verschwinden der griechischen Kultur und ihrer polis aufhalten.

Doch wissen wir dank dieser Auskunft nur, daß letztlich nicht auf den Feldern der Musik (und Kunst) über Bestand und Fortbestand der modernen Kultur und Gesellschaft entschieden wird; wir haben keine kulturgeschichtliche Antwortressource auf die Frage nach der Bedeutung erhalten, welche die Sprachen der Musik (und Kunst) heute und morgen haben oder haben sollen. Die Antinomie aktueller Musik ist prekär: vielfältigste Bedeutung konvergiert mit völliger Bedeutungslosigkeit, das eine kann augenblicks in das andere umschlagen, das eine kann das andere werden oder auch sein, – Sinn alias Unsinn, Unsinn alias Sinn.

Musik in einem dramatischen Entwicklungsstadium: denn wann wäre ihr Status einerseits zufriedenstellender, wann ein überbordenderes Angebot an Genres und Märkten, Musikern und Musiken jemals in der Geschichte zu vermelden gewesen?; und wann wäre andererseits jemals ungewisser gewesen, ob die Auseinandersetzung mit ihr (und mit welcher Art ihrer unerschöpflich-erschöpften Gattung?) einen wirklich zufriedenstellenden Sinn erbringe?; wann ungewisser, ob der Wert unserer (genießenden? bildenden? erkennenden? befreienden? abenteuernden?, oder auch nur freudig praktizierenden?)Teilnahme an Musik möglicherweise ein bloß unterhaltsamer sein könnte?

 

8.

 

In vormodernen Kulturen und Gesellschaften, die partiell noch heute residieren, existiert Musik(sprache) vorbabylonisch; in moderner Kultur und Gesellschaft hingegen radikal babylonisch: überbordend und verwirrend, alles vermischend und entgrenzend, alles ermöglichend und daher unkanonisierbar; und vor allem – als wirklich modernes Babylon: sich permanent modernisierend und zugleich musealisierend. Dieser letztgenannte Faktor (Selbstmusealisierung jeder Modernisierung), den der von radikaler Individualisierung einerseits und grenzdebiler Vermassung andererseits nicht nur begleitet, fehlte dem „originalen“ Babylon, ein „Original“, das als Fiktion der modernen Rückprojektion einer hellenistischen Vielfalts-Idylle unschwer zu durchschauen ist. (Diese verhält sich zu unserem Babylon wie das Angebot eines vormodernen Bauernmarktes zu dem unserer modernen und hypermodernen Superkaufhäuser.)

Fügt sich nun zu dieser modernen Überfülle auch noch die sogenannte Digitalisierung des Bestandes und der Produktion (nicht nur) ein, ist fürs erste ein unübertreffbarer babylonischer Zustand als Nichtzustand garantiert. In diesem gibt es keine Sprache von Musik, die nicht (wie marginal auch immer) existenzfähig: schaffbar, verstehbar, interpretierbar wäre. Doch sind diese drei Aktivierungsformen des Modus der Substanz von Musik selbstverständlich unter babylonischen Bedingungen (um) zu definieren.

In den vormodernen Gesellschaften vorzüglich der europäischen Geschichte war es auch die Sprache der je aktuellen Musik (und der Künste), die den jeweiligen Eliten, aber auch den ständisch und religiös organisierten Teilkulturen der Gesellschaft ermöglichte, ihr Wesen, ihren Geist, ihre Freiheit, den Sinn ihres Lebens zu suchen und zu finden, zu vergegenständlichen und zu konzentrieren. Wenige Reigen erfüllender Feste genügten.

Unter strengen und geschichtlich nur langsam sich verändernden Hierarchien von Inhalten und Formen, Kanons und objektiv ausgetragenen Geschmackskämpfen zwischen moderni und antiqui, konnte eine vergemeinschaftende und orientierende Versprachlichung der (Lebens)Inhalte durch die Sprache konkreter Musik verbindlich formuliert werden; ein Modus der Substanz Musik, der für immer verlorengegangen ist, weil die dazu erforderliche Geschlossenheits- und Einheitswelt der Vormoderne menschheitsgeschichtlich verabschiedet wurde und wird.

Wer daher meint, durch Weltmusik sei erst noch eine Weltsprache der Musik für eine Welt-Menschheit zu suchen und zu finden, hat sich mit dem Sinn der modernen Kulturrevolution noch nicht vertraut gemacht. (Die Vorstellung einer originären „Weltmusik“ ist ähnlich obsolet und rührend naiv wie die politische Vorstellung, daß durch ein „Weltethos“, das durch Summierung von kulturdifferenten Minimalkonsensen chartafähig wäre, ein neues universales Menschheitsethos entstehen könnte.)

