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25 Kunst und Wissenschaft

I.

 

Drei Wege der Kunstwissenschaft, Begriff und Realität von Kunst zu verfehlen: a) eine verabsolutierte Formenlehre soll als generative Grammatik allgemeiner und spezieller Zeichen Grundlage und Grund aller Kunstwerke, ihres Wertes, ihrer Geschichte sein; b) eine verabsolutierte Semantik soll als generative Inhaltslehre allgemeiner und spezieller Inhalte Grund und Grundlage aller Kunstwerke sein, ihres Wertes und ihrer Geschichte; c)eine verabsolutierte Historik, welche die empirischen Bedingungen der Ermöglichung von Kunst sammelt und zusammenstellt, sei letztlich als zureichender Grund aller Kunst und Kunstentwicklung ermittelbar.

Um Rembrandts Selbstporträts zu verstehen, müssen wir nach erstgenannter Theorie (a) begreifen, worin die grammatische Tiefenstruktur seiner Gemälde besteht. Denn der Künstler Rembrandt hat Elemente zu Formen gestaltet und sich im Prozeß der Werkentstehung für diese und keine anderen entschieden. Teils durch bewußte, teils durch unbewußte Entscheidungen – aber entscheidend bleibt, daß die Entscheidungen für diese und keine anderen Zeichen, Farben und Formen irreversibel festgemalt sind.

Ob eher flächenhaft oder eher tiefenräumlich, eher dunkel oder hell, eher nahe oder fern, groß oder klein zu malen sei, dies wird im Prozeß der Werkwerdung geklärt. Jeder Entscheidung liegt ein formales Problem zugrunde, das gelöst sein will. Und dem „Willen“ des zu malenden Bildes antwortet der Wille des Malers im Verhältnis von 1:1.

In der Tat scheint der Maler nur mit, durch und in Formen und deren Elementen zu arbeiten, nur mit Zeichen, Farben, Figuren zu gestalten. Also scheint der Wert des Kunstwerks darin zu liegen, formale Elemente durch zureichend glückliche Formakte zu einem Formganzen zusammenzuführen. Und für diesen Zweck ist es gleichgültig, ob sich der Maler ein nur innerlich vorgestelltes oder ein im Spiegel erblicktes Gesicht als Figur, als Inhalt, als Grundlage seines Malens voraussetzt.

Die Form muß befriedigen und auf sich verweisen; sie muß ein Ganzes ergeben, das als Formganzes überzeugt. Die Form aber, da auf Elemente verwiesen und diese verwendend, scheint diese wie Zeichen zu einem Zeichensystem oder wie Laute zu Wörtern, wie Wörter zu Sätzen zusammenzufügen. Und die Aufgabe der Wissenschaft von Kunst sei es, dieses Zeichensystem namens (Mal-)Bild als Grundlage und Grund des Wertes des Kunstwerks zu erkennen. Ein Wert, der als „eigentlicher“ Wert dem gewöhnlichen (vorwissenschaftlichen) Wert-Erleben von Kunst durch Kunstliebhaber und Kunstkenner zugrundeliege.

Und es versteht sich, daß dieser Formenwert der Kunstwerke je nach den Formen und Zeichen, Elementen und Materialien, die durch die erkennende Kunstwissenschaft favorisiert werden, einem Chamäleon gleicht. Dasselbe Bild kann und soll mit tausendfachem Perspektivenblick gesehen und erkannt werden. Denn es ist selbst nur ein formaler Spiegel tausendfach differenzierter formaler Akte, weil die Beziehungen zwischen den Elementen und Formen immer noch anders und neu gesehen und erkannt werden können. (Ein Kunstkenner, der kein Formenkenner ist, ist kein Kunstkenner. Wofür sich der Maler entschieden, entscheidet nicht unsere Deutungen seiner Entscheidungen.)

Um Rembrandts Selbstporträts zu verstehen, müssen wir nach zweitgenannter Theorie (b) begreifen, worin die semantische Inhaltslogik seiner Gemälde besteht. Ein Gesicht ist ein Gesicht, es drückt schon als reales das aus, was wir einen Menschen nennen, zumal sich in Gesicht und Blick das Wesen des Menschen zu konzentrieren scheint – jedenfalls für den sehenden Blick. (Stimmen und von Menschen gesprochene Worte sind nicht malbar, Sprechblasen werden erst in der Unterhaltungsmoderne kunstfähig.)

Also liegt ein Inhalt vor, und nach Ansicht der universalen Inhaltslehre: ein allgemeiner Inhalt in je spezifischer Erscheinung. Die Theorie des Porträts mündet daher in eine Systematik des menschlichen Gesichts und dessen Ausdrucksmöglichkeiten. In eine allgemeine Physiognomie, die alle tausendfach differenzierten Momente von Geist und Ungeist, deren menschliche Gesichter fähig sind, aufnimmt. Kunstwissenschaft, mit diesem System gewappnet, erkennt somit durch „einfache“ oder gedeutete Subsumption, in welcher Art von Gesicht das Rembrandtsche Selbstporträt zu uns herniederblickt. (Und das menschliche Gesicht ist nur ein „ewiger“ und „allgemeinmenschlicher“ Inhalt unter unzähligen.)

