30 Recht und Werte
I.
Wie der Geschmack an vielen Dingen stets umstritten ist, sind auch Werte jederzeit und jedenorts unter Menschen polemogen. Sind aber auch Rechte und deren Prinzipien polemegon? Viel hängt an dieser Frage, denn sollte die Erste Welt, sollte die rechtstaatliche Demokratie der modernen Welt gleichfalls umstritten sein, wäre sie nicht das, wofür sie sich hält: ein globaler Ritter universaler Aufklärung.
Die Menschenrechte, erklärt der Papst der russisch-orthodoxen Kirche, sind mit den Grundsätzen der christlichen Moral nicht vereinbar. Über diesen Rückfall hinter die Berge und Gipfel der Aufklärung – heißen sie nun Locke, Voltaire oder Kant, oder auch Französische Revolution, Menschenrechts-Charta der UNO oder Verfassungsgesetze moderner Nationalstaaten -, könnte man sich mit dem Wissen beruhigen, daß auch dieser Papst nur einer von mehreren ist. Um daher die Wahrheitsfähigkeit der Meinung des russischen Papstes wenigstens auf Konsensfähigkeit mit den Meinungen der anderen Päpste zu prüfen, müßte man deren Meinung zum Problem Menschenrechte erst noch einholen.
Außer Frage steht allerdings, daß die Meinung des russischen Papstes auch die des russischen Präsidenten und seiner Macht-Eliten ist. Und diese verharren nicht nur beim Meinen und Aufstellen kühner Thesen, sie handeln auch danach und erheben das russische Volk zum Ritter russischer Gegenaufklärung, an der zunächst die Welt Eurasiens von der westlichen Menschenrechte-Krankheit genesen soll. Ein weiterer „clash of civilizations“ wurde eröffnet, diesmal nicht gegen die Jihadisten Allahs, sondern, unterm Segen der russisch-orthodoxen Zeloten, gegen die antichristliche Kultur des Westens.
II.
Man kann die modernen „Werte“, die in der Kultur des Westens die sogenannten „Wertegemeinschaften“ begründen, als die entlaufenen Kinder des Guten der aristotelischen und vormodernen Ethik charakterisieren. Oder auch als die verwahrlosten Kinder der monotheistischen Religionen, die noch Ordnungen kannten, die von Gott selbst inthronisiert wurden. „Sie stehen fest für immer und ewig, sie sind recht und verläßlich.“ (Psalm 111) – Feste Ordnungen haben den Vorteil, daß sie von Ordnungshütern, die selbst hierarchisch geordnet sind, ordentlich verwaltet und tradiert werden. Auch für jene Menschen, die nur zu den Schafen, nicht zu den Hirten gehören. Werte und Wertegemeinschaften hingegen sind polemogen, erregen stets den Zorn anderer Wertebewahrer und -begründer und sind überdies sehr fruchtbar: kein Jahr, in dem nicht neue Werte und Unwerte ausgerufen werden.
Und trifft diese Beschreibung nicht auch die Rechte, die Rechtsordnungen der modernen Demokratie? Werden nicht auch Rechte ständig „novelliert“ oder durch andere, neue ersetzt? Alle Rechte oder doch nicht alle Rechte? Offenbar nicht alle Rechte, weil nur ein Grundstock an sogenannten Grundrechten garantieren kann, daß das Novellieren und Entwickeln alter und neuer Rechte rechtmäßig geschieht. Ebendaher muß die moderne Demokratie und ihr Staat, Inhaber des obersten Machtmonopols, seine politischen und judikativen Handlungen vor dem Gerichtshof der Grundrechte verantworten. Von peinlichen Rücksichten dieser Art ist sowohl der Kreml wie jedes restaurierte Kalifat von heute befreit. Jener läßt sich sein Gewaltmonopol von seinem Papst und einer hörigen Duma absegnen, dieses weiß sich durch den Propheten Allahs und dessen Lehre bestätigt und berufen.
III.
Speziell in Deutschland wird die Diskussion um die Frage „Werte oder Rechte?“ heftig und gründlich geführt. Dieser Tatbestand muß teilweise auch an der deutschen Sprache liegen. Jede Sprache hat gewisse bevorzugte Worte als Streitfavoriten, weil sich an ihnen, gleichsam im Niemandsland zwischen Semantik und Semiotik, ersprießlicher um die „eigentliche“ Substanz und Reichweite von Begriffen und Worten, von Bedeutungen und Sprachzeichen streiten läßt. Und in jeder Sprache und deren geschichtlicher Entwicklung ist die politische Geschichte derer, die eine gemeinsame Sprache als „Wertegemeinschaft“ erleben und tradieren, entscheidend.
