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21 Europa als Friedensmacht

 I.

 

Kein größerer Gegensatz scheint denkbar, scheint erinnerbar: 1914 – Begeisterung und Jubel in ganz Europa, unübersehbare Massen begrüßen den neuen, lange herbeigesehnten Krieg; 2004 – eine der größten Massendemonstrationen in Europas Geschichte wendet sich vehement gegen die Befreiung des Iraks von der menschenschlachtenden Diktatur Saddam Husseins. Europa scheint endgültig von sich als Kontinent der Gewalt und des Krieges Abschied genommen zu haben und als pazifistische Friedensmacht eine Neugeburt zu erleben.

Allerdings sollten bei diesem markanten Gegensatz, der für die Geschichte des modernen Europa einen linearen Bogen von einem verhängnisvollen Anfang zu einem glücklichen Ende und Neuanfang spannt, wenigstens zwei Ereignisse der europäischen Geschichte nicht vergessen werden.

Zum einen die historische Tatsache, daß der europäische Pazifismus vor allem in England in den Dreißigerjahren zu einem verhängnisvollen kollektiven Appeasement gegen Hitler-Deutschland führte. Bekanntlich zur Verzweiflung Churchills und der Seinen, die das Unheil kommen sahen und deren warnende Stimmen kein Gehör fanden. Zum anderen jene Massendemonstrationen der 68-Generation in den USA, in Europa und der übrigen freien Welt, die gegen den Vietnamkrieg mit globaler Einmütigkeit demonstrierten, um dem vermeintlichen US-Imperialismus Einhalt zu gebieten.

Bekanntlich ohne Erfolg beim gleichzeitigen Versuch, den Niedergang des Sowjet-Imperialismus zu verhindern. Dieser kollabierte, nicht durch pazifistischen Aktionismus und auch nicht durch Krieg, sondern an systembedingter Altersschwäche und durch eine niemals pazifistisch schwächelnde Abschreckungspolitik durch USA und NATO.

Als 1989, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, das Ende der Geschichte ausgerufen wurde, weil die Demokratie weltweit gesiegt habe, da schien manchen Europas Stunde gekommen, die „moralische“ Weltführung zu übernehmen. Dabei wurde entweder vergessen oder bauernschlau unterschlagen, daß nur durch tatkräftige Mithilfe der Führungsmacht USA die Demokratie in Europa gerettet und gefestigt worden war.

Und ebenso vergessen oder verdrängt, daß ein zentrales Problem der gegenwärtigen Welt ungelöst geblieben war: Die weltweite Phalanx von Diktaturen und Halbdiktaturen der Zweiten (islamischen) Welt, in der überdies eine bedrohlich wachsende Bewegung gewaltbereiter Fundamentalisten vom globalen Jihad und Gottesstaat auf Erden nicht nur träumte.

Es ist verständlich, daß Europa, traumatisiert durch zwei Weltkriege, die von ihm ausgingen, und zugleich inspiriert durch eine der längsten Friedensepochen seiner Geschichte, die allerdings vom Balkankrieg der Neunzigerjahre mehr als befleckt wurde, am Beginn des 21. Jahrhunderts von der mehrheitlichen Mentalität beherrscht wird, es könnte die übrige Welt pazifistisch belehren und durch die weltpolitischen Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts führen. Gewaltlose Befriedungspolitik sei das Heil der Stunde und Zukunft, auch wenn die meisten Staaten Europas ihre Mitgliedschaft in der NATO aus Rücksicht auf den Hegemon, dessen Ende aber schon nahe sei, vorläufig noch nicht aufgeben könnten.

Ein schizophrener Widerspruch, der dazu führt, daß die mehrheitlich pazifistische Mentalität unbeständig und schwankend bleibt und keineswegs die ganze öffentliche Meinung in Europa zu überzeugen oder gar zu führen vermag. Indes die regierenden Eliten ohnehin nicht gegen die Bündnis-Pflichten der führenden europäischen Staaten in der NATO agieren können, weil sie deren jeweils neue Strategien gegen jeweils neue Gefahren in eigenem Sicherheits-Interesse mittragen müssen.