 

9.

 

Es ist trivial selbstverständlich, daß in der sogenannten Ersten Welt das kulturelle Babylon und dessen tabula rasa manifest werden müssen, weil hier zuerst alle Sprachen der Musik permanent kollidieren und promiskuieren mußten und müssen und auch sollten und sollen. Tabula rasa: In der antinomischen Lage moderner Existenz von Musik, die ebenso dramatisch wie vergleichgültigend ist, kann die Entdramatisierung des Dramas Musik am Verschwinden des Fortschrittsgedankens aus Musik, Musikleben, Musikschaffen und -denken abgelesen werden.

Noch bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts erwiderten auf die Grundthese, daß Musik als Sprache untrennbar von Musik als Tonalität sei, drei Antworten: Erstens, die radikal negative, die ebenso blind wie fest daran glaubte, daß das eroberte Reich totaler Befreiung von aller Tonalität und Tonlichkeit das erreichte Arkanum der wirklich zu sich befreiten Musiksprache sei, weshalb Musik als Kunstmusik unter dieser völlig neuen, wirklich ‚modernen’ Gestalt ein führender und universal orientierender Aufstieg bevorstehe. Zweitens die ebenso radikal positive des Gegenteils: der Glaube, daß das Form-Prinzip Tonalität in der modernen Unterhaltungs- und Jazzmusik vollendet zu sich gekommen, vollendet sprachfähig geworden sei, wovon der Beweis die Tatsache sei, daß keine andere Musik jemals mehr Menschen beglückt habe und immerfort beglücke, ein Selbstbeweis, der keiner theoretischen Begründung und Demonstration mehr bedürfe. Drittens die zögernde und sich verweigernde Antwort, die angesichts dieser (noch) dramatischen Alternative (Busoni versus Beatles) auf Abwarten und Zukunft setzte: diese, (also doch ein Fortschritt an Freiheit in und durch und für Musik?), möge entscheiden, was der Fall sein wird und sein kann.

Schwundstufen dieses (Fortschritts)Gegensatzes existieren noch heute, und ihnen nachzugehen lohnt sich für den, der das Hintergrundrauschen der musikgeschichtlichen Entwicklung verstehen möchte. Eine prominente Schwundstufe des einst noch öffentlichkeitsfähigen Diskurses über Musik und Musikentwicklung ist das Prominenten-Interview, das in der Regel von einem Journalisten, der durch Popmusik sozialisiert wurde, und – in der sogenannten „klassischen“ Szene – mit einem sogenannten Star-Musiker geführt wird. Kürzlich mit einer bekannten Star-Geigerin „klassischer Musik“, deren Befragungsjournalist seiner Prominenz-Autorität die Frage vorlegte, ob es denn wirklich glaubhaft sei, daß Bachs Musik nicht schlechter als jene der Beatles sei – woran offensichtlich die Stammesangehörigen der „klassischen Musik“ zu glauben scheinen. (Denn daß ein Fahrzeug, mit dem Menschen vor 250 Jahren fahren konnten, daß eine Musik, die Menschen vor 250 Jahren für gute Musik hielten, schlechter sein müssen als heutige Fahrzeuge und Musiken, bedarf wohl keines Beweises.)

Als erste Antwort mußte die Star-Geigerin zu einem Lachen Zuflucht nehmen, das vermutlich ein Weinen verflüchtigen sollte, weil in ihren Augen und Ohren ein unwissender Pop-Fellache, der ein wohlwollendes Wort für Bachs Musik einlegt, sich ebenso komisch wie traurig ausnehmen mußte. Doch wie muß dem Pop-Fellachen zumute gewesen sein, als er aus berufenem Munde hörte, selbstverständlich sei doch, daß die „klassische Musik“ das ABC der Musik sei? Er dürfte ein sprechendes Gespenst erblickt haben, das von vergangenen Märchen zu erzählen weiß. Auch dies ein Fall zum Lachen und Weinen, wenn nämlich einem musizierenden Menschen von heute die triviale Einsicht verborgen blieb, daß selbstverständlich Groove und Beat, der Blues und die große Popgeschichte das wahre ABC der Musik von heute und morgen sind, – und alles andere nur Schnee von gestern oder von ahnungslosen Außenseitern und musikalisch Zurückgebliebenen.

 

10.