So ist beispielsweise der theologische Begriff „Rechtfertigung“, um den einst nicht nur mit Worten gestritten wurde, fast völlig aus dem deutschen öffentlichen Sprachgebrauch verschwunden. Im Gegensatz dazu ist der Begriff „Menschenwürde“ seit geraumer Zeit hoch im Kurs: Der „Wert der Menschenwürde“ findet sich in den Verfassungen vieler westlicher Demokratien, teils in den Präambeln, teils auch in den Artikeln der Grundgesetze selbst. Dennoch beklagen jene, die Rechte über Werte stellen, nichts weniger als eine „Tyrannei der Werte“, indes deren Gegner an der Unverzichtbarkeit von Werten und Wertegemeinschaften festhalten. Ein Streit nur um Worte?
Worin die Würde des Menschen noch eigens bestehen soll, wenn ohnehin dessen Grundrechte in der Verfassung des Staates festgeschrieben und Freiheit, Gleichheit und Autonomie der Person, deren Unverletzlichkeit, deren Meinungsfreiheit und weitere Freiheitsrechte garantiert sind, ist eine unvermeidbare Frage. Entweder ist diese Würde, die „unantastbar“ sein soll, mit den Grundrechten identisch, gleichsam eine „Summe“ derselben, oder sie ist noch etwas Eigenes, vielleicht ein Wert, der den Grundrechten vorausliegt, und aus dem diese wie aus einer gemeinsamen Quelle hervorgehen?
Und da es sich erstens um Grundrechte handelt, die den Kern der Demokratie und seines Souveräns, des Volksbürgers (Citoyen) ausmachen; Grundrechte aber zweitens nur als Normen möglich sind, muß oder müßte auch die „unantastbare Würde“ als Norm und sogar als Grundnorm, als erste und grundlegendste Norm gedacht werden können.
IV.
Nun ist aber eine politische, hier verfassungsrechtliche Norm offenbar ein Gesetz für ein menschliches Handeln, Tun und Unterlassen, das eine Gemeinschaft von Handelnden und Unterlassenden begründet. Folglich kann den Normen (der Grundrechte) nur unter (gerechter) Strafe zuwidergehandelt werden. Dieses Zuwiderhandeln sollte zwar nicht geschehen, aber es geschieht doch, weil die Unvollkommenheit irdischer Menschen nur Toren zur Annahme verleitet, eine unbegrenzte Gutmenschlichkeit des Menschen als deren „unantastbare Würde“ unterstellen zu können: Die Unterstellung einer erhabenen Wertschätzung, die bestimmte Religionen einzig dem Erhabenen (Gott) zubilligen.
Nun war aber der „Erfinder“ der „unantastbaren Würde“, Carlo Schmid, einer der Väter des Grundgesetzes von 1949, ohne Zweifel ein Kind seiner (schrecklichen) Zeit. Sein justiziables Problem: Wie konnte man dem Volk der Dichter und Denker nach der Katastrophe der nationalsozialistischen Diktatur sowohl eine neue demokratische Verfassung also auch und zugleich eine Rückkehr in die europäische und globale Völkerfamilie verschaffen? Einzig dadurch, daß sich das deutsche Volk ein Grundgesetz geben sollte, das ihm ermöglichte – mit den Worten des Gesetzesjuristen Schmid – „im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,… als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.“
Und dazu sei die Demokratie unerläßlich, denn deren Ordnung sei „mehr als ein Produkt bloßer Zweckmäßigkeitserwägungen“, sie sei für „die Würde des Menschen unverzichtbar.“ Wobei er aber einfügte, „wo [sofern?] man den Glauben (daran) hat.“ Die Zurückweisung von Demokratie als „Produkt bloßer Zweckmäßigkeitserwägungen“ richtete sich gegen die Meinung vieler deutscher Denker und Dichter der Weimarer Republik, die Demokratie sei letztlich doch nur ein parlamentarischer Debattier-Club zur Durchsetzung der Interessen machtsüchtiger Parteien und sozialer wie ökonomischer Schichten und Gruppen.