Es versteht sich, daß auf diese Weise der vormodernen Malerei ein Bärendienst erwiesen wird: sie wird als höhere oder auch schwächere (Vor)Form der Photographie definiert. Dem Bärendienst der formalen Ästhetik konvergiert der Bärendienst der verabsolutiert inhaltlichen Ästhetik; jene hat Zeichen und Formen als „Urtypen“, diese hat Urgesichter und Urgesichtsausdrücke sowie „ewige Urinhalte“ im Repertoire. Beide spielen mit Kunst, glauben sich aber als erkennende Kunstwissenschaft.

Um Rembrandts Selbstporträts zu verstehen, müssen wir nach drittgenannter Theorie (c) begreifen, worin die historische Begründung seiner Gemälde besteht. Diese ist entweder allgemein oder individuell: die Zeit, in der Rembrandt malte, oder die Biographie des Malers, die den Menschen Rembrandt zwang, Maler zu werden. Da beides nicht trennbar ist, müssen wir beides genau und systematisch erforschen, um den Wert und die Würde seiner Porträts zu erkennen. Denn sie sind entweder ein Dokument dieser oder jener Geschichte, letztlich von beiden Geschichten. Und nur jener Betrachter und Wissenschafter, der die Geschichte(n) Rembrandts erkannt hat, darf zur wirklichen Betrachtung seiner Porträts zugelassen werden.

Die Geschichte in allen ihren bedingenden Ermöglichungen ist nun das Wesentliche und Eigentliche der Werke, ist der Grund und die Grundlage von Wert (oder Unwert) aller Kunst. (Wird die Geschichte überdies ästhetisch moralisiert, kann ein böser Mensch nur schlechte Porträts malen, und eine böse Zeit kann nur mehr Fratzen von Gesichtern, nicht mehr wirkliche Gemäldeporträts malen.)

Wie keine andere der drei kunstwissenschaftlichen Richtungen ist diese Art und Weise, Begriff und Realität von Kunst und Kunstwerken zu verfehlen, anfällig, politischen Ideologien auf den Leim zu gehen. Die marxistische Kunstwissenschaft hatte daher stets zu prüfen, ob die historisch prominenten Künstler der Geschichte auf der Seite der guten oder der bösen Klasse, der Unterdrückten oder der Herrschenden standen. Da sie in der Regel den Herrschenden huldigten, mußte die Theorie versuchen, auch diese Künstler und ihre Werke als beachtungswürdige Vorläufer des sozialistischen Realismus zu erkennen.

Aber die Frage bleibt, ob dieser ideologische Bärendienst durch eine Kunstwissenschaft aufgewogen oder gar überwunden wird, die meint, Kunst und Kunstwerke zuerst und zuletzt als Dokumentationen individueller oder allgemeiner Geschichte, als „Artefakte“ von Biographien oder Zeitgeschichte oder von beiden Geschichten definieren und verstehen zu müssen und zu können.

 

II.

 

Bekanntlich erfolgt das Wertschätzen von Kunst, das Erleben und Beurteilen der Kunstwerke zunächst nicht durch die Wissenschaften der Künste, sondern durch Publikum und Kritik, also durch dasjenige, was mit einer rührend optimistischen Sinn-Investition „Öffentlichkeit“ genannt wird – ein naiver Euphemismus für das Existieren von Kunst und Künstlern unter modernen Marktbedingungen – ein Dschungel vordemokratischer Hackordnungen und Selbstmanipulierungen bis heute.

Kein Zufall, daß unter den explodierenden Marktmöglichkeiten der modernen Kultur und deren „Öffentlichkeit“ die kunstwissenschaftliche Gretchenfrage schon am Beginn des 20. Jahrhunderts dramatisch aktuell wurde: Warum und wozu (noch) Kunstwissenschaft?

Da ohnehin die „Öffentlichkeit“ als Sui-generis-Diskurs imstande zu sein schien, sich über ihr Kunsterleben und Kunstbeurteilen zureichend zu verständigen, schien den Kunstwissenschaften nur die fade Rolle eines brav dokumentierenden Hinterherhinkens hinter den Urteilen und zeitgemäßen Vorurteilen der Künste-Liebhaber-Gemeinden (Kenner eingeschlossen) zu verbleiben.

Und auch aus der Wissenschaftswelt kam ein eher vernichtendes Urteil, die Sinnhaftigkeit von Kunstwissenschaft betreffend: Nach Max Weber sollten sich die Geisteswissenschaften zur Werte-Freiheit der Naturwissenschaften durchringen, um endlich als wirklich wissenschaftliche Wissenschaften auch der Künste ernst genommen zu werden.

