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70 Reine und überdrehende Gesetze

Ruhe und Bewegung oder Sein und Nichtsein?

Ein prototypisches Beispiel für den Unterschied von Philosophie und Physik ist der Begriff von Ruhe und Bewegung: Ruhe wird physikalisch als Nullbewegung oder Null-Geschwindigkeit definiert, vielleicht noch als Vakuum, niemals als Abwesenheit von Bewegung überhaupt.

Denn diese behauptete Absenz, – ein universales Nichtsein von Bewegung überhaupt –  wäre in den Augen der Physik eine „metaphysische“ These, die durch keine empirische Bestätigung jemals könnte falsifiziert werden. Sie wäre eine nicht-hypothetische, folglich eine kategorische These, für die in der gesamten Natur unserer Welt, der terrestrischen wie der kosmischen, soweit wir sie erforschen konnten und können, kein Anlaß, auch keine Notwendigkeit, und am Ende auch kein Bedürfnis zu bestehen scheint. Mit den ehrwürdigen Philosophiebegriffen von Sein und Nichtsein hat die Physik nichts am Hut.

Das naturwissenschaftliche Weltbild basiert auf Hypothesen, die empirisch-experimentell verifiziert wurden, und solange sie nicht falsiziert werden, gilt das aktuelle Weltmodell als wissenschaftsgeeicht und vertrauenswürdig. Dieser Kredit schließt die Position der Erde in unserem Sonnensystem ein: bis auf Weiteres darf sich die Sonne im Mittelpunkt des Systems wähnen.

Außerdem kennt die Philosophie noch ganz andere Relationen von Ruhe und Bewegung: alle, die sich auf dem „Planeten“ von Geist und Kultur des Menschen finden lassen. Und für diese Arten von Ruhen und Bewegung, deren eigentlicher Inhalt weder berechenbar noch meßbar ist, ist die Reichweite der physikalischen Begriffe zu kurz, ihr Lasso unfähig, alle Arten und Intensitäten von Stille, Schweigen, Kontemplation und Ruhen sachgerecht einfangen zu können. Es gibt eine Welt jenseits aller Messdaten aller wissenschaftlichen Messinstrumente.

Dies gilt auch für deren genaue Widerparte: Denken und Sprechen, ebenso für Handeln und Schaffen. Wollte man den Gegensatz von Denken und Nichtdenken unter physikalische Begriffe fassen, würde man über kurz oder lang in der mathematischen Küche der „Künstlichen Intelligenz“ landen.

Kann die Physik wenigstens innerhalb der Natur selbst den wirklichen Grund der Natur erreichen? Wird sie jemals erkennen können, ob dieser Grund ein vernünftiger und guter oder ein blinder und böser Grund ist, der sie uns hinterlassen hat und in jedem Augenblick neu überlässt?

Lediglich ein negatives, ein aburteilendes Urteil steht wissenschaftlich fest: ein universales („philosophisches“) Nichtsein von Bewegung überhaupt kann die Physik nur als ideologische (lügende) Aussage einer unwissenschaftlichen Hypothese, die sich niemals falsifizieren läßt, erkennen und kritisieren. Dennoch behauptet ein Ich (des Menschen), es werde beim Denken von Gedanken und beim Aussprechen von Worten und Sätzen durch keine „physikalische“ Unruhe und Bewegung gestört.

Das Ich und seine Freiheitswelt

Das Bewegen von Gedanken und Sätzen geschähe in einer eigenen Welt, daher störe es das freie Ich dieser geistigen Welt auch nicht, wenn es zu gleicher Zeit (noch während es denkt und spricht) auf einem Erdboden herumspaziert, von dem es weiß, daß dieser mit mehrfachen (übermenschlichen) Eigengeschwindigkeiten durch das Weltall rast, woran sich auch nichts ändert, wenn das Ich seinen Rundgang beendet, um auf einem Stuhl Platz zu nehmen, auf dem sein Denken und Plaudern gleichfalls nicht durch physikalische Bewegungen der Erde und des Universums beeinträchtigt wird.

Und von der jederzeit möglichen Möglichkeit katastrophaler Erdbeben, Tsunamis und Hurrikans weiß dieser Ruhegast der Erde zwar durchaus, läßt sich aber im (kaum bemerkten) Normallfall nicht durch eine vorauseilende Furcht verängstigen. (Und auch Krankheit und Tod sind dem natürlichen und zugleich übernatürlichen Wesen Mensch als Anfänge von allerdings stark „beeinträchtigenden“ Bewegungen bekannt.)

Nicht nur mit dem freien „Ruhen“ des Ichs haben Physik und Naturwissenschaft Probleme, auch das „Ruhen“ der Naturgesetze erregt ihren antimetaphysischen Verdacht. Denn auch diese Gesetze, die sich mittels moderner Teilchenphysik geradezu inflationär vermehrt haben und immer noch vermehren, genießen einen Status von Ruhe, der mit ihrer unverrückbaren Identität untrennbar verbunden ist. Sie sind nicht als „Nullgeschwindler“ und auch nicht als Verwandte eines universellen Vakuums begreifbar.

