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23 Die verschlungenen Lösungen des Nahostkonflikts

I. Gegenwart

 

  1. Vier Lösungsvorschläge

Um den Nahost-Konflikt, der als Keimzelle eines Weltkonflikts gefürchtet wird, zu befrieden, werden vier Lösungen vorgeschlagen. Zwei radikale und zwei gemäßigte, und auch diese könnten in unberechenbare Radikalität und Zerstörung umschlagen. Unter den beiden radikalen ist eine bösartig und in der Zukunft situiert, die andere gutartig und in der Vergangenheit verabsäumt worden.

Die bösartige der Zukunft wird von der schiitischen Republik Iran seit vielen Jahren vorbereitet und von einer Mehrheit in der arabischen Welt gutgeheißen: Vernichtung Israels. (Lösung 1) Die gutartige der Vergangenheit wurde verfehlt, als sich die politischen Eliten der arabischen Welt weigerten, Jordanien als Basis für ein autonomes palästinensisches Gebiet mit Aussicht auf spätere Staatsgründung zuzulassen oder auch nur zu erwägen. (Lösung 2) Gegenwärtig werden, vor allem auch in der westlichen Welt, die beiden gemäßigten Lösungen erwogen, primär eine Zwei-Staaten-Lösung, sekundär eine Ein-Staat-Lösung. (Lösung 3 und Lösung 4)

Eine neutrale Perspektive einzunehmen, um die Konfliktlage und deren vorgeschlagene Lösungen zu erörtern, ist naturgemäß sinnlos. Gewiß hätte ein Weltpazifismus, sofern er nur über einige Macht über die Mächte dieser Welt verfügte, mehr als gute Wünsche und erbauliche Lehren beizubringen. Aber letztlich müßte sich auch der Pazifist entscheiden und nicht nur reden und guten Willens für den Weltfrieden demonstrieren.

Und westliche Künstler und andere externe Friedensbringer, die meinen, durch Zusammenführen von israelischen und palästinensischen Künstlern bei gemeinsamen Konzerten, Theater- und anderen Projekten eine neue Friedensfähigkeit beider Nationen vorbereiten zu können, sind, leider, nur Teil des pazifistischen Problems und weder dessen Lösung noch gar die Lösung des Konflikts.

Daß eine große Mehrheit in der arabischen und islamischen Welt die Lösung 1 bevorzugen würde, wenn sie nur erfolgreich durchführbar wäre, ist kein Geheimnis. Ebenso nicht, daß die radikalen Fraktionen der Palästinenser und ihrer mächtigen Unterstützer in der islamischen Welt an der Verwirklichung dieser Lösung fanatisch festhalten. Unnötig zu ergänzen, daß der Jihad von Al-Kaida und Mitstreitern die Vernichtung Israels und die Vertreibung der Kolonisatoren – „Juden, Kreuzritter und Ungläubige“ – in den Rang einer religiösen Pflicht erhoben hat.

Das Ensemble der Lösungsvorschläge:

Lösung 1   – Vernichtung Israels

Lösung 2 –   Ein autonomes palästinensisches Gebiet in Jordanien

Lösung 3   – Zwei-Staaten-Lösung

Lösung 4   – Ein-Staat-Lösung

 

  1. Das Durchspielen der Szenarien

Für alle vier Lösungsvorschläge gilt gewissermaßen die Unschuldsvermutung, genauer: die Unwissenheitsvermutung, denn keine Deutung kann garantieren, daß die Lösung, die sie für die einzig mögliche und richtige hält, auch die sein wird, die sich weltgeschichtlich durchsetzen wird. Und selbstverständlich ist es sinnlos, in der Geschichte nach ähnlichen Situationen, die über die heutige belehren oder gar orientieren könnten, zu suchen.

Daß keine weltgeschichtliche Situation durch eine andere – vorhergehende – erkennbar oder gar entscheidbar ist, wissen im Grunde alle Beteiligten und Betroffenen. Sie wissen dies auch dann, wenn das beliebte Durchspielen der verschiedenen Lösungsszenarien mit analogisierenden Verweisen auf vergangene Situationen unternommen wird, um überzeugende Argumente für den eigenen Lösungsvorschlag zu finden und einsichtig zu machen.

Aber auch noch für dieses Durchspielen möglicher Szenarien ist es verlockend, Orientierung bei historischen Beispielen zu suchen: Durchaus wahrscheinlich, daß sich in den historischen Quellen prophetische Deutungen finden lassen, die beispielsweise die Resultate des Ersten und Zweiten Weltkrieges (kaum deren Verlauf) wenigstens in Umrissen vorhergesehen haben. Wo viele Spieler, steigen die Chancen auf einen möglichen Sieger.

Daß dieser am Ende meist nur als Rechthaber, nicht als Visionär geschätzt wird, hängt mit der Machtlosigkeit des Spielers zusammen. Wenn er schon so klug war, die kommenden Katastrophen vorherzusehen, warum hat er nicht mit allen Kräften versucht, sie zu verhindern?

 

  1. Perspektiven und Konstanten

Lösung 1 wird oft in der Erwartung durchgespielt, sie würde zu einer unvorstellbaren Überbietung des Holocaust und ohnehin zu einer unüberbietbaren „Vollendung“ des Antisemitismus in der islamischen und gesamten Welt führen. In der Perspektive ihrer Befürworter und Betreiber gewiß kein Argument, vom großen Plan abzulassen, auch wenn er den Keim zu einem Dritten Weltkrieg enthielte. (Die selbstverschworene Weltverschwörungslehre des antizionistischen Antisemitismus ist unheilbar.)

Spätestens an dieser Stelle wird es unumgänglich festzustellen, welche Perspektiven welcher Beteiligter zu berücksichtigen sind, um das „Durchspielen“ der möglichen (vier) Szenarien so realitätsnah wie möglich zu halten.

Und plötzlich scheint es doch möglich, „aus der Geschichte“ für das politische Handeln im Heute und Morgen zu lernen. Denn immerhin dies scheint eine Konstante der Geschichte zu sein: bei jedem Konflikt von weltgeschichtlicher Bedeutung fungieren die unmittelbaren Kontrahenten als erster, als lokaler Kreis; neben und über ihnen agieren die regionalen Mächte, teils mächtiger, teils weniger mächtig als die direkten Kontrahenten, – der regionale Kreis; und über den regionalen Mächten rangieren die wirklichen Mächte der Welt, die am Ende über Krieg und Frieden nicht nur mitbestimmen, – der weltpolitische Kreis.

Daß diese „Konstante“ eine formale ist, leuchtet ein; und daß man von Formalien wenig über konkrete Inhaltskonflikte der Gegenwart erfahren kann, ebenfalls. Dennoch ist es nützlich, in die formale Konstante die aktuellen Variablen einzusetzen, in das regulative Prinzip die wirklich konstituierenden Prinzipien und Inhalte der je aktuellen Konfliktlage.

Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, welche, nun nicht Durchspieler, sondern wirkliche „Spieler“ im Fall des Nahostkonflikts beteiligt sind, welche Kreise durch welche Mächte erfüllt werden. Kaum ein Thema, das nicht täglich in allen möglichen und „unmöglichen“ Medien abgehandelt wird.

 

  1. Lösung 1 als Null-Lösung

Daher ist gleichfalls bekannt, daß in der Perspektive der Beteiligten (aller drei Kreise) diese Alternative unhintergehbar ist: entweder die Lösung 1 erfolgreich zu verwirklichen oder eben dieselbe Lösung 1 unter allen Umständen zu verhindern. Eine Lage, die wohl nicht zufällig an jene erinnert, die die westliche Welt nach der Machtergreifung durch den deutschen Nationalsozialismus erlebte: Chamberlain hielt für keine Gefahr, was sich als todbringende Gefahr herausstellen sollte; Churchills Deutung und „Durchspielen“ der möglichen Szenarien wurde bis 1939 als übertrieben heruntergespielt.

Anders aber als Hitlerdeutschland scheint der Iran nicht nur konventionell enorm aufzurüsten und seine Fünften Kolonnen im Libanon, Gaza-Streifen und anderswo zu unterstützen, er scheint auch an seiner atomaren Bewaffnung zielstrebig zu arbeiten und eben deshalb jede Zusammenarbeit mit den internationalen Behörden, trotz installierter Embargos und Sanktionen, zu hintertreiben.

In der Perspektive des Irans und seiner Proxies, aber auch in der Perspektive der das Lösung-1-Szenario befürwortenden islamischen Massen und ihrer politischen Eliten eine durchaus erfreuliche Entwicklung. Denn die Stunde der Befreiung Jerusalems und der Vernichtung der angeblich westlichen zionistischen Kolonie auf heiligem islamischen Boden scheint nicht mehr fern.

