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16 Das Ende der Pyramiden

Unaufhörlich zerfallen die Pyramiden Ägyptens zu Geröll und zerstäuben zu Sand. In jeder Sekunde und Millisekunde seit dem Tag ihrer Vollendung vollzieht sich ihr Verschwinden; ein unsichtbares, das kontinuierlich sichtbar würde, könnten wir durch die Jahrhunderte und Jahrtausende die Generationenblicke auf die versteinerte Erhabenheit der Grabmonumente miteinander vergleichen. Unmöglich bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts; das Verschwinden der Pyramiden vollzog sich vor den Augen unserer Vorfahren und dennoch wie unbemerkt und unvollziehbar.

Nun aber verfügen wir erstmals in der Geschichte der Menschheit über Techniken einer vergleichenden Abbildung und Messung auch langwährendster Veränderungen, die sich daher unserem Blick durch den Schleier der Jahrhunderte und Jahrtausende nicht mehr verschleiern. Der am verglichenen Bild vermessene Schwundunterschied im Halbjahrhundert- oder gar Dezenniumsabstand wird uns die Verfallsgeschichte der Pyramiden in den nächsten Jahrhunderten ähnlich verfolgbar machen, wie wir seit zwei Jahrhunderten das Verschwinden der Gletscher metergenau beobachten.

Und vielleicht schon im 21. Jahrhundert werden besorgte Denkmalschützer im Dienst internationaler Kulturbehörden einen Pyramidennotstand ausrufen, um die sichtbar geschrumpften Menschheitsdenkmale einer verschwundenen Religion davor zu bewahren, in absehbarer Zeit in Sand und Luft zu verschwinden. Denn längst schon kennen wir die exakten Daten der Verfallszeit jedes Gesteins, und folglich kein Geheimnis das endgültige Datum des Verschwindens der Pyramiden, mag es auch in der Ferne vieler Jahrhunderte liegen, – vorausgesetzt, Krieg und atomare Waffen, Erdbeben und Asteroiden verschonen die Ehrwürdigen bis an ihr natürliches Zerstäubungs-Ende.

Mit diesem nicht sich abfinden können und lassen, ist für unser säkulares Bewußtsein eine Selbstverständlichkeit, die wir für richtig halten, weil wir über die Selbstverständlichkeit dieser Selbstverständlichkeit nicht nachdenken können. Sie folgt säkular-logisch aus unserer Entrüstung über die vernichtende Vergänglichkeit alles Daseins, die unverschämterweise nicht einmal die sogenannten „Weltwunder“ der Menschheitsgeschichte verschont. An dieser Entrüstung und diesem Sich-nicht-abfinden-Können hängt das Herzstück des säkularen Bewußtseins, sein ihm selbstverständliches Wesen und Gehabe, das es selbst nicht mehr erblicken und reflektieren kann, weil es durch, mit und in ihm lebt und atmet.

Daher muß der universale Historismus des modernen Bewußtseins alle herausragenden Denkmäler der Geschichte als Menschheitsdenkmäler unter Ewigkeitsschutz stellen. Beweisen sie doch, wie groß wir gewesen und zu jeder Zeit uns gemacht haben, und diese unsere Größe soll eine ehrfurchtlose Zukunft (die in der Vergangenheit schon war, wie die frühen Christen bewiesen, als sie die antiken Tempel als Baumaterial für Kirchen verwendeten) mit ihrem verderblichen Hang, alles vernichten und vergehen zu lassen, nicht verderben.

Ehe noch das reale Ende der ehrwürdigen Pyramiden bedrohlich nahe herangerückt, lassen wir daher entweder neue Steine heranschleppen und wie frische Organspenden den verbleichenden Monumenten einverleiben, oder, vielleicht klüger noch, meterdicke aber glasdurchsichtige Sargpyramiden über den originalen Pyramiden errichten, um diese für immer vor dem zeitlichen Verschwinden zu bewahren. Und warum nicht beides versuchen: Überbauen und Einsargen: die paranoide Verdoppelung des Rituals hält besser, wenn erreicht werden kann, was unbedingt erreicht werden soll: die Erhaltung des ursprüngliches Zustandes als einzig authentischem.

Da beide Gegenmaßnahmen mit vergänglicher Materie arbeiten, müßten sie scheitern, gegen den Zerfall je vorhandener Pyramiden ist kein Kraut gewachsen, auch kein technologisch-künstliches, denn es ist das unwiderrufliche Schicksal jeder Materie, zerfallen und verschwinden zu müssen. Und eine x-mal überbaute und ersetzte, am Ende durch „ewigen“ Kunststoff oder Laserstrahlen nur mehr figurierte Pyramide hat alle Ehren des Reliquiengeistes verspielt.

