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21 The long war – der lange Krieg

  1. Zur Grundfrage

 

 

Im gegenwärtigen Kulturkampf um die Durchsetzung westlicher Prinzipien – im Westen zumeist noch friedlich mit Worten ausgetragen – werden zwei grundsätzliche Fragen diskutiert. Zum Ersten: ist die Universalität westlicher Grundwerte wirklich universal oder doch nur ein kultureller Ausdruck einer unter vielen Kulturen? Zum Zweiten: soll die westliche, sofern sie eine nicht nur westliche Universalität sein sollte, in der Zweiten (islamischen) und Dritten Welt missioniert werden?

Folgt man der Ansicht westlicher Kulturrelativisten, ist die Universalität der westlichen Grundwerte eine kulturell eingeschränkte; sie darf daher nicht missioniert werden, und Europa habe folglich den Auftrag, sich von jeglichem Missionierungsversuch fernzuhalten. Folgt man der Ansicht westlicher Universalisten, gilt das Gegenteil: Freiheit und Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit seien ein Wert, der niemandem vorenthalten werden darf. Wie und wodurch die Missionierung zu erfolgen habe, bedürfe weiterer Diskussion, sie wird aber nicht als grundsätzlicher – antikultureller –  Irrweg desavouiert.

Dagegen fürchtet der Kulturrelativismus um sein multikulturelles Denkgebäude, er fürchtet für die „Vielfalt der Kulturen“, die unter Kuratel zu stellen sei, und diese Vielfalt, auch als Fremdheit und Anderssein gepriesen, gehe als eigenständige Kultur vor, die demokratische und individuelle Freiheit des Westens gehe lediglich nach. Was zählen Millionen zwangsverheirateter Mädchen gegen die Schönheit einer Moschee? Was eine gesteinigte Frau gegen die Schönheit der arabischen Schrift?

 

 

2. Selbstveränderung oder Fremdveränderung?

 

 

Es ist schwerlich zu leugnen, daß die behauptete Universalität westlicher Werte, da fast nur im Westen real existent, mit der Gegen-Universalität einer Vielfalt von Kulturen kollidiert. Andere Kulturen, andere Sitten; andere Werte, andere Universalien. Und über diesen Graben zwischen den Kulturen könne nur „theoretisch“, niemals praktisch gesprungen werden; wenn aber doch praktisch, dann nur unter äußerster Zurückhaltung und Vorsicht.

 

Lediglich im Fall einer Selbstveränderung der anderen und fremden Kulturen, die aber aus deren Grund und Mitte kommen müßte, wäre eine praktische Missionierung und Verbreitung der westlichen Werte möglich und durchführbar. Diese wäre somit keine Missionierung mehr, sondern eine Art nachträglicher Bestätigung. Die fremden Kulturen hätten sich selbst zu einer modernen befreit, und der Westen hätte mit glänzenden Augen und wohlwollenden Begleitkommentaren zugesehen.

Es ist ebenso schwerlich zu leugnen, daß seit Ende des Kolonialismus das Gegenteil geschieht, auch weil dieser in der Frage der Missionierung bekanntlich zu großen Teilen versagt hat. Zwar werden die Ausnahmen des Versagens rühmlich genannt, voran das Verhalten des britischen Empire in Indien, aber den Ausnahmen lassen sich unzählige Nichtausnahmen gegenüberstellen.

In der Zweiten und Dritten Welt kann in überwiegender Anzahl nur von Pseudodemokratien gesprochen werden, obwohl nicht zu leugnen ist, daß die Tendenz erfreulicherweise zugunsten von Demokratisierung und Säkularisierung spricht. Und diese globale Tendenz folgt nicht allein einem Wunsch nach Selbstveränderung, sondern zugleich der tatkräftigen Mithilfe westlicher Helfer und Institutionen.

 

 

  1. Venus gegen Mars

 

 

Anders formuliert: Die Universalität westlicher Werte kollidiert mit der ebenso real vorhandenen Universalität kultureller Grenzen. Es ist dieser Widerspruch, der nicht geringe Teile der westlichen Intelligenz, besonders der pazifistisch gesonnenen, ein rituell wiederholtes „Zwar, aber “ als Argumentationsmantra praktizieren lässt.

Zwar sei die Überlegenheit unserer Werte unbezweifelbar, aber ebenso die Realität aktuell vorgegebener Kulturgrenzen unhintergehbar. Der Universalordnung durch westliche Werte widerstehe die Eigenordnung anderer – nichtwestlicher – Kulturen, und daher sei „Vermittlung“ und eine „Politik als Kunst des Möglichen“ das Gebot der Stunde.

Es sei das Verhängnis der moralischen Universalität des Westens, die kulturelle Eigenheit und Eigenständigkeit anderer Kulturen zu ignorieren oder gar zu verachten, als rückständiges Unwesen zu bekämpfen und beseitigen zu wollen. Nicht dürfe daher die Verbreitung der Demokratie durch hemmungslose Domino-Theorien und -praxen in aller Welt vorangetrieben werden, sondern Zurückhaltung und Rückbesinnung auf den Eigenbestand, um nicht zu sagen auf den eigenen (Schreber)Garten sei das Gebot der weltgeschichtlichen Stunde.

So spricht Venus Europa zu Mars USA, seit spätestens dem Ende des Kalten Krieges, und sie sieht sich bestätigt durch das „Scheitern“ und „Desaster“, durch nicht endende „Probleme“ und „Schwierigkeiten“ von Gott Mars, der sein kriegerisches Missionieren in der Zweiten und Dritten Welt nicht lassen will.  „Nichts gut ist in Afghanistan“ ist schon ein Appell, „Raus aus Afghanistan“ möchte dessen Vollzug sein.

 

 

  1. Huntington redivivus

 

 

In populärer Aufmachung findet dieses Argument die sattsam bekannte Stammtisch-Formulierung: was haben „wir“ eigentlich im Irak, in Afghanistan und überhaupt in der Zweiten und Dritten Welt verloren? Warum diesen Welten die „universalen Prinzipien“ unserer Welt aufdrängen? Wenn „die dort unten“ nicht wollen, warum sie zu ihrem Glück, das vielleicht (nicht einmal) nur unseres „hier oben“ ist, zwingen wollen?

Immer noch – wir halten im Jahr 2010 – wird somit gegen Samuel Huntingtons These vom „Kampf der Zivilisationen“, im deutschen Sprachraum irreführend als „Kampf der Kulturen“ übersetzt, argumentiert. Es handle sich um eine amerikanische These, die nicht einmal in den USA vollzählige Anerkennung finde, noch weniger im friedliebenden Europa, als dessen Vorstreiter oder vielmehr Vordenker in Sachen Ewiger Frieden das weltpolitisch eher marginal gewordene Deutschland aufzutreten beliebt.

Und die Journaille besorgt den Rest, indem sie ihren Stammtischen das Märchen von den Falken und Tauben in Amerika serviert. Abermals wird das Schema des Kulturkampfes sichtbar: die bösen Falken sehen die unausweichliche Konfrontation in der Begegnung der drei Welten, die guten Tauben bestreiten Konfrontation und möchten sie nach Gutdünken vermeiden.

Mag der moralische Wert der Menschenrechte und ihrer rechtstaatlichen Demokratie auch ein universaler Wert sein, die Kulturrechte der jeweiligen Kulturen seien es nicht minder, denn „Kulturen sind Werteordnungen“, die sich durch „ihre Eigenwertigkeit von anderen Kulturen unterscheiden“.[1] Durch diese tautologische und selbstbezügliche Definition glaubt sich der pazifistische „Kulturstandpunkt“ berechtigt, den Universalanspruch der „moralischen Werte“ der Menschenrechte und ihrer Zivilisation relativieren zu können.