Freilich könnte der Iran die sunnitische Hälfte der islamischen Welt als Hegemon zu dominieren versuchen, wenn ihm das große Lösungswerk einer neuen „Endlösung“ gelingen sollte. In der Perspektive Israels und seiner Beschützer verständlicherweise das genaue Gegenteil einer erfreulichen, die kaum überbietbare Gestalt einer unerfreulichen, einer existenzbedrohenden Entwicklung.

Naturgemäß ist die Perspektive der UNO gespalten; zwar steht die Gründung Israels bis heute in den Akten und Annalen der sogenannten „Weltgemeinschaft“; welcher Kontrahent aber im Konfliktfall unterstützt oder verurteilt würde, wird von den jeweiligen Machtinteressen der Weltmächte, vom jeweiligen Jonglieren mit dem Vetorecht im Weltsicherheitsrat abhängen. Ein Sicherheitsrat, der seine Verunsicherungsmacht lustvoll zu genießen scheint.

Daher entfällt die aktuelle Vereinigung der „Vereinten Nationen“ als Sicherheitsgarantie auch im aktuellen Konfliktfall, ihre Entscheidungsfähigkeit ist ungewiß, ihre Machtausübung zumeist irrelevant. Zur Vermeidung großer Katastrophen, zur Verhütung eines möglichen Weltkonfliktes dürfte sie nur wenig beitragen können, wie schon ihr bisheriges Agieren in den zahlreichen Konflikten der Nahostregion bewiesen hat.

Ein Angriff Israels und seiner Verbündeten auf die Atomanlagen des Irans würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Angriff gegen den „Weltfrieden“, als völkerrechtlich unhaltbare Aggression usf. verurteilt werden. Weniger sicher ist die Wahrscheinlichkeit einer ähnlich entschiedenen Verurteilung, sollte in der Tat ein atomarer Angriff auf Israel erfolgen, weil nicht wenige Staaten der UNO die Ansicht teilen, Gründung und Geschichte Israels seien ein zu widerrufender Irrtum gewesen. Und dies gilt wohl auch (wie schon mehrmals) für Angriffe gegen Israel mit konventionellen Waffen, sei es im Norden, sei es im Süden, sei es an allen Fronten seiner Feinde, die ja nur versuchten, eine schändliche Besatzungsmacht und ein ungerechtes Apartheidsystem zu besiegen und zu beseitigen.

Die Versuche, Israels Gründung, Geschichte und aktuelles Handeln zu delegitimieren, sind Legion und in der Perspektive ihrer Repräsentanten legitim und historisch unausweichlich. Oberste politische Aufgabe und Pflicht Israels und seiner Beschützer daher: die Phalanx der Delegitimisten zu delegitimieren.

 

  1. Durchspielen und „Durchspielen“

Wagte ein Durchspieler des Szenario 1 eine Antwort auf die Frage, welche Konsequenzen die genannten Verurteilungen oder Nichtverurteilungen durch die „Vereinten Nationen“ haben könnten, wäre ihm die Rolle des wahrsagenden Hasardeurs oder visionären Propheten nicht zu nehmen. Er würde die Grenzen seiner Spielmöglichkeiten überschreiten, und dennoch wird er – als Befreundeter oder gar Mitstreiter einer der beiden Feindmächte – eben dieses Spiel mit fanatischem Interesse betreiben. (Er wird Teil der Propaganda, die er für keine hält.)

Das Problem des Durchspielens ist einsichtig und unlösbar: kein Durchspieler kann die Gesamtheit jener Kausalitäten im Voraus beurteilen, die sich durch das Zusammenwirken aller beteiligten Faktoren und Akteure notwendig einstellt, wenn ein Konflikt durch direkte Kollision gelöst werden soll.

Dennoch ist dies nicht das Ende des Durchspielens und Antizipierens, ganz im Gegenteil. Denn es ist evident, daß die entscheidungsbefugten politischen und militärischen Eliten aller Beteiligten (besonders des ersten Kreises) mit nichts anderem beschäftigt sind, als tagtäglich alle nur möglichen Szenarien immer wieder „durchzuspielen“, nun aber im Sinne von realer Konzeption möglicher und zielführender politischer und militärischer Strategien. „Durchspielen“ ist nicht Durchspielen.

Was sollen wir tun, wenn die andere Seite dies oder jenes tut? Und wann sollen wir was tun – beispielsweise vorher oder nachher? Vor einem möglichen Angriff oder nach erfolgtem Angriff? Welches Risiko ist gefährlicher? – und dies sind nun keine Spielfragen, sondern Fragen der Existenz, Fragen auf Leben und Tod.

 

  1. Dialektik der Lösungen

Ist demnach die Lösung 1 ihr eigenes Gegenteil, schon weil sie für die islamische Welt ähnlich verheerende Konsequenzen hätte, wie für das besiegte Hitler-Deutschland und Verbündete (von der Niederlage Japans zu schweigen), scheint Lösung 3, die gegenwärtig mit lauteren und unlauteren Mitteln angestrebt wird, keinen Widerspruch zu dulden. Und dennoch folgen die Argumente derer, die eine Ein-Staat-Lösung favorisieren aus unmittelbarer Negation und Ablehnung der Zwei-Staaten-Lösung.

Nur scheinbar sei eine Zwei-Staaten-Lösung (3) vernünftig, nur scheinbar sei sie realistisch und durchführbar. Denn erstens wäre die territoriale Einheit des neuen palästinensischen Staates fragmentiert; zweitens wäre die ökonomische Existenz von externen Mächten abhängig (unter anderem von Israel) und drittens würden die fortdauernden Konflikte zwischen gemäßigten und radikalen Fraktionen das politische Leben des neuen Staates rasch vernichten, also in neue Bürgerkriege stürzen.

Auch wäre der soziale Zusammenhalt im neuen Staat nicht organisierbar – wenige begüterte Familien stünden weiterhin einer Masse Arbeitsloser, meist den Nachkommen der sogenannten Palästinaflüchtlinge gegenüber. Und selbstverständlich könnte das militärisch und zivilisatorisch überlegene Israel nicht tatenlos zusehen, wenn im neuen und noch dazu feindlich gesonnenen Nachbarstaat Chaos und Revolte regieren.

Einsichtig, wie die Aporie dieser Lösung abermals zur Lösung 1 zurückführt – jedenfalls in der Perspektive ihrer Repräsentanten: Iran und Proxies, Saudi-Arabien und Proxies. Eine Ein-Staat-Lösung kommt für deren Perspektive weder aus historischen noch aus Gründen der „arabischen Ehre“ in Frage. Dennoch wird sie in der westlichen Welt gern von friedliebenden Historikern, Künstlern und auch Politikern vertreten.

In deren scheinbar vernünftiger Perspektive ist die Zwei-Staaten-Lösung keine, weil der neue Palästina-Staat letztlich nichts weiter als ein ohnmächtiger Appendix des übermächtigen und tödlich gehaßten Nachbarn Israel wäre. Das Resultat somit das Gegenteil dessen, was die selbsternannten Friedensrichter der westlichen Welt anstreben: „Frieden im Nahen Osten.“ Die Perspektive der Lösung 3 erkennt die Naivität der Lösung 4. Also steht zu vermuten, daß die Perspektive der Lösung 4 ihrerseits die Naivität und Unhaltbarkeit der Lösung 3 aufdecken wird.

Diese behauptet, mit belehrender Unerschütterlichkeit, daß einzig die Ein-Staat-Lösung (4) als wirkliche Lösung des Konflikts in Frage komme. Juden und Palästinenser haben demnach in einem neuen Gemeinsamkeits-Staat als gleichberechtigte Bürger zusammenzuleben. Nur auf diesem Wege könnten die Palästinenser vor dem Schicksal bewahrt werden, als „ewige Sklaven“ Israels leben zu müssen. Und die Israelis könnte endlich in Frieden mit ihren „Nachbarn“ leben, weil sie offensichtlich keine mehr hätten, jedenfalls keine feindlich gesinnten mehr.