Einzig unter Grünen und Linken wird deren pazifistische und antiamerikanische Klientel mit erbaulicher Rhetorik gefüttert: das Atlantische Bündnis sei ein hinfälliges und obsolet gewordenes Überbleibsel des Kalten Krieges. Nach Meinung dieser Fraktion hat Europa das politische Versprechen der Aufklärung, das Ideal eines Weltfriedens sei sowohl vernunftnotwendig wie realisierbar, für sein Territorium eingelöst. Mehr noch: Es habe damit für die ganze Welt das Vorbild und Muster eines künftigen weltpolitischen Handelns geschaffen, das es unumgänglich mache, Kants Auftrag, den „Allgemeinen Weltfrieden“ endlich durchzusetzen und „nachhaltig“ zu gestalten.

Initiierten die USA und England durch und nach dem Zweiten Weltkrieg die Konventionen der Menschenrechte und die Institutionen der UNO als neue Leitbilder einer von jeder Tyrannei zu befreienden Menschheit, müsse nun das neue und überdies noch frisch Vereinigte Europa – nach dem Ende des Kalten Krieges in einer multipolaren Welt angekommen -, das europäische Friedensmodell in aller Welt missionieren und vollenden.

Der gute Kontinent habe daher mit gutem Beispiel voranzugehen, alle Militärhaushalte drakonisch zu schrumpfen, die allgemeine Wehrpflicht abzuschaffen und den „kriegslüsternen Falken“ in aller Welt, besonders aber in den USA, die friedliche Stirn zu bieten. Großer Jubel daher in Europa, als nach dem ungeliebten Präsidenten G.W. Bush der neue und heiß geliebte Präsident Barak Obama mit begeisternder Friedens- und Entschuldigungsrhetorik um die Welt eilte. Europa, um sich die Richtigkeit seines Kurses zu bestätigen, machte sogleich den Friedensnobelpreis locker und Obama revanchierte sich mit einer Zugabe: Abschaffung aller Atomwaffen demnächst oder gleich danach.

 

II.

 

Soweit und so gut die Ansicht und Absicht der europäischen Friedensfraktion. Das weltgeschichtliche Ideal der europäischen Aufklärung stehe kurz davor, friedlichen Fußes an Land zu gehen, – mit Europa als Friedensmacht an der Spitze oder doch als multipolarer Mitstreiter unter Gleichgesinnten. Aber nach Ansicht der auch in Europa nicht völlig entschlafenen Gegenfraktion handelt es sich bei diesem Projekt nicht um erhellte Aufklärung, sondern um verdunkelnde Illusion.

Denn in einer unbefriedeten Welt könne kein Vernünftiger einen Anspruch auf moralische Weltführung erheben und durchsetzen, der dies mit nur pazifistischen Mitteln versuche, – ohne militärisches Potential und Strategie sei sein Ideal nicht zu verwirklichen. So steht Ansicht gegen Ansicht, Absicht gegen Absicht, Mentalität gegen Mentalität, meist eher unterbewußt und unreflektiert, manchmal auch bewußter und argumentativer im Kampf um das öffentliche Meinen und Dafürhalten. Und je nach Entwicklungsstand der Ereignisse schlägt das Pendel einmal zugunsten dieser, das nächste Mal zugunsten der Gegenrichtung aus.

Nach 9/11 war der Wille auch in Europa groß, die westliche Demokratie zu verteidigen, und wenn es sein mußte auch in Afghanistan. Und nach einigen Anschlägen nicht nur in Europa (London, Madrid, Bali usf.)füllte die Rede vom „asymmetrischen Krieg“ des neuen Jahrhunderts die Zeilen der Presse und Medien, – ein Krieg, in dem man sich mit allen Mitteln, auch militärischen wenn nötig, bewähren müsse.

Aber nachdem Furcht und Zittern wieder abgeklungen waren, weil offensichtlich auch lange Pausen zwischen den terroristischen Angriffen zur Realität von „Asymmetrie“ gehören, stellten sich Vergessen und heilendes Verdrängen wieder ein, und das Pendel schlug wieder in die Gegenrichtung aus. Wieder erhielten jene Oberwasser, die immer schon wußten, daß „wir hier nicht in einem Krieg sind“, weil nicht Krieger und ein Krieg, sondern Kriminelle und Banden ein epidemisches Übel und Verbrechen verursachten, das folglich durch zivil- und strafrechtliche Verfahren zu bekämpfen und zu befrieden sei.