Würde der Westen die „Universalität der allgemeinen Menschenrechte“ als global zu realisierendes politisches Programm auffassen, würde er sich hoffnungslos überfordern.  Denn in diesem Fall „droht jedes Problem auf der Welt zu einem Problem des Westens zu werden, ob die mangelnde Autonomie der Tibeter, die Unterdrückung der Frauen Afghanistans oder der Landverlust der Palästinenser.“ [2]

Der ersten Welt wird somit unverhohlen angeraten, sich mit der Rolle des Drückebergers zurechtzufinden, denn die Probleme der Welt seien nicht die Probleme der Ersten Welt. Daraus folgt eine radikale Prämisse des westlichen Kulturrelativismus: jede der drei Welten führe sich selbst und löse auch ihre Probleme für sich und durch sich selbst. Eine Position, die sich offensichtlich nach einem Zustand der Welt zurücksehnt, der vor dem ihrer Kolonialisierung und Globalisierung aktuell gewesen sein mag. Besonders deutsche Historiker des 19. Jahrhunderts schwärmten diesbezüglich von „Kulturkreisen“, die für sich um sich kreisten und ein ehrenhaftes Noli me tangere gepflegt haben sollen.

 

 

  1. Mutlosigkeit und Appeasement

 

 

Offensichtlich versucht dieser rigide, unter pazifistischen Vorwänden argumentierende Kulturrelativismus vor der Einsicht sich zu drücken, daß mit dem ideellen Anspruch der allgemeinen Menschenrechte ein unverzichtbarer „politischer“ Anspruch auf Durchsetzung ihrer Universalität verknüpft ist.

Er verkennt die unwiderstehliche Anziehungskraft der westlichen Werte auf jene Welten und Kulturen, die er mit dem Argument der zu schützenden Eigenwertigkeit der Kulturen, davor schützen möchte. Und er widerstreitet der Lehre der Geschichte, wonach sich höhere und tiefere Freiheitsprinzipien noch jedes Mal gegen ihre Widersacher durchgesetzt haben.

Auch ist ein Verlust an Selbstvertrauen und Gefahrenerkennung unverkennbar. Der Kulturrelativismus bedenkt nicht, was geschähe, wenn Zweite und Dritte Welt nicht auf den Stand der Ersten Welt gebracht werden könnten, und er glaubt nicht an die Kraft seiner Werte, sich überall durchsetzen zu können. Dem Antriebsverlust entspricht ein Realitätsverlust, der Mutlosigkeit ein Hang zu vorauseilendem Appeasement: Man erblickt eine falsch vereinfachte Welt, weil das kulturrelativistische Perspektiv unterm Mäntelchen der kulturellen Vielfalt der eigentlichen und entscheidenden Vielfalt der Antagonismen und Konfrontationen auszuweichen versucht.

Angesichts der sogenannten „Konfliktherde“ von Marokko bis zu den Philippinen und ebenso der Aktivitäten des Jihad im Westen, nicht zuletzt auch in Europa selbst, kommen Aufrufe zur Abschottung von „fremden“ Kulturen etliche Jahrzehnte zu spät. Der Versuch, den Herausforderungen im Nahen Osten, in Afrika und Asien ausweichen zu wollen, würde Europa auch weltpolitisch marginalisieren oder durch Appeasement zum Verrat an den eigenen Werten verführen, – der Kotau von „Friedensfürst“ Gerd Schröder vor China, weil die Geschäfte wichtiger waren als die Durchsetzung nichtkommunistischer Freiheitsprinzipien, ist noch in beschämender Erinnerung.

Wäre ein solcher Aufruf Jahrzehnte zuvor rechtzeitig erfolgt? Etwa als der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama um 1990 den wohl witzigsten Irrtum der modernen Geschichtsphilosophie verkündete? Mit dem Sturz des Kommunismus und seines sowjetischen Imperiums wäre die Geschichte ans Ende gekommen, denn nun sei die Demokratie in der ganzen Welt durchgesetzt oder doch als einzige politische Leitwährung anerkannt. Demokratie und Marktwirtschaft würden sich nun wie von selbst in aller Welt durchsetzen, der Westen habe auf ganzer und globaler Linie gesiegt. Bekanntlich mußte der Prophet später einräumen, daß in der Zweiten Welt eine „andere Dynamik“ vorliege.

Ein sorgfältiger Umblick in die damalige Welt hätte ihn belehren können, daß es in der Zweiten Welt kaum ein Land gibt, in dem der Westen nicht auf vielfältige Weise involviert ist, daß in dieser zurückgebliebenen Welt kaum ein Staat existiert, der nicht schon seit Generationen in der Warteschlange auf Demokratie-Einlaß steht. Einzig Israel, vorgeschobener Posten westlicher Werte, vermochte die westliche Trennung von Politik und Religion durchzuhalten, ansonsten keine Trennung von Religions- und Zivilrecht, keine von Staat und Religion in den arabischen und anderen islamischen Staaten der Zweiten Welt.

 

 

  1. Der militärische Komplex

 

 

Ein heftig schmerzender Dorn im Auge des westlichen Kulturrelativismus muß naturgemäß die militärische Durchsetzungsspitze des westlichen Universalismus sein. Daß die Sicherheit und Freiheit des Westens „am Hindukusch“ verteidigt werden müsse, stößt etwa in Deutschland weithin auf Unverständnis, und die Behauptung, die genannten hohen Güter würden vielleicht noch mehr im Kampf um Israels Existenz verteidigt, würde wohl nur dumpfes Kopfschütteln erregen.

War es im Bereich der politischen Globalisierung westlicher Werte eine „kulturelle Überdehnung“, die diesem Vorhaben Einhalt gebieten sollte, ist es im Fall der militärischen Globalisierung in der Regel das Argument einer strategischen oder/und finanziellen Überdehnung, die allen militärischen „Abenteuern“ Einhalt geböten. Strategisch: die NATO könne nicht an hundert Fronten zugleich tätig sein, finanziell: die Steuergelder des westlichen Volkssouveräns dürften nicht in den Kanälen zweifelhafter und zum Scheitern verurteilter Eskapaden von „Invasionen und Besatzungen“ versickern. Die NATO könne sich nicht „leisten“, was sich deren Auftraggeber vorgenommen.

Daher seien die neuen Ziele und Strategien der NATO, die auch für die deutsche Bundeswehr außereuropäische Einsatzgebiete und Einsatzformen vorsehen und längst praktizieren, zurückzunehmen. Während die neue Strategie der Prämisse folgt, daß man die neuen Gefahren und Bedrohungen dort bekämpfen müsse, wo sie entstehen, muß der kulturrelativistische Standpunkt der genauen Gegenprämisse folgen. Gefahr und Bedrohung mag sein, wir aber bleiben zuhause und verteidigen unser Schneckenhaus, falls es angegriffen werden sollte.

Dieser idyllische Standpunkt muß folglich auch in der Frage eines Beitritts der Ukraine, Georgiens und anderer neu entstehender Demokratien im Osten Europas – im offenen Widerspruch zur Realität der NATO-Mitgliedschaft der Türkei – davon abraten, den „orthodoxen Kulturkreis“ und den Machtbereich Rußlands „stören“ zu wollen. Eine Haltung, die im Widerspruch zur eigenen Kulturthese, wonach alles auf den Eigenwillen der jeweiligen Kultur-Inhabitanten ankomme, diesen mit zynischer Bevormundung das Recht und die Fähigkeit auf eigene – demokratische –  Entscheidung abspricht.

Die populäre Meinung, die aus dieser Fehlbeurteilung der weltpolitischen Lage resultiert, lautet ungefähr: „Es ist sinnlos, und wir sollen dafür auch noch bezahlen.“ Dem folgt die bekannte defaitistische Berichterstattung der westlichen Medien über das Kampfgeschehen in den Quell- und Frontgebieten des Jihad. Die NATO und vor allem die USA töten stets nur Zivilisten, Frauen und Kinder, die islamistischen Kämpfer werden zu Aufständischen und „Rebellen“ gegen Besatzer und Vertreter der nationalen und kulturellen Identitäten nobilitiert. Zugleich möchte dieser Standpunkt der unbedachten Selbsteinigelung die naiv verherrlichte UNO als wirksame Macht gegen NATO und USA in Stellung bringen, als ob nicht jedes Kind wüßte, wie es um die konkrete Durchsetzungskraft der UNO in aller Welt steht.

