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10 Zum Geist der Show

A.

 

Die geschichtlich längst vollzogene Tendenz jeder modernen Show, als unwiderstehliche Erniedrigung des Wesens und Lebens von Kunst sich durchzusetzen –  als Pervertierung einer Mischung aus Zirkus, Varieté und Sport für ein fassungslos begeistertes Massenpublikum, kann nicht mehr als Pervertierung wahrgenommen werden, wenn das Wesen und Leben von Show in den globalen Tempeln des modernen Entertainments als Selbstverständlichkeit einer säkularen Liturgie global inszeniert und erlebt wird.

Michael Flatley, einst ein begabter junger Stepptänzer unter vielen in einem Vorort Chicagos, hat es dank jahrelanger Arbeit geschafft: erscheint seine weltbekannte Gestalt auf den Tanzbühnen des Globus, erscheint er als Erlöser seiner Gemeinden. Aber seine ganze Arbeit und die des Showbetriebs, der den Star machte, wären vergeblich und unmöglich gewesen, wären nicht zuvor schon in den zugehörigen Massengemeinden die Keime eines übermächtigen Bedürfnisses nach Erlösung durch vorgetanzte Unterhaltung lebendig gewesen.

Gewiß ist das Bedürfnis des großen Publikums, durch Attraktionen von Zirkus und Sport, Varieté und Unterhaltung jeder Art erlösende Glücksgefühle zu erlangen, beinahe so alt wie die Menschheit. Doch was ist das moderne Spezifikum dieses menschheitlichen Bedürfnisses und seiner Befriedungen? Wie ist es durch die Inhalte und Umstände der modernen Welt neu bedingt und verändert? – Wir reden und denken abstrakt, wenn wir von ewigen und zeitlosen, von „ewig sich gleich bleibenden Bedürfnissen“ reden und denken. Unterentwickelt unser Bedürfnis, das uns speziell Bekannte durch wirklich spezielle Erkenntnis, die dennoch den Gattungsbegriff der geschichtlichen Arten von Kunst und Subkunst nicht aus dem Blick verliert, zu erkennen und zu benennen. Was ist das Moderne am modernen Begriff jeglicher Art von Subkunst?

Schon daß ein TV-Interview des vergötterten Stars weiterhelfen kann, diese spezielle Erkenntnis zu gewinnen, ist eine weltgeschichtliche Erstmaligkeit. Nie zuvor wurde Künstlern und Olympioniken eine Selbstdarstellungsbühne geboten, auf der simulierte Privatgespräche („Interviews“) als globale Botschaften für ein Millionenpublikum inszeniert werden konnten. Nie zuvor verfügte der Betrieb der Massen-Attraktionen über wahrhaft „mediale“ Möglichkeiten, seine Halb- und Ganzgötter für die Ewigkeit der eigenen Sparte zu verewigen.

Fern und unwiederholbar eine Kultur, in der die Denkmäler der olympischen Sieger in ihren zerstreuten Heimatgemeinden als beinahe einzige Trägermedien vom globalen Ruhm der Heroen kündeten, dessen Fernwirkung noch nicht die spektakuläre Weite und betriebliche Enge säkularer Zeiten und Medien kannte.

Dennoch sprach sich herum, was geschehen war, und zwar „alsbald“ in ganz Griechenland und seinen Kolonien. „Alsbald“: ein altes, fast schon verstorbenes Wort einer längst verstorbenen Art, das zu gestalten und zu leben, was wir Zeit und Kultur zu nennen belieben. Denn der Olympionike bedurfte keiner gesonderten und kulturbetrieblichen Selbstdarstellung, er war als Liebling der olympischen Götter berufen und auserwählt –  ein sakraler Job, um es modern frivol zu reformulieren. Wir ahnen nur mehr, wir verstehen nicht mehr, wie „sagenhaft“ anders mythische Kulturen ihre „Stars“ verehrten und verewigten, erzeugten und vernichteten.

In der modernen Kultur spricht der Star der modernen Attraktionen als Botschafter einer radikal säkularen Botschaft, als Priester einer je eigenen Welt-Spezial-Religion; und wie er es schafft, diese dennoch als unersetzliches Allgemeingut und vermeintliche Allgemein-Religion seinem Publikum anzudienen und anzupreisen, bezeugt das Novum einer Epoche, deren Geist den von radikaler Säkularität erfüllt und vollendet.

 

B.