Und plötzlich wären auch die USA die Rolle des in der islamischen Welt gehaßten Paten Israels los: sie wären auf einen Schlag auch nicht mehr Feind und Opfer des globalen islamistischen Terrors. Die Proponenten der Lösung 4 empfehlen sich auch gerne als „Visionäre“ und pflegen dazu – ausgerechnet – ein Wort von Theodor Herzl zu zitieren: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“

Offensichtlich haben die Vertreter der Lösung 4 nicht verstanden, welcher Konflikt vorliegt und warum wesentlich radikalere Lösungsvorschläge die internationale Bühne beherrschen. Ihre Naivität erinnert an gewisse Vorschläge westlicher Denker und Künstler, die in der Ära des Kalten Krieges ein Vereinigtes Berlin (wenn nicht gar ein Vereinigtes Deutschland unter Beibehaltung zweier gegensätzlicher Weltanschauungen) für realisierbar hielten, weil doch die Gemeinsamkeiten der getrennten deutschen Hälften, würde man sie nur entwickeln und nicht durch „die Politik“ unterdrücken lassen, von selbst für ein friedliches Zusammenleben sorgen würden. Es kam anders und bekanntlich so extrem anders, daß die damaligen Durchspieler einer möglichen Gemeinsamkeits-Lösung für immer als bloße „Durchspieler“ entlarvt wurden.

 

  1. Aktuelle Vorgeplänkel um Lösung 3

Gegenwärtig wird im Nahen Osten nach einem neuen Einstieg in das Wege-Labyrinth der Lösung 3 gerungen. Den palästinensischen Eliten der gemäßigten Front schwebt ein neuer Königsweg vor. Nach einer UN- Anerkennung Palästinas als eigener Staat wäre Israel unter Zugzwang und müßte bei künftigen Verhandlungen Kompromisse eingehen, die es ohne diese Anerkennung nicht eingehen würde. Dazu zähle bereits der Verhandlungsbeginn, der – in den Augen der Palästinenser – von Israel durch den Weiterbau „illegaler“ Siedlungen hinausgeschoben werde.

In den Augen Israels, jedenfalls der rechten Fraktion, nehmen die Palästinenser den Siedlungsbau nur als Vorwand, um sich einer Neuaufnahme der Verhandlungen und der Gretchenfrage nach der Anerkennung der Existenz des Staates Israel zu verweigern.

Diese Pattsituation ist offensichtlich auch ein Resultat der amateurhaft agierenden Obama-Administration, die glaubte, durch öffentliche Zugeständnisse beider Seiten eine Nachfolgerunde der gescheiterten Annapolis-Runde initiieren zu können. Bessere, „freundlichere“ Vorbedingungen, zugleich öffentlich kundgetan, sollten einen neuen Verhandlungsbeginn ermöglichen.

Man übersah, daß öffentliche Zugeständnisse von beiden Seiten als verhindernde Erpressungsmittel einsetzbar sind. Eine künftige Administration wird zur traditionellen Strategie, durch diplomatisch vermittelte Vorverhandlungen verbesserte Vorbedingungen für eigentliche Verhandlungen zu schaffen, zurückkehren müssen.

Für die Mehrzahl der radikalen Fraktionen unter den Palästinensern ist weder der neue „Königsweg“ noch gar eine neue Verhandlungsrunde mit dem Todfeind Israel eine mit ihrer Ideologie vereinbare Strategie. Ein Faktum, das den gemäßigten Fraktionen der Palästinenser nicht unbekannt sein kann, auch und gerade dann nicht, wenn sie sich als einzig berechtigte Verhandlungs- und mögliche Vertragspartner Israels empfehlen und inszenieren.

Aber nicht dieser Umstand allein (die innere Spaltung der Palästinenser) erweckt bei den gemäßigten Fraktionen Zweifel an der Klugheit des UNO-Umweges. Da sich in der Geschichte der israelisch-palästinensischen Verhandlungen eine respektable Liste palästinensischer Fehlkalkulationen findet, steht auch die neue Umweg-Spekulation unter dem Verdacht eines sich wiederholenden Grundirrtums. Abermals könnte eine Fehlkalkulation nicht den Erfolg erbringen, den man dem palästinensischen Volk seit Anbeginn des Nahostkonflikts verspricht. Zur Klärung dieser Problematik wird später auf die bisherige Geschichte des Konflikts kurz eingegangen.

Unter den heute gegebenen Umständen ist Israels Strategie, nur ohne Vorbedingungen Verhandlungen zu beginnen, unausweichlich. Erstens, weil dadurch der epidemische Kreislauf immer neuer Vorbedingungen (beider Seiten) unterlaufen wird, und zweitens, weil schon ein bedingungsloser Beginn ein erster positiver Test auf die Friedensbereitschaft der Palästinenser wäre. Jeden ins Auge gefaßten und international unterstützten Verhandlungsbeginn von jeweils neuen Vorbedingungen abhängig zu machen, wie schon unzählige Male bisher, erhärtet den Verdacht, daß die Palästinenser nicht Frieden (eine politische Hohl-Vokabel), sondern nur Vorwände für neue Kollisionen suchen.

Ein Verdacht, der nicht nur durch einen bedingungslosen Verhandlungsbeginn, sondern durch weitere Tests zu entkräften wäre. Insbesondere an der Einhaltung einzelner Kompromisse wäre die Friedensbereitschaft zu prüfen, und immer auch im Hinblick auf die radikalen Fraktionen und deren sehr wahrscheinliche Versuche, jeden erreichten Kompromiß zunichte zu machen.

 

  1. Das Protektoratsproblem der Lösung 3

Verständlich, daß es in der Perspektive der israelischen Rechten vernünftig erscheint, wenn Israel allen Fraktionen der Palästinenser, die sich an Verhandlungen beteiligen wollen, eine unausweichliche Vorbedingung stellte: Jeder interessierte palästinensische Verhandlungspartner muß das Existenzrecht Israels anerkannt und allen Vernichtungsprogrammen abgeschworen haben. Ohne diese Vorbedingung keine Verhandlungen, und die UNO, höchste Gründungsinstanz des Staates Israel, hätte für die Einhaltung dieser Vorbedingung zu garantieren.

Bekanntlich hat die Linke Israels weniger Scheu vor dem, was in den Augen der Rechten Israels als gefährliches Appeasement erscheint. In der rechten Perspektive agiert die Linke oft nur wie der sprichwörtliche Idiot des Todfeindes; in der linken Perspektive aber schafft es die Rechte nicht, über ihren Schatten zu springen und Utopisches zu wagen, was aber nötig wäre, um die stillstehende Verhandlungsmaschine wieder in Gang zu bringen.

Allerdings steht die Linke (und teilweise auch die Rechte) unter Utopie-Schock: denn sie plädierte vor Kurzem für die Rückgabe des Gazastreifens mit dem Argument, friedliebende Palästinenser würden, wenn erstmals Herren im eigenen Land, ihre Aufbau- und Friedensfähigkeit, ihre Nachbarschafts- und Demokratiefähigkeit unter Beweis stellen. Das denkbar horribelste Gegenszenario stellte sich ein, das utopische Prinzip „mehr Land gegen mehr Frieden“ wurde ad absurdum geführt. Offensichtlich wurden und werden die radikalen Fraktionen der Palästinenser von einem noch utopischeren Prinzip geleitet.

Aus noch einem Grund ist die gegenwärtige Umweg-Kalkulation der gemäßigten Palästinenser fragwürdig. Eine Zwei-Staaten-Lösung auf dem Umweg über eine UNO-Anerkennung und externe Mächte (regionale und globale) zu erreichen, (die UNO allein könnte den Fortbestand des Staates Palästina weder ökonomisch noch politisch noch militärisch garantieren) scheint auf die fatale Konsequenz eines praktischen „Friedensmandats“ durch externe Mächte hinauszulaufen, diese Konsequenz jedenfalls nicht auszuschließen.

Die jetzige „Besatzungsmacht“ würde demnach, vorgeschlagenerweise für eine Übergangsperiode, durch eine internationale oder auch nur arabische Friedensmacht abgelöst. Eine Protektoratslösung, die schwerlich gegen den Willen Israels durchsetzbar, aber auch nicht mit dem „Stolz“ der radikalen Utopisten im palästinensischen Lager vereinbar wäre. Vielleicht noch am ehesten als (pan)arabisches Protektorat, wenn es gelänge die notorische Zerstrittenheit der arabischen Nationen zeitweilig zu bändigen, und der Hauptmentor der Lösung 1 (Iran) an der Durchführung seines Endlösungs-Planes gehindert würde.

Die Frage, ob ein solches Protektorat Sache und Existenz Israels nicht schleichend oder faktisch delegitimiere, würde in Israel zu heftigen Auseinandersetzungen führen. In der UNO würde die temporäre Protektoratsidee vermutlich mit Begeisterung aufgenommen und von allen israelfeindlichen Mächten unterstützt, aber sie würde letztlich wohl wiederum am Widerstand des harten Kerns der Palästinenser scheitern. Bis heute wurde nichts von Versuchen der weichen Fraktionen bekannt, die in der Verfassung der Hamas verpflichtend festgeschriebene Vernichtung Israels zu delegitimieren.