 

Beim Interview-Diskurs zwischen Pop-Fellachen und Star-Musikerin erleben wir nicht eine moderne Neuauflage des traditionellen Gegensatzes „antiqui versus moderni“ in der Gestalt einer Konfrontation von Kunstmusik versus Unterhaltungsmusik, sondern ein musikgeschichtliches Novum. Zwei prinzipiell getrennte Welten der Musik, die sogenannte „klassische“ und die popularmusikalische, begegnen einander, zwei Welten, die jede für sich eine (un)endliche Artenbildung und Geschichte vorweisen können. – Diese Welten von Musik stehen daher wie (einander tolerierende) Gegen-Welten in der modernen Welt dennoch nicht gegen-, auch nicht miteinander, sondern nebeneinander. Und „Crossover“ oder „Postmoderne“, „Jazz“ und „Neue Einfachheit sind und waren nicht ihre Mitte und Vermittlung, sondern „Crossover“ und „Postmoderne“, „Jazz“ und „Neue Einfachheit.“

Auch in der verbalen Begegnung von Kunstmusik und popmusikalischer Musik generiert sich daher ein Diskurs von überraschungsanfälliger Beliebigkeit vulgo Freiheit, weil den fragenden Journalisten und Feuilletonisten jede nur mögliche Frage, den antwortenden Prominenz-Autoritäten jede nur mögliche Antwort freigegeben ist. (Dies ist weder schlecht noch gut und daher schlecht.) Daß aber in dieser Begegnung die Position der „klassischen“ Musikwelt größere Schwierigkeiten haben muß, sich unter den Bedingungen der modernen Musikkultur und ihrer Viele-Welten-Musik-Welt verständlich zu machen (oder gar sich durchzusetzen als Haupt- oder Erst-, als Führungs- und Zielwelt) als die Welt der popmusikalischen Musik, folgt schon aus der überwiegenden Antiquiertheit des Repertoire-Angebots der „klassischen“ Musikwelt. Das Museum „klassischer Musik“ konvergiert nicht dem Museum popmusikalischer Musik.

Unter Kunstmusik vulgo „klassische Musik“ versteht der klassikanische Standpunkt keineswegs allein nur die Herkunftsepoche dieses Terminus: die sogenannte „Wiener Klassik“; sondern alle großen Musikstile und Gattungen sowie deren Werke seit etwa der frühen Neuzeit oder auch noch die des Mittelalters einbeziehend. Und wenn er tolerant und mainstream-konform denkt und agiert, glaubt er auch noch an eine „Klassik der Moderne“, weil die Musiken von Bartok und Strawinsky, Mahler und Busoni, Skrjabin und Varèse, Berg und Hauer, Hindemith und Haba, Schönberg und Webern undsofort unter diesen Begriff (der nur mehr einen Epochenbegriff, nicht mehr einen Stilbegriff verwaltet) zu subsumieren wären. Ein Klassikbegriff dieser historischen Omnipotenz und Superteleologie, Pluralisierung und Individualisierung ist aber für den historisch schlichten Geist des Pop-Fellachen, dessen Musikwelt ihrerseits in ihrer kurzen Geschichte bereits ein Universum an Arten, Stilen, Prominenzen und auch „Klassiken“ hinterlassen hat, kaum bis gar nicht verstehbar.

 

11.

 

Daher das verständnislose Staunen derer von der popmusikalischen Front, wenn sie im offenen Gelände der modernen Musikkultur eine andere Front erblicken, die behauptet, allein die „klassische Musik“ sei das ABC aller Musik, – auch der Musik von heute und morgen, obwohl es sich dabei doch zum größten Teil nur um „Alte Musik“ handelt, ein Wort, das die Star-Geigerin beim flüchtigen Disput über den inkriminierten Bach nicht in den Mund nehmen wollte, um sich nicht als antiquarische Größe zu kompromittieren.

Spätestens hier erhebt sich der Verdacht, daß der Starmusiker klassischer Provenienz – mit ihm der heutige professionelle Musiker des gesamten Kunstmusik-Repertoires seit dem Mittelalter – verunsichert durch seine universal-historische Position, etwas argumentieren möchte, das er zugleich nicht mehr argumentieren kann, schon weil er den Unfug des

„Wortbegriffes“ einer „Klassik“, die als Mädchen für alles fungieren soll können, nicht durchschauen kann oder nicht durchschauen will oder beides. Er wurde durch eine Musikkultur musikalisch gebildet und sozialisiert, die sich über die Vermittelbarkeit von Historie und Teleologie, von Epochenwahrheit und Fortschrittswahrheit der Musik keine Gedanken gemacht hat oder keine machen wollte oder beides.