 

Daß „alle Leute, die seine Show erleben, sich wie Gewinner fühlen“, sei sein innigster Wunsch, teilt uns der öffentlich interviewte Star unumwunden mit; und kaum einmal dürfte diesem scheinaltruistischen Bekenntnis die Frage eines anti-säkular gewieften Interviewers begegnen: Gewinner über welche Verlierer? Huldigen wir höchst vergnügt dem Geist einer Show, wozu haben wir in dieser Stunde unserer triumphalen Verkindlichung nochmals Verlierer nötig? Welcher Gott zwingt uns, nochmals oder schon wieder als verewigte Sieger sterben zu müssen? Ist der antike Agon, zwar ohne mythische Götter und Kulte, doch mit abermals heroischen Menschen wiederauferstanden?

Oder sind die modernen Unterhaltungskünste lediglich des modernen Sports (noch) verhüllte Geschwister? Ein Sport-Idol, das nicht Gewinner gewesen, ist keines gewesen; nur der Sieger erlöst Tausende und Millionen; der Verlierer demütigt die Seinen schier untröstlich. Verliert unsere Mannschaft, liegt unser Anhängergeist danieder. Gewinn und Sieg ist im Reich des Sports der Sinn und Zweck seiner stets körperbehuldigten Wettkämpfe –  das Schachspiel hat es bis heute nicht geschafft oder erlitten, als Sport anerkannt oder depraviert zu werden. Und daß sich Gewinn neuerdings in horrendes Geld umsetzen läßt, ist gewiß eine Bereicherung, wenn auch um einen hohen Preis –  den von vollendeter Säkularität.

Der Gewinn und Sieg aber, den uns der „Lord of Dance“ beschert –  worin könnte er bestehen? In einer ästhetischen Rendite? Und die wäre? Oder doch auch in einem sportlichen Zugewinn, weil der Sieg des Showtänzers über die Schwerkraft der menschlichen Beine, über die Schwäche der nichttanzenden Menschheit, alle Nicht- oder Schwachtänzer erlöst und befreit? – Der „Lord of Dance“ versteht sich jedoch ausdrücklich als Künstler, keineswegs als Sportler, und auch das Wort Entertainer wird zumeist vermieden; offensichtlich um nicht die säkulare Banalität mephistophelisch wiederholen zu müssen, daß doch unbestreitbar der große Entertainer auch ein großer Künstler sein müsse.

Haben wir nun einen Konflikt oder gar den Versuch eines Betrugs aufgespürt? Gemäß universaler Definition von Kunst kann der Körperkünstler allenfalls als Kunsttänzer in den Olymp des Kunstschönen und seiner Ergüsse und Belohnungen aufsteigen; mag nun der Stepptänzer auch dem zwielichtigen Reich der Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Varieté angehören, er bleibt – gemäß hoher Definition – doch dem Subwesen der Varieté- und Virtuosenkünstler, der Zauberer und Jongleure, der Artisten und Löwenbändiger eher zugeordnet als seinen Brüdern von Schwanensee und Nußknacker. (Wenn nicht, haben diese das Zeitliche gesegnet.)

Die höheren Brüder im Geist des künstlerischen Tanzes hatten und haben zwar gleichfalls lediglich ihren Körper und dessen Bewegungen als unmittelbare Geige und Bogen ihrer Kunst; aber sie hatten oder haben zugleich noch den Geist eines Kunstwerkes, noch nicht den einer „Show“ zu performieren, somit einen Inhalt, dem die Formen und Darbietungsweisen der Tänzer adäquat zu sein hatten und haben. Gegen diesen Satz erfolgt reflexartig der Einwand des bekannten Gegen-Satzes: „Als ob nicht auch der Entertainer auf ebenso adäquate Weise den Plan und Inhalt seiner Shows durch- und aufführen müßte.“

Unterschreiben wir diesen Satz, haben wir allerdings einen neuen Lord of Dance anzuerkennen. Wir mußten dazu nur den Begriff von Geist und Kunst ein wenig verrenken und umformen, und schon ist das moderne Kunststück fertig, zwischen Entertainment und Kunst alle Unterschiede weggetanzt zu haben. Als wäre zu höchster Kunst aufgestiegen, unsere Beine stupid virtuos über den Tanzboden zu schleudern, und daher verständlich, daß unser neuer Lord of Dance nicht als Unterhaltungskünstler angesprochen werden möchte.