Sie sollten die Fakten beschreiben, die das Kunstwerk beschreiben, sie sollten die Bedingungen anführen, aus denen das Kunstwerk entsteht; und sie sollten sich jeder Bewertung der Kunstwerke und ihrer Erfahrung enthalten. Also reduzierte sich das Geschäft der Kunstwissenschaft darauf, zweifelsfreie Daten der allgemeinen und biographischen Historie und der formalen Werkgestalt als eindeutig zuschreibbarer Sach-Faktoren aufzulisten.

Vorwissenschaftliche Werturteile aber oder wertende Vergleiche zwischen Kunstwerken und Künstlern oder gar epochenübergreifende Wertvergleiche blieben allenfalls dem dunklen Gebiet des ästhetischen Urteils und seiner individuellen Geschmacksfreiheit überlassen. Eine Haltung, die sich kongenial mit dem Historismus der Kunstwissenschaften des 19. Jahrhunderts verknüpfen ließ: ist jede Epoche „unmittelbar zu Gott“, ist mit dessen Segen eine immergleich gute und hohe, große und geniale Kunst möglich.

Doch spielte die Kunst mit diesem Reduktionsspiel nicht mit, – als sie begann, aus der Larve ihrer frühen Moderne, spätestens am Beginn des 20. Jahrhunderts, zu steigen, schieden sich deren Geister. Enthielt sich nämlich Kunstwissenschaft in diesem dramatischen Augenblick der Kunst-Geschichte aller Werturteile, unterließ sie den utopie-moralisch aufgeladenen Appell moderner Künstler und ihrer Mentoren, das neue Kunst-Wesen zu unterstützen, die neuen Werke als sowohl historisch notwendig wie zugleich als ästhetische Steigerung des Wertes von Kunst zu erkennen.

 

III.

 

Was bedeutete unter diesen Prämissen und dieser Vorgeschichte von Kunst und Kunstwissenschaft die moderne These (etwa von Edgar Wind im Jahre 1922), daß es erstlich und letztlich nur eine einzige ernstzunehmende Aufgabe der Kunstwissenschaft gäbe: „Das Kunstwerk will in seiner Individualität und in seinem Wert verstanden sein.“

Zwar geschehe dieses Verstehen unmittelbar, unreflektiert und gleichsam unbewußt bereits im vorwissenschaftlichen Erleben des Kunstwerks; aber Kunstwissenschaft habe die Aufgabe, auch dieses Verstehen nochmals zu verstehen. Denn dieses verstehe sein Verstehen eigentlich nicht, weil es nicht zureichend wisse, was es verstehe.

Der Auftrag, daß Kunstwissenschaft nötig sei, lag demnach bereits im Kunstwerk selbst; erst als wissenschaftlich verstandenes Kunstwerk war es sowohl zureichend verstanden und beurteilt wie auch verbindlich bewertet. Wie aber sollte dieses ausdrücklich gegen Max Webers Dogma gerichtete Programm durchführbar sein?

Edgar Wind wollte sich ausdrücklich nicht mit der eingeübten Kulturarbeitsteiligkeit zufrieden geben: Kunstwissenschaft habe sich mit allen Seiten und Bedingungen der Kunst und Kunstwerke zu beschäftigen, nur mit einer Seite nicht: mit dem Kunsterleben der Kunstwerke.

Denn wahre Kunstwissenschaft habe dasselbe zum Erkenntnisgegenstand was das vorwissenschaftliche Erleben von Kunst zum Erlebnisgegenstand habe. Kunstwissenschaft müsse sich auf „genau dasselbe richten, was auch für den Kunstliebhaber im Mittelpunkt steht: die besondere Qualität des individuellen Werkes.“

Dies führt auf zwei unabweisliche Fragen: worin könnte diese „besondere Qualität“ bestehen, und wer bestimmt nach welchen Kriterien, ob ein wirklich individuelles Werk und nicht ein Machwerk, etwa des Kitsches, vorliegt? Wissenschaft kann schwerlich hoffen, durch Befragung und empirische Feldforschung (unter Künstlern oder/und Publikum und Marktmachern) feststellen zu können, welche Werke mehrheitliche Zustimmung als „individuelle“ und „besondere“ finden, weil der Geschmack in allen Künsten bekanntlich unbegrenzt viele und sehr verschiedene Vorlieben und Zustimmungen sowie Abweisungen und Ignorierungen zustande bringt. Was dem einen sein Beethoven, sind dem anderen seine Rolling Stones. Was dem einen sein Gauermann, ist dem anderen sein Picasso usf. usw.

Wird behauptet, daß es nur drei Arten gibt, die Qualität und den Wert von Kunstwerken zu definieren und zu erkennen: entweder formal oder inhaltlich oder geschichtlich, muß erstens nicht bestritten werden, daß es Kunstwerke gibt, die einen dieser drei Grundfaktoren akzentuieren und über die anderen beiden stellen. Ebenso zweitens nicht, daß dem Hausverstand unserer Vernunft unmittelbar einleuchtet, ein striktes Entweder-Oder zwischen den genannten drei Faktoren sei lediglich buchhalterisch sinnvoll.