Und unnötig zu ergänzen, daß zahllose verhinderte Anschläge und Angriffe, auch in Europa, die kollektive Amnesie und Verdrängung nicht beseitigen konnten und können. Im Gegenteil, als in Afghanistan der Erfolg bei der Vertreibung des Feindes und beim Aufbau eines funktionierenden Staates auf sich warten ließ, – als ob eine hundertjährige Fehlentwicklung von heute auf morgen nach dem Muster von „Entwicklungshilfe“ zu korrigieren sei – setzte heftiges Rufen nach Rückzug und Kapitulation ein, denn wer den Frieden nicht wolle, dem sei er auch nicht aufzuzwingen.

Frieden durch Frieden, nicht durch Gewalt, lautete die heilbringende Prämisse und Devise der neuen Friedenslehre, und nur widerwillig folgt seitdem die europäische Öffentlichkeit dem Engagement der europäischen Nato-Staaten und anderer im Rahmen des afghanischen Befriedungsprojektes der ISAF.

Sogar die Popularität des Friedensengels Obama hat daran arg gelitten, denn kaum verkündet er neue Rückzüge, noch dazu mit ungefährem Termin, erhebt sich ein Chor widersprechender Stimmen in der eigenen Administration und Generalität. Nur mehr ein schwacher Trost, daß der friedenswillige Obama, ein halber oder ganzer Friedenseuropäer somit, „gar nichts dafür könne“, weil er doch von seinem verhaßten Vorgänger zwei Kriege geerbt habe, einen „richtigen und einen falschen“, wie eine witzige Doktrin der Friedenslehre lautet, weshalb er, um beide loszuwerden, endlich und „nachhaltig“ auf die europäische Friedenstimme hören sollte.

So weit die Theorie vom neuen Welt-Frieden durch europäische Friedensmacht; soweit der Wunsch Europas, als Supermacht weltpolitisch wirken, ohne eine sein zu wollen. Am Widerspruch dieser Konzeption wird deutlich: an der Lösung der Frage, wie sich Europa in das globale Konzert der Weltmächte einfügen soll, wird dessen weltpolitische Zukunft entschieden. Entweder findet es eine neue Aufgabe als Akteur an der weltpolitischen Front, oder es verschwindet als entscheidende Führungsmacht und wird durch andere Mächte und kontinentale Bündnisse abgelöst.

Weltgeschichtlich gesehen keine Katastrophe, im Gegenteil: Wer mehr als ein halbes Jahrtausend nicht nur die westliche Welt dominiert und durch einen nationalistischen Kolonialismus beherrscht hat, der scheint zu verdienen, nach Ablauf seiner Verdienste und Verbrechen, in den wohlverdienten Ruhestand geschickt zu werden.

Aber auch diese heiße Suppe eines rigiden Entweder-Oder wird nicht so heiß gegessen wie es gekocht wird. Was auf der Prinzipien-Ebene als unlösbare Konfrontation erscheint, könnte sich auf der Realitäts-Ebene der künftigen Weltgeschichte durch gemeinsame Aufgabenteilung erledigen lassen. Ein arbeitsteiliges Zusammenspiel von gewalthabenden Supermächten und friedensliebenden Friedensmächten könnte sich als pragmatisch und zweckdienlich erweisen: Jene machen die Dreckarbeit und pflügen die darbenden Äcker; diese besorgen die Feinarbeit, säen den Samen und verteilen die Früchte.

Die Friedensmacht Europa würde sich aus freien Stücken und vernünftiger Einsicht mit der Sekundär-Rolle einer unterstützenden Macht zufrieden geben, und die vernünftige und zugleich realpolitische Strategie: Frieden, wo möglich, – Nichtfrieden und Gewalt, wo nötig, würde nicht durch gutmenschlich-pazifistische Scheuklappen behindert.

Auf jeden Fall steht es schlecht um eine neue Europa-Ideologie, diesmal als führender Weltfriedensmacht, und die machtvolle Präsenz eben dieser Ideologie in der öffentlichen Meinung des heutigen Europa führt nochmals zurück zur Frage nach der Genesis dieser Ideologie. Es ist die dritte und harmloseste im Bunde: nach der faschistisch-nationalistischen und kommunistisch-sowjetischen deren genaues Gegenteil, und doch nur deren europäisches Gegenteil.

 

III.

 

Aber es steht auch schlecht um die ideologische Begründung der neuen Ideologie. Unter Historikern ist die historische beliebt: die Völker Europas seien durch die Weltkriege traumatisiert und wollten darum keinen Krieg mehr, sondern nur Frieden, nichts als Frieden, um jeden Preis: Frieden. Wieder einmal wird der Krieg zum Vater aller Dinge gemacht.