Alle diese Widersprüche nähren den Verdacht, daß auch die gemäßigten Fraktionen der Palästinenser letztlich nicht auf die Friedens-, sondern insgeheim, vielleicht gegen ihren vermeinten eigenen Willen, auf die Sieg-durch-Vernichtung-Karte setzen. Um dies zu erreichen, genügt es, jedes Scheitern auszuhandelnder Bedingungen und Vorbedingungen, jede Ablehnung eines Vorschlags zur Staaten- und Friedensbegründung immer wieder nur Israel zuzuschieben; solange, bis auch der letzte Gutmensch in aller Welt begriffen hat, wo im Nahen Osten das Böse, wo das Gute wohnt.

 

II. Geschichte

 

  1. Die vorenthaltene Erbschaft

Seit die Vereinten Nationen im November 1947 beschlossen, durch Teilung Palästinas zwei neuen Staaten zur Existenz zu verhelfen, erhebt sich der Verdacht, Israel hätte die Existenzgründung eines palästinensischen Staates verhindert. Die Gegenthese zu dieser These lautet: die Palästinenser haben sie verhindert, weil sie nicht Nachbarn eines jüdischen Staates sein wollten, der sie aus ihrer Heimat vertrieben habe.

Daß sich These und Gegenthese untrennbar verschlingen, ist offensichtlich, denn das Argument der Vertreibung macht das israelische Argument zunichte, und das Gegenargument, die Vertreibung sei kein oder nur ein vorgeschobenes Argument, macht wiederum das palästinensische Argument zunichte. Und da keine neutrale Instanz (etwa Historiker) zugegen, die Vertreibung objektiv definieren und feststellen könnte, oder wenn sie dies versucht, von Gegnern der Voreingenommenheit beschuldigt wird, bleibt die Verschlingung von These und Gegenthese unlösbar. Daran ändern UNO-Resolutionen wenig, weil sich in deren Gremien nur die Logik von These und Gegenthese auf höherer Machtebene wiederspiegelt.

Angesichts dieses tragisch geschürzten Knotens lehrt allerdings die Geschichte, aber nicht die Geschichte überhaupt, sondern einzig und allein die bisherige Geschichte des Nahostkonflikts selbst entscheidbare Klarheit. Summa summarum läßt sich sagen: Nicht nur die ideologischen Prinzipien der Kontrahenten, sondern sogar die Verläufe ihrer bisher sechs (oder sieben) Kriege variieren immer nur, wenn auch immer anders, das Muster des Ersten Krieges zwischen Israel und seinen Feinden in der arabischen und islamischen Welt.

Es sind bekannte historische Tatsachen: Eine Zweidrittelmehrheit der Generalversammlung der Vereinten Nationen stimmt am 29. November 1947 dem „UNO-Teilungsplan für Palästina“ zu. Entstehen soll ein jüdischer und ein arabischer Staat; einzig für das Gebiet Jerusalem soll ein internationales Protektorat eingerichtet werden. Es folgen Zustimmung der jüdischen Bevölkerung, Ablehnung durch die arabische; die Existenz eines jüdischen Staates in arabischen Regionen sei unannehmbar.

Seit den 80-er Jahren des 19. Jahrhunderts waren fünf jüdische Masseneinwanderungen nach Palästina erfolgt; die fünfte, ab 1933, um Holocaust und nationalsozialistischem Terror zu entgehen. Die erste stand im Zeichen von Theodor Herzl und des politischen Zionismus; die letzte im Zeichen von Amin al-Husseini, Mufti von Jerusalem, der nach einem Empfang bei Hitler von Berlin aus gemeinsam mit Adolf Eichmann die Ermordung aller im arabischen Raum lebenden Juden plante.

Alle jüdischen Einwanderungen standen im Meta-Zeichen einer Rückkehr in das Heilige Land, dem das jüdische Volk nach dem letzten gescheiterten Aufstand gegen die Herrschaft der Römer – 135 n.Chr. – den Rücken kehren mußte. Die Römer nahmen Israel auch den tausendjährigen Landesnamen: um jede Erinnerung an die judäischen Bewohner, die den Weg in eine 1800-jährige Diaspora gehen mußten, für immer zu löschen, verfügte Hadrian durch kaiserliches Dekret den Namen „Palästina.“

Die Einwanderungswellen standen für die modernen Juden somit auch im Zeichen einer Rückkehr in die unterbrochene Geschichte des jüdischen Volkes; für die Araber im Zeichen eines westlichen Kolonialismus, der die Wirren des zerfallenden osmanischen Imperiums und die Siege im Ersten und Zweiten Weltkrieg im eigenen – imperialen – Interesse nutzte. Der große Satan schickt den kleinen vor, um seine Weltherrschaft zu erweitern und die arabische und islamische Welt zu demütigen und zu unterwerfen.

 

  1. Erste und Letzte Kriege

Der Gründung des Staates Israel folgte unmittelbar eine Kriegserklärung durch sechs arabische Staaten – im Zeichen hochgespannter arabischer Erwartungen, denen eine Repräsentantin des arabischen Hochkomitees für Palästina denkwürdige Worte verlieh: „Die Entscheidung der Vereinten Nationen hat die Araber zusammengeführt, wie es noch nie zuvor der Fall war, nicht einmal gegen die Kreuzritter […] Ein jüdischer Staat hat keine Überlebenschance jetzt, wo der heilige Krieg ausgerufen wurde. Schlußendlich werden alle Juden massakriert werden.“ [1]

Doch enttäuschte der einjährige „Israelische Unabhängigkeitskrieg“, oder in anderer Terminologie: der „Zionistisch-arabische Bürgerkrieg“, die hochgespannten Erwartungen: Israel gewann – über den Teilungsplan hinaus – beträchtliche Gebiete, und nach der Niederlage der arabischen Angreifer erfolgte ein Waffenstillstandsabkommen, das die den Palästinensern zugedachten Territorien unter jordanische und ägyptische Verwaltung stellte: West-Jordanland, Ost-Jerusalem und Gaza-Streifen.

Statt den jüdischen Eindringling vertrieben und „ins Meer geworfen“ zu haben, folgten Flucht und Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus den an Israel gefallenen Gebieten,- in den Augen der Palästinenser eine Bestätigung ihrer Verurteilung des UNO-Teilungsplans; in den Augen Israels gleichfalls, doch unter anderen Vorzeichen: Wer sich dem Teilungsplan widersetzt, zieht die Straße des Verlierers –  in den folgenden Kriegen ein sich variierendes Grundprinzip.

Bis heute bricht Israel in den Augen seiner Feinde – und feindlicher Mächte in der UNO – „geltendes Völkerrecht“; in den Augen Israels aber sind „geltende Völker“ erst zu schaffen, indem sie sich als friedensfähige erweisen. Offensichtlich ein Knoten, der an die Situation eines Gottesurteils gemahnt. Aber auch das Gottesurteil hat einen Knoten, weil zwar zwei monotheistische Religionen beteiligt, nicht aber ein identischer Gott im Spiel ist.

Dies der letzte Grund für die Tatsache, daß sich die säkulare und zugleich jüdische Demokratie Israel nicht auf einen Kalten Krieg mit dem Iran oder anderen islamischen Atommächten einlassen kann. Mit gegenseitiger atomarer Abschreckung drohen, kann mit Aussicht auf Nichtkrieg nur funktionieren, wenn auf beiden Seiten eine säkulare Rationalität, die Schaden gegen Nutzen säkular abwägt, im Spiel ist.

Solche Rationalität konnte von der freien westlichen Welt bei den Eliten des säkularen kommunistischen Imperiums der Sowjetunion vorausgesetzt werden. Sie kann nicht bei religiösen Regimen und „Gottesstaaten“ vorausgesetzt werden, für die Endkriege und Jüngstes Gericht sowie Heilsankünfte verborgener Imame samt ewiger Erlösung substantieller Teil ihrer Religion und Politik sind. Auch eine atomare Verwüstung eines Erdteils kann in dieser Perspektive als mögliches Gottesurteil erwogen und gerechtfertigt werden.

 

  1. Utopische und schreckliche Varianten

In der rechten Perspektive Israels streben die Palästinenser keinen souveränen Staat Palästina an, weil sie keinen haben wollen, dessen Nachbar ein Staat Israel ist. In der radikalen Perspektive der Palästinenser ist dieses Ziel erreichbar und auch religiös verbürgt; in der gemäßigten Perspektive der Palästinenser könnte ein Umdenken vor sich gehen, über dessen Tatsächlichkeit jedoch eindeutige Beweise fehlen.