Zwischen der „Würde des Menschen“ und den „Werten der Demokratie“ wurde ein Junktim hergestellt, mit dem sich die deutsche Demokratie als Musterdemokratie präsentierte. Und jenes „Wo man den Glauben daran hat“ sollte nochmals belegen, wie stark nach der nationalsozialistischen Katastrophe nunmehr der Glaube des deutschen Volkes an die Würde von Demokratie und demokratischem Bürger geworden sei.
V.
Wie sehr sich Deutschland damit eine gewisse Vorreiterrolle in Sachen Demokratie, Vereinigung der Völker Europas und Weltfrieden zuschrieb, (der Versager von gestern wird der Vorzugschüler von morgen) geht auch aus Schmids Diktum über Toleranz hervor: Die Demokratie müsse „den Mut zur Intoleranz denen gegenüber haben, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie selbst umzubringen.“ Eine politische Maxime, die gegen die Versuche kommunistischer Bewegungen gerichtet war, auf „demokratischem Wege“ an die Macht zu gelangen, die sie im Osten Europas durch Krieg und sowjetische Nachkriegs-Besatzung erobert hatten. Heute richtet sich diese Maxime gegen den islamistischen Feind der Demokratie – nicht nur in Deutschland.
Und diese (Welten)Kehre scheint vorerst bedeutsamer und gefährlicher als die Kehre Rußlands zu sein. An sowjetischen Phantomschmerzen leidend, scheint Putinrußland Absichten zu hegen, auf antidemokratischen Wegen neuerlich ein antiwestliches Weltreich errichten zu wollen. Und gegen beide Feinde scheint die deutsche Vorzeige-Demokratie aufgerufen, als prima inter pares Europas Willen zu Freiheit und Frieden durchzusetzen. (Erstmals ohne den in Deutschland chronisch verteufelten „Weltpolizisten“ USA?)
Und doch erheben sich Zweifel am Werte- und Würdedenken der deutschen Demokratie von gestern und heute. Denn angesichts einer neuerlichen, nun aber ganz anders gearteten Katastrophe, die sich Deutschland in unseren Tagen anschickt, sich selbst und Europa zu bescheren, bekunden nicht wenige, nach aktuellem Stand sogar die meisten europäischen Staaten den entschlossenen Willen, den Pfaden des deutschen Mustermädchens nicht mehr folgen zu wollen. Eine Katastrophe, die in der Sicht Deutschlands völlig unerwartet gekommen oder gar nicht als Katastrophe, sondern als multikulturelle Bereicherung oder „Abwechslung“ gedeutet wird.
An diesen Verschlingungen von Demokratie versus Nicht-Demokratien, von Geschichte und Weltpolitik, von Werten und Wertegemeinschaften wird offenbar, daß die scheinbar nur theoretischen Fragen nach Gesetzen und Verfassungen, nach Werten und Würden, nach Normen und Normenbegründungen allem politischen Entscheiden und Handeln zugrundeliegen. Einerseits gibt es kaum einen lebensweltlichen und politischen Inhalt, für den sich nicht eine gesetzliche Grundlage finden läßt.
Noch ein Vertragsbruch zwischen Großmächten läßt sich nachträglich als Heilung eines vorangegangenen Vertragsbruchs und daher als „völkerrechtsgemäß“ umdeuten (Krim-Annexion). Andererseits ist das Leben aller Menschen auf Werten gegründet, die wiederum teils auf Rechten, teils auf tradierten Kulturen und deren ausgesprochenen oder unausgesprochenen Geboten und Verboten gründen. Wie läßt sich Klarheit in dieses Verhältnis bringen, da Werte einerseits mehr, andererseits weniger als Rechte zu sein scheinen?
VI.
Die einen sprechen von einer „Tyrannei der Werte“, die anderen von der Unverzichtbarkeit „gemeinsamer Werte.“ Offensichtlich befinden wir uns im Feld von Aufklärung und deren Forderungen, doch zugleich inmitten der noch größeren Felder von (Welt)Kulturen und deren Forderungen. Und ebenso ist offensichtlich, daß die Erste Welt, als vorauseilende Experimentierstube angewandter Aufklärung, die aufgeworfenen Grundfragen nicht stellen würde, wenn sie nicht von der bedrängten Zweiten Welt unter Zugzwang gebracht worden wäre. Wie natürlich auch umgekehrt die Zweite (islamische) Welt ihrerseits unter dem Zwang steht, die richtigen, nicht die falschen Züge zu setzen.