Das Traumatisierungsargument der Historiker[1] ist nicht davor gefeit, mit dem heiligen Zweck Frieden auch alle Mittel, die ihn scheinbar allein und zuerst ermöglichten: beide Weltkriege, zu heiligen. Weil die Weltkriege um des künftigen Friedens willen notwendig waren, fehlt nur einer kleiner – irrender – Schritt, um zu unterstellen, die Völker Europas hätten sich auf den Altären des Krieges gegenseitig abgeschlachtet, um ihren Nachfolgegenerationen das Paradies eines tausendjährigen Friedens zu eröffnen. Der historische Mythos Traumatisierung führt gründlich in die Irre, er führt zum falschen Mythos Krieg und in dessen unzählige Sub-Mythen bis hin zur ewigen Treue an die heldenhaften Kameraden von einst.

Auch eine theologische Überdeutung der Kriegsgeschichte Europas führt in die Irre: Unsere Eltern und Voreltern haben die beiden Weltkriege nicht als Golgatha auf sich genommen, um uns zur Auferstehung als vollkommen Befriedeter zu verhelfen. Sie haben nicht sich Schaden zugefügt, um uns klug zu machen.

Dabei muß nicht geleugnet werden, daß sich in Europa kaum ein Ort findet, der nicht durch Mahnmale und Gräber der Gefallenen beider Weltkriege gedenkt. Eine schreckenerfüllte Erinnerungskultur, die man geradezu als historische Religion Europas bezeichnen könnte. Und wie und wann es sich jemals von diesem Stigma wird befreien können, ist nicht abzusehen und darum nicht vorherzusehen.

Auch geht in der einfältigen Gegenüberstellung von Krieg versus Frieden verloren, daß es nicht die Ideologie des Friedens (um jeden Preis), sondern die Nichtideologie der westlichen Demokratie war, die die anderen Ideologien des Alten Kontinents (auch durch Krieg) besiegt und überwunden hat. Und wäre dies nicht gelungen, lebten die Europäer heute zwar vielleicht in einem „Frieden“, aber dem ähnlich, den die Osteuropäer bis 1989 ertragen mußten.

Die These einer kollektiven Traumatisierung spielte schon in der europäischen Geschichte selbst, mitten im Vollzug ihrer Katastrophe, eine verhängnisvolle Rolle. Sie leistete einer subtilen Rechtfertigung des nicht zu Rechtfertigenden Vorschub.

Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und das System der Verträge von Versailles hätten zu einer Traumatisierung Deutschlands geführt. Dieses wäre also geradezu ausweglos gezwungen gewesen, den Barbarismen des Ersten Weltkriegs noch barbarischere hinzuzufügen, insbesondere die eines „Rassenkrieges.“

Diese beliebte These referiert bereits die damalige Sicht des besiegten Deutschland, sie teilt dessen Ideologie und verkennt, daß der sich rüstende deutsche Revanchismus auch aus freien Stücken erwuchs. Sie unterstellt eine Art mechanischer Ursächlichkeit im geschichtlichen Prozeß, als ob politisches Entscheiden und Handeln auf einem Terrain erfolgte, das naturgesetzlicher Kausalität unterworfen wäre.

Daß die kriegverhindernden Gegenkräfte im Deutschland der Zwischenkriegszeit zu schwach waren, um der Versuchung zu widerstehen, durch einen erfolgreichen Revanchekrieg die Schmach der erlittenen Niederlage zu sühnen, kann nicht den Siegermächten in die Schuhe geschoben werden.

Deren Mitschuld steht ohnehin außer Streit und wurde von diesen oftmals bestätigt und beklagt: Kein Abkommen, kein Vertragswerk und keine Sicherheitsbedingungen geschaffen zu haben, die sowohl die „Demütigung“ der einstigen Aggressoren wie zugleich deren Fanatisierung und Wiederaufrüstung verhindert hätte. Die Fehlkonstruktionen und Fehlentscheidungen des gleichfalls durch sich und nicht durch fremde Verursachung gescheiterten Völkerbundes stehen außer Zweifel.