In der linken Perspektive Israels wollten im Grunde immer schon alle Palästinenser einen Staat Palästina, der als friedlicher Nachbar des Staates Israel existieren könnte. Nur leider kamen aus unerklärlichen Gründen einige Kriege dazwischen. Die chronische Verführbarkeit der israelischen Linken, den Konflikt durch radikal-pazifistische Strategien zu lösen, hat durch die stattliche Reihe von Kriegen zwischen Israel und seinen Feinden kaum gelitten.

In der Perspektive der israelischen Linken sind Realitätsverleugnung und Fehlkalkulationen zuerst an Israel und seiner bisherigen Geschichte, nicht auf der Seite der Palästinenser und ihrer Geschichte zu konstatieren und zu beseitigen. Daran erkennt die israelische Rechte, wie es um Israel und seine Zukunft steht: nicht unverändert bedrohlich, sondern von Jahr zu Jahr bedrohlicher, wie nicht zuletzt das Erscheinen von Lösung 1 auch der israelischen Linken offenbaren könnte.

Fällt aber Realitätsverweigerung und permanente Fehlkalkulation auf die Seite der Palästinenser und ihre arabischen und islamischen Mentoren, sind wohl nur drei Varianten denkbar, die eine fundamentale Korrektur ihres unerfüllbaren Wunschdenkens herbeiführen könnten.

(A) Eine charismatische Persönlichkeit a là Gorbatschow bringt das System des „arabischen Stolzes“ und vielleicht sogar der gesamten islamischen Welt zur Implosion. (B) Das Wunder einer „Arabellion“, die in kurzer Zeit säkulare Demokratien erschafft, folglich kein „islamisches 1848“, sondern ein „islamisches 1989“ wäre und die bisherigen panarabischen und kommunistisch-säkularen Politiken der islamischen Welt über Nacht entsorgt. Scheitern beide (A und B) oder finden nicht statt (wie höchstwahrscheinlich), bleibt nur noch (C): Ein neuerlicher und zugleich endgültiger Krieg, den Israel gewinnt, aber nicht wie bisher mit partikularen Gebietsgewinnen und strategischen Vorteilen, sondern mit überwältigender Macht und Reichweite. Freilich auch mit bisher ungeschehenen Verwüstungen und Verheerungen.

Und ähnlich wie Deutschland und Japan nach Kriegsende (abgeschwächt die Sowjetunion als Verliererin des Kalten Krieges)müßte auch der arabische Stolz Palästinas die neue Lektion der Geschichte als unwiderrufliche Lektion zur Kenntnis nehmen. Abermals würde Lösung 2 oder eine Variante verhandlungsfähig – am Ende der Konfliktgeschichte würde eine Rückkehr zu deren mißdeutetem Anfang (1947) stehen, ohne die Geschichte dieser Mißdeutung wiederholen oder fortsetzen zu können.

Neuerlich würde die halb schon vergessene Frage ventiliert werden, ob das heutige Jordanien, bereits 1921 den Haschemiten aus britischer Besatzung überlassen, wirklich unzureichend war und ist, eine palästinensische Staatsgründung zu ermöglichen. Denn diese behauptete Unmöglichkeit war – in Sicht nicht weniger Palästinenser und ihrer arabischen Freunde – das zweite große Unrecht, das ihnen 1947 durch die Gebietsteilung zwischen Jordan und dem Mittelmeer angetan wurde. Und weil das Unrecht so klar und schwer gewesen, sei es auch klar und leicht, notwendig und unausweichlich, das Unrecht der Geschichte zu korrigieren. Dieser Irrtum wurde 1970 mit dem „Schwarzen September“ in Jordanien gebüßt. [2]

Die Lehre und Politik vom ‚Schweren Unrecht‘ der Geschichte erinnert an ähnliche Reflexe Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg. Der Zweite Weltkrieg sollte die Korrektur sein, aber sie wurde eine, die Deutschland verheert und verwüstet hat. Und erst diese Lektion hat die Mehrheit der Deutschen verstanden; sofern doch ein Unrecht geschah (ohne Zweifel), war es zugleich nicht sinnvoll gewesen, sondern kollektiver Selbstmord, durch Hitlerdeutschland das Unrecht von Versailles rächen oder „wiedergutmachen“ zu wollen.

 

  1. Das Unheil der PLO

Das Unheil, das die PLO über die Palästinenser brachte – 1964 gegründet, als die Westbank noch zum jordanischen Hoheitsgebiet gehörte, der Gaza-Streifen unter ägyptischer Verwaltung stand – ist bekannt. Deren Ziel, die „zionistische Besetzung Palästinas“ zu überwinden, führte in den Sechstagkrieg von 1967, der es Israel ermöglichte, u.a. Westbank, Gaza-Streifen und ganz Jerusalem zu erobern.

Selten wird das Paradox bemerkt, daß Israel einer palästinensischen Staatsgründung vorarbeitete, weil es die Westbank von Jordanien und den Gaza-Streifen von Ägypten nicht annektierte, aber besetzte, nachdem sich Jordanien und Ägypten als unfähig erwiesen hatten, „Frieden“ zu schaffen. (Umso gravierender der neuerliche Fehlschlag im Gaza-Streifen und dessen Regression in ein fanatisiertes Hamasistan.)

Freilich waren und sind in diesen Gebieten auch jene berüchtigten Flüchtlingslager, die nicht zu beseitigen zur Ideologie des „arabisch-palästinensisches Stolzes“ gehört(e), weil erst eine Rückkehr in das befreite Israel deren Auflösung rechtfertigen würde.

Diese stolze Politik verhinderte, was zwanzig Jahre lang (1947-1967) territorial, politisch und finanziell möglich gewesen wäre: in Gaza und Jordanien (Westbank) einen palästinensischen Staat zu gründen und zu entwickeln. Es geschah nicht, in der offensichtlichen Annahme, durch einen panarabischen Krieg Israel demnächst besiegen und die Teilungsresolution der Vereinten Nationen irrelevant machen zu können. Das Gegenteil dieser utopischen Annahme geschah, die bisherigen Observanz-Gebiete Ägyptens und Jordaniens fielen an den neuen Besatzer: Israel. Die alten Besatzer hatten sich als unfähig und überdies als Brüderfeinde erwiesen: als unbarmherzige und untaugliche Nachbarn.

Daß die Niederlage von 1967 nicht als ernüchternde Lektion der Geschichte, sondern abermals als Bestätigung erlittenen Unrechts interpretiert wurde, bewies die Arabische Liga in den Nachfolge-Verhandlungen von Khartum: die Grundsätze der Anerkennungs-, der Verhandlungs- und der Friedensverweigerung wurden bekräftigt. Doch war das „Unrecht“ nicht bloß bestätigt, es war auch gesteigert worden, denn die Chancen auf einen eigenen palästinensischen Staat waren auf ein Minimum gesunken.

Um sich dies zu verbergen, wurde neuerlich die panarabische fama einer arabischen Nation beschworen, deren gedemütigster Teil die Palästinenser wären. Unrecht und Demütigung erforderten daher die Demütigung der Demütiger, die Beseitigung des Krebsgeschwürs Israel, sei es durch einen neuen großen, sei es durch einen kleinen, aber permanenten Krieg mittels terroristischer Überfälle in und außerhalb Israels.

Die repetierten Maximen der palästinensisch-arabischen Politik von 1967: keine Anerkennung Israels, kein Frieden, keine Verhandlungen, seien im Grunde das Programm aller extremen Fraktionen der Palästinenser bis heute geblieben, schrieb Henryk M. Broder vor einigen Jahren in einem erhellenden Artikel im Magazin Spiegel („Zwei-Staaten-Lösung. Die Fata Morgana der Palästinenser.“ Spiegel, 28.11.2007). Und da aus der ersten Maxime die beiden anderen und weitere folgen, ist ersichtlich, daß ein neues palästinensisch-arabisches Programm, das zu einer Lösung führen soll, sofern jemals möglich, die Anerkennung Israels zur conditio sine qua non erheben müßte.

 

  1. Die Unrechts-Falle

Daß die Prämisse der Anerkennung nicht auf derselben logischen Ebene liegt wie die Prämisse einer Einstellung aller Siedlungsbauten in den besetzten Gebieten durch Israel, sollte einleuchten. Auch dies eine Mißdeutung und ein Realitätsverlust, der mit der arabischen Argumentationsweise und ihrem Stolz zusammenhängt: Man trachtet nach einem Sieg auf einem Nebenschauplatz, um vom grundsätzlichen Problem und dessen Ungelöstheit abzulenken. Man weiß sich im Recht, aber zu eigenem Schaden, dies zugleich nicht bemerkend, weil man nicht begreift, auf welcher Ebene „recht zu haben“, etwa Verhandlungen und Frieden zu ermöglichen, primär dringlich ist.