Naturgesetze gelten in der Natur schlechthin universell und omnipräsent – auf der Erde, in der Erde und auch über der Erde in allen organischen Welten von Flora und Fauna. Wovon die kosmischen Gefilde wie Sterne und Galaxien nicht ausgenommen sind, weil auch deren Prozesse, obgleich „Katastrophen“ vielfältigster Art und Unart (Zufällen) ausgesetzt, nicht als gesetzlose Weltobjekte möglich sind. Naturgesetze sind keine Hypothesen, die sich in den Köpfen von Physikern herumbewegen, weil diese das Ausforschen aller Gesetze der Natur nicht lassen können.

Gute oder böse Geister?

Zahllos sind die Naturgesetze, die unsere Erde durchdringen, alle ihre sichtbaren und unsichtbaren Erscheinungen als gleichsam gute Geister begleiten, – mechanische, chemische, physikalische Gesetze, die nicht aus einer räumlich und zeitlich verankerten Zentrale für Naturgesetze kommen. Es existiert auch kein Archivdepot (weder unter der Erdkruste noch auf dem Mond oder gar in der Sonne) von dem die Gesetze – je nach Lust und Laune starten würden, um nach erfolgreicher Landung als wirkliche Naturgesetze wirksam zu werden. Wie von einer unsichtbaren Hand bewegt, sind sie immer schon „vor Ort“.

Offensichtlich sind die Naturgesetze mit der Natur selbst immer schon verkuppelt, und ob dazu ein Kuppler oder eine Kupplerin nötig ist, diese noch zu klärende Frage ändert nichts an dem Faktum, daß die Naturgesetze immer schon da sind, wenn die Natur mit einem ihrer Systeme vor Ort tätig und existent wurde. Ebenso nicht, daß die Möglichkeit allgegenwärtiger Naturgesetze von Physik und Naturwissenschaft vorausgesetzt wird, wenn diese Wissenschaften neue Naturgesetze entdecken und alte tradieren oder modifizieren und präzisieren. In keinem Fall kann die Allgegenwart der Naturgesetze mit der Nullgeschwindigkeit des Bewegungsbegriffs der Physik gleichgesetzt oder durch diesen Begriff begriffen werden.

Und auch die Modifikationen und Präzisierungen der Naturgesetze folgen ihren eigenen „Geschwindigkeiten“. Aber diese Modifikationen scheinen der Hypothesenlogik der modernen Naturwissenschaften doch noch eine „Hintertür“ zu öffnen: Seit einigen Jahrhunderten gilt beispielsweise die Hypothese, daß sich die Erde um die Sonne bewegt und nicht umgekehrt, als wissenschaftlich bewiesen, aber dieses Bisher sei nicht wie die Zehn Gebote Moses „in Stein gemeißelt,“ muß ein Apostel der hypothetischen Vernunft jederzeit verkünden.

(Sogar die Jahrtausende alte Hypothese von lediglich zwei Geschlechtern des Menschen habe sich wissenschaftlich als Irrtum erwiesen – wird seit Kurzem ebenso intensiv verkündet wie geglaubt.)

Geht die Modifikation durch die „Hintertür“ der („bisherigen“) Naturgesetze, kann sie offenbar in das Gegenteil der bisherigen Gesetze drehen und die Bewegung des Modifizierens gleichsam vollständig überdrehen. Und die evolutionistische Nachhilfe hat auch für diesen prekären Fall eine Erklärung parat: es sind die Gesetze und Normen selbst, die in ihr Gegenteil „drehen.“ Womit sich die selbsterklärende Evolution als Selbstmacherin ihrer Erklärungen erklärt hat. Zum ersten Mal in ihrer langen Gattungsgeschichte lebt nun die Menschheit in einem wirklich unbegrenzten Land grenzenloser Möglichkeiten. (Wer jetzt an Musils „Mann ohne Eigenschaften“ denkt, assoziiert klug und weise.)

Galileis Wunderbaum

Auch die weiteren Momente des physikalischen Bewegungsbegriffs sind für das omnipräsente Walten und nachfolgende Präzisieren der Naturgesetze irrelevant, wie auch umgekehrt die realen Inhalte unserer natürlichen Erfahrungswelt sogar für alle Naturgesetze der neuzeitlichen Physik irrelevant sind. Für das Fallgesetz Galileis fallen die Blätter eines Kastanienbaums ebenso rasch zu Boden wie dessen Kastanien. Dieses Wunder wurde zwar noch niemals beobachtet, weil dazu auch der Beobachter in einem luftleeren Raum lebensfähig sein müßte, doch Gesetz ist Gesetz, wenn gleichgültig wurde, welche Art von Mensch unter Bäumen lebt, weil ohnehin schon bald ganz neue Menschen unter neuen Kastanienbäumen einer neuen Welt wandeln werden.