Die Versuchung der Historiker, die europäische Geschichte als kausalmechanischen Zusammenhang, als unentrinnbares Schicksal verhängniserfüllter Mächte zu deuten (und nicht als eine durch irrende Freiheit selbstverursachte Handlungsgeschichte), erklärt sich aus der Neigung der Zunft, die „Geschichte selbst“ als letztbegründenden Mythos aufzufassen. Dieser schreite vornehmlich als Renaissance „historischer“ Großkatastrophen voran, in Wahrheit also immer nur um sich selbst als Mitte und Ziel aller seiner Ereignisse.

Dies erklärt die unwiderstehliche Anziehungskraft so vieler Historikerfabeln, auch jene vom „Dreißigjährigen Krieg“, diesmal jedoch „des 20. Jahrhunderts.“ Und mühelos läßt sich die Zwischenkriegszeit als zweiter Teil einer Tragödie in drei Akten, von denen jeder den anderen „gleichwertig“ sei, berichten.

Aber das Grauen von Nationalsozialismus und Kommunismus war vor dem Ersten Weltkrieg nicht in der Welt und ist nicht durch diesen in die Welt gekommen. Und eine Wiederholung „des Dreißigjährigen Krieges“ oder auch nur „eines Dreißigjährigen Krieges“, ist im ersten Fall absurd, im zweiten Fall eine logische Niete, weil sich ein Schematismus von Dezennien zwar ständig wiederholt, nicht aber als „Dreißigjähriger Krieg.“

Daß man frühere Großereignisse auf spätere überträgt, um sie durch erlauchte Namenübertragung historisch hochzutaufen, (“Cannae“, „Philippi“, Dreißigjähriger Krieg“, „Waterloo“ usf.) ist rhetorischer Balsam, der, von Historikern zubereitet, von Politikern in die tagespolitischen Waagschalen geworfen wird, um zu suggerieren, sie wären die Herren einer Geschichte, die sie zugleich als allmächtige Herrin amtieren sehen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich nicht nur unter deutschen Historikern das Wort von der „verspäteten Nation“ als Erklärungsmythos des deutschen Schicksals durchgesetzt. Seitdem erklärt der Mythos von der „verspäteten Nation“, was durch sogenannte historische Kausalität gerade nicht zu erklären ist. Die Suggestion des Mythos lautet: Wäre den Deutschen rechtzeitig vergönnt gewesen, was den Franzosen und Engländer längst schon vergönnt war, ein eigenes Land innerhalb abschließender Grenzen zu besitzen, wäre das deutsche Unheil nicht über Europa gekommen.

Da es aber nicht Schuld der Deutschen war, verspätet worden zu sein, folgt unwiderstehlich denkbetäubend, daß der verspätete Zug Europa das deutsche Unheil verschuldet hat und vermutlich sofort nach 1648, aber dennoch verspätet, irgendwo zwischen Prag und Berlin abgefahren ist. Und wenn nicht dieser Fahrplanirrtum, dann war es ein geographischer Fehler des Kontinents: in der Mitte viel Raum, aber kein Platz für eine große Nation.

Auch die bis heute unabgeschlossene Epoche des Kalten Krieges, die besser als Epoche des „Kalten Friedens“ benannt wäre, wird als kausale Wirkung der vermeintlichen Alleinursache Zweiter Weltkrieg nur unzureichend verstanden. Weil dessen Schrecken und Verheerungen, seine Verbrechen und Massentötungen als abschreckendes Entsetzen bis heute nachwirkten, sei in Europa das vorher Unmögliche möglich geworden: Dauerhafter Frieden.

Aber niemals in der Geschichte ist die nächstfolgende Epoche eine nur passive Wirkung der vorherigen, diese nicht die allein aktive Ursache ihrer nachfolgenden. Ohne Marshall-Plan, ohne Handelsverträge der Montanunion, die sich zu politischen Verträgen einer EWG erweitern ließen, die wiederum durch unübersehbare Ketten von neuen Ursachen und Verträgen zum Europa der EU und deren Selbstverständnis als Friedensmacht führten, wäre die lange Friedensepoche auf dem alten Kontinent nicht möglich gewesen.

Aber auch die Schrecken der Vergangenheit wurden durch neue abgelöst. So lebendig die Kriegserfahrungen für lange Zeit auch geblieben sein mögen, es war schließlich die Gefahr eines ersten Atomkrieges, der zur Konstellation des Kalten Krieges und seinem völlig neuen Abschreckungsszenarium führte. Ein atomarer Krieg in Europa hätte an Zerstörung und Barbarität alle bisherigen unvorhersehbar übertroffen. Und ohne die Implosion der Sowjetunion, die dank tatkräftiger Beharrlichkeit der USA mit ermöglicht wurde, wäre das Projekt EU ein europäisches Rumpfunternehmen verblieben.