 

 

  1. Strategiediskussionen und Frontverläufe

 

 

Zwar ist der kulturrelativistische Einigelungsstandpunkt einsichtig genug, Einsätze der NATO gegen Völkermorde, ethnische Vertreibungen, Piraterie und sogar Terrorismus nicht grundsätzlich auszuschließen, weil die Erste Welt widrigenfalls – wie beispielsweise in Ruanda oder Srebrenica – schuldig werden könnte. Aber diese punktuelle Strapazierung erfordere im Prinzipiellen und Strategischen umsomehr ein striktes Einhalten enger Einsatzgrenzen.

Wenig Chancen für Dafur und Somalia, könnte man erwidern, ebenso wenig für viele andere Krisengebiete, die sich selbst, trotz vorhandener „kultureller Identität“, offensichtlich nur ungenügend gegen den Jihad und andere Zerfallsentwicklungen schützen können. Schiebt man diese Agenda den Amerikanern zu, um sie dafür in der Regel gleichzeitig als „Hegemonialsten“ und „Unilateralisten“ zu kritisieren, arbeitet man einem Zerfall der NATO vor, – in pazifistischer Neutralität und scheinbarer Unschuld, also ohne den selbsterzeugten Keim des Zerfalls bemerken zu können und zu wollen.

Könnte es sich der Westen „leisten“, Pakistan in seinem nun endlich als unausweichbar erkannten Kampf gegen die Hydra allein zu lassen? Sollte der Westen die Gefährdung Israels durch den Iran und dessen Terrorkohorten im Libanon und Gaza-Streifen ignorieren? Welche „Unterlassung“ (Vorsicht: Verharmlosungs-Rhetorik) in Somalia, Sudan und unzähligen anderen Frontgebieten des Jihad geschieht, sollte bekannt sein oder näher bekanntgemacht und nicht ignoriert und verdrängt werden. Welcher „Unterlassung“ macht sich der Westen schuldig, wenn er meint, „sich nicht leisten“ zu können, was unbedingte Pflicht ist, global zu leisten?

Wie sehr unter diesen Prämissen der Einsatz in Afghanistan als problematisch erscheinen muß, als neuerlich „unnötiger Krieg“, nachdem schon die Befreiung des Iraks als solcher gebrandmarkt wurde, versteht sich. Da ein sofortiger „Rückzug aus Afghanistan“ nun doch nicht mehr möglich ist, soll ein baldiger festgelegt werden, wenn nur die „Dreckarbeit“ getan und das Land halbwegs befriedet sei, ohne daß man über die Art dieses „Friedens“ näher Rechenschaft geben möchte. Der Westen habe sich übernommen, daher müsse er sich nun zurücknehmen und gleich „nach Afghanistan“ müsse damit der Anfang gemacht werden.

 

 

  1. Der politologische Irrtum

 

 

Dieser Irrtum ist durch einen anderen, noch problematischeren Standpunkt überbietbar. Einer, den Politologen gern vertreten, um ihr Objekt der Begierde, das Politische, als Alpha und Omega aller Geschichte zu behaupten. In der Theorie mag dies auch richtig sein, in der Praxis keineswegs immer. Es wird versucht, das Militärische vom Politischen und Zivilen, worunter die Kapitel innere Sicherheit und Verwaltung fallen, nicht nur zu trennen, sondern sogar auszuschließen, weil die angenommene Folge der Prioritäten beispielsweise auch in Afghanistan eine falsche sei. Auch im Falle eines Sieges der westlichen Soldaten in Afghanistan, wäre zwar der Feind besiegt, nicht aber Politik und Verwaltung aufgebaut.[3]

Dieser Standpunkt unterstellt also, daß die drei genannten Strategien nicht gleichzeitig entwickelt und vollzogen würden, und der Grund dafür soll sein, daß es dem Gegner, hier den Taliban und Al-Kaida, längst schon gelungen sei, den Westen als fremde (Kultur)Macht zu stigmatisieren. Also müsse der Westen seine militärische Präsenz in Afghanistan „so schnell wie möglich beenden und zusehen, daß er mit dem sich dann dort durchsetzenden Regime politisch vernünftige Beziehungen entwickele. So spare man Geld und Menschen.“ [4] Auch dieses Extrem folgt der kulturrelativistischen Lehre, wenn auch unterm Mäntelchen westlicher Politologie, die nicht versteht, daß die Politik nicht immer sogleich das einzige Sagen hat, wenn es um die Installierung einer neuen, einer für Afghanistan revolutionär neuen Politik und Zivilverwaltung geht.

Daß sich solche Politologie, die Politik sein möchte, ihren Standpunkt aus der Geschichte bestätigen lässt, ist nicht verwunderlich; aber die Geschichte kann zu jeder Deutung herhalten, die man ihr angedeihen lässt. Aus der Trivialität, daß Krieg noch keine Politik, daß noch jeder Aufstand, jeder Bürger- und Guerilla-Krieg letztlich politisch mußte zu Ende geführt werden, folgt noch nicht, daß man in Afghanistan schon heute zur politischen Tagesordnung übergehen könnte. Nach Rückzug und Abzug würde der Gegner, der auf diesen Vollzug westlichen Appeasements nur wartet, sogleich zurückkehren.

 

 

  1. Realitätsverluste

 

 

Unter Kulturrelativisten und Verfechtern der Einigelungsstrategie ist auch die Denunzierung der Erfolge der NATO nach 1990 beliebt. Sie hätte im Kalten Krieg die eigene Hemisphäre erfolgreich gegen den Sowjetkommunismus verteidigt, aber seitdem wäre sie chronisch erfolglos oder mit nur zwiespältigen Erfolgen, etwa auf dem Balkan, unterwegs.

Rückwärtsgewandte Vergleiche dieser Art sind für diesen Standpunkt mehr als lukrativ, weil sie eine Lehre der Geschichte zu beherzigen scheinen. Daß aber ein erinnerndes, also theoretisches Zurückgehen in die Geschichte niemals deren Vorwärtsgehen erfassen oder gar handelnd begleiten kann, sollte evident sein. Und daß beim Vorwärtsgehen die Erfolge immer nur „zwiespältig“, nicht von heute auf morgen in die heimatliche Scheune einzufahren sind, leuchtet jedem ein, der den bisherigen Gang der Geschichte näher betrachtet.

Allein unter pazifistischem Blickwinkel wird dies verdrängt und erscheint die Geschichte als Hort einer glücklichen Friedenserhaltung und von Erfolgen, die auf dem Reißbrett erfunden und in der Realität maßstabgetreu verwirklicht wurden. Wenn sie wüßte, daß die Sache in Afghanistan gut ausgehe, wäre sie dafür, erklärte eine deutsche Jungpolitikern der Grünen vor Beginn der „Invasion“ in Afghanistan, mit entwaffnender Offenherzigkeit. Deutsche Gründlichkeit ist nicht gefeit, ideologieanfällig zu werden, im Gegenteil. Ein Standpunkt, den verstört, daß sich die Missionierung der Zweiten und Dritten Welt nicht nach der Logik eines erfolgreich abzuwickelnden Entwicklungshilfeprogramms abwickelt, ist noch nicht in der Realität der aktuellen Weltgeschichte angekommen.

Ebenso wird verdrängt, daß sich die Entstehung neuer Staaten, in der Dritten Welt vor allem, nicht allein dem „Bedürfnis nach kultureller Eigenständigkeit“ verdankt, sondern zuvor schon der Möglichkeit, durch international abgesicherte demokratische Prozeduren Gründungen von Staaten durchführen zu können. Es bedarf dazu nicht wie einst neuer Kriege und Eroberungen, es bedarf keiner vormodernen Kulturkriege mehr, es bedarf der Realisierung westlicher Werte. Kein Zufall daher das Ansteigen der Anzahl lebensfähiger Demokratien seit dem Zweiten Weltkrieg.

Diese neuen Staaten beweisen in aller Regel, daß die universalistischen westlichen Werte keinesfalls auf einen „durch ethnische oder religiöse Identitäten versiegelten Boden“ fallen.[5] Die demokratischen und säkularen Keimlinge fallen überall, wo sie nur gesät werden können. Und keine Kultur ist vor diesem „Überfall“ und „Fall“ gefeit, weil er längst schon aus dem Inneren der nur scheinbar versiegelten Kulturböden ethnischer und religiöser Identitäten kommt.