Dennoch gilt drittens: was unsere intuitive Vernunft spontan aus dem Ärmel zaubert, muß unseren Wissenschaften noch lange nicht einleuchten. Wissenschaft ist ihr eigener Verstand und Stolz, vor allem aber: ihre eigene Entscheidung für einen besonderen Weg der Erkenntnis – samt Methode und Zielvorstellungen. Dies beweist schon ein oberflächlicher Blick in die Geschichte jeder Wissenschaft, auch der Kunstwissenschaften.

 

IV.

 

Als in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts, besonders unter dem Einfluß der Bauhaus-Ideologie, die formalen Kunsttheorien aufblühten, war eine Kunstwissenschaft, die, wie jene von Ward gegen Weber intendierte, eine universale Grammatik für jede Kunst als deren Grund und Grundlage unterstellte, vom aktuellen Zeitgeist getragen, forciert und bestätigt. Wie das Bauhaus die „elementaren Bestandteile“ der visuellen Wahrnehmung eruieren wollte, um danach die „Gesetze“ ihres Zusammenwirkens zu erforschen (um neue Bauten mit dem Segen einer neuen Wissenschaft erbauen zu können), so sollte nach Ward der wahre Wert der Kunstwerke, bei ihm zunächst der Bildenden Kunst, in deren formierter Form liegen.

Das Besondere und Individuelle der Werke sei in dem besonderen und individuellen Stil der Werke beschlossen, erklärte Ward, und dieser Stil basiere auf einer generativen Grammatik jener Elemente, die der jeweilige Stil der Werke individuell zusammenwirken lasse. Was für die Bauten und Praxen des Bauhauses eine zureichende Theorie sein mochte, wurde von Ward zu einer allgemeinen Theorie der Bildenden Künste überhaupt erweitert. Die generative Grammatik sollte das in der Bildenden Kunst „überhaupt Mögliche“ an Elementen und deren Zusammensetzungen, also sämtliche Stil-Gesetze und deren Materialien erschöpfen.

Daß eine solche Definition von Stil lediglich unseren formalisierenden und elementarisierenden Verstand (dessen analytische Bedürfnisse und Grenzen), nicht aber unsere intuitive, geschweige reflektierte Vernunft überzeugen kann, ist evident. Mehr noch: sie kann auch die „Täter“ der Sache nicht überzeugen, sie wird – früher oder später – sowohl Künstler wie deren Öffentlichkeit (das Ensemble der Marktträger) zu Widerspruch und Rache anstiften.

Die Utopie einer neuen Kunstwissenschaft, die den wahren Werten der Kunstwerke nachforsche und nur „dasselbe“ erkenne, was auch die Öffentlichkeit erlebt, wenn sie Kunstwerke erlebt, zerschellt an einer Barriere, die der Stolz der entschiedenen Wissenschaft errichtet hat, ohne daher die Abstraktionen der Einseitigkeit seiner Entscheidungen erkennen zu können. Wissenschaft ist ihr eigener Verstand, sie existiert nur unter den Konkurrenzbedingungen ihrer eigenen Märkte und deren Geschichte. Scheinbar unmöglich daher: das jeweils regierende Paradigma einer wissenschaftlichen Kunstdefinition zu überwinden.

Doch ist die Axt an den Stamm gelegt, der keiner ist: Ergibt sich aus meta-verständiger Einsicht, daß einzig ein Sowohl-Als-Auch der drei genannten Grundfaktoren sowohl Stil wie Wert wie auch die konkrete geschichtliche Bewegung der Kunstwerke definieren und erfassen kann, muß auf das nächste Paradigma nicht lange gewartet werden. In der Geschichte der Kunstwissenschaften, die eher peripher die moderne Kultur begleiteten, fand sich der abwechselnde Paradigmen-Reigen daher fast zu jeder Stunde ihrer modernen Geschichte ein.

Im Rückblick wird einsichtig, daß die frühe Moderne, heute gern als „klassische“ im Angebot der Kunstmärkte, versuchen mußte, eine neue ars scientia zu begründen. Ein neues Verhältnis von Kunst und Wissenschaft sollte neue verbindliche Stile und Werkreihen ermöglichen, nachdem die noch unter religiöser Ordonnanz stehenden des Mittelalters am Ende ihrer Nachfolge-Gestalten – am Beginn des 20. Jahrhunderts – erschöpft waren. Dazu konnte eine Kunstwissenschaft, die behauptete, eine universale Grammatik der Künste sei möglich und wirklich, scheinbar prächtige Dienste leisten.

Daß alle diese Versuche in allen Künsten der Vormoderne – der Malerei, der Skulptur, der Musik, der Architektur und auch der Dichtung – zum Scheitern verurteilt waren, lag an einem grundsätzliche Geburtsfehler der neuen Konzepte. Die Grammatiken der Vormoderne und ihrer ars scientia waren stets zugleich Poetiken gewesen, und nicht von Künstlern allein erfundene, sondern ein Organon des Kunst-Ausdrucks gesellschaftlich vorgegebener Inhalte, wodurch reale, noch nicht „freie“ Handwerke und verbindliche Stilsprachen im Rang hoher Kunstreden möglich wurden. Rembrandts Selbstporträts sprechen noch heute von dieser idealen Synthese der drei Grundfaktoren vormoderner Kunst und Kunstentwicklung. (Und der erste und letzte Grund einer Synthese dreier Faktoren kann nicht einer dieser drei Faktoren sein.)