 

IV.

 

Wie naiv und gefährlich die Ideologie von „Europa als Friedensmacht“ in der heutigen und künftigen Welt auch sein mag, eine begrüßenswerte Neuerung ist durch die verheerenden Kriege der europäischen Nationen denkwürdig und denknotwendig geworden: Krieg wird nicht mehr als logisches Proprium der Staats-Idee geführt. Vor dem ersten Weltkrieg war es sensus communis, daß Krieg ein substantieller Teil der Staatslehre sein müsse: „Ohne Kriege gäbe es gar keinen Staat” (Heinrich von Treitschke).

Kants Weltfriedensschrift stand erratisch quer zur allgemeinen Kriegs-Staats-Lehre, aber auch seine konzeptiv-prognostische Welt-Friedenslehre konnte nur unter der Prämisse eines Weltzustandes erwogen werden, in dem Staaten Kriege führen, um sich als Staaten zu bilden und zu bewähren.

Allerdings setzten bereits vor 1914 pazifierende Gegenbewegungen gegen die Lehre vom Krieg als moralischem Gründungs- oder Erneuerungsinstitut des nationalen Staates ein. Viele internationale Konferenzen – herausragend die Haager von 1899 und 1907 – versuchten das Unheil des Krieges durch zivilisierendes Kriegsrecht zu begrenzen. Und pazifistische Autoren wie Iwan Block und Norman Angell fanden für ihre Ideen eines kriegsfreien Europa regen Zulauf. Sie griffen dabei auf ältere Ideen von Ökonomen (Adam Smith, David Cobden u.a.) zurück, die auch Kant angeregt hatten.

Deren Botschaft lautete in Summe: die arbeitsteilige Produktionsweise der modernen Industrie, die Internationalisierung des Handels und der Verkehrswege und der dadurch ermöglichte Wohlstand der Nationen würden Kriege zwischen ihnen hinfällig machen. Die Vorboten einer friedlichen Epoche seien da und deren Hände müßten nur noch freudig und entschlossen ergriffen werden.

Diese Botschaft ist uns vertraut, sie setzt heute auf ein weltweit internationalisiertes Wirtschaftsleben („Globalisierung“), das alle bisherigen Gründe für Kriege und Kriegsverheerungen überflüssig machen würde. Was bisher Religion und Nationalität, Sprache und Volkscharakter fundierten: Staaten und/oder Staatenbünde, die expandieren und über andere triumphieren mußten, sei für immer überwindbar und durch eine Weltfriedensordnung, der nur noch die politische Institutionalisierung fehle, ersetzbar.

Keine Antipathien zwischen Nationen, keine zwischen Ideologien und Kulturen, keine Konflikte über umstrittene Grenzverläufe und ethnische Minderheiten, keine Beleidigungen auf politischer oder diplomatischer Ebene, und auch keine Gebietsansprüche jenseits bestehender Grenzen könnten die Menschheit nochmals der Pest des Krieges ausliefern.

Schon sind die Bande eines ewigen Friedens vorgeknüpft, aber anders als vor dem Ersten Weltkrieg, als nicht einmal die moderne Renaissance des Geistes von Olympia helfen konnte, müßten sie nun wirklich am Boden der Geschichte angeknüpft und befestigt werden. Dazu nötige ohnehin die Not der weltgeschichtlichen Stunde: eine Milliarde hungernder Menschen, das rasche Schwinden der Nahrungs- und Energieressourcen, eine drohende „Klimakatastrophe“ und andere gefährliche Menschheitsübel mehr.

Die Analogie zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist auffällig. Just in dem Augenblick, da Völker und Nationen, Staaten und Kulturen sich genötigt sehen, um des Fortbestandes der Menschheit willen, eine global koexistierende Friedenswelt zu errichten, erhebt sich eine neue Ideologie, deren Antipathie gegen den Feind, diesmal die gesamte nichtislamische Welt unter der Führung der westlichen Demokratien, nicht größer sein könnte.