Die steigende Zahl an Demokratien ist der Beweis, daß die westliche Demokratie als „Erfolgsmodell“ ihren Siegeszug um die Welt angetreten hat. Gegen deren politische Kultur hat langfristig keine vordemokratische Kultur reale Überlebenschancen. Und diesen Zug aufhalten zu wollen, wäre nicht nur unsinnig, es wäre antizivilatorisch und antiemanzipatorisch. Schon einmal hatte sich Deutschland auf einen Gegenzug verschworen: als die „Unpolitischen“ der Weimarer Republik meinten, Deutschland als Land der Kultur preisen, England und Frankreich als Länder kulturloser Zivilisation schmähen zu müssen.

Allerdings ist es richtig, daß die letztgenannten Staaten, damals noch als Kolonialmächte weltgeschichtlich mächtig, vor dem Zweiten Weltkrieg nicht mächtig genug waren, in der Zweiten Welt, besonders im Nahen Osten, den westlichen Wertekosmos in denen von ihnen gegründeten Staaten nachhaltig zu vermitteln. Damals fiel der westliche Samen in der Tat auf den durch religiöse und ethnische Schranken versiegelten Boden der Konkursmasse des zerfallenen Osmanischen Imperiums. Und dies ist bekanntlich ein geschichtlicher Hauptgrund, weshalb die Staaten des Nahen Ostens und der Zweiten Welt insgesamt bis heute Schwierigkeiten haben, wirkliche Demokratien zu werden.

Daß für dieses Scheitern den Engländern und Franzosen die Alleinschuld zugeschoben wird, besonders in Deutschland, ist irrig und Zeugnis eines historischen Realitätsverlustes. Auch die kulturliebenden Deutschen, wären sie vor Ort als europäische Kolonialmacht erschienen, hätten es nicht vermocht, die „Araber“ von ihrer politischen (Un)Kultur und inneren Zerstrittenheit abzubringen.

Soll nun der Westen angesichts dieser „Lehre der Geschichte“ den Rückzug predigen und durchführen? Soll man sich dazu „herablassen“, den vordemokratischen und oft noch vormodernen Staatstrukturen („Islamische Republik Iran“) in der Zweiten Welt Unterstützung zu gewähren? Wäre dies anders als durch schändliches Appeasement möglich? Oder soll, nach einer möglichen erfolgreichen Staatengründung in Afghanistan, den vielen weiteren Kandidaten die Chance auf Demokratie verweigert werden, weil sie sich vorerst mit dem Status von „failed states“ zufrieden zu geben hätten?

 

 

  1. Die Grenzen des Kulturalismus

 

 

Der vom Kulturrelativismus konstatierte „Zusammenprall von Universalismus und Kulturalismus“,[6] der einzudämmen oder gar zu verhindern wäre, führt nach dessen Ansicht, zu einer Stärkung der kulturalistischen Werte in den vom Westen inkulturierten Staaten und Kulturen.  In der Tat lässt sich die Genesis des islamistischen Fundamentalismus auf die Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts datieren, als in Ägypten, in direkter Reaktion auf das Vordringen der westlichen Kolonialmächte deren Werte in den Nahen Osten und in die Zweite Welt vordrangen.

Würde der Westen nun dieser Rückbesinnung des Islams auf seine ursprünglichen Lehren und Dogmen mit „kulturalistischer“ Wertschätzung begegnen, würde er beispielsweise die überwiegende Mehrheit der Ägypter und auch die moderate Politik Ägyptens, das durch unzählige Beziehungen und Verträge mit dem Westen verbunden ist, im Stich lassen. Er würde sich auf die Gegenseite schlagen und womöglich so blauäugig – „kulturalistisch“ – sein, sein gefährliches Appeasement nicht einmal zu bemerken.

Die kulturalistische Ideologie des Westens, die nicht als Minderheitenideologie der Intellektuellen-Kaste abgetan werden kann, unterstellt, daß die nichtwestliche Welt nicht zwischen Zivilisation und Kultur unterscheiden könnte oder doch möchte und sogar sollte. Daß sie somit unfähig wäre, einer Trennung von Politik und Religion, von Staat und Gesellschaft undsofort das Feld zu bereiten.

Die kulturalistische Ideologie verkennt weiters, daß das westliche Demokratiemodell sowohl kulturresistent wie zugleich kulturinsistent (kulturübergreifend und –durchdringend) ist, weshalb es vielen Kulturen und Staaten der nichtwestlichen Welt auch gelingen konnte, zwischen Religion und Politik und ebenso zwischen Zivilisation und Kultur zu unterscheiden. Der westliche Bazillus ist fähig, Kulturen, die durch ethnische und religiöse Traditionen determiniert und „versiegelt“ zu sein scheinen, zu durchdringen.

Weil die meisten islamischen Staaten in diesem unausweichlichen Trennungsprozeß auf halbem Wege steckengeblieben sind, wäre es ein fataler Irrtum, wenn der Westen glaubte, durch kulturalistische Selbstbeschränkung glänzen zu müssen, weil durch untätiges Gewährenlassen eine friedliche Welt – angeblich – herbeigeführt würde. Als ob Frieden ohne Freiheit ein Wert wäre, den der Westen, in der Zweiten und Dritten Welt propagieren sollte.

 

 

  1. Zur praktischen Logik des Universalismus

 

 

Und daher ist es auch problematisch von einem „Zusammenprall von Universalismus und Kulturalismus“ zu reden. Liegt wirklicher Universalismus vor, hat er die Kraft und den Auftrag, die angeblich „kulturalistischen“ Staaten (die es kaum noch gibt) zu durchdringen und umzuwälzen. Und dies ist selbstverständlich keine Aufgabe NATO zuerst und zuletzt; wohl aber kann die militärische Option, wie auch heute wieder bewiesen wird, niemals gänzlich ausgeschlossen bleiben.

Auch in Vietnam hat schlußendlich nicht der Kommunismus gesiegt. Der späte und unter Reagan, trotz Widerstands vor allem in Deutschland und den USA, geduldig errungene Sieg der USA durch Inkulturation von Demokratie und Kapitalismus, ist dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschuldet, an der sich das kommunistische Vietnam einst auszurichten pflegte. Daher kann das heutige Vietnam eine freiere Kultur sein eigen nennen als der mächtige Nachbar China.

Allerdings ist es der globale Jihad und dessen fundamentalistischer Islam, der den Staaten und „Kulturen“ der Zweiten Welt einzureden versucht, „Kreuzritter, Juden und Ungläubige“ würden das Haus des Islams angreifen und erobern wollen. Und darin haben sie ohne Zweifel recht, aber dies zu verteufeln, haben sie kein Recht, weil die islamischen Staaten selbst, jedenfalls nicht wenige ihrer Eliten und sogar ihre Massen mitunter (Iran) wissen, daß sie nicht in den Islam des 7. Jahrhunderts zurückkönnen, sondern in einen demokratiefähigen Islam des 21. Jahrhunderts nach vor müssen. (Modernes) Erobern und (vormodernes)Erobern ist nicht dasselbe.

Die Unterstellung der westlichen Kulturalisten, die von den Universalisten propagierte Missionierung der Zweiten und Dritten Welt ziele auf eine Herrschaft über fremde Kulturen ab, pflegt zu ihrer Stützung auf das diesbezügliche Scheitern der Kolonialmächte und sogar der Sowjetunion und ihres weltkommunistischen Imperiums zu verweisen. Woraus dann in weiterer Folge die populäre Erkenntnis abgeleitet wird, daß der Westen in Afghanistan ebenso scheitern wird wie vor kurzem die Sowjetunion.

Findet sich jemand, den dieses „Argument“ noch nicht überzeugt, wird er darüber belehrt, daß Afghanistan immer schon – vermutlich seit Alexander dem Großen? – unbesiegbar und ein Grab für alle Invasoren war. Denn das stolze Volk der Afghanen ist das stolze Volk der Afghanen, – eine Wunschprojektion des westlichen Kulturalismus von unverkennbar nationalistischer Herkunft.