Nicht nur der physikalische Bewegungsbegriff, auch das „reine“ Naturgesetz der neuzeitlichen Naturwissenschaft führt zu einer Neutralisierung der sogenannten „lebensweltlichen“ Unterschiede existierender Natur und existenzfähiger Menschen. Als sei die Aufhebung und Überwindung aller natürlichen Evolution der Menschheit das Ziel einer kulturellen Evolution der künftigen Menschheit, die zur Erschaffung einer neuen Natur und eines neuen Menschen führen wird: Bald schon könnte sich das Dunkel des neuen Telos der neuen Menschheit lichten, – wenn deren Kinder eines Tages mit angeborenem Handy das Licht ihrer neuen Welt erblicken, konvergieren technologische Natur und technologische Menschen unüberbietbar.

Zum Anfang der Anfänge

Die Anfänge dazu werden perfektioniert (sein), wenn die universale Allgemeingültigkeit der natürlichen Naturgesetze vollständig durch wissenschaftlich gereinigte Naturgesetze ersetzt sein wird, – wenn die Neuzeit über alle Altzeit restlos gesiegt haben wird. Schon eine Allgemeingültigkeit, die nur noch „physikalisch“ –  als gleichförmig geradlinige Bewegung („gleichförmige Translation“) bestimmt werden kann, macht die metaphysikalische Voraussetzung des Gegensatzes von Ruhe und Bewegung und damit jede ontologische Allgemeingültigkeit denkunmöglich. (Analog dazu wird man in der technologischen Zombiekultur der künftigen Menschheit nicht wissen, woran man ist: ob an Frau oder an Mann, und dies schon bei der Geburt jedes neuen Menschen.)

Der allererste Anfang der neuen Anfänge neuer Menschheit wird gemacht, wenn die qualitativ unterschiedenen Grundbewegungsarten in dieser Welt einer mathematischen Neutralisierung und berechenbaren Vergleichgültigung zugeführt werden. Die Aufhebung des Unterschiedes von zyklischer (in sich kreisender) und einfältig geradliniger Bewegung wird zum Gebot der fatalen Stunde. Wer die Kreisbewegung als schwachmatischen Sonderfall der geradlinigen Bewegung deutet, deutet auch den Kreis als Sonderfall der geraden Linie, mithin die „Krümmung“ als speziell verformte Gerade, den Kreis als mißratene Gerade.

Doch diesen Deuter, der den Kreis als Mißgeburt der Linie verkennt, hätten Platon, Aristoteles, Leibniz und noch Hegel als Mißgeburt der Vernunft verachtet. Und vernünftige Astronomen von heute könnten sich dieser Verurteilung anschließen, sofern sie die naturphilosophische Ansicht anerkennen, daß sich die zirkularen kosmischen Systeme durch unbedingte metaphysikalische Primärbedingungen auszeichnen. Die kosmische Welt mit ihren Galaxien und Galaxiengruppen, Sonnen- und Planetensystemen ist ohne ontologische Grundprinzipien und deren Finalitäten nicht zureichend erkennbar und auch nicht wirklich existenzfähig.

Ohne diese Prinzipien bleiben auch alle evolutionären Erklärungen des Kosmos und der Menschheit instabil und kontingenzgefährdet. Descartes maligner Gott könnte doch noch gesiegt haben, wenn nicht kosmologisch, dann vielleicht anthropologisch durch moderne Anthropologien, die schon die Geschlechterdifferenz der natürlichen Arten als Zufallsprodukt für weitere („menschliche, allzu menschliche“) Manipulationen „öffnen“. 

Die Tatsache, daß die moderne Physik nur durch Ausschluß aller Ontologie und Transzendentalität die erkennbare kosmische Welt so erfolgreich wie nur möglich erforschen und sogar raumfahrttechnisch unterwerfen konnte, unterliegt dennoch keinem Zweifel, ist anerkannt und in Rechnung gestellt: Ob allerdings dieser Vorteil die Nachteile aufwiegt, bleibt als ewige Frage zwischen physikalischem und naturphilosophischem Weltbild bestehen: Ein Schisma nicht nur des Wissens trennt Philosophie und Wissenschaft.

Wie und worüber Philosophie und Naturphilosophie nachdenken, ist für die Physik der Neuzeit nichts als überholte „Metaphysik“, die nichtexistente metaphysische Gegenstände bearbeitet. Umgekehrt schlagen Physik und auch Evolutionstheorie Gründe von Welt und Welterkenntnis vor, die für die genannte Philosophie und Naturphilosophie problematische Gründe, – radikal verkürzte Gründe sein müssen.

Leo Dorner, Juli 2023