Und auch die Sehnsucht nach Triumph und Weltherrschaft könnte nicht größer sein, als sie einst unter den säkularen Mächten des alten Europa war. Wie Europas Nationen durch Jahrhunderte ganze Kontinente als Kolonien und Dominien regierten, so soll es nun selbst, in den Augen und Wünschen der neuen Ideologie – „zur Abwechslung“ eine religiös-politische – eine Kolonie im Haus des Islams werden, – ein Dominium friedliebender Sklaven im globalen Gottesstaat.

Daß Europa dieses Ansinnen weithin als Absurdität und verrückte Botschaft von irregeleiteten Außenseitern und verbrecherischen Banden wahrnimmt, ist verständlich. Hat es sich doch soeben erst auf friedliche Weltmission begeben mit einem Exportartikel, der sogar China und Rußland teilweise erfaßt hat und in Indien, Brasilien und anderen Schwellenländern der Dritten Welt alternativlos angenommen wird.

 

V.

 

Das Friedensprojekt Vereinigtes Europa, im Namen der Zivilreligion allgemeiner Menschenrechte und der Freiheit der modernen Demokratie durchgesetzt, scheint berufen, die künftige Weltpolitik, wenn nicht zu führen, so doch tatkräftig mitzubestimmen. Gewaltlos könne und müsse die säkulare Missionierung der Zweiten und dritten Welt gelingen.

Überdies kann die Friedensmacht Europa auf eine Mehrheit friedlich gesinnter islamischer Staaten verweisen und zudem noch auf deren vermehrte Anstrengungen, mehr Demokratie und Freiheit in ihren Ländern zuzulassen. Folglich könne es sich beim Ansinnen der islamistischen Terroristen und der Nachfolgeorganisationen der Taliban nur um das Verhalten irregeleiteter Banden und „haßerfüllter“ Einzelgänger handeln, die mit den Freiheiten der westlichen Kultur und deren „Globalisierungsdruck“ nicht zurecht kommen.

Und was Israel erlaubt sei, könne auch dem Iran zugestanden werden, freundschaftliches Appeasement mit einer fundamentalistischen Atommacht könne nicht schaden, die Vernichtungsdrohungen gegen Israel könnten Rhetorik und Machtgehabe, vermutlich ein kulturelles Mißverständnis sein.

Europa und seine Staaten unterhalten in der Regel zu allen islamischen Staaten freundschaftlich-friedliche Beziehungen, die selbstverständlich als friedensstiftende akzentuiert werden. Einzig in der Frage eines EU-Beitritts der Türkei sind Europa und Europas Staaten massiv gespalten und verunsichert. Und Israels liebe Not, seine prekäre Lage an der Front im Nahen Osten seinen „Freunden“ in Europa zu erklären, wird weithin als selbstverschulde Not gedeutet. Wäre Israel nur endlich bereit, mit seinen palästinensischen und islamistischen Feinden Frieden zu schließen, wäre ein aus europäischer Sicht bloß leidiges Verhandlungs- und Besatzungsproblem aus der Welt geschafft.

Und dennoch sieht sich Europa an der Seite der USA und der gesamten Ersten (und Dritten) Welt im Visier der Jihadisten, die eine Missionierung der islamischen Welt durch Demokratie und Aufklärung, auch und gerade wenn sie gewaltlos anrückt, ablehnen und gewaltsam zurückweisen.

Denn dabei handle es sich, wie jeder wahre Moslem wisse, um nichts weiter als um eine Wiederkehr oder Fortsetzung altbekannter Projekte und Bedrohungen, deren Namen in der ganzen islamischen Welt sattsam bekannt sind: „Zionismus“ und „Kreuzzüge“, „Imperialismus“ und „Modernisierung durch Ungläubige.“

Begegnen die missionswilligen europäischen Friedensgeister dieser Ablehnungsfront, praktizieren sie zwei Verhaltensweisen, die in der westlichen Welt gleichfalls bekannt sind, obwohl ihre Namen weniger eindeutig sind und zwischen Gutmenschentum und Antiamerikanismus changieren.

In der ersten Verhaltensvariante wird die kulturelle Andersheit und Fremdheit der Zweiten Welt, die der Ersten Welt prinzipiell fremd und unverstehbar sei, anerkannt und toleriert und unter multikulturellem Zielsetzungen sogar gefördert. Es könne noch ein bis zwei Jahrhunderte dauern, ehe die Zweite Welt reif sein wird, ihrer demokratischen Überwindung und religionskritischen Aufklärung zuzustimmen. Dieser Stein der Wüste sei nur durch steten Import-Tropfen zu höhlen, und auch das sei nicht garantiert. Es gäbe Steine, die auf ewig und immer in wasserlosen Wüsten brachliegen müssen.