Der Vorwurf der israelischen Linken und anderer Fraktionen in und außerhalb des Landes, die politische Rechte Israels wolle mit den Siedlungen „vollendete Tatsachen schaffen,“ setzt voraus, daß Israel Grund zur Annahme hätte, die Palästinenser wollten jemals einlenken und einer friedlichen Lösung unter gegenseitiger staatlicher Anerkennung zustimmen.

Ist diese Voraussetzung begründet und wenn ja, wodurch? Wie könnte sie, wie könnte diese Zustimmung von welchen Palästinensern oder ihren arabischen Mentoren so eingebracht werden, daß sie von Israel als glaubwürdige und garantierte Zusage angenommen und auch von seinen Unterstützern, zu der immerhin noch Teile der UNO zählen, akzeptiert werden könnte? Verträge bedürfen verbindlicher Vertragszusagen.

Daß Israel bis heute weder die Westbank noch den Gaza-Streifen annektiert hat, ist verständlich: die Annexion wäre weder politisch noch finanziell noch militärisch und sicherheitstechnisch durchführbar. Insofern steht die Siedlungspolitik auf des Messers Schneide: sollte doch noch ein Umdenken im arabischen Lager erfolgen, wäre auch ein Umdenken in der Siedlungspolitik unausweichlich. Aber dieses Spiel der Vorbedingungen darf, wie schon erwähnt, nur innerhalb bedingungsloser (geheimer) Verhandlungen, nicht vorhergehender, gar mit öffentlichen Zugeständnissen und Erpressungen, erfolgen.

Abermals tappen die Palästinenser in eine Unrechts-Falle: weil sich Israel ins Unrecht setze, indem es Siedlungen in den besetzten Gebieten errichte, seien die Palästinenser im Recht, jegliche Verhandlung abzulehnen, geschweige das Existenzrecht Israels anzuerkennen. Wirkung und Ursache sind bis zur Unkenntlichkeit ineinander verkeilt. Aber die Palästinenser und Araber sollten bedenken, daß eine heute noch unmögliche Annexion nach dem letzten aller „Sechs-Tage-Kriege“, der auch ein Sechs-Monate-Krieg oder ein noch längerer Krieg werden könnte, durch eine neuerliche und endgültige Annexion samt endgültiger Vertreibung ersetzt werden könnte. Kriege haben oft unberechenbare Resultate, und noch jede Wartefrist der Geschichte ist eines Tages abgelaufen.

Die These, daß durch die Siedlungspolitik Israels unumstößliche Fakten geschaffen werden, ist ebenso problematisch wie die Gegenhandlung: daß durch ewigen Fortbestand von Flüchtlingslagern neue Fakten: die Rückkehr der Palästinenser nach Israel garantiert sei. Aber angesichts der Friedensverweigerung der Palästinenser und der sie unterstützenden Mächte ist es nicht unverständlich und auch nicht unsinnig, daß Israel auf eine Politik der nachhaltigen Besetzung verfiel, die den Palästinensern nicht nur Nachteile brachte.

Da mit einem generellen Friedensabkommen auf Generationen hinaus nicht zu rechnen ist, wie durch die Zeitspanne 1947-2011 nachhaltig belegt erscheint, ist Israel verpflichtet, die Zeit nicht ungenützt verstreichen zu lassen. „Die Zeit“, dies bedeutet in diesem Fall die jeweilige Zwischenzeit zwischen einer permanent wiederkehrenden Folge von Kriegen, die vermutlich zu einem entscheidenden Endkrieg führen wird, optimal zu nützen. Und für die möglicherweise entscheidende Konfrontation muß Israel gerüstet sein, nicht zuletzt strategisch.

Natürlich ist dies Wasser auf die Mühlen der israelischen Linken: Wenn Israel nur endlich bereit wäre, die schleichende Besitzergreifung besetzter Territorien einzustellen, ja mehr noch: Wenn man den Palästinensern „ihr Land“ so rasch wie möglich „zurückgäbe“, dann würden diese bereit sein, in Friedensverhandlungen mit Aussicht auf wirklichen Frieden einzutreten – „so rasch wie möglich.“

Diese friedenswillige und appeasende Ideologie setzt aber voraus, daß die Palästinenser nur ein paar Finger, nicht die ganze Hand wollen. Und da dieser Fingerwille nicht als Realität bewiesen ist, kann die pazifistische Ideologie der israelischen Linken und ihrer Anhänger in und außerhalb Israels den Vorwurf verwirrter Realitätsblindheit nicht entkräften.

 

  1. Ein Schlupfloch?

Noch ein Schlupfloch bietet die Geschichte den Palästinensern an, früher oder später doch noch umzudenken und eine neuerliche Kaskade mißdeuteter Unrechts-Fallen zu vermeiden. Der nicht zuletzt durch die israelische Besatzung ermöglichte höhere Lebensstandard der Palästinenser in der Westbank (im Gaza-Streifen durch die Hamas und andere extreme Fraktionen zunichte gemacht), könnte den arabisch-palästinensischen (National) Stolz dämpfen oder gar marginalisieren. Ein Argument, das freilich fast nur in Israel, nicht unter den Palästinensern selbst diskutiert wird, sofern sich dies mangels demokratischer Öffentlichkeit und Information in der nach wie vor extrem autoritär-paternalistischen und korrupt-klientelistischen Politik und Verwaltung der Palästinenser beurteilen läßt.

Abermals wird – in Israel – eine „Jordanian Option“ erwogen, eine Föderation zwischen Westbank und Jordanien – aktualisierbare Varianten der Lösung 2 -, der aber die Palästinenser schon wegen ihrer (Erb)Feindschaft mit Jordanien und der ungeklärten Siedlerfrage kaum zustimmen würden. Daß aber die Siedlerfrage durch Verhandlungen, nicht durch deren Vertreibung zu klären wäre, sollte den arabischen Partnern, welchen auch immer, einleuchten.

Daß durch wirtschaftlichen Aufschwung, den besatzende Mächte oder auch Siegermächte ermöglichen, vermeintlich unausrottbare Dünkel und Ansprüche der Besetzten und Unterlegenen überwunden werden können, hat die Geschichte oft bewiesen, u.a. nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Die Palästinenser und Araber sollten aber einen solchen Punkt der Entwicklung – totale Niederlage und Verelendung – nicht abwarten, um danach, als endgültig und zu Ende Gedemütigte den Segen eines neuen Marshall-Plans in Empfang zu nehmen. Sie sollten diese verhängnisvolle End-Falle ihres Schicksals nicht zuschnappen lassen. Welchen Verlauf die Geschichte des Nahostkonflikts auch immer nehmen wird, Lösung 2 könnte, wie gezeigt, durchaus wieder aktuell werden – sei es mit oder ohne Entscheidungskrieg.

Die realitätsblinde Naivität der arabisch-palästinensischen Seite, Verhandlungen nur unter der Bedingung einer Rückkehr Israels zu den Grenzen vor 1967 zu beginnen, ist bezeichnend für eine Kopf-in-den-Sand-Politik, die sogar Niederlagen als Unrecht der Geschichte umdefinieren zu können meint. Gerecht wäre demnach ein Sieg der arabischen Aggressoren gewesen; ungerecht war deren Niederlage; ein merkwürdiges Denken nach merkwürdigen Maßstäbe von Recht und Unrecht, von Macht und Ohnmacht.

 

  1. Hundert Jahre Fehlentwicklung

Zwar war der Nahostkonflikt nicht die Ursache der 2011 einsetzenden „Arabellion“; dennoch wird sich diese erst erfüllen und vollenden, wenn die neuen arabischen Demokratien, sofern von Bestand, fähig sein werden, mit Israel Frieden in gegenseitiger Anerkennung und existenzfähiger Nachbarschaft zu schließen. Es wäre realitätsblinde Naivität zu behaupten, diese Art einer positiven „Endlösung“ des Nahostkonflikts wäre heute bereits in Sicht.

Und nicht ausgeschlossen, wie schon erwähnt, daß die langsam und mühselig entstehenden arabischen Demokratien (eine iranische nicht ausgeschlossen), erst nach einer ultimativen und verheerenden Niederlage an wirklich gefestigte und global anerkennungswürdige Demokratien und Demokratien-Verbünde herangeführt werden können. Hundert Jahre nach dem Kollaps des Osmanischen Imperiums sind hundert Jahre falscher oder verspäteter Entwicklung mehr als genug. (Andererseits könnte der Zentralkonflikt zwischen sunnitischem und schiitischem Islam ein unvermeidbar explodierender Zielpunkt der „zu spät gekommenen“ Demokratiewelle in der islamischen Welt sein.)