Nicht nur wird die ethnische Vielfalt in Afghanistan, die auch in jüngster Zeit zu grausamen Bürgerkriegen führte, ignoriert, es wird auch einer Geschichtsmetaphysik von rührender Einfalt gehuldigt. Denn die These, daß die Herrschaftsformen „fremder Kulturen“ für die Herrschaftsformen anderer Kulturen prinzipiell undurchlässig seien, ist falsche Konstruktion, nicht Wissen von und über Geschichte.

Nach dieser Logik ist auch das „Scheitern Roms“, seine unterworfenen Vasallen (von Spanien über Afrika bis nach Mesopotamien) nicht für immer und ewig bei der Stange halten zu können, einer „prinzipiellen Kulturgrenze“ geschuldet. Dies wirft dann für viele Alt-Europäer die eifernde Frage auf, woran das Neue Rom (USA) und dessen Imperium zugrunde gehen könnte, dessen Untergang sei längst überfällig. Und des Hegemons Kampf gegen den Jihad und seine aktive und sogar „aggressive“ Rolle bei der Missionierung der Zweiten und Dritten Welt sei für Europa und Deutschland die Sünde nicht wert, die als kulturalistische Sünde einsichtbar ist. Untätig sahen die Amerikaner zu, als nach der Befreiung Bagdads die Riesenstatuen des Diktators und Schlächters von ihren Sockeln gestürzt wurden.

Daß wir aber in modernen Zeiten nicht mehr in jenen vergangenen und historischen leben, als Imperien und Kolonialmächte nötig waren, um vorrechtliche Kulturen an die römische, vormoderne Kulturen an die moderne Zivilisationskultur heranzuführen, sollte sich allmählich herumsprechen.

 

 

12    Zur asymmetrischen Wahrnehmung der asymmetrischen Realität

 

 

Daß die Auseinandersetzung der Ersten mit der Zweiten und Dritten Welt eine „asymmetrische“ sein muß, zählt unter Realisten und Universalisten zu den sich selbst verstehenden Gemeinplätzen. Nicht aber unter den Kulturalisten, die ihrem Paradigma gemäß unterstellen müssen, daß nicht die Realität (gleichberechtigter Welten und Kulturen), sondern allein die Perspektive jener, die behaupten, es liege eine Asymmetrie vor, asymmetrisch sei. Kurz: man nehme etwas als asymmetrisch wahr, das bei (kulturalistischem) Licht besehen, eindeutig symmetrisch sei.

Gilt diese These, kann auch der These nicht mehr widersprochen werden, daß die kulturellen Eigenwerte islamischer und anderer vormoderner Kulturen ebenso universal sind wie die Werte von Menschenrechten und rechtsstaatlicher Demokratie. Auch der Kalte Krieg – Sowjetunion versus Erste westliche Welt –  hatte kein symmetrisches Gegenüber zweier gleichberechtigter Blöcke zu bieten – unfreie Staatenwelten und Kulturen sind durch freie zu überwinden, nicht unter kulturalistische Kuratel zu stellen.

Nicht nur die kulturelle Auseinandersetzung der Ersten mit der Zweiten und Dritten Welt ist asymmetrisch, es ist vor allem der Krieg, der gegen die fundamentalistischen Fraktionen der „fremden“ Kulturen geführt werden muß, ein extrem asymmetrischer, wie der Gemeinplatz zu berichten weiß. Er ist dies nicht nur für den Westen, er ist es auch für alle Staaten und Kulturen, die dem islamistischen und anderen Terror, etwa dem maoistischen in Indien, mit Gewalt begegnen müssen, von Marokko bis zu den Philippinen, und erst recht im Westen selbst, wo die Zellen des Jihad auf ihre fernkulturellen Einsatzbefehle warten.

Die reale Asymmetrie existiert auf vielen realen Ebenen, weshalb der Kulturalismus ständig versucht ist, eine gegen die andere, oder eine herausgepickte gegen alle anderen auszuspielen. Die Kämpfer des Jihad sind dann entweder Kriminelle oder Arme oder auch nur der „soziologische Überschuß“ einer arbeitslosen männlichen Bevölkerung, nicht aber Krieger, die dem Kriegsrecht, sondern Privatleute, die dem Zivilrecht unterstehen sollten. Der (un)witzigste Irrtum auf dem Feld realer oder nur falsch wahrgenommener Asymmetrien dürfte jenen Polit-Kulturalisten unterlaufen, die dem Iran die Bombe gönnen, um mit Israel ein symmetrisches Gleichgewicht gegenseitiger Abschreckung herstellen zu können.

Die reale Asymmetrie durch „symmetrische“ Wahrnehmung nicht erkennen zu können und nicht wahrnehmen zu wollen, erinnert an den desorientierten Gedanken-Luxus der westlichen Neo-Kommunisten (antiamerikanischer Schickeria- und Intellektuellen-Sozialismus) während des Kalten Krieges. Unterstellt wurde eine gleichberechtigte Parität zwischen dem (nur noch ein wenig zu verbessernden) „Arbeiterparadies“ jenseits des Eisernen Vorhanges und der Kapitalistenhölle diesseits desselben Vorhanges. Und der endgültige Sieg über den westlichen Kapitalismus und Imperialismus wurde für die Eifrigen unter den Mitläufern natürlich in Vietnam unter Mithilfe von Che Guevara erkämpft.

 

 

13 Systemlogische Systemfehler

 

 

Wenn aber der Kulturalismus mit Systemtheorie und Spieltheorie – ohne Zweifel auch sie kulturelle Errungenschaften der säkularen Kultur des Westens – die „moralischen“ Universalisten des Westens über die Ungehörigkeit ihrer Eingriffe in fremde Kultursysteme belehrt, begeht er zwar scheinbar keinen Systemfehler, aber einen kapitalen Welt- und Realitätsfehler. (Jedes System kreise in sich, keines berühre das andere; denn sogleich würde sich ein drittes, ein neues System ergeben, wofür neuerlich und immer wieder die vorgesetzte Systemtheorie umgeschrieben werden müßte.)

Kulturelle Systeme seien Regelkreise mit ganz eigener Logik für Gelingen und Misslingen. Greift ein anderes System in ein wieder anderes ein, verfügt es nicht über die „Intuition der Einheimischen“ und setzt daher falsche Erwartungen und falsche Ziele voraus und erreicht nicht und niemals, was es erreichen wollte. Die Intuitionen der differenten Systeme sind einander weder verständlich zu machen, noch ist eines durch das andere zu überwinden. Derartige Ausführungen von Kulturalisten, die das wissenschaftliche Mäntelchen westlicher Theorien benutzen, führen in der Regel alles an Systemkreiskalkülen und Spielregelsystemen an, was der westliche Säkulargeist sich ausgedacht hat, aber kein Wort von Allah und dessen Identität und Eigenheit.

In der Schutzhülle des theoretischen Systems kann jede Welt- und Kulturerklärung natürlich niemals falsch sein, weil sie die heimtückischen Inhalte der fremdkulturellen Identitäten, die „Logik der Einheimischen“, erst gar nicht erreichen möchte. Die Intuitionen der kulturellen Gebräuche von Steinigen und Glieder-Abhacken, von Kinderverheiratung und Ehrenmord, von Schächten und Polygamie werden immunisiert und unter museale Schutzhaft gestellt. Auch dies ist natürlich ein Eingriff, der sich aber nicht als solcher bemerkt, weil er „außen vor“ zu verbleiben meint.

Vor allem warnt der Systemtheoretiker vor „Einzeleingriffen“, denn diese nähmen auf das Ganzheitliche der fremden Kulturen keine Rücksicht, zeitigten somit stets das Gegenteil dessen, was man erreichen wollte. Nun hat aber der Westen TV, Computer und Internet längst schon eingeführt, und die Ausführungen von Al Jazeera unterscheiden sich kaum noch von den Leistungen westlicher „Qualitätsjournalisten“. Wo blieben die „Intuitionen der Einheimischen?“

 

 

  1. Die Konstrukte des Kulturalismus

 

 

Die projizierende Liebe zum Fremden ist für westlichen Kulturalisten, nach dem Zusammenbruch der Ideologien, an die leergewordene Stelle der Utopien getreten. Auch sie ohne Zweifel eine kulturelle Errungenschaft der säkularen Kultur des Westens. Eine Liebe, die den Kulturalisten dazu verdammt, noch die menschenfeindlichsten Kulturen unter Glassturz zu stellen. Weil jeder Eingriff von außen kein Verständnis habe für die inneren Regelkreise der an- und eingegriffenen Kultur, müsse eine unausweichliche „Logik des Misslingens“ erwachsen.