Auch mit den Heroen der einschlägigen Tanzwettbewerbe, die nach sportlich- ästhetischen und ästhetisch-sportlichen Kriterien bestritten werden, möchte unser Lord of Dance nichts zu tun haben. Ist nun wahrhaftig und wirklich auch im Reich des Tanzes der Kunstbegriff modern erweitert, das Kunstschöne modern bereichert, beides kreativ entgrenzt, wie die gängige Phrase moderner Ästhetiker lautet; oder sind beide – Kunst und Kunstschönes – lediglich modern depraviert und erniedrigt worden, ohne daß noch jemand dies bemerken konnte?

 

C.

 

Das biographische Interview beschwört den Legenden-Geist der allbeseligenden Anekdote, um uns widerstandslos empfänglich zu machen für die Nähe eines Idols, das zunächst auch nur ein Mensch war wie du und ich; denn siehe da, auch vor seinen success hatten die Götter den Schweiß des Fleißes gesetzt.

Durch viele Jahre ein Unbekannter unter vielen Unbekannten, kein Durchbruch in Sicht, kein Interesse an seiner Wenigkeit, immer am Rande dessen, was die meisten seiner Konkurrenten resignieren und abbrechen ließ.

Doch eines Tages gewinnt er in Irland Preis und Trophäe im Revier des Stepptanzes, und ab nun erfolgt mit dem Siegeszug eines neuen und doch alten Unterhaltungs-Genres, dessen Zeit reif geworden war, der Siegeszug einer Star-Karriere. – Tourneen durch alle Kontinente eröffnen die Goldader eines Massenmarktes, Millionen erfahren sich als neu beglückbare Wesen, und das neugeborene Idol rekonstruiert seine göttliche Künstlerwerdung: wie konnte dieses Wunder nur geschehen?

Was stand in den Heiligen Büchern der Unterhaltungssoziologie geschrieben? Es wird ein Erlösung bringender Heros auch in diesem Revier erscheinen, und folglich muß es an seiner auserwählten Person liegen, am Charisma seiner Individualität, daß s e i n Stepptanz alle anderen himmelweit überragt und den globalen success herbeibeschwören konnte.

Treuherzig und ohne Dünkel teilt uns der Welt-Star sein Erstaunen über die Affenliebe seiner Fans mit: „Sie lieben mich“, und „sie sind ein Teil meiner Show“. Das Interview wird mit Einspielungen über die Geschenke zahlloser Fan- Clubs garniert; diese reden die Sprache einer Verehrung, die an Anbetung grenzt. Eine Filmsequenz zeigt die für ewig dokumentierte Überreichung eines T-Shirts, dem die Namen von hundert Verehrerinnen eingestickt sind, und die überreichende junge Frau, angesichts ihres Idols förmlich zerfließend, teilt dem vergötterten Heros mit: „wenn du es trägst, weißt du, daß wir an dich denken“.

Nicht mehr kann uns verwundern, daß der Genius angesichts dieser intimen Ovationen verkündet, eine „starke und geheimnisvolle Veränderung als Künstler“ habe sich in ihm ereignet; und daß er sich wie spontan an den Tag und den Ort seiner Berufung erinnert, als er sich wie neugeboren im Spiegel erblickte und sprach: „das ist es.“

Niemand empfindet noch die phantastische Filmläufigkeit eines öffentlichen Interviews, das in regelmäßigen Abständen ausgesuchte Höhepunkte großer Show-Erfolge vorführt, die Highlights als ewiges Kurzzeit-Remember, die permanente Wiedererstehbarkeit eines success, der sich dennoch nicht abzunutzen, im Gegenteil: immer kräftiger aufzunutzen scheint –  wie eine Reklamesequenz für eine Ware, die mit ihrer Bewerbung gleich und eins geworden.

Wir sehen die Urszene von Katharsis durch wahrhaft reinigende Kunst, nun aber im Geist der modernen Show in ursprünglichste Pervertierung getaucht: der tanzende Heroe, die Flöte blasend wie Gott Pan höchstselbst, doch kämpfend mit einem unnatürlich lauten Flötenklang, der das unsichtbare Playback den Eingeweihten verrät, das der moderne Pan für seine Gemeinde zu verhüllten trachtet durch exaltiert rudernde Arme und emotional lochfingernde Hände an einem Instrument, an dessen Archaik die überdeutelnde Kamera keinen Zweifel zuläßt. Aristoteles würde sich mehr als verwundern über eine unmögliche Katharsis, die dennoch möglich wurde.

Wir hören eine tränendrüsendrückende Barockmelodie, deren Kitschverzierungen Johann Sebastian nicht einmal für unmöglich hätte halten können –  es ist „sein Lied“ , wie uns der Star gar nicht verschämt mitteilt, und daß es zugleich das Lieblingslied seiner Mutter ist, die sich wie zufällig unter den Tausenden eingefunden hat, die sich im Hyde-Park zur „Feet of Flames“ versammeln, wer wollte nun nicht gleichgesinnt die Tränen des Glückes vergießen in einer Gemeinde glücklich Begossener?

