13 Tode Gottes
Erhöht über den Gipfeln unserer Berge, über den Altären unserer Kirchen, über den geweihten Orten verflüchtigter Andacht, hängt der gekreuzigte, der getötete und als Mensch für immer verstorbene und als verstorbener Mensch für ewig auferstandene Gott.
Die Menschwerdung Gottes umschloß ihr Gegenteil, die Gottwerdung des Menschen, indem sie die Entlassung des Menschen aus jeder verfänglichen Gottesverwechslung verfügte. Außer uns ist nun kein Gott und kein Göttliches mehr, und noch des Nächsten Gottesnähe ist in Ungewißheit getaucht.
Nach innen fliegt die neue Andacht daher – mit den Flügeln des neuen mystischen Paars: Reflexion und Liebe. Ein Flug in eine innere Unendlichkeit, in eine bildlose Innenwelt, und dennoch kein bildloser Flug; denn die Umkehr der mythisch an sich gefesselten Welt wäre ohne den Christus-Tod ihrer Sinnenmacht unmöglich gewesen. Als stets ichhaft Auferstehender geht der Auferstandene durch uns hindurch.
Besiegelt der Abschied von seiner tausendjährigen Umdichtung zum Pantokrator einer Welt, die zugleich religiös und weltlich beherrschbar sein sollte. Sterben aber alle mythischen Anteile im künftigen christlichen Bewußtsein, so verabschiedet sich auch sein römisches Erbgut, und der Geist der Reformation feiert seinen späten, aber auch seinen letzten Sieg. Es waren nicht zufällig Italiker und Italiener, die Sinnes- und Sprachverwandten der Römer und Griechen, die der neuen Religion zur katholischen Herrschaft über das vorchristliche Europa verhalfen.
Noch heute wird im südlichen Italien die Karfreitagsprozession als sakrales Spektakel vollzogen, das bis in die Morgenstunden ganze Städte auf den Beinen hält. Unter den betäubenden Schrillklängen von Blaskapellen, die sämtliche Trauermärsche des 19. Jahrhunderts abblasen, wanken die Stationen des Kreuzweges auf den Schultern der Ehrenträger im Triumphzug durch die Gassen und Straßen. Wie antike Skulpturengruppen schweben sie auf den erhöhten Tragbahren über den Köpfen der gebannten und doch irgendwie gleichgültigen Menschenflut. Manchmal überkommt die an ihrer schweren Last tragenden Männer ein taumelndes Tänzeln, eine kleine Berauschtheit, die den Festrausch der Volksandacht zu vollenden scheint: als führten die Leiden des Gottmenschen zu einer unwillkürlich ekstatischen Vereinigung von Trägern und heiliger Last.
Auch hindern Lärm und Trubel der sakralen Marketenderei die Menschen keineswegs, beim Anblick der auf hohem Thron erscheinenden Gottesmutter in Tränen auszubrechen. Und daher blickt sie huldvoll unter ihrem marmornen Kopftuch auf die Sterblichen herab oder in abwesender Entrücktheit über sie hinweg.
Niemand käme auch nur der flüchtige Gedanke, hier würde einer späten und vielleicht letzten Verwandten der Pallas Athene gehuldigt. Witwen und Witwer beschließen die Prozession, hundert gefaltete Hände umfassen flackernde Kerzen, ein Anblick, der den Schelmengeist der Kinder unwiderstehlich anzieht, einige der zahllosen Flämmchen auszupusten.
Aber kein Zweifel: noch im Brimborium der kitschigsten Symbole, im Taumel des nächtlichen Triumphzuges, im schrillen Trauerlustklang der Musikkapellen ist der Sinnengeist des Volkes ganz außer sich und dadurch kollektiv befreit bei sich eingekehrt. Das äugende und hörende Gemüt, von neomagischer Sinnenandacht erfüllt – ferner Nachklang der mythischen, die einst ungebrochen nach außen flog, um mit dem fließenden Geist der Götterstatuen – gesänge und -kulte zusammenzufließen –wohnt einem prächtigen Himmelsgeschehen auf Erden bei und gibt sich einer Überwältigung durch dessen Augen- und Ohrenschein hin.
Seine Wahrheit lebte das Christentum seit Ausgang des Mittelalters auf zwei Wegen: gegen und später neben den hierachiegeweihten Weg des katholischen Augen- und Ohrenscheins trat der innere Weg des evangelischen Wortscheins durch individuelle Glaubensrechtfertigung. Zwar hatte bereits der katholische Weg, spätestens nachdem er den Geist des theologischen Nominalismus ausgebrütet hatte, mit den Meistern der Mystik – Meister Eckkehart voran – , Einspruch gegen eine Weltherrschaft des Sohnes erhoben.
Doch gelang es der Hierarchie, diese Stimmen so lange ins Abseits zu drängen, bis sie unter den veränderten Bedingungen der neuzeitlichen Befreiung des modernen Individuums und im langen Schatten des Konzils zu Nicäa die schismatische Teilung des christlichen Glaubens herbeiführten, die schließlich dessen Explosion in unzählige Konfessionen einleitete.
Weshalb uns heute – im Verenden der Neuzeit – neben der katholischen Sinnlichkeit auch das reformatorische Bilderstürzen und calvinsche Musiktabu nur mehr wie Ereignisse aus einer anderen Welt erscheinen, wie historische Schlachten, die uns nicht mehr berühren, weil sie zwischen verschwundenen Reichen und Gesellschaftssystemen ausgetragen wurden.