Nicht nur sind die genannten Mächte großen inneren Verwerfungen und Disputen, überraschenden Wenden und Entwicklungen ausgesetzt, man denke nur an das stets veränderliche Verhältnis zwischen USA und Europa – es existiert vor allem keine globale Institution, die den Kulturen-Kollisionen des 21. Jahrhunderts verbindliche Regeln und Normen vorgeben könnte. Ob es jemals zu einer neu organisierten und neu begründeten UNO kommen wird, ist fraglich. Wenn es aber keine globale Institution gibt, die steuert und regelt, muß fast jeder Regionalkonflikt an den Grenzlinien der genannten Kulturen unwillkürlich als Welt(en)konflikt ausgetragen werden.
Nochmals in grober Übersicht: drei Mächte bestimmen den Kampfplatz der Weltpolitik und Weltgeschichte: A)Die Erste Welt und deren Aufklärung. B) Die Zweite Welt und deren Versuch einer Wiedererweckung des fundamentalen medinensischen Islams. C) Die orthodoxe Gegenmoderne von Putinrußland und seiner gegen die Erste Welt gerichteten Aggressionspolitik. D) Die restverbliebenen kommunistischen Diktaturen aus der Epoche des Kalten Krieges in China, Nordkorea und Kuba, denen wohl nur noch in Südamerika einige Staaten oder marxistische Guerillas nachzueifern versuchen.
Daß die Erste Welt über ihr Kernverhältnis von Normen und Werten Klarheit zu gewinnen sucht, folgt unmittelbar aus ihrer Kollision mit Kulturen, die ihre eigenen, voraufklärerischen Werte von Gottesbindung und religiösem Kommunitarismus über die Normen und Werte der Aufklärung stellen. Wie soll die Kultur der Aufklärung der Ersten Welt, die unhintergehbar Grundrechte als Grundsatznormen und insofern sogenannte säkulare Grundwerte vertritt, den religiös begründeten und gelebten Werten und Kulturen begegnen? Da nicht Gott oder Götter, nicht Religion oder Religionen, sondern Freiheit und Vernunft die „Grundwerte“ der Aufklärung begründen, scheint weder ein „Dialog“ noch sonst eine Art der Annäherung, Überredung und Überzeugung möglich.
VII.
Der Umgang mit religiös begründeten und gelebten Kulturen erscheint jedenfalls um Vieles schwieriger als der frühere Umgang mit Kulturen, die dem atheistischen Kommunismus anhingen. Denn zum einen hatte sich die kommunistische Welt hinter Eisernen und anderen Vorhängen verbarrikadiert. Zum anderen war ein Gespräch über Religion und Gott auf oft geheime informelle Zusammenkünfte beschränkt. Politisch, durch kommunistische (Un)Rechtsordnung legalisiert, waren öffentliche Auseinandersetzungen über „theologische“ Fragen unter Strafe gestellt. Im Denken der Partei, die über die wahre wissenschaftliche Weltanschauung verfügte, konnten derartige Diskussionen nur das Niveau der fortschrittlichsten Klasse der Menschheit unterbieten und verletzen.
Verblieb also nur noch der Atheismus und Agnostizismus im eigenen (westlichen)Haus – in unübersehbar vielen Spielarten und Mischformen. Beide nichtreligiösen „Bekenntnisse“ sind aber bekanntlich ein Produkt der Aufklärung selbst. Deren religionskritische, aber bis heute umstrittenen Richtungen (man denke nur an die Unterschiede zwischen Locke, Voltaire und Kant) erlaubten und ermöglichten demokratische Verfassungen ganz ohne Religionsbezug und Gottespräambel. Und ob Regierungen und deren Mitglieder beim Amtsantritt auf die Bibel oder ein anderes Heiliges Buch schwören, muß deren autonomer Entscheidung – „nach bestem Wissen und Gewissen“ – überlassen bleiben. Was aber für die politischen Repräsentanten des demokratischen Volkes gilt, kann dem demokratischen Bürger desselben Volkes nicht vorenthalten werden.
Positive und negative Religionsfreiheit folgten aus einem zentralen Resultat der aufklärenden Vernunft: Die Existenz Gottes könne weder bewiesen noch nicht bewiesen werden. Ein Resultat, das den Umgang mit religiös begründeten Kulturen keineswegs leichter macht. Diese sind viel weniger als moderne Atheisten und Agnostiker geneigt, sich auf metareligiöse Diskurse über Gott und Religion einzulassen – zu mächtig sind noch die Hierarchien und Machteliten ihrer Religionen und Konfessionen.