An dieser Einsicht müßte auch dem Konkretismus des modernen Bewußtseins, das Materie für eine Ewigkeit bewahren will, die mit der Dauer einer künftig endlos sein sollenden Menschheitsgeschichte gleichgedacht wird, bewußt werden, daß es problematisch ist, materielle Substrate, die einst reale Gebilde realen Geistes waren, unter Unsterblichkeitsschutz zu stellen, wenn deren Geist abgefallen und verzogen ist.

Während die Ägypter glaubten, der Körper auserwählter Menschen als mumifizierter sei der Unsterblichkeit fähig, glauben wir, ausgewählte Monumente seien zu unsterblichem Leben mumifizierbar. Unser fetischistischer Glaube an originale materielle Substrate von Bildern und Vorstellungen verrät unseren Geist als einen diesbezüglich infantilen, der zwischen Realität und Idealität von Geist und Ewigkeit nicht zu unterscheiden vermag oder nicht unterscheiden möchte.

Obwohl einleuchten sollte, daß reale Pyramiden nur das Substrat sind für Bilder und Vorstellungen und Bedeutungen in uns, die wir uns und an den Substraten bilden, weshalb die Substrate durch andere ersetzbar sein sollten, wenn wir jene Bilder und Vorstellungen, die ursprünglich mit ihnen verbunden waren, nicht mehr tragen können, halten wir doch daran fest, die Substrate in ihrer vermeintlichen Ursprünglichkeit auf ewig behalten und bewahren zu können und zu müssen.

Es versteht sich daher, daß der Empirismus des modernen historistischen Bewußtseins ein verzweifelter ist, denn er klammert sich insgeheim an die Materie als ewige, an eine letzte und erste Materie. Dachten und glaubten die Ägypter, durch Mumifizierung der Leichen ihrer Göttersöhne die Unsterblichkeit von deren Seele gewährleisten zu können, die mit dem Körper eins sei, weshalb auch der Körper unsterblich gehalten werden müsse, hält das moderne Bewußtsein lediglich die materiellen Mittel, mit denen das mythische Bewußtsein der Unsterblichkeit gewahr wurde, als unsterbliche fest.

Weil das moderne Bewußtsein zugleich aber nicht in ein mythisches zurückkehren kann, vermag es immer nur den Glauben an seinen säkularen „Mythos“, den Glauben an die eine und ewige Materie und deren authentische sein sollende Monumente zu wiederholen. Was die Geschichte daher an Materien hervorbringt, an originalen Substraten, dies sei das Absolute und Anbetungswürdige, ein säkularer Reliquienkult mithin, mit dessen selbstverständlicher Selbstverständlichkeit Kulturtourismus und Museumskunst keine Schwierigkeiten haben, prächtiges Geld zu machen. Ein merkantiler Fetischismus, der den atheistischen Geist der historistischen Kulturmoderne nochmals bloßstellt.

Die Vorstellung eines unsterblichen Geistes ist für diesen Geist eine unsinnige; die Vorstellung einer ewigen Materie wäre hingegen eine schöne und glaubenswürdige; da sie an der Realität zuschanden wird, wird auch dieser Glaube zuschanden. Wohin soll er sich nun wenden? Ungeborgen in der Natur, ungeborgen in der Geschichte, verzweifelt zwischen zwei Nichtigkeiten hin und hergeworfen, muß er denken: besser wär’s, es wäre gar nichts, es wäre nur das reine Nichts und nicht die Gegenwart einer Absurdität.

Darin wird aber offenbart, daß die kindliche Vorstellung von Unsterblichkeit, die jene Ägypter ergriff und als Menschheitsrevolution offenbarten, unbegriffen und unverarbeitet immer noch in uns nachwirkt, wenn wir in ihren erhaltenen Baudenkmälern und Mumien die Mittel und Zeugen unserer eigenen Vorgeschichte als ewige achten und neoreligiös – „kulturreligiös“ – zu erhalten versuchen.

Sie wirkt nach in der selbstverständlich geläufigen Rede von Menschheitsdenkmälern der Menschheitsgeschichte, in der die Geschichte selbst – als Vergehen alles Vergänglichen – zum Absoluten und absoluten Geist aufgestiegen erscheint, – und die Reliquien authentischer Materien sind nichts als die modern gezeugten und bezeugten neuen Göttersöhne und Göttertöchter.

Erst wenn diese falsche Religion einer gottlosen Gottheit verschwunden sein wird, wird ein künftiges Menschheitsbewußtsein die künftige Datierbarkeit des Verschwindens der Pyramiden mit einer Gelassenheit hinnehmen und sich mit den bewahrbaren Bildern und Begriffen einer erloschenen Vergangenheit begnügen, die heute noch unbekannt und unzugänglich ist.

(August 2007)