Jetzt wird auch das Herzstück der hochgemuten Unterhaltungs-Botschaft verstehbar: wir sollten nicht immer nur „macho“ sein, es sei noch so viel Liebe in der Welt und in uns –  und kein Zweifel: dies ist ein ehrsamer Aufschrei gegen die Verhärtungen des modernen Menschen in einer modernen Welt –  aber mit welcher „Liebe“ sollen sie „aufgebrochen“ werden? Sollen wir nun tanzen und steppen, oder genügt es, dem göttlichen Tänzer als neuem Gottessohn einer neuen Gottesliebe zu folgen und zu verehren? (Oder leidet unser tanzender Erlöser lediglich an einem abnormen Liebesüberschuß, der ihn übermenschlich verwandelte –  in einen medialen Autisten?)

„River Dance“, „Lord of the Dance“ und „Feet of Flames“ , seine bekanntesten Welterfolge werden als Aufträge eines höheren Schicksals präsentiert, und daher spricht ein Gesandter und Heiliger zu uns, der schon zu Lebzeiten die Legende seines Lebens zu erzählen weiß. Lampenfieber verklärt sich zum Erweckungserlebnis –  damals auf der Bühne des Hyde-Parks, habe er erst „im letzten Augenblick gespürt, daß das Publikum auf meiner Seite ist.“

Jeder soll an sich glauben und seinen Träumen vertrauen; denn auch er habe klein angefangen in einem schrecklichen Vorort von Chicago, und dennoch habe er den Erfolg geschafft. Fast schon spricht nun ein Politiker zu uns, der im Rausch seiner beglückenden Macht verkündet und auch wirklich daran glaubt, daß unter seiner Regentschaft nur Glückliche unter der Sonne leben werden.

Jeder glaube felsenfest an seinen Erfolg, und weil „seinen“ nun eins geworden ist mit ‚seinem“, der des Stellvertreters mit dem, der für uns stellvertretend erfolgt (weil der Stellvertreter die Leiden und Läuterungen des Erfolgskampfes aller erfolgreich durchlitten und durchstorben hat), kann der stellvertretende Erfolg an die Erfolglosen wie eine Letzte Ölung weitergereicht werden.

Die Erlösung in Gestalt von „Gewinn“ – ein Wort, in dem mittlerweile Sieg und Bereicherung eins geworden sind – meint somit unsere Erlösung durch unseren Sieg auf allen Kampfplätzen der modernen Kultur. Die moderne Kreativitätsideologie hat uns fest im Griff: der Künstler als Prototyp des modernen Menschen, weil jener berufen sei, die „Kreativität“ von diesem anzufachen, die letztendlich als erfolgreiches Produkt auf ihren Märkten verkauft werden soll. Die existentielle Fieberkurve des Künstlers als Extremmaßstab für unser aller Leben und Wirken: Ein Künstler ohne Erfolg gilt nicht wenig, er gilt nichts; denn ist sein Name keiner, ist seine Ware wertlos.

Auch diese Erlösungsbotschaft wird an den modernen Menschen und seine Massensociety nicht von außen herangebracht, sie muß ihm nicht eingeredet und einmanipuliert werden. Und daß sie in Gestalt einer Erlösung durch Steppshows nicht von allen Kunden angenommen wird, tut der Sache keinen Abbruch angesichts der überbordenden Fülle des Angebots und der Millionenexistenz von Angebotnehmern. Jedem etwas, und selbstverständlich nur das Seine, lautet die Losung, die ihre Erfüllung durch selbsteigene Kreisläufe herbeiführt.

Daher ist die Begeisterung der Angebotnehmer „echt“ –  das Verlangen nach einfacher Kost und Religion legitim, und kein Glied nicht fleißig in einem Betrieb, der an der Salbung seiner Auserwählten nicht unersetzlich mitarbeitete. Manager und Journalisten – in allen Kulturbetrieben längst die führenden Drahtzieher und Wasserträger – salben und salben, unterwegs wie Hänschen Dampf in wirklich allen Gassen, hinter jedem heiligen Dampf hinterher im Dienst erlösungsbedürftiger Gemeinden. Ein Vorhang und Tusch für die oft nur schlecht bedankten und fast immer namenlosen Diener der großen und kleinen Bühnen.

(April 2006)