In der Frage nach Gott und Religion besitzen sie Gewißheiten, die sie als endgültige Wahrheiten glauben. Während die Aufklärung der modernen Demokratie die Religionsfrage weder (wie im militanten kommunistischen Atheismus) verbietet, noch (wie im libertären Postmodernismus üblich) als gleichgültig und sinnlos behauptet. Wie also reagieren und agieren, wenn zwei Welten mit extrem gegensätzlichen Normen und Werten kollidieren? Und wenn die Kollision nicht mehr nur in der Zweiten Welt, sondern seit 2015 – größte Flüchtlingswanderung seit dem Zweitem Weltkrieg (als Vorspann eines Dritten Weltkrieges?) – auch in Europa geschieht?
VIII.
Die teils heftigen Diskussionen über den Vorrang von Werten oder Rechten, letztere manchmal auch als „Prinzipien“ der modernen Demokratie umschrieben, sind einerseits notwendig, andererseits unsinnig. Sie dienen einerseits der Selbstverständigung der Ersten Welt über sich selbst – was an ihr und wie und warum verteidigungswürdig sein könnte; führen aber andererseits rasch zur Einsicht, daß auch Rechte und Prinzipien, die den Werten zugrundeliegen, ihrerseits auf Werten und Wertsetzungen beruhen.
Offensichtlich ein Fall und eine Falle von Henne und Ei, aus der nur ein Weg herausführt: Die genaue Klärung des Unterschiedes von festgeschriebenen Gesetzen und der aus ihnen hervorgehenden Lebenswerte. Unverschleierte Frauen beispielsweise sind im Westen Sitte, weil die als Recht festgeschriebene Freiheit der Frau, sich nach ihrem Gusto kleiden zu dürfen, Verbindlichkeit besitzt. Eine Freiheit, deren Begrenzung durch Anstandsregeln zu achten, gleichfalls den Frauen überlassen wird, in der Annahme, deren Freiheit werde vernünftige Anstandssitten erkennen und einzuhalten wissen.
Nehmen nun tolerante Multikulturalisten der westlichen Wertekultur das islamische Kopftuch oder gar die islamischen Burka unter die moderne Rechts-Verbindlichkeit auf, unterstellen sie, Kopftuch und Burka könnten und sollten in diese integriert werden. (Sie deuten ein islamisches Toleranzrecht in ein säkulares Freiheitsrecht um.) Ob dabei nicht ein Mißbrauch von Freiheitsrechten vorliegt, durch unfreie Sitten nämlich, denen religiöse Gesetze des Islams zugrundeliegen, ficht sie nicht an. Also auch nicht das Faktum, daß Frauen im Islam oft noch als Sachen (des Mannes), auf jeden Fall als Menschen zweiten Ranges definiert sind – noch im osmanischen Imperium oft als Sklavinnen behandelt wurden.
Sie wenden ein: die moderne Rechtskultur habe das Recht auf positive und negative Religionsfreiheit verbindlich festgeschrieben. Demnach müsse allen Menschen anderer Religionen und Kulturen auch deren Bekleidungsregeln, Verhaltensregeln, Speisesitten, zinsfrei funktionierende Kreditsysteme usf., und nicht zuletzt deren Rechtssprechungssysteme (Scharia) zugestanden werden. Eine Gewährung positiver Religionsfreiheit, die vorerst freilich nur im Westen, nicht in der islamischen Welt durchsetzbar sei, und in der Perspektive der toleranten Multikulturalisten als kulturelle Werte-Bereicherung, vielleicht sogar als Freiheits-Bereicherung erscheint. Nur auf diesem (multireligiösem) Wege sei das Projekt Aufklärung für alle, für die gesamte Menschheit realisierbar.
Den weniger oder gar nicht gutgläubigen Fraktionen des Westens erscheint diese Version von Aufklärung als Verrat und Selbstvernichtung von Aufklärung. Sie sind daher nicht bereit, die Werte qua Rechte und Rechte qua Werte, die der Westen nicht nur durch „Dialog“ und Vernunftseminare, sondern durch Revolutionen, Kämpfe und Kriege errungen hat, kampflos preiszugeben. Was ihre Antipoden an der Multi-Kulti-Front als Bereicherung wahrnehmen, deuten sie als Gefahr und Bedrohung, die keinerlei Appeasement dulde. Da die islamische Kultur entweder aus dem Mittelalter oder aus der „Steinzeit“ stamme, paradigmatisch durch Saudi-Arabien und die menschenverachtende Terrorpraxis des globalen Jihad repräsentiert, müsse gelten: „Multikulti ist tot.“ Es lebe der Westen und sein Kampf für den Erhalt seiner Freiheit und Freiheitsrechte.