Nach diesem simplen Vorurteil wäre ein Fortschreiten von Kulturen auf höhere und freiere Kulturstufen entweder unsinnig, weil unmöglich (und auch gar nicht wünschenswert), oder nur durch den Eigenwillen der betreffenden Kulturen möglich. Aber auch in diesem Fall müßten sie den Unwillen der Kulturalisten erregen: geben sie doch ihre Identität und deren Intuitionen auf. Wieder eine Spezies weniger im Zoo, wieder eine Pflanzenart weniger im Garten des Systembotanikers, – das kann nicht gut sein.

Folgte man diesem Vorurteil, wäre beispielsweise die politische und kulturelle Zurücksetzung der Frau im Westen und ebenso die Sklaverei noch heute ein zu hütendes Kulturereignis, ein Eigensystem mit undurchdringlichen und unveränderlichen Eigenregeln. Und auch die Menschenrechte sehen sich plötzlich am Pranger: nur Intuitionen gehabt, kulturell eigenwillige, nun aber von westlichen Systemdenkern derangiert und als Kulturblase durchschaut.

Nach der Logik des Kulturalismus wären unsere Orientalisten berufen, sich mit den systemimmanenten Intuitionen der islamischen Kulturwelt vertraut zu machen, um herauszufinden, wie bei gut gemeinten Eingriffen in das Fremdsystem systemstörende Fehler zu vermeiden sind. Und nach dieser klärenden Feststellung „der Grenzen des Möglichen“, darf Kulturaustausch wieder sein, dort, wo er nicht stört, für Schulklassen und Künstler.

Daß in der gegenwärtigen globalen Begegnung und Durchdringung aller Kulturen mit allen die Unterstellung der Alternative „von außen“ und „von innen“ obsolet geworden, entgeht dem Kulturalismus, weil er diese Unterstellung benötigt, um sich seine Abschottungsthese glaubwürdig zu machen. Jeder bleibe in seinem Haus, und Friede herrsche auf Erden.

Zu denken geben sollte, daß der radikale Islam nicht nur nicht daran denkt, in seinem Haus zu bleiben, sondern die gesamte Menschheit in sein Haus heimzuführen gedenkt. Er scheint sich mit den Intuitionen der kulturbewahrenden Systemtheorie des Westens noch nicht vertraut gemacht zu haben. Aber wird er dies jemals können und wollen? Wird er es jemals wünschen, wenn er nicht daran gehindert wird, die Intuition seines Heimholungsversuches zu vollstrecken?

Die Liebe zum Fremden dient zum Vorwand, sich vor der Pflicht, dem Fremden eine Teilhabe am Universalen zu ermöglichen, drücken zu wollen. Daher des Kulturalisten Horror vor „kriegsähnlichen Zuständen“, die weder „militärisch noch auf zivile Weise“ zu „beherrschen“ sind.[7] Als ob sich der Westen erneut als Kolonialmacht oder gar als „Imperium“ durchsetzen sollte und möchte. Der Irak soll und wird nicht „beherrscht“, er soll und kann sich nach erfolgter Befreiung selbst demokratisch regieren und verwalten, und ähnlich soll es den Afghanen und allen anderen „Kulturvölkern“, auch den Iranern, möglich gemacht werden, über den unfreien Schatten ihrer heutigen Kultur zu springen.

 

 

  1. Das Individuum und Stammesgesellschaft

 

 

Unvereinbar erscheinen dem Kulturalismus die Werte des Westens vor allem, weil sie auf das Individuum und dessen Freiheit („unantastbare Würde“) Selbstgestaltung und Sozialität gründen, während die Werte der islamischen Gesellschaft und Kultur in sozialer Hinsicht auf Großfamilie, Stammeszugehörigkeit und Clanbildung aufbauen. Dies ist allerdings in nicht wenigen, den rückständigeren Ländern, aber keineswegs in allen Ländern der islamischen Welt ausnahmslose Realität. Ein Gordischer Knoten, keine Frage, aber auch dies kein undurchdringlicher.

Afghanistan war schon westlicher und der Islam des Landes moderater und toleranter, bevor die Sowjetunion mit brachialer Gewalt ihr unfreies System der Einparteienherrschaft missionierten, und die Taliban das Land eroberten, um einen bis dahin in Afghanistan unbekannten „Steinzeit-Islam“ durchzusetzen. Mehr als ein Indiz dafür, daß die Verhältnisse in den islamischen Ländern nicht so undurchdringlich und „fremd“ sind, wie westliche Kulturalisten gern unterstellen.

Mitten im Nahen Osten konnte Saddam Hussein eine Diktatur a là Stalin durch Jahrzehnte bewahren, und sogar den faschistischen Nationalismen Europas zeigte sich die islamische Welt zugänglich. Sie ist also offen für schlechte und gute Einflüsse und „Invasionen.“ Die rigide Politik der Taliban war den Afghanen vor der Invasion der Taliban völlig fremd, keineswegs hing oder „hängt die Mehrzahl der 31 Millionen Afghanen einem konservativen Islam an“,[8] eine These, die schon durch die ethnische Vielfalt Afghanistans widerlegt wird, nicht zuletzt durch die starke Ethnie der schiitischen Hazara.[9]

Allerdings passen die freien und befreienden Werte des Westens mehr als „schlecht“ zu den unfreien Werten des rigiden Islams; und diese Asymmetrie ist keine des Wahrnehmens, sondern eine von brutaler Realität und Grausamkeit. Wenn aber der Kulturalismus die Identitäten und „Intuitionen“ einer Clangesellschaft für erhaltenswürdig erachtet, vergisst er den Punkt aller Punkte: Stammesgesellschaft und (moderner Rechts-)Staat schließen sich prinzipiell aus, vormoderne Sozialstrukturen sind nicht staatenbildungsfähig. Daher auch die rigide Ablehnung der diesbezüglichen westlichen Einflüsse durch Al-Kaida und Taliban.

Was sich ausschließt, das zieht sich zugleich an, wenn ein Befreiungsauftrag in der Sache vorliegt. Dieser liegt offenkundig vor, und daher muß die moderne Staatenbildung in die vormoderne Stammesgesellschaft eingeführt werden, und sei es zunächst auch nur wie der berühmte Tropfen auf den berühmten heißen Stein. Ohne diese Einführung können die sozialen Abhängigkeiten, welche die islamische Welt und Kultur sowohl ökonomisch wie gesellschaftlich, aber auch politisch und kulturell starr und unbeweglich machen, nicht verändert werden.

Die hoffnungsvollen Bewegungen und Veränderungen in nicht wenigen islamischen Ländern, sollten zudem nicht unterschlagen werden. Teils sukzessiv, allmählich und vorsichtig, teils stürmisch oder auch abrupt („von oben“) werden westliche Prinzipien und Realitäten (in der Ökonomie vor allem), aber auch zur Gleichstellung der Frau annäherungsweise übernommen. Schritt für Schritt wird jener Trennung von Religion und Politik, und damit auch von (religiöser) Kultur und Gesellschaft vorgearbeitet, die in Europa selbstverständlich geworden sind.

Die Sache (der Missionierung) handelt offensichtlich unter einem Auftrag, dessen Erfüllung nicht das Werk einer, sondern nur vieler Generationen sein kann. Was der ersten noch als Invasion des Westens und als Ausfluss einer „Logik des Misslingens“ erscheint, erscheint schon der dritten Generation als befreiendes Geschenk der Geschichte. Der „long war“ hat gerade erst begonnen.