Wenn eine radikale Fraktion bei demokratischen Wahlen unter den Palästinensern die Mehrheit erringen kann, mit dem erklärten Willen, das demokratische (Embryo)Gebilde zu stürzen, ist schon im Vorfeld der arabischen Demokratie-Bildung etwas schief gelaufen. Verständlich die Annahme Israels, daß seine potentiellen Nachbarn vorerst noch nicht reif sind für wahre Demokratie- und Staatenbildung.

Diese Einsicht ist auch den gemäßigten Palästinensern, die sich um eine neue Entwicklung zu bemühen scheinen, nicht verschlossen. Die Weigerung der Fatah und verwandter Fraktionen, in den palästinensischen Gebieten die längst fällige nächste Wahl durchzuführen, belegt dies in bedrückender Weise. Die Annahme westlicher Kreise jedoch, der Sieger einer demokratischen Wahl sei unter allen Umständen anzuerkennen, auch wenn seine Partei als Terrororganisation gelistet wird, ist weder vernünftig noch naiv, sie zeugt von erschreckender politischer Dummheit.

 

  1. Autonomiestatus und Verblendung

Als Menachem Begin im Zuge des ersten Camp-David-Vertrages (1978) die Rechte des palästinensischen Volkes als legitim anerkannte und für die Westbank und den Gaza-Streifen einen Autonomiestatus gewährte, war eine weitere Chance aufgetan, die aber für die Palästinenser abermals zur Falle wurde, die sie nicht erkannten. Ein Autonomiestatus ist nach unzähligen Erfahrungen der modernen Geschichte eine erste Stufe kommender Staatlichkeit und nationaler Selbstbestimmung.

Dennoch blieben die palästinensischen Polit-Eliten bei ihrer Position von 1967, ja sogar von 1947: neuerlich sei ihr rechtmäßiger Anspruch auf Palästina verraten worden. Ägypten (Anwar al-Sadat, dessen Ermordung durch Muslimbrüder wenige Jahre später von den Palästinensern als Rachesieg der Gerechtigkeit gefeiert wurde) habe einem „Ausverkauf ihrer Interessen“ zugestimmt.

Also könnten nicht einmal zwei, ja vielleicht nicht einmal ein einziger von zehn Palästinensern (ohnehin nicht von deren Politikern) fähig gewesen sein, den Autonomiestatus als Chance und Aufgabe zu sehen und zu ergreifen? Stimmte dies, wäre die These, daß „mit einem generellen Friedensabkommen auf Generationen hinaus nicht zu rechnen ist“, ebenso traurige wie unumstößliche Wahrheit. Nach 1967 dienten die Autonomie-Gebiete als forciertes Aufmarschgebiet palästinensischer Terroranschläge.

Die palästinensische Verblendung hat ihren seit Anbeginn (1947) unverrückbaren Grund: solange Israel nicht kapituliert und exterritorialisiert, solange es nicht vollständige Eigenstaatlichkeit gewährt (als nicht mehr existierender Staat?), solange ist an Verhandlungen nicht oder nur zum Schein zu denken. Das Ziel der Verhandlungen soll vor den Verhandlungen gewährt werden.

So „tickt“ eine Mentalität, die weder in der Realität des 20. noch des 21. Jahrhunderts angekommen ist. Es ist die Mentalität von Nachkommen, denen eine (vermeintliche) Erbschaft vorenthalten wurde. Ein himmelschreiendes Unrecht, das mit Hilfe des Himmels – Allah ist groß – von den Verursachern des Unrechts, der „Weltgemeinschaft“, als Unrecht einzusehen und zu beseitigen und durch Entrechtung des unrechtmäßigen Erben (Israel) wiedergutzumachen ist.

Die weiteren Stationen des Verhandlungsweges: Oslo I (1993) und Oslo II (1995), Wye I (1998) und Wye II (1999), Camp David II (2000), Taba (2001) und Annapolis bestätigten das Bild von großteils nur zum Schein geführten Konferenzen, deren Scheitern natürlich Israel zugeschoben werden konnte und mußte.

 

  1. Fehlkalkulationen der friedliebenden Europäer

Es dürfte klar geworden sein, daß nicht Israel, sondern die Palästinenser und ihre Mentoren (Nachbarstaaten, Arabische Liga und andere) über ihren düsteren Verweigerungschatten springen müßten, sollte sich am status quo noch etwas ändern, ehe der Showdown zur ultimativen Lösung des Konflikts einsetzt, sofern dieser nicht schon eingesetzt hat, wie Rhetorik und Hinterlist des Irans befürchten lassen.

Die friedliebenden Europäer, als Friedensexperten begehrt und selbsternannt, machen es sich zu leicht, verhängnisvoll leicht, wenn sie meinen und auch noch fordern: beide Kontrahenten müßten zugleich über ihren Schatten springen, um Frieden und gedeihliche Nachbarschaft zu ermöglichen.

Denn unter dieser Prämisse stellen sie beide Schatten, also die Gründe und Ursachen beider Verweigerungshaltungen, auf ein und dasselbe Niveau. Friedensexperten aber, die nicht begriffen haben, welcher Konflikt vorliegt, um befriedet zu werden, sind das tragikomische Gegenteil ihrer selbst. Sie fühlen sich stets mißverstanden und verzweifeln an der Sturheit beider Kontrahenten, als ob beide aus denselben Gründen und denselben Zielen stur an ihren Vorsätzen festhalten würden.

Hier liegt kein Streit vor, der durch Beseitigung von Streitigkeiten aus der Welt zu schaffen wäre; keiner, der nur guten Willen auf beiden Seiten voraussetzt, keiner, in dem es nur um Grenzen und andere Nichtigkeiten geht; sondern einer, in dem es um das Ganze geht: Für die Palästinenser um ihre vorenthaltene ganze Erbschaft, für Israel um seine Existenz als Staat und Nation.

Zwei Erbschaften, die unterschiedlicher nicht sein könnten: jene kulminiert religiös in einer Berufung auf Mohammeds Himmelfahrt zu Jerusalem, diese in der Berufung auf eine wesentlich ältere Schicksalsfahrt Gottes mit seinem ersten monotheistischen Volk. Die islamische Erbschaft möchte die jüdische beenden; die jüdische möchte die islamische zu gemeinsamer Fahrt erziehen. Zwei Erbschaften, die nicht desselben Gottes Botschaft sein können.

 

  1. Das Spiel „Alles oder Nichts“

Ein gefährliches Spiel spielten die Palästinenser, meint Henryk M. Broder: „Alles oder Nichts.“ Kein gefährlicheres, kein riskanteres ist möglich. Denn entweder fällt das Los auf „Alles“, oder es fällt auf „Nichts“, ein drittes ist ausgeschlossen. Entweder erbt man die ganze Erbschaft, oder man bleibt für immer von jeder Erbschaft ausgeschlossen. Was blieb vom Tausendjährigen Reich? Was blieb von Sowjetunion und Weltkommunismus? Ruinen fahlen Gedenkens.

Das religiös determinierte (Selbst)Versprechen, eines Tages „alles“ zu erhalten, hindert die Palästinenser an der Einsicht in die unabweisliche Notwendigkeit von Kompromiß durch Verhandlung und Anerkennung des neuen und zugleich (Jahrtausende)alten Nachbarn durch Vertrag und Garantie, durch Vernunft und Achtung. Auch die Juden der Antike wollten den damaligen Hegemon nicht anerkennen; solange, bis es zu spät war. Der neue Hegemon aber nennt sich säkulare Demokratie, und diesem die Stirn zu bieten, führt in eine neue und wiederum unnötige Diaspora.

Spieler spielen umso leidenschaftlicher, je mehr sie verloren haben; um so länger, je länger sie verloren haben. Warum sich mit Verlusten abfinden, die so groß geworden, daß sie nur mehr durch den größtmöglichen Gewinn aufgewogen und ertragen werden können? Und wer trägt dazu bei, daß der Spieler die Spielbank nicht verlassen muß?

 

  1. Die Geiselhaft der UNO

Just jene Weltgemeinschaft, die unfähig war, die beschlossene Teilung des „Heiligen Landes Palästina“ mit zielführender Macht zu verwirklichen. Aus schlechtem Gewissen und Verzweiflung darüber, daß einer der beiden Erben zum Spieler wurde.