IX.
Auch die Multikulturalisten schaukeln auf der Rechte-Werte-Schaukel, wenn sie „gleiche Rechte für alle Kulturen“ fordern, aber sie schaukeln anders als die Verteidiger des kulturellen Unterschiedes zwischen Erster und Zweiter Welt. Jene haben Gleichheit ohne Grenze als Ober- und Grundbegriff, diese haben Freiheit unter Gesetzen im Sinn, die moderne, nicht vormoderne Freiheits-Werte für einzig würdig erachten, als universale Rechte verfassungskonform verankert zu werden.
Die Alternative Werte oder Rechte entpuppt sich als irreführende Alternative, die überdies dazu dienen kann, Werte gegen Rechte als Trumpfkarten auszuspielen. Womöglich mit „grenzenlos offener Toleranz“ und „Nächstenliebe ohne Obergrenze“ als höchstem Wert. Man sollte daher sowohl die Untrennbarkeit von Werten und Rechten, wie zugleich deren genaue Unterscheidbarkeit nicht außer Acht lassen.
Werte, die noch nicht Grundrechte geworden sind, sind von diesen zu unterscheiden, ebenso Werte, die niemals Grundrechte werden – sollen oder können. Schon diese Einsicht sichert die Vernünftigkeit der Rede von Rechtsgemeinschaften, wenn deren Rechte auf universalen Werten basieren. Denn Werte, die noch nicht Grundrechte geworden sind, können dies entweder eines Tages wirklich oder niemals werden – je nachdem, ob sie von der aktuellen Rechtsgemeinschaft als rechtsfähige oder als nicht rechtsfähige Werte erkannt und anerkannt werden.
Werte können aber auch im Status bloßer Wünschbarkeit verharren, oft im Status langjähriger und am Ende auch unentscheidbarer Umstrittenheit. Sie verharren in der langen Warteschlange erwünschter rechtsfähiger Werte und Wertsetzungen. Sie sind zwar als Werte gesetzt und öffentlich bekannt, denn sie werden von Parteien oder Interessensgemeinschaften, auch von Minderheiten und „innovativen“ Mentalitäten im und am Schilde ihres Wertinteresses geführt, aber sie sind noch nicht, was andere schon sind: Rechte als Satzungen von Rechtsgemeinschaften.
Nicht rechtsfähige Werte wären – in vernunftgeleiteten Demokratien – beispielsweise „Menschenrechte für Tiere“, weil dadurch der Unterschied von Tier und Mensch geleugnet würde. Ebenso sind Rechte, die durch eine irrende Wertsetzung in Diktaturen zu wirklichen (Unrechts)Rechten führen oder geführt haben, als erkennbare Unwerte abzulehnen.
X.
Und Werte, die gar nicht Rechte werden sollen, weil sie dem freien Verfügen von Individuen und Wertegemeinschaften überlassen bleiben, müssen als relativistische Werte hingenommen werden. Seien diese lokaler oder anderer Sitten- und Gewohnheitsherkunft, seien sie auch nur individueller und „ganz persönlicher“ Entscheidung verdankt. Ein Recht auf Dialektsprache beispielsweise muß demnach nicht eigens in der Verfassung festgeschrieben werden. Ebenso nicht eine Toleranzsitte, die den Bürgern empfiehlt, den Dialekt einer bestimmten Region (viele in jeder Demokratie) nicht zu beleidigen.
Doch muß eine Sprache oder doch eine bestimmte geringe Anzahl von Sprachen als Verwaltungssprache(n) rechtens sein, weil sonst das Rechtsmonopol des Staates nicht durchsetzbar wäre. Deshalb wird aber keinem Dialektsprecher verboten, in seinem Jargon über Recht und Ordnung, Unrecht und Unordnung zu denken und zu reden, zu lamentieren und zu kritisieren.
Wie es aber Werte gibt, die noch nicht Rechte geworden sind, gibt es auch Werte, die aus praktizierten und sich realisierenden Rechten folgen und zu den bekannten Werte-Konflikten pluralistischer Gesellschaften führen. Viele Rechte führen zu vielen Werten, unübersehbar viele Rechte zu unübersehbar vielen Werten.