Und nur noch Kunstwissenschaften, die diese Synthese erkennten und in Worten und Begriffen zum Sprechen brächten, wären heute nochmals ernstzunehmende Kunstwissenschaften. Alles andere ist vom Übel der Gegenwart, die als postmoderne die genannten Faktoren entweder trennt oder nach Willkür und Privatlaune, nach Marktinteresse und anderen Juxtapositionen vermischt. Kein Urteil, das nicht möglich wäre, kein Unwert, der nicht als Wert behauptet wird, kein Wert, der nicht als Unwert denunziert wird.

Ward hatte noch gemeint, wahre Kunstwissenschaft müsse einsichtig machen, worin der Wert eines Kunstwerks bestehe. „Andernfalls hat sie selbst keinen Wert.“ Aber das, was er für den wahren Wert hielt, hält einsichtiger Überprüfung nicht stand. Rembrandt interessiert uns nur peripher als Problemlöser materialer Formprobleme. Und die Biographiesierung oder Historisierung der Rembrandtschen Werke (sie seien Ausdruck ihrer Zeit oder Ausdruck eines Einzelwillens und Einzelkönners) verfehlt die Wertfrage schon im Ansatz.

 

V.

 

Mit welchen (kaum lösbaren) Problemen eine moderne Kunstwissenschaft konfrontiert wäre, wenn sie das Wertproblem der Künste (mehr als?) wissenschaftlich ernst nähme, kann eine Erörterung der Stilfrage zeigen.

Wahre Kunstwissenschaft müsse, so Ward, den individuellen Wert des Kunstwerks erkennen; dieser bestehe vornehmlich darin, daß es „einen individuellen Stil aufweist.“ Somit hätte Kunstwissenschaft auf Grundlage der Kategorie ‚individueller Stil‘ die Aufgabe, den je und je vorliegenden Fall von Stilwert zu klären. Individueller Stil wird als Wertkonstante vorausgesetzt, obwohl sich gerade in ihr, in ihrem geschichtlichen Vollzug, die radikale Geschichtlichkeit des (Werte)Wesens aller Künste zutrug und zuträgt.

Schon die Vormoderne kannte die nominalistisch-moderne Verkürzung des Stilbegriffs: „Le style c’est l’homme“ – eine Tautologie, die zur Wertbestimmung von Kunststilen nichts beiträgt. Rembrandts hoher Originalstil wäre hoch und groß, bedeutsam und genial, „einzigartig“ und einmalig, weil er ein hoher und origineller Mensch war? Eine rührende Biographiesierung, deren Widerlegung nicht lohnt.

Daß aber „Individualstil“ keine Konstante, sondern das genaue Gegenteil im Gang der Künste war und ist, zeigt schon die Wortwahl an, die Vormoderne von Moderne trennt. In der Moderne sprechen wir von „Personalstil“, der etwa Pollock von Picasso oder Webern von Schönberg trennt; in der Vormoderne von „Originalstil“, ein Wort, das die Künstler selbst (in der Musik seit Haydn) verwendeten, wenn sie sich einer erfolgreichen Individualisierung rühmten. Verständlich, weil ein vormoderner Künstler einen vorgegebenen Allgemeinstil (in den Gattungen und Genres seiner Kunst) zu individualisieren hatte – mit mehr oder weniger Erfolg, wie die Differenz von Mozart und Salieri oder von Rembrandt und seinen nacheifernden Manieristen beweist.

Und zwischen allgemeiner Stilvorlage und deren Individualisierung in individuellen Werken vermittelte ein stabiles Handwerk („Grammatik“) und eine relativ stabile Auftragslage, die noch nicht über moderne Märkte, sondern zuerst und zuletzt durch die Eliten der Gesellschaft vermittelt wurde. Der moderne Künstler hingegen ist Stil- und Handwerkserfinder zugleich oder sollte es sein, daher: „Personalstil.“ (Befreit davon sind die Heroen der Unterhaltungsmoderne und ihrer Werke. Rosamunde Pilcher und Rolling-Stones befrieden die Bedürfnisse ihrer Kundschaft mit massentauglichen Form- und Inhaltsruinen vormoderner Kunstreden.)

Und auch der postmoderne Personalstil unserer Tage, der die Undurchführbarkeit permanenter Innovation im Sinne der „klassischen“ Moderne erkannt und akzeptiert hat, ist nur eine weitere Brechung und Auflösung dessen, was den vormodernen Individualstil als Originalstil möglich machte. Daß nunmehr in den traditionellen Kunstarten (die von den modern technologischen wie Film und ähnlichen unterschieden sind) einzig noch der postmoderne, als permanent neomoderner Personalstil realisierbar ist, sollte einleuchten.