Wir ahnen, daß wir längst jenseits von geweihter Hierarchie und rituellem Wort, das sich im Zirkel des wortgläubigen Glaubens auslegt, als lebte es noch und für ewig in den Auslegungsweisen des ersten Jahrhunderts, auf die Suche nach einem neuen Weg ausgesandt wurden. Während das Individuum auf dem katholischen Weg seine Versöhnung nicht ohne die Macht der hierarchiegeweihten Vermittlung erlangte, sollten sich auf dem protestantischen Weg alle Widersprüche im Wort der Schrift aus dieser selbst auflösen lassen.
Sind wir aber heute über beide Wege hinaus, so erklärt sich, daß uns die Totalsäkularisierung der Gegenwart neben der universalen Entweihung aller äußeren Realität auch ein universales inneres Bilderverbot für den neuen Weg in die innere Unendlichkeit aufzuerlegen scheint. Schrumpfen im Äußeren alle Symbole zu Zeichen, die Hierarchien zu Ruinen, alle Bilder zu Schemen vergessener Andacht, so wird es Ernst mit einer authentischen Tieferlegung des Bildwesens im Reich künftiger Religion.
Auf nichts wartet das moderne Bewußtsein vielleicht sehnsüchtiger als auf eine Neugeburt originärer Urbilder im Licht neu erhellter Offenbarung. Bis dahin hausen die alten Bilder, rasend verschwindend, in uns noch ein wie die Fledermäuse in den Nischen der Nacht. Keines vermag noch einmal den in sich gehenden Sinn des Wortes zu begleiten, erscheinungslos aber verfehlen sie die Gemeindung von Glaubenden.
Und der spekulative Gedanke der Philosophie des 19. Jahrhunderts, das Christliche sei, im Begriff erkannt, die Vernunft selbst – der neue Weg führe zu einem Vernunftparadies auf Erden, zum diesseitigen Reich des Himmels als vollendet befreiter Gemeinschaft von Individuum und Gesellschaft – , wurde binnen eines Jahrhunderts als realisierte Utopie bitter und grausam gebüßt. Seitdem mag sich der mystische Kern weder das Gewand der Geschichte noch das der Kunst noch das der magisch- mythischen Wiederaufbereitungsweisen überwerfen.
Wovon nicht zuletzt die verzweifelte Wiederkehr der antiken Götter und Gottmenschen in den Stars und Megastars der Unterhaltungsimperien des 20. Jahrhunderts zeugt. In der geistigen Ohnmacht, die den Fan umfängt, wenn er seines Heroen im Angesicht seines Tuns gewahr wird, erscheint der Geist mythischer Andacht nochmals, aber nun in der Gewalt eines gänzlich entgötterten Bewußtseins; in einer säkularen Sinnlichkeit, der alle mythischen und rituellen Verhaltungen an sich schon unmöglich geworden sind. Umso starrsinniger hält es an ihnen fest und erschafft sich Unterhaltung als weltumspannende Säkularreligion.
Die mythischen Pendants verschwinden in den säkularen: in der Andacht vorm Idol, im Ritus des technologischen Rausches, im Kult des kollektiven Gedächtnisses. In der Scheinrückkehr sinnlich präsenter Gottheiten erfolgt der letzte Ausverkauf aller bildfähigen Symbole, aller glaubhaften Inkarnationen, aller Charismen von Geist in Fleisch und Blut. Das einstige Göttergesicht einer nichtkontingenten Welt verscharrt sich bis zur Unkenntlichkeit unter den Masken seiner säkularen Travestie. Die Inszenierung der Rückkehr ist die List, sein Verschwinden erträglich zu machen. Unermüdlich arbeitet die Prosa und das Wissen der säkularen Welt an der Beseitigung einer jahrtausendebewährten Synthese von Natur und Geist im menschlichen Bewußtsein.
In den Eseleien der Stars und Megastars, die sich der Hörigkeit der Massen ebenso verdanken, wie diese durch sie erzeugt werden, erleben wir die letzten Zuckungen auch noch der letzten Reste des mythischen Weltseins. Wie Schuppen fällt uns nun von den Augen, daß die großartige Entfaltung der abendländischen Kunst bis hin an ihr Ende im 20. Jahrhundert die Vorbereitung dieser Verabschiedung war. Genie und Werk waren der säkulare Heilige und sein göttliches Gefäß, worin die christliche Substanz in der Transsubstantiation autonomer Kunstschönheit die letzten Scheine sinnlicher Präsenz und Weltherrschaft von sich stieß.
In der Tat ein zweiter Tod Gottes, aber auch nur ein zweiter, und schon gar nicht der vermeintlich letzte, für den ihn die artifizielle Naivität Nietzsches hielt. Ein Tod, der die Flugrichtung unserer Andacht umkehren wird, um unsere Innenheit gegen den Anschein einer einzig existierenden säkularen Außenheit zu befestigen. Die Frage, ob sich Gott damit experimentierenden Erfahrungs-Ichen, der Kontingenz willkürlichen Vorstellens, der Vereinzelung Vereinsamter ausliefert, steht vorerst unbeantwortbar über uns und der gegenwärtigen Epochenumwälzung. Sollte die Auslieferung jedoch weltgeschichtlich beschlossen sein, so umfinge sie wie durch universalen Zauberschlag die Höhlen aller Suchenden; diese wären nicht einsamer als einst die ersten Christen inmitten einer Welt von Pharisäern, Sadduzäern, Essenern und ohnehin von Römern und Griechen.
Juni 2007