Woraus die bekannte „Tyrannei der Werte“ und die Problematik der naiven Rede von „unserer Wertegemeinschaft“ resultieren. Bei dieser weiß niemand konkret und genau, was und wie es gemeint sein könnte, wenn nicht ausdrücklich auf die Werte der Grundrechte rekurriert wird. Die beklagte Tyrannei verwirrt und desorientiert durch eine Multiperspektive auf und durch unübersehbar viele Werte. Konsequenterweise sinken „Wert“ und „Werte“ auf ungefähr denselben sprachlichen Inflationswert ab, auf den das Wort „Kultur“ in der modernen Welt abgestiegen ist.
Eine gefährliche Schwachstelle der modernen Freiheitskultur, die jede vormoderne Unfreiheitskultur verständlicherweise zu eigenem Vorteil auszunützen versucht. Warum nur Bikini und Badeanzug in unserer Bädern und auf unseren Stränden, warum nicht auch Burkini und getrennte Bäder für Männer und Frauen?
XI.
Dazu kommt eine weitere Schwachstelle: Weil alle der unübersehbar vielen Rechte auf ebenso viele Wertsetzungen rückverweisen, wird dem Bürger nicht zugemutet, gesetzten Rechten mehr als nur legalen Gehorsam zu gewähren. Er muß die Wertsetzungen, die den Freiheitsrechten zugrunde liegen, nicht teilen; er ist jedoch verpflichtet, deren legale Ausübung nicht zu behindern oder zu verurteilen. Seine Gesetze zwingen nicht, wie die durch „ordre du mufti“ dekretierten, zu unbedingtem und blindem Gehorsam. Daher des Mufti Frage an den aufgeklärten Bürger der westlichen Welt: hast Du weder Ehre noch Moral? Fehlt Dir die Gewißheit absoluter Wahrheit, fehlt Dir die wahre Religion? Also „Lies“ und bereue und schäme Dich Deiner würdelosen Gottlosigkeit.
Man kann mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, daß eine Mehrheit der modernen Bürger die meisten Werte der modernen Kunst, deren Werke und Innovationen eher der Abteilung Jux und Verrücktheit zurechnet. Dennoch wird diese Mehrheit fast nur hinter vorgehaltener Hand darüber mäkeln und sich ekeln. Sie darf die „ästhetischen“ Wertsetzungen der freien modernen Kunst und Künstler nicht als unrechtmäßige Äußerungen in Frage stellen. Alles was Recht ist, ist ein für alle errungener Wert.
Umgekehrt wird ein moderner Künstler die ebenso unübersehbare Vielfalt der modernen Unterhaltungskultur-Werte als kaum erträgliche Banalität erleben und beurteilen, vielleicht auch verachten und beklagen. Doch folgt auch aus diesen Werturteilen nicht das Recht, ein Verbot der Banalitäten-Produktion beantragen oder gar durchsetzen zu wollen.
Dennoch kann die Freiheit dieser beiden – extremen – Wertsetzungen nicht grenzenlos sein. Nur begrenzbare und begrenzte Freiheit ist universalisierbar und dadurch als legalisierbarer Wert möglich und realisierbar. Schlachtet der moderne Künstler ein Huhn auf offener Theaterbühne, um durch subversive Aktion die angeblich verrosteten Wahrnehmungen des Publikums kritisch aufzurütteln – böse Kapitalisten leben von böser Tierhaltung – kreisen schon die Geier der Tierschutzvereine und moderner Tierschutzgesetze über seinem kreativen Haupt.
Und überschreitet der Banalitätsproduzent die Grenze zu Kriminalität und Pornographie, kann er gleichfalls belangt werden als einer, der die den Grundrechten zugrundliegenden Grundwerte und somit die Gerechtigkeit der Gesellschaft und des Staates, in dem er sich prominent hervortut, verletzt. Man spricht daher nicht zufällig von „grenzwertig“ bei Dingen und Aktionen, die sich an den Rändern und Abgründen des freien Werte-Setzens bewegen.
Die Gerechtigkeit der modernen Welt ist eine „Gesamtgerechtigkeit“ und daher ein diffiziles und kompliziertes Ding. Sie ist vormodernen Menschen und Kulturen kaum verständlich zu machen. Es ist unsere Fremdheit, nicht zuerst die der „Anderen“, die jeden interkulturellen Dialog ungleichen Handicaps unterwirft. Der Islam und dessen Varianten sind wesentlich leichter zu verstehen als die nichtreligiöse Freiheits-Religion der Ersten Welt.
XII.