Wie schon Hegel erkannte, verfügt der moderne Künstler wie ein freier Dramaturg über die gesamte historische Ausdruckspalette seiner Kunst, und nichts hindert ihn, ja alles nötigt ihn, sich als virtuoser Arrangeur der Resultate seiner Kunst(geschichte) zu betätigen. Doch nicht mehr im Auftrag einer Mitte oder gar Elite der modernen Gesellschaft, sondern nur noch im Auftrag seiner Kunst, ihres autonomen Fortgangs und dessen Marktbildungsfähigkeit. Der Preis für die Befreiung der Künste von aller vormodernen Beauftragung und der mit dieser verbundenen Bevormundung ist zu bezahlen.

An der historischen Folge dieser radikalen Verwandlung von „Individualstil“ seit dem frühen 20. Jahrhundert wird daher auch der Versuch, die Wertbestimmung der Kunst und Kunstwerke unter Umgehung der historischen Erforschung der faktischen Kunstentwicklung durch eine systematische Analyse dessen, was gestalterisch „überhaupt möglich ist“, als problematisch und prekär einsichtig.

Auch ist die Identität dieses scheinbar metahistorischen Ansatzes mit der Realität postmoderner Polystilistik alias „Personalstil“ evident. Denn „was gestalterisch überhaupt möglich ist“ – diese Frage stellt sich dem neo-modernen Künstlern der Postmoderne, die ihre Modernität nicht mehr überwinden sollen und können, jeden Tag, bei jedem Werk, bei jeder Schaffensfrage. Dankbar müßten sie für ein letztlich statistisches Datensystem sein, das „überhaupt alle möglichen“ Relationen der in ihrer Kunst möglichen Elemente systematisch auflistete und – die digitale Moderne als technologischer Robotersklave steht bereit – als abrufbare Datenbank praktikabel macht.

(Mittlerweile für alle traditionellen Künste als öffentlich zugängliche Software realisiert. Eine Theorie (und Programmsprache) für every art konvergiert mit einer Kunst (als Anwendungstechnologie) durch every art: Die neue software-Geschicklichkeit ist niemandem verwehrt, sie muß nicht gelehrt, sie muß nur gefunden und probiert werden. Womit sich auch die Frage nach individuellen Werke-Werten und Werkstilen erübrigt hat. Es muß nur Spaß machen oder/und verkaufbar sein; das genügt, weil es entweder als Spaß oder/und als Geldwert genügt. Die Demokratisierung des Kunstschaffens erschafft dessen totale Kapitalisierung, wenn beider Digitalisierung als ermöglichende Meta-Bedingung hinzukommt.)

 

VI.

 

Die These von Karlheinz Lüdeking, (FAZ vom 14. März 2012, S.28) Winds Argument für eine generative Grammatik der Bildenden Kunst sei ein Systemargument, das einzig und allein systematisch zu beurteilen sei, führt beide – These und Argument – in ihre Aporie: Indem Lüdeking Wards Aporie erkennt, müßte er auch seine eigene Reduktion: Ein reines Systemdenken im Reich der Kunst sei sinnvoll möglich, als Illusion einer Abstraktion einsehen können.

(Das „System“ der Geschichte jeder Kunst ist immer schon größer und tiefer als jedes durch Wissenschaft konstruierte „systematische“ System von Kunst. Und Stil als konstante Systemstufe von Kunst behaupten, in der alle überhaupt machbaren Machbarkeiten jeder Kunst enthalten wären, reduziert Stil auf ein Formierungsprozedere von Zeichen und Elementen. Stil muß als Sprache bzw. in Analogie zur Sprache verstanden und definiert werden. Die Sprache Beethovens ist noch nicht die Sprache der Rolling Stones. Aber in den Künsten der Moderne sind auch Nichtsprachen als Sprachen möglich, wie schon Webern für die Musik bewiesen hat.)

Lüdekings Systemantwort auf Wards befragtes Systemargument erkennt, daß es die von Ward „postulierte Grammatik der bildenden Kunst gar nicht geben kann.“ Denn könnte es sie geben, wäre sie nicht als Kunst möglich und erlebbar. Rembrandts Selbstporträts wären als individualisiertes Zeichensystem eines allgemeinen Zeichensystems erlebbar und erkennbar. Aber nicht nur diese Unmöglichkeit wird behauptet – auch noch jene ist mitgefangen und mitgehangen: Rembrandt selbst hätte letztlich und „eigentlich“ Zeichen als Stil individualisiert: intendiert und realisiert.

Das allgemeine („grammatikalische“) System der Kunstzeichen jeder Kunst enthielte demnach alle möglichen Typen von Zeichen jeder Kunst; und das individuelle Werk deren individuelle Zurichtung. Aber nicht nur ist es unstatthaft, Kunst auf Zeichenformierung ihrer Grundzeichen, auf Zeichenindividualisierung ihrer Zeichentypen zu reduzieren; es ist auch unstatthaft, Kunst als Formensystem jenseits der Ausdrucksgeschichte ihrer Formensysteme systematisieren zu wollen.