Daher wird der Spieler in seinem Status hofiert und erhalten, mit Unsummen unterstützt und in der Mentalität der „vorenthaltenen Erbschaft“ bestätigt. Betreut vom UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) und seinen zahllosen Unterorganisationen, genießen die palästinensischen Flüchtlinge (4 bis 5 Millionen) in den besetzten Gebieten, im Libanon, in Syrien, Jordanien und in aller Welt den internationalen Flüchtlingsstatus, der sie allen anderen Flüchtlingen der Gegenwart, geschätzten 20 Millionen Menschen, gleichstellt.

Eine Gleichstellung, die angesichts des realen und aktuellen Elends der Flüchtlinge in Asien und Afrika, etwa jenen über vier Millionen Somalier, die vor den somalischen Jihadisten zur Flucht nach Kenia gezwungen werden, problematisch sein muß. Ein problematischer Flüchtlingsstatus, wie unter anderem an der Rhetorik-Schraube „Humanitäre Katastrophe“ sichtbar wird, die je nach Belieben oder Anlaß fester angezogen und als Druckmittel eingesetzt wird, um den Fluß der Unterstützungsgelder der internationalen Hilfsorganisationen nicht versiegen zu lassen. Zuletzt nach „Cast Lead“ („Gegossenes Blei“) 2008/2009, als Israel wieder einmal im Gaza-Streifen eingreifen mußte, weil die radikalen palästinensischen Fraktionen glaubten, Israel angreifen zu müssen – die Zeit der großen Endvernichtung Israels schien wieder einmal gekommen.

Da es sich, anders als bei den Flüchtlingen in Afrika und Asien, um künstlich aufrechterhaltene ererbte Vertreibungen handelt – Jordanien, Syrien und Libanon verweigern sich bis heute jeglicher Integration der zeitlos flüchtenden Palästinenser – fungiert das Dazuzählen der Spätnachgeborenen als bewährtes Mittel, die Ideologie des immerwährenden Flüchtlingszustandes aufrechtzuerhalten.

Der vererbbare Flüchtlingsstatus wird wie ein Heiligtum tradiert, um das Spiel „Alles oder Nichts“ zu einem erfolgreichen (Rückkehr)Ende zu führen. Verständlich, daß nicht wenige Palästinenser dieses Spiel nicht mehr mitmachen wollen und in den Westen auswandern; also in jene (Erste) Welt, die angeblich das Unheil über ihr Volk gebracht hat, als es die Gründung des Staates Israel ermöglichte.

Daß die UNO die Politik der arabischen Welt, jegliche Integration der Palästinenser in arabische Länder zu verhindern, übernommen hat und eifrig unterstützt, führte in bekannte Sackgassen. Seit 1950 hat die UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) unvorstellbare Summen ausgegeben, um das sogenannte Flüchtlingselend der Palästinenser zu konservieren. Ein Bruchteil dieses Geldes, schreibt H.M. Broder, „hätte ausgereicht, um den Flüchtlingen eine würdige, von Almosen unabhängige Existenz zu ermöglichen.“

Mit anderen Worten: Da sich die UNO in Geiselhaft der palästinensischen Alles oder Nichts-Ideologie begeben hat, muß sie, zwar nicht offen und öffentlich, doch insgeheim und oft kaum verhohlen auf die Liquidierung Israels setzen, um den durch ihre Hilfe konservierbaren Flüchtlingsstatus eines Tages beenden zu helfen. Und diese Haltung, die nicht möglich wäre ohne permanente Manipulation der „Weltmeinung“ der „Weltöffentlichkeit“, ist mitbeteiligt und mitschuldig an der Dauererwartungsmentalität der Palästinenser und ihrer arabischen Mentoren: säkulare und religiöse Mentalität ziehen an einem Strang.

 

  1. Verfehlte Staatenbildung

Der gravierende Selbstwiderspruch dieser Politik einer manipulierten „Weltgemeinschaft“ aus schlechtem Gewissen sollte zu denken geben. Ein Heer von antiisraelischen und oft antisemitischen Gutmenschen in den besetzten Gebieten, oder, wie die manipulierte Sprachregelung lautet: im „blockierten Gaza-Streifen“, macht sich zur Fünften Kolonne einer ganz und gar nicht guten Vernichtungspolitik, deren Ausweglosigkeit nochmals verfestigt und verstetigt wird. In der Perspektive dieser selbstwidersprüchlichen Politik soll sich Israel „bewegen“, weil sich dann auch die Palästinenser „bewegen“ würden.

Was aber heißt hier „bewegen?“ Soll sich Israel aus seinem Land wegbewegen? Soll es den im Gaza-Streifen versammelten aggressiven Terrorgruppen „freies Wirken“ gestatten? Soll es sich in der Westbank nicht durch Mauern gegen Überfälle der Terroristen sichern? Soll es nicht auf Raketenangriffe der Hisbollah und anderer Terrororganisationen reagieren? Soll es sich alles gefallen lassen, weil es sich ohnehin „wegbewegen“ sollte? Und soll es schlußendlich dazu bewegt werden anzuerkennen, daß die UNO einen Staat der Palästinenser anerkannt hat, den es selbst nicht anerkennen kann, weil ohne gegenseitigen Vertrag und gegenseitiges Vertrauen zwei Nachbarn schwerlich zusammen bestehen können?

Als kürzlich, ermöglicht durch die Arabellion, in Tunis entdeckt wurde, daß die Witwe Arafats und ihr Clan eine Milliarde Dollar aus den reichlich fließenden Hilfsgeldern der „Weltgemeinschaft“ abgezweigt haben, öffnete sich der Blick in ein Faß ohne Boden. Man sollte meinen, die Doppelmoral der UNO-Organisationen und der NGOs, einerseits Millionen zu verschwenden, andererseits das immerwährende Lied von der drohenden „humanitären Katastrophe“ zu singen, müßte doch gerade von einer „Weltöffentlichkeit“ erkannt und angeklagt werden, die sich als oberste moralische Instanz versteht. Aber das Tabu der manipulierten Politik ist stärker – korrekt ist, was nicht wahr ist, weil es nicht wirklich ist.

Ernstzunehmende Staatenbildung wäre anders zu gestalten. Aber wozu die Mühen demokratiebefähigenden und gouvernementalen Bildens und Ausbildens auf sich nehmen, wenn nach der „Heimkehr“ der Palästinenser ohnehin „alles“ anders wird, weil die Karten völlig neu gemischt werden können, wenn die Trumpf-Karte „Alles“ gezogen wurde?

Jene, die nah am internationalen Geldfluß siedeln, schreibt H.M. Broder, führen unter der Besatzung und Blockade ein Leben als „kalkuliertes Abenteuer“, das ihnen erlaubt, Staat zu spielen. „Es gibt einen Präsidenten, eine Regierung (inzwischen sogar zwei), ein Dutzend Polizei- und Geheimdienste, die sich gegenseitig überwachen, eine Vielzahl staatlicher und halbstaatlicher Organisationen, die nach dem ABM-Prinzip funktionieren.“

Die Früchte solcher „Hilfen“ und Entwicklungen hätte Israel an einem künftigen Nachbarstaat Palästina zu genießen. Ungenießbare Früchte und ungenießbare Genüsse, sofern nicht noch ein Wunder geschieht und die von einer palästinensischen Minderheit vielleicht wirklich gesuchte Zweistaatenlösung doch noch möglich wird.

H.M. Broder verdeutlicht die tragische Geschichte der Palästinenser durch ein tragikomisches Bild: Die arabisch-palästinensische Sackgassenfahrt sei „die gleiche Geschichte wie mit der Familie, die im Zug unterwegs ist und an jeder Station in lautes Jammern ausbricht.“ Auf die Frage des Schaffners, was denn los sei, gibt die Antwort des Familienvaters erschöpfende Auskunft: „Wir sitzen im falschen Zug, und mit jeder Station wird die Rückreise länger.“

Man sollte meinen, wer dies erkannt hat, verläßt den falschen Zug in der nächsten Station. Es sei denn, er hat noch nicht erkannt, in welchen Zug er gesetzt wurde. Sein Name lautet: „Alles oder nichts“, und jeder Krieg und jede Verhandlungsrunde waren und sind eine Station auf der bald siebzigjährigen Strecke. Ist aber der Zielbahnhof „Alles“ unerreichbar, ist sein wahrer Name nicht unbekannt.

(November 2011)

 

 

[1] Zitiert nach Wikipedia, Artikel Israel (Geschichte), Stand: 11. November 2011 (Rashid Khalidi: The Palestinians and 1948: the underlying causes of failure. In: Eugene L. Rodan, Avi Shlaim (Hrsg.): The War for Palestine. Cambridge 20072, S. 21–38.)

[2] Zur Geschichte des Schwarzen September von 1970: http://www.ipk-bonn.de/chronik/Bürgerkrieg in Jordanien.html