Die moderne Welt kennt nur pluralistische Kulturen, sie besitzt weder eine gemeinsame Religion, keine gemeinsame Philosophie, keine gemeinsame Kunst und auch keine gemeinsame Wissenschaft, die verbindliches Wissen, das politisch vereinigend und leitend sein könnte, erzeugt. Ihre Demokratien beherbergen Rechte-Gemeinschaften als Grundlage von Werte-Vielschaften.
Sie unterscheidet sich insofern radikal von allen vormodernen Kulturen, die allerdings in den epochalen Räumen der Ersten Welt schon am Ende des Mittelalters begannen, den Zustand monolithischer Geschlossenheit aufzulösen. Einer katholischen Universalmonarchie, für ganz Europa als christlicher Gottesstaat beabsichtigt, bereiteten nach dem Bruch zwischen griechischer Ost- und lateinischer Westkirche spätestens die Religionskriege der Reformations-Epoche ein Ende. Die neue Freiheit brach sich Wege und Bahnen, aber unter Zwang – wie immer in der Weltgeschichte. Um den konfessionellen Bürgerkrieg aller Konfessionen gegen alle zu unterbinden, wurde Freiheit der Religion gewährt, anfangs noch unter streng einhegenden Auflagen.
Man könnte zynisch kommentieren: Kämpfen zu viele Wertegemeinschaften um desselben Kaisers Bart, muß zunächst ein neuer Kaiser und nach dessen Ableben eine kaiserfreie Kultur und Gesellschaft gesucht und gefunden werden. Der Weg zur modernen Aufklärung, die sich im 18. Jahrhundert anschickte, die alten Throne und religiösen wie politischen Gewißheiten der alten Ständekultur zu stürzen, eine revolutionäre Evolution, war trotz heftiger Widerstände und langmächtiger Verzögerungen, unaufhaltsam geworden.
XIII.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts, die Sowjetunion war soeben implodiert, wähnten sich manche Intellektuelle der Ersten Welt am erreichten Ende der Geschichte. Die Demokratie habe gesiegt, ihr Siegeszug sei unaufhaltsam, das „Modell“ der Ersten Welt sei die gewisse Zukunft auch aller anderen Welten.
Zugleich aber zog man ein anderes Resümee – angesichts der im Inneren der pluralistischen Kultur der Ersten Welt erreichten „postmodernen Moderne.“ Ein offensichtlich dialektisch reflektierter Name, der eine Kultur und Gesellschaft umschrieb, die durch totale Offenheit und Toleranz befähigt sei, auf dem Fundament eines neuen Grundwertes und „Prinzips“ zu leben und zu gedeihen: „Alles ist möglich.“ – Vielfalt ist Sinn und Ziel aller Kultur und menschlichen Gesellschaft.
Als aber einige nachzudenken und nachzufragen anfingen, was eine Kultur und Gesellschaft, in deren Zentrum Freiheit und nichts als Freiheit erster und letzter Grund alles Tuns und Lassens sei, zusammenhalten könnte, wurde kleinmütig gemeldet: Wenn Freiheit schrankenlos regiere, könnten nur noch Geld oder/und Recht als kleinster gemeinsamer und verbindlicher Nenner der unübersehbar vielen Zähler genannt werden. Und je nach Herkunft der Zeitendeuter wurde entweder das Geld oder das Recht vor dem Zwillingspartner genannt. Gegen unverbesserliche „Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker“ wurde das Modell der „Sozialen Marktwirtschaft“ (Arbeit und Konsum) als unverzichtbar beschworen.
Und nachdem in der Zwischenzeit auch das Projekt EU – unter großen Zweifeln und Differenzen – auf den Weg gebracht worden war, erklomm der Kandidat „Verfassungspatriotismus“ den Rang einer vielleicht nochmals zentrierenden und verbindenden Macht. Ein Hoffnungs-Kandidat „gemeinsamer Werte“, der den zentrifugalen Kräften der postmodern-modernen Entwicklung Paroli bieten könnte. Doch hatte dieser Kandidat – offensichtlich ersonnen und in die Arena geführt, um die Gefahr einer zu grenzenloser (Werte)Vielfalt zerfallenden Kultur zu bannen – , den Makel entweder einer Spät- oder einer Frühgeburt: Er konnte gegensätzlich gedeutet und instrumentalisiert werden. Entweder um nationale Ressentiments gegen das Projekt EU oder, im genauen Gegensatz dazu, einen erst noch zu begründenden europäischen EU-Patriotismus aller Europäer zu etablieren.
Leo Dorner, März 2016