Dies lehrt nicht zuletzt die Moderne der Kunst, die in jeder ihrer Einzelkünste mit den Grammatiken und Handwerken der Vormoderne radikal gebrochen hat. Was in der Vormoderne nicht grammatikalischen Zeichencharakter erhielt, etwa Geräusche in der Musik, Kleckse in der Malerei, kahle Kuben als Architektur, Prosagedanken als „Gedicht“, das wird in der Moderne bewußt und für neue Inhalte als Ausdruckszeichen verwendet.

Seitdem wird auch eine „reine Zeichenkunst“ als eine Möglichkeitsvariante moderner Kunstfreiheit realisiert. Doch keineswegs dadurch, daß Kunsttheoretiker oder gar Künstler zuerst ein Zeichensystem als allgemeine Zeichen-Grammatik konstruieren (an das sich andere Künstler zu halten hätten), sosehr einzelne Künstler auch damit – besonders im Bereich der statistisch und materialtechnisch erfaßbaren Elemente – Farben, Klänge, und sogar Sprachlaute – experimentiert haben und immer noch experimentieren.

Zeichen der Kunst sind Ausdruckszeichen oder sollen es sein: Ausdruckszeichen für Inhalte und deren geschichtliche Präsenz und Macht. Ein Zeichenspiel ist kein Kunstwerk, ein Buchstabe kein Arrangement zufälliger Striche, eine Tonleiter keine Spezialität des Typus Geräusch.

Ein vorbeirauschender Zug ist ein Zeichensystem dafür, daß jetzt ein Zug an uns vorbeifährt; mit dieser (und keiner anderen) Geschwindigkeit, Lautstärke, Richtung und Nähe. Aber ein Zug ist kein Künstler, er ist eine Maschine, deren (lautes und sichtbares) Zeichensystem den Realinhalt seiner Wirklichkeit ausdrückt, ohne doch als Ausdruckszeichen konzipiert zu sein. Alles, was sein eigener unmittelbarer Ausdruck ist, ist daher nicht Kunst, sei es Natur oder Technik oder Leben. Ein an uns völlig lautlos vorbeifahrender Zug würde uns zunächst erschrecken, danach erstaunen machen über ein neues „Wunder der Technik.“

Unsere (Wort)Sprachen sind weder Natur noch Technik, sie sind aber auch nicht Kunst (sondern Leben); daher sind auch deren Grammatiken mehr als nur Zeichensysteme, die zirkulär auf sich verweisen, und keine bestimmte Grammatik einer bestimmten Sprache ist ein Individualfall einer universalen Grammatik. Denn auch die Zeichen der Sprache sind Ausdruckszeichen oder sollen es sein: Ausdruckszeichen für Inhalte und deren geschichtliche Präsenz. Lediglich ausgefuchste (beruflich geschädigte) Grammatiker hören, lesen und erleben einen gesprochenen oder geschriebenen Satz ihrer Sprache zuerst und zuletzt als individuelles Beispiel eines „grammatikalischen Satzes“ im Gesamtsystem möglicher Satzformen ihrer Sprache.

 

VII.

 

Der Verdacht, der formalistischen Kunsttheorie könnte ein nominalistischer Sprachbegriff zugrunde liegen, erhärtet sich an der Grundthese von Wards Zeichensystemlehre. Kunst verfahre analog zur Sprache, wie diese beginne auch jene mit „zunächst ganz sinnlosen Elementen“, die in einem „Prozeß der Artikulation voneinander abgesetzt werden“, um schlußendlich als „bedeutungstragende Einheiten verwendet werden zu können, die nach bestimmten Regeln ausgewählt und kombiniert werden.“

Durch welche Zauberei von „Artikulation“ werden aus sinnlosen Elementen bedeutungstragende Einheiten? Durch Regeln und Regelkombinationen? Und welcher Dämon verfügt, daß die Sprachen der Menschheit mit „zunächst ganz sinnlosen Elementen“ spielen und würfeln?

Sprache entsteht weder aus einem Chaos „zunächst ganz sinnloser Elemente“, noch ist sie ein Allgemeinbegriff (von Sprache), der eine universale Allgemeingrammatik voraussetzt, von welcher jede bestimmte Sprache nur eine Art der Gattung wäre.

Sprachen sind Ausdruck des je gelebten Lebens jeweiliger Kulturen – und auch deren Ausdrucks-Systeme sind immer schon größer und tiefer als jedes durch Wissenschaft konstruierte „systematische“ System von Sprache(n) und Kultur(en). „Leben“ ist ein diffuser Wortausdruck für den Gesamtzusammenhang menschlicher Aktivitäten zu bestimmter Zeit an bestimmten Orten. Ein „System“, dessen Unendlichkeit durch kein anderes Ausdruckssystem, seien es solche der Kunst oder Wissenschaft oder andere Mischsysteme, totalitär darstellbar ist.