Die zweite Verhaltensweise folgt einem fundamentalen Verdacht: Die Mentoren des Europäischen Friedensprojekts glauben erkannt zu haben, daß die Ablehnung ihres Projekts seitens großer Teile der islamischen Welt auf ein historisches Übel zurückgehe. Denn das große säkulare Missionsprojekt sei bisher nicht durch Europa, sondern durch dessen Großen Bruder verbreitet und dadurch verdorben worden. (Als ob die kolonialen Europäer nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Imperiums als gewaltlose Missionare in der islamischen Welt unterwegs gewesen wären.)

Oder, dasselbe Argument nur etwas anders und raffinierter gewendet: die USA hätten die imperiale Strategie der alteuropäischen Kolonialmächte in der Zweiten Welt – besonders jene von England, Frankreich und Italien – auf noch gewaltsamere Weise fortgesetzt, was durch die Gründung eines jüdischen Staates inmitten des islamischen Hoheitsgebietes hinreichend bewiesen sei. Man brauche nur nachzudenken und nachzufragen, wer hinter der Gründung der UNO gesteckt habe.

Dieser Spur einer generellen Verdächtigung folgend, (sie vagabundiert lustvoll am Abgrund der in der Zweiten und Ersten Welt einschlägig beliebten Verschwörungstheorien) wird dem Hegemon auch in Europa vorgeworfen, durch „Kriegslüsternheit“ und Gebiets- und Ressourcen-Imperialismus („Kein Blut für Öl“), den Terror des Islamismus geschürt und erzeugt zu haben, folglich die eigentliche Ursache des neuen ideologischen Übels zu sein. Man brauche nur nachzudenken und nachzufragen: wer hat die Taliban seinerzeit in Afghanistan aufgerüstet? Wer hat Saddams Schlächter-Regime gegen den Khomeinis Gottesstaat unterstützt?

Konsequent daher, daß ein US-Popmusiker, linkstreuer Anhänger der US-Demokraten, am Höhenpunkt der Demonstrationen gegen „Bushs Krieg im Irak“, als seine europäischen Freunde fragten, was sie nun tun sollten, um dem neuen Diktator in Washington Einhalt zu gebieten, antwortete: „Ihr müßt in den USA einmarschieren.“

(Auffällig die Analogie diesmal zur Zwischenkriegszeit: am Revanchismus Hitler-Deutschlands sollten die Siegermächte hauptsächlicher Grund und entscheidende Ursache gewesen sein. Und unter den Prämissen dieser Analogie ist die Verlockung Obamas, auf Chamberlains Spuren vor 1939 zu „changen“, verständlich.)

Aber alle diese tieferen und „eigentlichen“ Gründe des seit den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts anfangs schlummernden, am Ende desselben Jahrhunderts explodierenden Islamismus, ändern nichts daran, daß der westlichen Demokratie und ihrer säkularen Kultur der islamistische Fehdehandschuh zugeworfen wurde. Daß sich Europa an der Seite der USA und der gesamten Ersten (und Dritten) Welt im Visier von Jihadisten erblickt und zum unheiligen Objekt einer heiligen und totalitären Vernichtungsbegierde wurde.

Dies führt unerbittlich zur ultimativen Frage, der auch die friedliebenden Europäer nicht ausweichen können: Wie sollen sich die menschenrechtlich verfaßten Demokratien der Ersten Welt, deren Grundton auf Frieden und Gewaltlosigkeit gestimmt ist, zum größtmöglichen, zum denkbar vormodernsten Feind ihrer modernen Freiheits-Kultur verhalten?

Zwei Antworten sind möglich. Die neueuropäische: In allen schwerwiegenden Konflikten bleiben allein die friedliebenden Optionen auf dem Tisch, alle kriegerischen sind unter dem Tisch zu versenken. Die alternative Antwort, die von den Neueuropäern als „kriegslüstern“ verschrieene Strategie: Alle Optionen bleiben solange auf dem Tisch, bis der Weltenkonflikt im Fortgang des 21. Jahrhunderts gelöst wurde.

 

Dezember 2010

[1] James J. Sheehan: Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden. München 2008.