Sofern der professionelle Musiker von heute daher nicht-mainstream-konform nachdenkt, möchte er eigentlich diese Meinung äußern: Es gab große Sprachen von Musik, die als große Stile und Gattungen und auch Werke reüssierten, die somit als höchste „Dialekte“ musikalischer Sprache glänzten, weil sie zugleich die höchsten Inhalte, die der Musik als Kunst zugänglich sind, aussprechen konnten. Das Universum dieser „Dialekte“ sollte daher unvergeßlich (ein „ABC“) verbleiben wenigstens für künftige Experten-Eliten und „Aufführungspraktiker“, da die große Mehrheit der Menschheit vorerst noch von anderen Sorgen behelligt und als popularmusikalische von der Liebe zur globalen Popularmusik durchdrungen wird.

Sofern er aber mainstream-konform nachdenkt, nimmt er zu dieser Meinung noch eine moderne über die „Klassik der Moderne“ hinzu, derzufolge auch die „Klassik der Moderne“, (und vielleicht auch noch deren Nachfolger, – eine „Zweite Moderne“ soll schon in den Startlöchern hocken), in das Pantheon der „höchsten Dialekte“ aufzunehmen wäre. Und dies, obwohl er als Experte des Musizierens aller Musiken nicht nur wissen, sondern auch erfahren haben müßte, daß zwischen der vormodernen Welt der Musik, zuletzt der „musikalischen Romantik“, und jener der Moderne ein revolutionärer (Welt)Sprung als Grund und Ursache der Ermöglichung von musikalischer Moderne einspringen mußte.

Das nicht-mainstream-konforme Urteil setzt die These: die genannten „Dialekte“ der abendländischen Kunstmusik, weil Vollendungsarten des Gattungswesens von musikalischer Sprache, waren und sind nicht nur Ausdruck einstiger Eliten und Gesellschaften, sondern Selbstausdruck der höchsten Sprachlichkeit von Musik überhaupt.

Das mainstrem-konforme Urteil setzt die Gegenthese: da es auch der musikalischen Moderne gegönnt sei, an diesem Faden fortzuspinnen, wenn schon nicht als Fortsetzung bisheriger Artenbildung, dann doch als revolutionäre Sui-Generität bis hin zur Evolution unübersehbarer Partial- und Individualsprachen von Musik, sei auch dieses moderne Pantheon auf gleicher Sprach- und Inhaltshöhe, auf gleicher Wert- und Sinnhöhe in das universale ABC-Pantheon der Musik aufzunehmen.

Dieser Gegensatz zweier Grundurteile über die Sprachfähigkeit von Musik schafft Klarheit auch über die Aporie der modernen Kunstmusik-Ideologie und ihres „Klassik“-Verständnisses. Denn über den Abgrund des Widerspruchs zwischen der großen Freude, daß in der Moderne endlich die Eliten der Musik selbst über den Sprachcharakter von Musik, deren Inhalt und Umfang entscheiden, und der ebenso großen Trauer darüber, daß just diese „Sprachen“ nicht mehr Sprach- und Selbstausdruck irgendwelcher anderer Eliten der modernen Gesellschaft sein können und sein sollen, versucht der AllBegriff „Klassik der Moderne“ mit schwindelerregenden Sophismen hinüberzuspringen.

Die Mainstream-Unsicherheit und -Beliebigkeit des professionellen Musikers und modernen Teilnehmers an der Kunstmusik von Vormoderne und Moderne gründet daher (sehr viel) weniger in einer Verführbarkeit durch das popmusikalische oder auch durch das Argument des Jazz, (der sich nicht selten als Ursprache der Musik zu definieren versucht) diese und andere (Unterhaltungs)Arten von Musik als heutige oder künftige Kunstmusik akzeptieren zu sollen, als vielmehr in dem verinnerlichten Argument der ästhetischen Moderne, daß der vollendet befreite Komponist Neuer Musik(sprachen) dazu könnte und sollte berufen sein, eine letzte als erste Ursprache der Musik zu entdecken.

Dabei mag die Sorge mitspielen, die moderne (Kunst)Musik, nicht zur neuen Führungsmacht in der Welt der Musik aufgestiegen, könnte dereinst wieder verschwinden, sie könnte nicht in jenes Universalmuseum – in das WeltMusikerbe der Menschheit – aufgenommen werden, was ihre (meist tonalfixierten) Verächter bis heute erhoffen. Eine unbegründete Sorge, weil das vollendet befreite Endstadium der Musik zu deren Totalitäts-Begriff nicht weniger hinzugehört als das noch völlig unbefreite Vorstadium von Musik als religiös und ethnisch dienender.

Erschienen in: Österreichische Musikzeitschrift 2008, Heft 6; S. 19-32.