Daß der Kulturalismus für die Bewahrung vormoderner Stammesgesellschaften weniger aus kulturerhaltender Fürsorge als vielmehr aus Angst und Furcht vor deren Stärke wirbt, ist wahrscheinlich. Denn deren Zusammenhalt muß unendlich größer sein als jener, den die meisten westlichen Staaten zeigen, wenn sie schon seit geraumer Zeit ihre bisherigen Volksarmeen entweder radikal dezimieren und „abspecken“ oder in Berufsarmeen verwandeln. Kein Märtyrerauftrag, der sich durch Selbstmordkommandos erfüllt, stärkt ihnen den Rücken. Unverkennbar ist die Abschottungsthese des Kulturalismus mit der westlichen Entmachtung des Militärischen verbunden, weshalb auch der „Militarismus“ der USA als Dorn im friedlichen Auge empfunden wird.

 

 

  1. Tropfen auf dem heißen Stein

 

 

Beispiele für den „berühmten Tropfen auf dem berühmten heißen Stein“ lassen sich in großer Zahl finden, zwei bekannte seien herausgegriffen. Die „islamische Republik“ ist keine Republik, legt man die Maßstäbe westlicher Republikbegriffe an. Sie ist dies so wenig, wie eine kommunistische Demokratie eine sein konnte, auch dann nicht, wenn sie sich Volksdemokratie nannte, wie im ehemaligen Ost-Deutschland.

Ist die Trennung von Politik und Religion (Ideologie im Fall des Kommunismus) nicht vollzogen, die Gewaltenteilung nicht anerkannt, werden – wie im Fall Iran – die Freiheiten der Person und Parteienbildung von den Machthabern und Mitläufern des Gottesstaates unterdrückt. Solches in Afghanistan zu wiederholen, wäre auftragswidrig. Geschähe es dennoch, müßte nachgebessert werden, von welcher der vielen Generationen auch immer, die Iraner zählen die ihrer Geschichte bereits nicht mehr an den Fingern einer Hand. Und wundern sich über die Verwandlung ihrer „Revolutionen“, die Freiheit versprachen, in „Rückfälle“, die wieder nur eine neue Art von Unfreiheit und Variante vormoderner Kultur und Gesellschaft praktizieren.

Ayaan Hirsi Ali wies erst kürzlich auf den Widerspruch hin, daß Saudi-Arabien einige UN-Menschenrechtskonventionen unterzeichnet und ratifiziert habe, in der Praxis jedoch weiterhin nach islamischem Recht verfahre.[10]  Die Verheiratung von 12-jährigen Mädchen an 80-jährige Greise, wie erst kürzlich wieder (für 22.600 Dollar) in Saudi-Arabien geschehen, sollte somit unmöglich geworden sein.

Die genannte Konvention fordert für jede Person unter 18 Jahren entsprechende Jugendschutzrechte. Saudi-Arabien war sogar bereit, den Artikel 16.2 des UN-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zu ratifizieren. „Es setzt fest, daß die Ehe mit einem Kind keine rechtliche Gültigkeit haben darf.“[11]

Doch gebietet der kulturalistische Vorbehalt der islamischen Kultur eine kalte Dusche auf so viele heiße Tropfen: „Im Falle einer Unvereinbarkeit der Konventionen mit dem islamischen Recht ist das Königreich nicht verpflichtet, die Regeln der Konvention zu befolgen.“[12] Da die UNO diesen Vorbehalt offensichtlich hingenommen hat, scheint sie sich eher als kulturelle Vielvölkerfamilie denn als politisches Organ der Menschenrechte und ihres demokratischen Rechtstaates zu verstehen, in offenem Widerspruch zu ihren Gründungsakten.

Anders ist die Logik, einen Vertragsbruch durch Vertrag festschreiben zu lassen, wohl nicht zu verstehen. Verträge, die das Niveau orientalischer Händel und Feilschungen nicht überschreiten, sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Die überfällige Reform der UNO müßte auch das ungelöste Problem einbeziehen, daß sich unter ihren Mitgliedern zwar viele Staaten mit „authentischer Kultur“, aber darunter nicht wenige, die die Standards der UNO nicht erfüllen, versammelt haben.

Auch vom Kulturalismus der westlichen multikulturellen Bewegungen werden die universellen Menschenrechte mitunter als „westliche imperialistische Normen“ interpretiert, zur Freude jener Kulturen, die ihre vormodernen Gesetze und Regeln für nicht weniger globalisierungsfähig halten. Der Kulturalismus setzt das Versagen der Kolonialmächte fort, die nach Ende der Kolonialisierungs-Epoche glaubten, auf eine weitere Durchsetzung der Menschenrechte in den neuen – entkolonialisierten – Staaten verzichten zu können.

 Es erhebt sich die Frage, ob die multikulturelle Bewegung (kulturelle Vielfalt als oberstes Gebot) nicht im Widerspruch mit sich selbst agiert, wenn sie im Namen der westlichen (Kultur)Freiheit Kulturen von extrem unfreier Zivilisation hofiert. Und diese auch dann noch unterstützt und als Beitrag zur kulturellen Vielfalt feiert, wenn sie in den Westen immigriert sind und sich an Integration desinteressiert zeigen.

Dieses multikulturelle Fehlverhalten liefert auch die Grundlage für die besonders in Deutschland gehegte Sympathie für Taliban und Al-Kaida. Weil in Afghanistan ein Kulturkrieg, nicht ein Zivilisationskrieg tobe, sei Sympathie für die „Aufständischen“ gegen die „Besatzer“ nicht Appeasement, sondern Verständnis und Umdenken. Und Al-Kaida ist ohnehin als Produkt der imperialistischen Politik der USA erkannt. So arbeiten die multikulturellen Bewegungen des Westens und jene Länder und Kulturen der Zweiten und Dritten Welt, die die universellen Menschenrechte als „westliche imperialistische Normen“ interpretieren, den Verächtern dieser Normen in deren blutbeschmierte Hände.[13]

 

 

  1. Historismus und Kulturalismus

 

 

Gern bemüht der Kulturalismus das historische Argument, die westliche Kultur sei nicht universalisierbar, weil sie „auf zahlreichen über zwei Jahrtausende gewachsenen kulturellen und seit Jahrhunderten gewachsenen strukturellen Voraussetzungen“ beruhe, weshalb für die Kulturen der Zweiten und Dritten Welt gelte, daß „weder in zwei noch in zwanzig Jahren vergleichbare Voraussetzungen nachzuholen und entsprechende Strukturen zu kopieren sind.“[14] Ein Argument, das mehrere Voraussetzungen enthält, deren Unhaltbarkeit unschwer einsehbar ist.

Zum Ersten geht es nicht um Globalisierung der westlichen Kultur, sondern um Universalisierung von gewissen zentralen Teilen ihrer Zivilisationskultur; zum Zweiten existiert keine einheitliche westliche Kultur; zum Dritten ist der Verweis auf die historische Genese der westlichen Kulturen keine Hilfe im aktuellen „Kampf der Kulturen“; und zum Vierten sind zwanzig Jahre kein Maßstab für weltgeschichtliche Transformationsprozesse.

Die Trivialität, daß sich jede Kultur ihrer Geschichte verdanke, taugt nicht dazu, eine kulturalistische Tabuschranke zwischen den Kulturen zu errichten. Wird jede Kultur als ihre eigene und unvermischbare wie unveränderbare behauptet, weil jede das Produkt ihrer eigenen Geschichte sei, so belehrt ein Blick in die Geschichte, daß dieses Abschottungsmodell in der Geschichte die seltene Ausnahme von der Regel war. Einzig Japan konnte sich – unter besonderen geographischen Bedingungen wie vormodernen Bedingungen, die längst dahin sind, längere Zeit von der Außenwelt abschotten.

Dabei ist zuvor schon zu bedenken, daß „Kultur“ ein sogenannter Sammelbegriff ist, mit dem alles und nichts unter einem Hut, der wegen unmöglicher Größe nicht existiert, versammelt werden kann. Mag er auch unvermeidlich sein, sollte seine Problematik den Verbrauchern seiner (Un)Sinnressource bewußt sein. Dazu kommt, daß es besonders im deutschen Sprach- und Kulturraum, aus Gründen, die schon erwähnt wurden („Kultur der Unpolitischen“), – schwierig ist, zwischen Zivilisation und Kultur, oder auch zwischen Staatspolitik und Gesellschaftspolitik und ähnlichen Realunterschieden westlicher Strukturen zu unterscheiden. Als ob die deutsche Sprache der permanenten Differenzierung und Modernisierung moderner Kultur immer nur hinterher hechelte.