Ein offenes System, das weder abbildbar noch chronologisch erzählbar ist; auch das „Tagebucharchiv“ einer Stadt bringt immer nur kümmerliche Ausschnitte ans Licht dessen, was im Dunkel des verborgenen Lebens gelebt werden muß und darf. – Grammatik aber als konstante („universelle“) Systemstufe von Sprache behaupten, in der alle überhaupt machbaren grammatischen Möglichkeiten (der Wort- und Satzbildung) jeder Sprache enthalten wären, reduziert auch Grammatik (ohnehin Sprache) auf ein Formenspiel regelbeliebiger Zeichen und Elemente.

Sprache muß als Analogie und Ausdruck von Leben verstanden und definiert werden. Sprachen der Tiere sind Ausdruck ihres Lebens; also verfügen nichtmenschliche Wesen immer nur über nichtmenschliche Sprachen. Diese und deren „Grammatiken“ sind durchgehend regelgeleitet, weil die Macht des artspezifischen Instinkts alle Sprecher unmittelbar lehrt, was zu tun ist, wenn ihr Leben eine wortlose Frage stellt. Die Sprache der Ameisen und Bienen ist noch nicht die Sprache des Menschen. Die Analogie zum Verhältnis von Beethoven und Rolling Stones scheint mehr als zufällig zu sein.

Das Übel formalisierender Kunstwissenschaft definiert somit auch das Übel formaler Sprachwissenschaft. Rekonstruiert diese die formalen Bedingungen der Möglichkeit faktisch gegebener Sätze einer Sprache – das Regel- und Umschaltwerk des Bahnhofs Sprache – verfehlt sie die konkrete Rekonstruktion der konkreten Bedingungen konkreter Sprechakte.

Denn jeder Sprechakt ist die mimetische und reflexionslose Einheit eines formalen und inhaltlichen Aktes; er ist ein Akt, der zunächst dem System der konkreten Ausdruckslogik einer konkreten Kultur und Sprache unterliegt; durch diese ermöglicht wird. Ein bestimmter (Wort)Laut, der in einer archaischen Sprache ein Tier oder ein markantes Verhalten von Tieren bezeichnet, drückt aus, was er bezeichnet und bezeichnet, was er ausdrückt. Um die Notwendigkeiten der Lautgebungen des Cromagnon-Menschen zu verstehen, müßten wir mit dessen (religiösen) Augen die Büffel-Herden seiner Zeit und Klimate erblicken können.

Davon zehrt noch unser Sprachverhalten im System unserer Muttersprachen: deren Einheit von Ausdrucks- und Zeichenlogik verstehen wir unmittelbar – mimetisch und reflexionslos – als Selbstverständlichkeit einer selbstverständlichen Symbiose von Form- und Inhaltsakt. Und das dritte Moment, das geschichtliche, fehlt auch hier nicht: die Selbstverständlichkeit muß tradiert und erlernt worden sein. Das Wort „Schorle“ versteht sich in seiner Sprache durch das lokalspezifische Selbst der Sprache; außerhalb ihres Wirkungskreises wäre es unübersetzbar, würden die Eingeborenen uns nicht zu verstehen geben, was ihr Wort in unserer Sprache bedeutet.

Die Sprachen der Künste können und müssen als Spezifikation von Sprache aufgefaßt werden, wenn die genannten Reduktionen vermieden werden. Mehr noch: Redende Kunstwerke erleuchten die Realität unter Umständen erhellter als jede Alltagssprache, die Musen der Dichtung und Historie diktieren ohne Ende und immer unter einer Art von Hypnose qua Intuition, die der wandelnde Inhalt des Lebens den Menschen sowohl schenkt wie antut. Die tätige Kraft des Inhaltes begründet die tätige Kraft der Form.

Will Wissenschaft die Inhalte, die durch Sprache und ebenso Kunst ausgedrückt werden und zugleich die Art und Weise, wie diese Inhalte ausgedrückt werden, erkennen, muß sie sich bemühen, das System der Ausdruckslogik jeglicher Art von Kunst in jeglicher historischen Lage derselben zu erkennen. Unter Vermeidung der genannten Verabsolutierungen (a-c), wobei die Vermeidung des verabsolutierenden Historismus nötigt, die durch Kunst jeweils erreichten Inhalte und Formen, auf die bisherige Geschichte derselben Kunst zu beziehen. Denn ohne Rückbezug auf den erreichten Gesamtstatus kann kein einzelner Realitätsstatus erfaßt und wirklich erkannt werden. Die Höhe und Tiefe von Rembrandts Selbstporträts war nur einmal in der Geschichte der Malerei erreichbar. System und Geschichte der Kunst schließen einander ein.

Der Einwand, daß es keine Einmaligkeitssprache und kein Einmaligkeitsdenken gibt, das die Einmaligkeit von Ereignissen und Taten ausdrücken könnte, verfängt nicht, ist ein Scheineinwand. Denn es ist keine Einmaligkeitssprache und Einmaligkeitslogik nötig oder auch nur zulässig. Denn das Einmalige ist nur im Allgemeinmaligen der jeweiligen Kunst und ihrer Geschichte möglich. Die historische Ermöglichung Rembrandts ist mit ihrer systematischen dialektisch identisch: zwei Seiten derselben Medaille.

(April 2012)