Die Unterscheidung des Englischen zwischen politics und policy ist im Deutschen durch einfache Wörter, die vom öffentlichen Diskurs als „Begriffe“ gehandelt werden können, vorerst noch unmöglich. Verständlich, daß der stets zu weite und beliebig traktierbare Sammelbegriff „Kultur“ in das Verhängnis der Fallstricke des kulturalistischen Denkens führt, beispielsweise auch darin, daß es sich vom lieb gewonnen Gegensatz Orient versus Okzident nicht trennen kann.

 

 

  1. Die Globalisierung des Westens

 

 

Es ist triviale historische Realität, daß die westliche Kultur seit Beginn der Neuzeit nichts anderes ist und unternimmt, als universalisiert zu werden, teils friedlich, teils durch Krieg und Eroberung. Die unhaltbare Prämisse, der Westen könne diesen Zug der Geschichte anhalten und müsse ab nun in sich verharren und sich einigeln, er sei nicht „universalisierbar“, sei kein Haus für alle Menschen, verkennt das Wesen und den Entwicklungsgang von „Kultur“, – ein unbestimmter Sammelname für divergenteste Realitäten.

Es gibt kein Gebiet, vom Handel über das Recht, von der Industrie über die Künste, von Märkten und Wissenschaften jeder Art bis Lebensweisen jeder Art, in denen sich seit Beginn der Neuzeit die westliche Kultur nicht einmischte und sogar dominierte, man denke an das herausragende Beispiel des transformierten Indien, die größte Demokratie der Welt, bei der man nicht weiß, welcher Welt sie heute zuzuzählen wäre.

Aber nicht die „westliche Kultur“ als empirisch existente, die so vielfältig und permanent sich erneuernd ist, daß der Name „Kultur“ nur mehr irreführend sein kann, sondern die Prinzipien ihrer neuen Art von Sozialisation und Zivilisation, von Gesellschafts- und Staatenbildung und neuerdings sogar Staatenverbünde-Bildung (EU) drängen unabweisbar danach, in allen Kulturen Eingang zu finden und sich mit diesen zu vermischen. Unweigerlich werden Kulturen, die sich mit dieser Vermischung als unverträglich erweisen, entsorgt und verabschiedet. Es gibt keinen universalen Denkmal- und Museumsschutz für vormoderne Stammes- und Religionskulturen.

Die Vermischung und Durchdringung mit den westlichen Prinzipien geschieht zum Schutz nicht nur der Menschheit vor einer sich refundamentalisierenden Zweiten Welt, sondern auch zum Schutz der Menschen, die unter den unmenschlich gewordenen Bedingungen von Stammes- und Religionskulturen leben müssen und kaum überleben können. Daher wird eines Tages ein schon angedachter Verbund der Golf-Staaten (Golf-Kooperationsrat) und dessen Weiterbildung in der Zweiten Welt die vor sich hin taumelnde Arabische Liga ablösen, weil der Tag kommen wird, an dem auch die arabischen Staaten ihren Konfrontationskurs gegen Israel und die USA als Sackgasse erkannt haben werden.

Also geht es keineswegs um eine Integration in eine westliche Kultur, die sich schon im Westen selbst in jedem Land sehr eigenartig und eigenwertig entwickelt hat, von der Sprache angefangen bis hin zu den Gesellschafts- und Regierungssystemen (neun Monarchien noch im heutigen Europa der EU) wie auch den Lebens- und Kulturstilen. Schon den Franzosen ist die amerikanische Kultur angeblich ein Greuel; und mit der russischen Kultur kann ein Italiener vermutlich wenig anfangen; vielleicht noch weniger mit der britischen. Erst die moderne Medienwelt und vor allem die Welt des Sports sorgen nun für jene globale kulturelle Vereinheitlichung der westlichen Welt, die im internationalen Transport-, Industrie- und Handelswesen längst schon sine qua non ist. Fernsehen, Internet und Tesco sind bald überall.

Das Beschwören einer gemeinsamen „westlichen Kultur“ soll einen als kulturalistischen Kampfbegriff aufrüsten, getreu der Prämisse des kulturalistischen Denkens, wonach jede Kultur durch ein Noli me tangere zu schützen sei. Eine Worthülse als Signum einer merkwürdigen Art von Inseldenken, das im Zeitalter forcierter Globalisierung ein falsch forciertes Regionaldenken, einen verkehrten Lokaldünkel züchtet und den herkömmlichen Spielarten des Isolationismus eine weitere Facette hinzufügt.

Diesmal mit dem Widerspruch, als universaler Wert verkündet zu werden: jede Kultur sei ihre eigene Kultur; und alle anderen seien alle anderen und je eigenen Kulturen; fremd gegeneinander geboren, fremd gegeneinander verbleibend, auf ewig und immerdar. Die altgewordene Kulturkreislehre haucht ihren letzten Lebensatem aus.

Wer 20 Jahre veranschlagt um die Transformation der Zweiten und Dritten Welt für möglich zu halten, hält Unmögliches für möglich. Er bestätigt sich die Undurchführbarkeit des Unternehmens durch Unterstellung einer sinnlosen Zeitschranke. Unter 50 Jahren tut es der „long war“ nicht, und noch 100 Jahre rühren seinen Auftrag nicht an.

Die Bush-Administration hat sich der Leichtgläubigkeit an kurzfristige Erfolge jedenfalls niemals schuldig gemacht, obwohl ihr dies bis heute unterstellt wird: Bush habe geglaubt, die Fahne der Demokratie werde nach der Befreiung des Iraks in wenigen Jahren im Nahen Osten siegreich herumgereicht werden. Eine von vielen Unterstellungen, die zwanglos im Sumpf der gängigen Verschwörungstheorien versinken.

Der westliche Irrglaube, es könnte von heute auf morgen geschehen, was nur langfristig geschehen kann, folgt aus der Abschottungsprämisse des pazifistischen Europa und den (anfänglichen) Fehleinschätzungen der Obama-Administration. Und zugleich verkündet sich das neue friedliche Europa, das sich mit Obama einen rührenden Friedensengel hält, – in verdecktem Widerspruch zum kulturalistischen Denken – als „Modell“ für alle Welt, das mit sanfter Politik seine Botschaft missionieren möchte.

Europas Venus hat zwei Seiten: eine passiv-pazifistische und eine aktiv verführerische. Und daher wird der westliche Kulturalismus von zwei Seiten bedrängt und in Frage gestellt, – von Mars USA und Venus Europeana activa. Er ist nicht die Stimme, für die er sich hält: die Stimme der Vernunft; er ist nur die Stimme des „gesunden Volksempfindens“, das ausgerechnet in Deutschland fröhliche Urstände feiert.

 

 

 

[1] Heinz Theisen: Grenzen des Universalismus. Nach Afghanistan muss sich der Westen zurücknehmen. Merkur, Nr. 730, März 2010, S. 203-209.

[2] Ebenda.

[3] William R. Polk: „Aufstand. Widerstand gegen Fremdherrschaft“. Vom Amerikanischen Bürgerkrieg bis zum Irak. Aus dem Englischen von Ilse Utz. Hamburger Edition, Hamburg 2009.

[4] Rezension des Buches von William R. Polk durch Herfried Münkler in der FAZ vom 9. Dezember 2010, S. 32.

[5] Heinz Theisen, a.a.O.

[6] Heinz Theisen, a.a.O.

[7] Heinz Theisen, a.a.O.

[8] Heinz Theisen, a.a.O.

[9] Ahmed Rashid: Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad. München 2001.

[10] Ayaan Hirsi Ali: Unsere Freiheit. Frankfurter Rundschau vom 15. März 2010.

[11] Ayaan Hirsi Ali, a.a.O.

[12] Ayaan Hirsi Ali, a.a.O

[13] Ayaan Hirsi Ali, a.a.O. „Währenddessen haben westliche Bewegungen, die kulturelle Vielfalt feiern, alten frauenfeindlichen Traditionen die nötige Rechtfertigung geschaffen.“

[14] Heinz Theisen, a.a.O.